Einführung: Ein Buch über
Förderung bei sozialer
Benachteiligung – Was ist da zu
erwarten?

Das Problem

„Soziale Benachteiligung“ stellt keine eigene sonderpädagogische Fachrichtung dar. Genau genommen könnten unter bestimmten Umständen wahllos alle Kinder davon betroffen werden – egal wie begabt, kräftig und gut aussehend sie sind. Die gute Nachricht: Es gibt selbst im differenzierten Schulsystem Deutschlands keine eigene – separierende – Institution für diese Problemklientel. Sozial benachteiligte Kinder sind mit keiner einschlägigen sonderpädagogischen Diagnostik zu bestimmen und zu fördern. Es gibt auch keine speziellen Programme, Trainings, Konzepte und andere Materialien – wie dies etwa für die Förderung bei Rechenschwäche, LRS, Aggressivität, Angst oder Motivationsschwäche der Fall ist. Für solche Beeinträchtigungen sind in der einschlägigen Fachliteratur und in den Testotheken, Lernwerkstätten, Bibliotheken und Ausbildungsseminaren reichlich Instrumente, Tests und fachkundige Ausführungen zu finden. Soziale Benachteiligung als Phänomen scheint hingegen immer diffuser und weniger handhabbar zu werden.

Dieses diffuse und wenig handhabbare Phänomen hat allerdings zugleich für die Betroffenen fatale Folgen. Der Grund hierfür liegt darin, dass soziale Benachteiligung nahezu unsichtbar verläuft. Sie ist nur bedingt am Körper zu erkennen und schwierig im System zu beschreiben. Obwohl also Pädagoginnen und Pädagogen speziell auch für die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler in belastenden Lebenslagen verantwortlich sind, etabliert sich in pädagogischen Handlungsfeldern häufig unmerklich ein Nährboden, der es den Professionellen schwer macht, jenen Lernbeeinträchtigungen professionell zu begegnen, die speziell durch soziale Benachteiligung erzeugt und stabilisiert wurden.

Ziel

Damit eine Lehrperson Hilfe zur Selbsthilfe leisten kann, muss sie sich zuallererst des genauen Charakters der Hilfsbedürftigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler bewusst sein. Die Leserinnen und Leser sind in den kommenden vier Stunden eingeladen, ihre bisherige Wahrnehmung der sozialen Strukturen um sie herum – und auch der Lebenswirklichkeit einzelner Schülerinnen und Schüler – in Frage zu stellen. Sie sind außerdem eingeladen, Anwalt der Benachteiligten zu werden, indem sie widersprechen und Ungerechtigkeiten nicht für außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches halten. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen brauchen seitens ihrer Lehrerinnen und Lehrer eine pädagogische Grundhaltung, die Verständnis für andere Lebenswirklichkeiten und Lebensentwürfe ermöglicht. In vielen Fällen setzt dies ein bewusstes Eintauchen in eine fremde Welt und die Bereitschaft zum Umdenken voraus. Das Buch soll hierzu Denkanstoß sein und will dazu anregen, konsequent über gebundene Ganztagsschulen in einer kommunalen milieusensiblen Bildungslandschaft nachzudenken.

Aufbau

Der Text spitzt sich argumentativ stufenweise von einer breit angelegten Sicht auf das Grundmuster sozialer Benachteiligung und seine unterschiedlichen Formen bis hin zur konkreten Förderung in der Schule zu. Dabei werden die verschiedenen Themen jeweils über mehrere Kapitel hinweg immer wieder neu aufgegriffen und weiter verdichtet.

Im ersten Kapitel sollen zunächst die Dimensionen sozialer Benachteiligung in unterschiedlichen Gesellschaftsausschnitten besprochen werden. Hier ist in erster Linie wichtig zu klären, wie soziale Benachteiligung in Erscheinung tritt und welchem Grundmuster sie folgt. Anhand weltweiter Beispiele werden hierzu acht Leitsätze formuliert. Das ermittelte Grundmuster sozialer Benachteiligung wird dann (in Kapitel 1.2) auf Deutschland herunter gebrochen, durch konkrete Sachverhalte „mit Fleisch gefüllt“ und analysiert. In Kapitel 1.3 finden diese gesellschaftlichen Beobachtungen Anwendung auf das deutsche Schulsystem. Dort treffen schließlich die Lehrerinnen und Lehrer auf Kinder, die in unserer Gesellschaft mit einer sozialen Benachteiligung leben müssen.

Nach diesem Problemaufriss zum Begriff soll im zweiten Kapitel das Bedingungsfeld in der Schule beschrieben werden. Dabei sollen Denkgewohnheiten, Wahrnehmungsmuster, Handlungstraditionen und ganz allgemein Vorstellungen von professionellem Handeln auf ihr Potential für effektive Förderung – oder eben im ungünstigen Fall auf ihr Potential als Nährboden für den Fortbestand sozialer Benachteiligung – in der Schule untersucht werden.

Das dritte Kapitel des Buches greift dann wieder die verschiedenen Phänomene auf und mündet schließlich jeweils in pädagogischen Anregungen für die Förderung. Die hier behandelten Benachteiligungskontexte sind bereits in den Kapiteln 1.2 und 1.3 dargestellt worden. Dazu gehören Armut, soziale Differenzen, Migrationshintergrund, Traumatisierung und das Aufwachsen in Risikofamilien. Im Zentrum der Überlegungen stehen nicht konkrete Förderstrategien, -trainings oder -programme, sondern Strukturüberlegungen, die Hilfen zur Selbsthilfe betroffener Kinder und Jugendlicher ermöglichen können.

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Abbildung 1: Aufbau des Buches im Überblick

Literaturempfehlungen

Weil vielfach sehr knappe Abschnitte die z.T. komplexen Problemfelder nur anreißen und sich manche Leserin oder mancher Leser vielleicht in einzelne Themengebiete gründlicher einarbeiten will, sind am Ende verschiedener Kapitel Empfehlungen zu weiterführenden Veröffentlichungen zu finden.

Ach übrigens

Auch wenn die immer noch zu beklagende soziale Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt in diesem Buch nicht als solche problematisiert wird, ist sie dem Autor durchaus bewusst. Dennoch sind im Text der besseren Lesbarkeit wegen bei der Beschreibung von Personen in der Regel männliche Formen verwendet worden. Diese Entscheidung hat bisweilen richtig weh getan, denn ich erinnere mehr weibliche Lehrkräfte, die ich als Schüler ins Herz geschlossen hatte, als männliche. Veröffentlichungen, die weniger pragmatisch mit dieser Problematik umgehen oder ihre Liebe zum großen I in Verbindung mit zweifelhaften syntaktischen Lösungen entdecken, sind häufig schlecht lesbar. Und Lesbarkeit ist ja schließlich auch ein hohes Gut.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und mir selbst viele Rückmeldungen, die ich sämtlich beachten und beantworten werde!

Würzburg, im November 2012

Stephan Ellinger

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Soziale Benachteiligung

1.1 Grundmuster sozialer Benachteiligung

Das Grundmuster sozialer Benachteiligung orientiert sich nicht strukturgebend an einer Polarisierung von individueller Leistung eines Menschen oder einer Menschengruppe auf der einen Seite und Minderleistung auf der anderen Seite. Eine so entstandene Hilfsbedürftigkeit ist nicht in erster Linie gemeint, wenn im Folgenden von sozialer Benachteiligung die Rede sein wird. Vielmehr entsteht und stabilisiert sich soziale Benachteiligung durch die Prioritätensetzungen derjenigen, die mehr oder weniger zufällig wohlhabend sind. Soziale Benachteiligung ist die Kehrseite sozialer Bevorzugung in einer Gesellschaft oder Weltgemeinschaft. Sie ist in einigen Fällen leicht zu erkennen, weil Glaubensgemeinschaften, ethnische Gruppen oder ein einzelnes Geschlecht bevorzugt werden. In vielen Fällen vollzieht sich soziale Benachteiligung allerdings weit weniger offensichtlich, dennoch in jeder wohlhabenden Gesellschaft mehr oder weniger häufig.

Der allgemeine Wohlstand innerhalb eines Landes kann in geographischer Fügung – etwa durch Bodenschätze oder Klima – wurzeln, kann aus einer geschichtlichen Vorrangstellung – etwa durch Fleiß und Pioniergeist einer früheren Generation – hervorgehen, resultiert aus längeren Abwesenheiten von Kriegen, wird begünstigt durch eine – z. B. rechtsstaatliche – Gesellschaftsordnung oder ist auf Erfindungsreichtum und Schaffenskraft einzelner Forschungsvertreter zurückzuführen. Wenn der Wohlstand einer Gesellschaft oder Weltgemeinschaft nur ausgewählten Mitgliedern dieser Gemeinschaft zugutekommt, muss allerdings von sozialer Benachteiligung der nicht-ausgewählten Mitglieder gesprochen werden. In einer zivilisierten Welt sollte es möglich sein, anhand belegbarer Beispiele das Grundmuster sozialer Benachteiligung zu beschreiben.

Der geneigte Leser ist deshalb im Folgenden eingeladen, über Beispiele eines zweifelhafte Umgangs der industrialisierten westlichen Welt mit Mensch, Tier und Natur nachzudenken. Dabei darf zu Beginn des ersten Kapitels in diesem Fachbuch ein eher journalistisch-reißerischer Stil helfen, die Brisanz des weltweiten Benachteiligungsmusters deutlich zu machen. Bewusst wird dabei ein provozierender Grundton angeschlagen. Dieser legt sich dann ab Kapitel 1.2 weitgehend wieder!

a) Wie unsere Handys und Computer die Menschen in Afrika quälen

Weltweit besitzen mehr als 5 Milliarden Menschen ein Mobiltelefon (Obert 2011). Der Journalist Frank Poulsen (2011) berichtet, dass potentiell jeder Handy-Besitzer mit dem Erwerb seines Mobiltelefons den Krieg im Kongo angeheizt hat, der in den letzten 15 Jahren 5 Millionen Menschenleben kostete (Obert 2011). Für einen Lohn von wenigen Cents graben und leben die Kinder oft Tage lang in dunklen Tunneln tief unter dem Tageslicht. Der Hintergrund ist schnell berichtet: Für die Produktion von Handys werden spezielle Mineralien benötigt, unter ihnen Coltan. Seit im Jahre 2003 die weltgrößte Mine zum Abbau von Coltan in Australien geschlossen wurde, boomt das Geschäft im Kongo. Bis zu 80 % der Weltvorkommnisse liegen hier im Inneren der Erde (Weber 2009). Im Ostkongo gibt es hunderte Minen mit den wertvollen Mineralien. Die knapp zwei Millionen Bergleute könnten reich sein, wenn sie nicht von den Rebellen unterdrückt und entrechtet würden. Diese verwenden die Einnahmen für die Finanzierung ihrer Waffen. Der Krieg wird auf dem Rücken der Arbeitenden geführt. Beobachter berichten über Zwangs- und Kinderarbeit, über Mord und Massenvergewaltigung. Ein französischer Journalist berichtet: „Wer nicht mehr arbeiten kann, weil ihn die Maloche in der schwülen Hitze ausgelaugt hat, wird einfach geköpft oder erschossen“ (Weber 2009). Als Frank Poulsen (2011) verschiedene Mobilfunkunternehmen mit seinen Rechercheergebnissen und den Filmaufnahmen konfrontierte, musste er erleben, dass den betreffenden Unternehmenssprechern die Umstände der Rohstoffgewinnung nicht nur bekannt waren, sondern dass die Unternehmen „aus Wettbewerbsgründen“ nichts im Alleingang unternehmen wollen, um den Grausamkeiten ein Ende zu bereiten. Aus Wettbewerbsgründen (Poulsen 2011)! Durch ein Gütesiegel, das Mineralien aus Minen mit fairem Umgang kennzeichnet, sollen in Zukunft die Wege der Rohstoffe transparent gemacht werden. Wissenschaftler der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover entwickelten ein Verfahren, mit dem die Herkunft und der Weg des Coltan eindeutig bestimmt werden können. Internationale Unternehmen können dann – trotz des Wettbewerbs – nur noch Erze aus fairem Bergbau einkaufen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat in dieses Projekt 3,2 Millionen Euro investiert (Obert 2011). Es könnte also sein, dass dem unmenschlichen Schicksal der achtjährigen Kinder in absehbarer Zeit ein Ende bereitet wird, nachdem die Unternehmen und alle übrigen Mitwissenden mehr als zehn Jahre lang viele Millionen Handys gebaut, beworben und mit hohem Gewinn verkauft haben, obwohl sie wussten, unter welchen Umständen die notwendigen Rohstoffe gefördert wurden. So quälen wir durch unsere immer neuen Handys die Menschen in Afrika.

Aber was hat es mit den Computern auf sich? Der Fotograf Pieter Hugo (2011) stellte einen Bildband zusammen, in dem er den Verbleib großer Mengen Elektroschrotts aus Europa und anderen Industriestaaten in Ghana dokumentierte (Hugo 2011). Jährlich fallen hierzulande rund 50 Millionen Tonnen Elektromüll an, die zu einem großen Teil per Container in die Dritte Welt verschifft werden. Dort entsteht eine gigantische Müllhalde. Die Landschaft wird zerstört und die Menschen leben im und zunehmend auch vom Elektroschrott. Auf den riesigen Schrotthalden suchen tausende Menschen nach Spuren von Gold, Coltan oder Kupfer in Handys, Computern und Laptops. Sie verbrennen Plastikgehäuse und Kabelisolierungen, um an die „Innereien“ heran zu kommen. Ganze Landstriche sind eingenebelt von unentwegt aufsteigenden schwarzen Rauchsäulen. Die Atemwege der so tätigen Kinder und Erwachsenen sind durch die hochgiftigen Dämpfe schweren Belastungen ausgesetzt. Das Recycling von Elektroschrott ist für die Industrieländer ein Kostenfaktor. Die billigere Lösung ist, den Elektroschrott illegal nach Afrika zu verschiffen, indem er über kriminelle Händler verkauft wird. In den letzten Jahren wurden auf diese Weise rund ein Drittel der Elektrogeräte, die angeblich als funktionstüchtig geliefert wurden, sofort als unbrauchbar aussortiert und auf den heimischen Schrottplätzen entsorgt. Laut Greenpeace werden die Geräte als gebraucht, aber funktionstüchtig ausgegeben, doch immer wieder stellt sich heraus, dass sie defekt sind (Zeisel & Kaledzi 2012). Während in der deutschen Politik an einer Lösung für diese menschenverachtende und naturzerstörende Praxis gearbeitet wird, quälen die Wegwerf-und-neu-kaufen-Verbraucher in den Industriestaaten mit diesem und auch anderem Schrott weiter die Menschen in Afrika.

Stellen wir den Fokus etwas weiter und lassen wir uns von einem mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm der französischen Filmemacherin Cosima Dannoritzer inspirieren (Dannoritzer 2011). Nach jahrelanger Recherchearbeit berichtet die Dokumentation von der Entwicklung unserer Wegwerfmentalität. Sie ist bewusst erzeugt und wird gezielt unterhalten. Die Verbraucher sollen immer wieder neu kaufen und wegwerfen wollen. Das Ergebnis ist ein Lebensstil, der wirtschaftliches Wachstum ermöglicht – aber zugleich eine Müllmenge produziert, die den oben beschriebenen Computerschrott nahezu marginalisiert. Diesen Behauptungen soll im nächsten Abschnitt nachgegangen werden.

b) Geplante Obsoleszenz als Motor für die Wirtschaft

Mit dem Begriff der geplanten Obsoleszenz wird eine Strategie der Wirtschaftsvertreter bezeichnet, die auf Wachstum ausgerichtet ist. Wir unterscheiden heute zwei Formen geplanter Obsoleszenz. Die eindeutig ältere zielt auf technische Fehler, die nach einer vorgesehenen Zeit oder nach einem bestimmten Leistungsumfang auftreten und von den Herstellern geplant sind. Sie sollen das jeweilige Gerät funktionsunfähig machen. Uns allen ist geläufig, dass Drucker gemeinhin über eine sehr begrenzte Laufzeit verfügen. Sie melden je nach Marke bereits nach wenigen tausend Ausdrucken einen Fehler im System. Der Besitzer wird in vielen Fällen mit der etwas überraschenden Auskunft konfrontiert, dass es günstiger sei, einen neuen Drucker zu kaufen, als den alten reparieren zu lassen. Geht der Kunde darauf ein, hat die geplante Obsoleszenz ihren Zweck erfüllt. Nachforschungen haben ergeben, dass heute in handelsübliche Drucker von den Herstellern EPROM-Chips eingebaut werden, die nach einer vorgegebenen Menge an Ausdrucken – unabhängig vom realen Verschleißaufkommen – eine Fehlermeldung initiieren. Diese Fehlermeldung blockiert den weiteren Betrieb und führt schließlich über das oben beschriebene Procedere zu einem Neukauf. In Amerika wurden die Filmemacher Fan und Casey Neistat über Nacht berühmt, weil sie sich gegen diese Form des Wirtschaftswachstums von Apple wehrten (Neistat & Neistat 2012). Als Casey Neistat nach nur 18 Monaten einen Ersatz-Akku für seinen iPod benötigte, aber von der Firma keinen erhielt, sondern ihm lediglich zum Kauf eines neuen iPod geraten wurde, drehten die Brüder einen Film über das Geschehen. Der Film wurde im Internet mehr als zwei Millionen mal angesehen. Zahllose iPod-Besitzer bestätigten daraufhin eine ähnliche kurze Haltbarkeit ihres Akkus. Eine Anwältin aus San Franzisco reichte Klage wegen geplanter Obsoleszenz ein und Apple startete ein Ersatzprogramm für iPod-Akkus (Neistat & Neistat 2012).

Das berühmteste Symbol der geplanten Obsoleszenz ist die Glühbirne. Nach der Erfindung der Glühbirne 1879 erreichten die industriell produzierten Glühbirnen schon bald eine Lebensdauer von über 2500 Stunden. In den Räumen der amerikanischen Feuerwache Livermore brennt noch heute eine Glühbirne aus dem Jahr 1901. Sie war 1895 produziert worden und wird seit einigen Jahren täglich mehrfach fotografiert. Das jeweils aktuelle Foto findet sich im Internet auf der Homepage der wachsenden Fan-Gemeinde dieser tapferen Glühbirne (Bunn Graphics 2012). Bis ins Jahr 1924 hinein wurden immer längere Leuchtzeiten der Glühbirnen erreicht. An Weihnachten 1924 geschah dann etwas Wegweisendes für unser heutiges Wirtschaftssystem: Ein Kartell der damals führenden Glühbirnenherstellern der Welt beschloss in einer Geheimsitzung in Genf, die Lebensdauer der Glühbirne einheitlich auf 1000 Stunden zu begrenzen (Dannoritzer 2011). Ab 1929 gab eine Tabelle Auskunft darüber, wie viel Geld ein Unternehmer an Strafe zu zahlen hatte, falls seine Produkte im Durchschnitt wesentlich über der 1000-Stunden-Grenze brannten. Der Grund für diese Selbstbegrenzung lag in einer beabsichtigten Steigerung der Verkaufszahlen. 1942 flog das Kartell auf. Nach 11 Jahren Gerichtsverfahren wurde die künstliche Reduzierung der Lebensdauer gerichtlich untersagt. Obwohl zwischenzeitlich mehrere Patente erteilt wurden, die eine Produktion wesentlich robusterer Glühbirnen ermöglichen, beträgt die durchschnittliche Lebensdauer einer handelsüblichen Glühbirne auch heute noch rund 1000 Stunden. Die geplante technische Obsoleszenz hat sich in der weltweiten Produktion quer durch alle Produkte durchgesetzt. Taschenlampen, Nylonstrümpfe, Motorroller – in allen Produktkategorien wird mittlerweile durch geplante Obsoleszenz für mehr Absatz gesorgt. Die Kunden sind damit nicht glücklich, fühlen sich bisweilen über den Tisch gezogen, sehen dann aber häufig rasch ein, „dass da nichts mehr zu machen ist“, und kaufen eben neu.

Viel freiwilliger fügt sich der moderne Mensch allerdings in die geplante ästhetische Obsoleszenz. Auch hier reichen die Wurzeln in die 1920er Jahre zurück. Hernry Ford steht in dieser Zeit für die Entwicklung der Massenproduktion durch das Fließband. Sein Ford T wurde in legendär hoher Stückzahl hergestellt und galt als ausgesprochen robust. Filmdokumente aus der damaligen Zeit zeigen das Auto im Einsatz auf dem Feld ebenso wie im Straßenverkehr und auf unwegsamem Gelände (Dannoritzer 2011). Der zeitlose und unverwüstliche Ford T fand reißenden Absatz. Einzig ernstzunehmender Konkurrent von Ford war General Motors. GM galt zu dieser Zeit als weit abgeschlagen. Dann brachte der damalige GM-Chef Alfred P. Sloan durch eine bahnbrechende Idee quasi die Konsumgesellschaft zur Welt: Er führte als Mittel gegen den unverwüstlichen Ford T das Konzept der Jahresmodelle ein. Sloan, der von 1923 bis 1956 den späteren Konzern leitete, machte es sich zur Aufgabe, die Kunden durch Verlockung zum Neukauf zu verführen. Die schönen, modernen, bunten und von Jahr zu Jahr neu gestalteten Autos wurden fortan dem immer gleichen Ford vorgezogen. Im Jahr 1927 wurde das Modell mit dem 15-millionsten Ford T vom Markt genommen und auch Ford stieg auf das Jahresmodellkonzept um.

Während der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren brachte Bernard London die erste Veröffentlichung zur geplanten Obszoleszenz auf den Markt (London 1932) und löste eine rege Diskussion darüber aus, ob nicht die Lösung der Wirtschaftskrise darin bestehen könne, dass jedes Produkt ein Datum für die festgeschriebene Maximalverwendungszeit erhalten solle. Nach dem Ende der Wirtschaftskrise beschreibt Arthur Miller in seinem Drama „Death of a salesman“ (Miller 1949) das Problem ständig kaputt gehender Geräte, sobald sie bezahlt sind.

Beide Formen der geplanten Obsoleszenz sind heute gang und gäbe. Zum einen werden herstellerseitig in Geräte technische Haltbarkeitsgrenzen eingebaut und Reparaturen faktisch unmöglich gemacht, zum anderen zielt die allgegenwärtige Werbung darauf ab, dass nicht aus Notwendigkeit, sondern aus ästhetischen Gründen Neuanschaffungen verlockend sind. Langeweile, symbolträchtiger Konsum und Unzufriedenheit mit dem Bekannten sollen zu immer neuem Kauf anregen. Die Grundlage des wirtschaftlichen Wachstums sind Werbung, geplante Obsoleszenz und schier unendliche Kredit-Möglichkeiten. Wirtschaftliches Wachstum ist zum Selbstzweck geworden. Es wird diktiert von denjenigen, die es brauchen. Eine andere Gesellschaftsform als diejenige mit ständig wachsenden Wirtschaftszahlen wird kaum in Erwägung gezogen, sie wird sogar als unabdingbare Notwendigkeit behauptet.

Der Chemiker Michael Braungart entwickelt das Alternativkonzept „Cradle to Cradle“, was so viel heißt wie „Von der Wiege bis zur Bahre“. Sein Konzept sieht vor, dass alle hergestellten Produkte wiederverwertbar sind. Er orientiert sich an der Natur, die auch nur diejenigen Produkte hervorbringt, die sie selbst wieder verwerten kann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Ein solches Vorgehen hätte nichts mit Verzicht zu tun, sondern setzt schlicht ein grundsätzliches Umdenken voraus (Braungart & McDonough 2005; Unfried 2009). Seit einigen Jahren mehren sich die Kritiker der propagandistisch vertretenen Meinung, dass „Nachhaltigkeit“ ausschließlich mit Wirtschaftswachstum zu tun habe. Neue Konzepte werden gefordert (Jackson 2011; Seidl & Zahrnt 2010). Solche Konzepte könnten auch im Blick auf weltweite Ungerechtigkeiten und Respektlosigkeiten gegenüber Menschen in anderen Ländern Bedeutung gewinnen. Der französische Ökonom Serge Latouche (2009) fordert seit einigen Jahren eine andere Geisteshaltung. Er kritisiert die diachronische Veränderung dessen, was für den Einzelnen identitätsstiftend ist. Während früher soziale Werte im Mittelpunkt standen – eine Selbstdefinition also über die Freunde und Familie stattfand –, scheint heute der Konsum identitätsstiftend zu sein. Die Menschen glauben irrtümlicherweise daran, dass materieller Besitz über die Qualität ihres Lebens entscheidet. Nutznießer sind Produzenten und Lieferanten, deren gewinnträchtiger Egoismus die Welt fest im Griff hat. Selbst wenn wir die technischen Möglichkeiten hätten, ohne Umweltschädigung ausreichend Energie zu produzieren, die Menschen auch ohne Wachstum technisch auf hohem Niveau ausgestattet sein könnten, global mehr Gerechtigkeit durch Würdigung der Lebensrechte anderer Kontinente entstünde, alle Menschen auf der Welt mit ausreichend Nahrung versorgt wären, Bequemlichkeit und Komfort erhalten blieben, würden vermutlich einschlägig bekannte Konzerne und weltweit operierende Interessensgemeinschaften vieles unternehmen, um die Menschheit im derzeitigen Unrechtssystem zu halten. Die Geschichte der Elektroautos steht dafür als Zeuge.

c) Warum in Amerika die Elektroautos sterben mussten

Als am 21. Juli 1969 die ersten drei Menschen den Mond betraten, arbeitete an Bord der Mondlandefähre ein Computer mit einer Frequenz von gerade einmal 43 kHz und verfügte über eine Speicherkapazität von 64 KByte. Jeder handelsübliche Taschenrechner zum Kaufpreis von rund 10 Euro stellt heute diese Werte mit Leichtigkeit in den Schatten. Damals galt dieser Computer allerdings als technische Meisterleistung, die für Privathaushalte unbezahlbar war (vgl. Mokono 2012). Merkwürdig erscheint allerdings, dass es in der langen Geschichte des Automobils von keinem auch nur annähernd vergleichbaren Entwicklungsverlauf zu berichten gibt. Der technische Antrieb, den Karl Benz in demjenigen Auto zum Einsatz brachte, das seine Frau Bertha im Sommer 1885 nach Mannheim fuhr, ist vom Grundsatz her der gleiche geblieben. Es wird Benzin verbrannt, es werden Abgase erzeugt und es wird Lärm verursacht. Merkwürdig auch, dass es vor 100 Jahren einmal mehr Elektroautos auf den Straßen gab als solche mit Benzinmotoren. Seit 1888 sind Elektroautos nachgewiesen (Schrader 2002). Die Elektromotoren der Autos konnten zuhause aufgeladen werden und fuhren nahezu geräuschlos. Die Geschichte der Elektroautos erzählt von einem beachtlichen Skandal. Während sich die Weltöffentlichkeit im Glauben befand, dass Wissenschaft und Politik ernsthaft bemüht seien, eine Alternative zum Benzinmotor zu finden, wurden abseits der Öffentlichkeit alle Entwicklungserfolge von der einflussreichen Öl-Lobby zunichte gemacht. Die eindrucksvolle Dokumentation von Chris Paine (2006) über den Aufstieg und den Niedergang des Elektroautos in Kalifornien berichtet davon, dass 1996 überall auf Kaliforniens Straßen Elektroautos fuhren. Sie waren schnell, sauber, sparsam und sahen gut aus. Die Kalifornische Umweltschutzbehörde hatte zuvor 1990 das Emissionsgesetz auf den Weg gebracht, in dem der Autoindustrie vorgeschrieben wurde, dass in Zukunft nur noch Autos verkaufen dürfe, wer einen gewissen Anteil seiner Flotte emissionsfrei produziert. Der Prozentsatz der emissionsfreien Autos war gestaffelt: 1998 mussten 2 %, 2001 5 % und im Jahr 2003 dann 10 % der Produktion eines Autoherstellers emissionsfrei sein. Zu diesem Zeitpunkt begann eine beispiellose Intrige der Ölkonzerne gegen die Elektroautos und gegen das Emissionsgesetz (Paine 2006). Obwohl ab 1996 mit dem EV1 ein von GM produziertes Elektroauto verbreitet war, das zur vollsten Zufriedenheit der Kunden fuhr, erreichte die Öl-Lobby, dass 2005 sowohl das Emissionsgesetz fallen gelassen wurde, als auch kein Elektroauto mehr auf der Straße zu sehen war. In der Zwischenzeit hatten die Konzerne Werbefilme für Elektroautos gedreht, die eher ein Negativimage verbreiteten. GM verklagte die Kalifornische Umweltbehörde wegen des Emissionsgesetzes. Durch den Einfluss der Ölindustrie wurden die Firmen gezwungen, Kundendossiers zu erstellen und lange Wartelisten zu führen. Die Autoindustrie bekämpfe jeden, der wusste, wie groß die Nachfrage nach EV1 wirklich war. Nach der Klage von GM vergab Georg W. Bush 1,2 Milliarden Dollar Forschungsgelder zur Entwicklung des Wasserstoffantriebs, obwohl es bereits ein funktionierendes Elektroauto gab. GM hatte zwischenzeitlich dem Erfinder und Entwickler Stanford R. Ovshinsky den Prototyp einer produktionsreifen Hochleistungsbatterie abgekauft und die Technik, statt sie in ihr Elektroauto EV1 einzubauen, an Texaco verkauft, wo sie in der Versenkung verschwand (Paine 2006). Dieser Vorgang erinnerte aufmerksame Beobachter an den Straßenbahnskandal aus den 30er, 40er und 50er Jahren. Damals kaufte GM nach und nach in 45 amerikanischen Städten sämtliche Straßenbahnnetze, verschrottete anschließend alle Züge und legte die Strecken still. Auf diese Weise konnten Autos und die Brennstoffe aus eigener Produktion abgesetzt werden (Thurnher 2009). Schließlich sorgte GM 2004 dafür, dass alle EV1, Toyota-, Honda- und andere Elektroautos, die zur vollsten Zufriedenheit ihrer Besitzer fuhren, nach Ablauf der Leasingverträge nicht gekauft werden konnten. Die Fahrzeuge wurden eingesammelt und z. T. in nächtlichen Aktionen und nach wochenlangen Bewachungsaktionen der Aktivisten verschrottet. GM als Autobauer und Hersteller von Elektroautos hatte auf Anweisung der Ölindustrie den Bau der vielversprechenden Elektroautos gestoppt. Fortan wurden alle Energien in die Weiterentwicklung des 3-Tonnen-Autos Hammer gerichtet. Mit diesem Auto war Geld zu verdienen. Die Effizienz der Benzinmotoren hat sich nach guten Fortschritten in der Regierungszeit von Jimmy Carter zwischen 1975 und 1985 nicht weiter entwickelt. Die Vernetzung der Öl-Lobby in alle Bereiche der Automobilindustrie und in die Regierung scheint zu grenzenlosem Einfluss zu führen und macht den Entwicklungsstillstand im Bereich der Automobiltechnik verständlich.

Umwelt und die Interessen der Menschen sind offensichtlich der Gewinnmaximierung verschiedener Konzerne und marktwirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet. Ob diesen Konzernen auch Kriegsmaschinerien folgen, bleibt dahingestellt. Allerdings geht die Welternährungsorganisation der UNO (Food and Agriculture Organization, FAO) davon aus, dass weltweit täglich mindestens 25 000 Erwachsene und 10 000 Kinder verhungern. Von den weit über 15 Millionen Menschen, die jährlich an armutsbedingten Ursachen sterben, könnte ein Großteil ohne hohen finanziellen Aufwand gerettet werden. Sie sterben durch Mangelernährung, fehlendes Trinkwasser, fehlende Impfung, Durchfall, Masern, Kinderkrankheiten etc. Die Zahl der dauerhaft Unterernährten und chronisch unter Hunger leidenden Menschen ist in den vergangenen Jahren um 400 auf 925 Millionen angestiegen. Und dabei gilt als konsensfähig, dass ein großer Teil des so genannten strukturellen Hungers auf der Welt Folge der gnadenlosen Spekulationen mit dem Preis der Grundnahrungsmittel ist. Spekulanten diktieren den Einkaufspreis an den Börsen und Lebensmittelvernichtungen sowie Export-Subventionen halten den Preis für die gewinnorientierten Händler stabil. In vielen Entwicklungsländern haben sich die Nahrungsmittelpreise in den letzten 10 Jahren verdoppelt, wodurch die Unterernährung stark zugenommen hat. Neben der Börsenspekulation wird auch die Förderung von Biotreibstoffen als Ursache hierfür angesehen. Im Klartext: Auch wir in Deutschland profitieren vom bitteren Hunger anderer Menschen. Bei einem Konsens zur Prioritätenverschiebung könnten die weltweit produzierten Lebensmittel für die Ernährung aller Menschen auf der Welt vollkommen ausreichen (WFP 2012). Dass eine Lösung des Hungerproblems nicht an mangelnder Technik oder fehlenden Ressourcen scheitern muss, bestätigen neben international arbeitenden Welternährungsorganisationen auch Wissenschaftler mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten. In 21 Studien zur Zukunft der Nahrungsversorgung, die von der britischen Regierung in Auftrag gegeben und im Journal Proceedings of the Royal Society B veröffentlicht wurden, kommen die Forscher zu einem sehr optimistischen Ergebnis: Selbst die neun Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 auf unserer Erde leben werden, könnten mit den heute produzierbaren Lebensmitteln und technischen Möglichkeiten ernährt werden, wenn der politische Wille dazu vorhanden wäre (Godfrey et al. 2010; Hawkesworth et al. 2010; Parfitt et al. 2010; Reuter 2010).

Unabhängig von der weltweiten Hungerproblematik klafften auch in unserem Land Armut und Reichtum noch nie so weit auseinander wie heute. Während die einen mehr Bildung, mehr Technik, mehr Wohlstand und Rechte genießen, sehen sich zunehmend viele Menschen existentiell bedroht, weil soziale Standardrisiken wie Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit privatisiert werden und der Staat zunehmend versucht ist, sich zugunsten einer geforderten „Eigenverantwortung“ zurückzuziehen. Eigenverantwortung in einem geschlossenen System unter der Herrschaft der Finanzen wird allerdings schnell zur Farce.

Zum Grundmuster sozialer Benachteiligung in einer Gesellschaft lassen sich folgende Leitsätze festhalten:

a) Soziale Benachteiligung wächst im Klima geduldeter Einflussnahme und zunehmender Gleichgültigkeit

Besitz und Einflussnahme bilden wesentliche Strukturelemente westlicher Gesellschaften. Interessensverbände hebeln zentrale gesellschaftliche Werte wie Mitmenschlichkeit, Anerkennung, Zuverlässigkeit und materielle Langlebigkeit aus und verhindern offen und nahezu ungehindert Umweltschutz und Fortschritt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Bürger der betreffenden Gesellschaften bereit sind, diesen Interessensverbänden auch individuelle Existenzen und sogar Menschenleben zu opfern. In einigen Gegenden der Welt werden diese bereits für den trügerischen Wohlstand der Industriestaaten geopfert. Von stabilen Verhältnissen durch freie Marktwirtschaft kann hierbei nicht die Rede sein.

b) An sozialer Benachteiligung sind mächtige Nutznießer beteiligt

Nicht Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Gleichheit und Naturverbundenheit scheinen die Politik der demokratischen Staaten zu bestimmen, sondern in weiten Teilen Gewinnmaximierung einzelner Interessensgruppen, die sich die Politik gefügig gemacht haben. Diese Gefügigkeit folgt dem Wunsch nach Ruhe im Staat und Wiederwahl. Sozial Benachteiligte sind dabei Opfer dieser klaren Prioritätensetzung zugunsten anderer Gesellschaftsgruppen, die im Zweifelsfall am längeren Hebel sitzen. Soziale Komponenten werden abgebaut, kurzfristige ökonomische Überlegungen drohen in vielen Entscheidungsbereichen die Oberhand zu gewinnen. Selbst der Bildungssektor und das Gesundheitswesen werden mittlerweile verbreitet wie Wirtschaftsunternehmen behandelt, die monetäre Gewinne (Drittmittel) erwirtschaften müssen. Ein gemeinschaftlicher Nutzen ist allerdings in den wenigsten Fällen zu erwarten.

c) Soziale Benachteiligung erfolgt im gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Wirtschaftswachstum von zentraler Bedeutung sei

Wirtschaftliches Wachstum wird zum entscheidenden Faktor zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit erklärt. Dabei wird der Eindruck erweckt, dass Besitz und gesteigerte Wertschöpfung soziale Gerechtigkeit, Natur und Mitmenschlichkeit stechen. Privatisierungen, Unternehmensabwicklungen und Arbeitsplatzabbau zählen zu den notwendigen und richtigen Maßnahmen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. In einem Interview mit der Deutschen Welle am 04. 04. 2012 vertritt der deutsche Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) die Überzeugung, dass auch Hunger und Armut in den ärmsten Regionen der Welt am besten durch Wirtschaftswachstum bekämpft werden könne. Er setze dabei ganz auf die positive Rolle der Privatwirtschaft (Gehrke 2012).

d) Soziale Benachteiligung wird von den Zuschauern mit innerer Distanz zu den Betroffenen hingenommen

Die verbreitete Gelassenheit, mit der die stetige Zunahme der Zahl sozial Benachteiligter hingenommen wird, lässt auf eine stabile innere Distanz zu den Betroffenen schließen. Die Bevölkerung kann ihre innere Distanziertheit zu menschlichen Schicksalen und himmelschreienden Ungerechtigkeiten täglich durch die mediale Berichterstattung aus den Katastrophengebieten der Welt üben. Dort verhungern kleine Kinder, werden Demonstranten erschossen und Oppositionelle gefoltert. Soziale Benachteiligung braucht als Basis innere Distanz sowohl der Verantwortlichen als auch einer schweigenden Mehrheit in der Bevölkerung.

e) Soziale Benachteiligung geht einher mit öffentlich vorgetragenen Erklärungen über die Mitschuld der Betroffenen an ihrer Situation

In Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung innerhalb einer Weltgemeinschaft ist seitens der Gewinner kein Unrechtsbewusstsein zu beobachten. Besitzende halten es für ihr Recht, zu besitzen. Dieses Recht leitet sich allerdings in vielen Fällen ebenso wenig von deren persönlichem Engagement ab, wie die prekäre Lebenssituation der sozial Benachteiligten unmittelbare Folge von Faulheit ist. Besitz, Lebensstil und Milieuzugehörigkeit werden in unserem Staat zu großen Teilen unverdient vererbt. Daran ändern auch öffentlich vorgetragene Erklärungen von Politikern und anderen Verantwortungsträgern nichts. Die Subtexte dieser Erklärungen zur Unabänderbarkeit der Situation enthalten zudem nicht selten explizite oder implizite Schuldzuweisungen. Wenn von einem „notwendigen Mehr an Eigenverantwortung“ die Rede ist und die Leistungsträger im Staat und auf der Welt stärker belohnt werden sollen, wird deutlich, dass nicht etwa die Wohlhabenden in der Weltgesellschaft oder die staatlichen Lenkungen selbst Schuld an der Benachteiligung anderer trifft, sondern angeblich diejenigen, die sich helfen lassen müssen, weil sie es versäumt haben, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen.

f) Grundlage der sozialen Benachteiligung ist die Überzeugung Einzelner, dass die eigene Wahrnehmung objektive Wirklichkeit und einzig richtige Sichtweise sei