Einleitung

Kinder, Heranwachsende und deren Familien geraten mitunter in schwierige Lebenslagen, in denen das Gelingen ihrer Entwicklung bzw. Erziehung gefährdet erscheint. Familien können dann zur Stärkung der Erziehungskompetenz der Eltern und zur Unterstützung des Entwicklungsprozesses ihrer Kinder besondere, an ihre Situation und deren Herausforderungen angepasste Hilfen in Anspruch nehmen. Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) stehen ihnen »Hilfen zur Erziehung« (gem. §§ 27 ff. SGB VIII) und/oder »Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche« (gem. § 35a SGB VIII) zu, wenn entsprechende Voraussetzungen erfüllt sind. Aber welche Hilfe ist für wen und unter welchen Umständen tatsächlich hilfreich? Wie findet man die angemessene Intervention? Was gibt im Einzelfall den Ausschlag für eine ambulante oder (teil-) stationäre, für eine sozialpädagogische, psychologische, beraterische und/oder (psycho-)therapeutische Hilfe? Woran erkennt man, dass die Hilfeleistung im Sinne des § 36 SGB VIII jeweils »geeignet und notwendig« (gewesen) ist?

Auf diese Fragen müssen in den Hilfeplanungs- und Evaluationsprozessen der Kinder- und Jugendhilfe Antworten gefunden werden – in jedem Einzelfall, aber auch in grundsätzlicher Hinsicht. Begründete Antworten auf die Indikationsfrage setzen begründete diagnostische Beschreibungen und Bewertungen voraus. Den gesetzlichen Vorgaben der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend sind deren diagnostische Einschätzungen stets auf die besondere Entwicklungssituation der Kinder bzw. Jugendlichen zu beziehen, zu deren Unterstützung eine Hilfe in Erwägung gezogen wird. Jugendhilfespezifische Diagnosen verstehen diese Situation im Kontext der jeweils gegebenen erzieherischen und sozialisatorischen Verhältnisse als vorläufiges Resultat eines individuellen Entwicklungsprozesses. Im Sinne des § 1 Abs. 1 SGB VIII bewerten sie die Entwicklungs- und Erziehungssituation am Maßstab des Rechtes junger Menschen auf eine Entwicklung zur autonomen und teilhabefähigen Persönlichkeit sowie auf eine Erziehung durch Elternpersonen, die sie in ihrer Entwicklung begleiten und in altersgerechter, entwicklungsfördernder Weise zur Mündigkeit führen.

Die diagnostische Aufmerksamkeit müsste demnach bifokal ausgerichtet sein. Zum einen wäre unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten die Art und Weise zu fokussieren, wie das Kind bzw. die/der Jugendliche ihre/seine Entwicklungsaufgaben und -bedürfnisse realisiert. In sozial-systemischer Perspektive wären zum anderen die entwicklungsrelevanten Interaktionssysteme zu betrachten, an denen das Kind bzw. der/die Heranwachsende teilnimmt und die ihm/ihr entsprechende Erziehungs- und Sozialisationserfahrungen vermitteln. Primär ist das die Familie, sekundär sind es weitere soziale Systeme, die Einfluss auf die individuelle Entwicklung nehmen (Schule, Gleichaltrigengruppen, Medien usw.). Diagnostik, die für die Jugendhilfe und für deren Aufgabenerfüllung nutzbringend ist, sollte also im Wesentlichen psychosozial strukturiert sein. Gebraucht werden psychosoziale Diagnosen, die belastbare Aussagen über die Lebenslage junger Menschen machen, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Autonomie- und Partizipationsentwicklung als auch im Hinblick auf die sozialen Verhältnisse, in denen sie sich entwickeln.

Nimmt man hinzu, dass der Körper mit seinen Besonderheiten für alles, was einen Menschen, seine Subjektivität und seine Persönlichkeit ausmacht, die Grundlage bildet, so folgt daraus, dass Diagnostik im Rahmen der Jugendhilfe in angemessener Weise berücksichtigen muss, dass die jungen Menschen, denen ihre Aufmerksamkeit und Sorge gilt, biopsychosozial verfasst sind. Diagnostik kann Kinder und Jugendliche also nicht allein als soziale Wesen oder als Wesen mit »erzieherischem Bedarf« betrachten, wenn sie ihnen als ganze Menschen gerecht werden will. Das heißt nicht, dass die Jugendhilfe für die Behandlung körperlicher oder seelischer Erkrankungen finanziell aufkommen muss. Aber es heißt, dass sie Erkrankungen ebenso wenig wie andere Beeinträchtigungen und Gefährdungen eines jungen Menschen außer Acht lassen kann. Andernfalls steigt die Wahrscheinlichkeit fehlangepasster Indikationen, einseitig ausgerichteter Hilfeleistungen und scheiternder Hilfeverläufe (vgl. z.B. Schmid et al., 2006).

Spätestens seit 2005 mit der Einfügung des § 8 a (»Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung«) in das SGB VIII die grundsätzliche und keineswegs neue Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe unterstrichen wurde, Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, dass sie in ihrer Entwicklung Schaden erleiden, konnte die Notwendigkeit diagnostischer Verfahren zur sorgfältigen Abklärung vermuteter Gefährdungslagen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ebenfalls nicht mehr ignoriert werden. Dass Hilfeplanungen und -entscheidungen in der Kinder- und Jugendhilfe generell diagnostische Erkenntnisse benötigen, die den Hilfezwecken entsprechen, hat schon der 11. Kinder- und Jugendbericht (2002) betont. Zugleich hat er das Fehlen eines ausgearbeiteten, konsensuell anerkannten und praktizierten Begriffs von Diagnostik in der Jugendhilfe beklagt.1 Es gebe keine »in der Profession« für allgemein verbindlich gehaltene Diagnoseverfahren und Diagnosekriterien, die einen erkennbaren Unterschied »zu anderen Diagnosekonzepten (z. B. aus der klinischen oder therapeutischen Diagnostik)« (S. 254) machen würden. Seitdem haben die Auseinandersetzungen um und das Interesse an Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe deutlich zugenommen. Von einer Übersichtlichkeit oder gar Einheitlichkeit im Vorgehen und von umfassenden wissenschaftlich fundierten Konzepten ist die Jugendhilfe jedoch noch weit entfernt.

Inzwischen hat sich jedoch an vielen Stellen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Bedarf an biopsychosozialen Hilfen für vulnerable Kinder, Jugendliche und deren Familien sich nur in interprofessioneller Kooperation fachgerecht abklären lässt. Diese Einsicht ist freilich noch keine Lösung. Sie wirft vielmehr eine Reihe von praktischen und theoretischen Fragen auf. Im Hinblick auf die psychotherapeutische Versorgung im Schnittfeld von Jugendhilfe und Gesundheitswesen werden solche Fragen seit vielen Jahren von der Kammer für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Land Berlin diskutiert. Eine interdisziplinär zusammengesetzte »KJHG-Kommission« beispielsweise hat Fragen der Indikation, der Besonderheit und der Qualitätsanforderungen an Psychotherapie im Rahmen der Jugendhilfe bearbeitet und die Ergebnisse der Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt.2 Eine als »Interdisziplinäres Colloquium« organisierte Veranstaltungsreihe hat die angemessene psychotherapeutische Versorgung insbesondere der als »hard to reach« bezeichneten Gruppe von Jugendlichen thematisiert. Zuletzt stand den Fachkräften verschiedenster Professionen in Berlin von 2009 bis 2011 ein Forum zur Verfügung, das den Blick über psychotherapeutische Hilfen hinaus auf die gesamte Palette der Hilfeleistungen im Kinder- und Jugendhilfebereich erweitert und zugleich den Akzent der Betrachtung auf Probleme der Diagnostik gelegt hat. In zweimonatlichem Rhythmus haben die Alice-Salomon-Hochschule, das Vivantes Klinikum Berlin-Hellersdorf und die Psychotherapeutenkammer Berlin zu einem »Jour Fixe Psychosoziale Diagnostik im Kinder- und Jugendhilfebereich« eingeladen, der von der Hochschule fachlich organisiert wurde. Die TeilnehmerInnen kamen aus den Berufsfeldern der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, der Psychologie und Psychotherapie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Der kollegiale Austausch über Disziplingrenzen hinweg galt folgenden Fragen: Welche Konzepte, Instrumente und Vorgehensweisen sind wann und wo in der Fallabklärung nützlich und sinnvoll? Welche Einrichtungen und Disziplinen sind daran beteiligt? Welche Begrifflichkeiten und fachlichen Perspektiven bestimmen den diagnostischen Prozess insgesamt und in seinen Teilen? Welche Ziele werden dabei verfolgt? Wer, welche Person, welche Disziplin, welche Institution übernimmt in diesem Prozess welche Verantwortung? Wie unterscheiden sich die diagnostischen Beiträge der beteiligten Professionen? Wie lassen sie sich aufeinander beziehen? Wie können sie im diagnostischen Prozess integriert werden? Wie lässt sich zur Erarbeitung psychosozialer Diagnosen in der Jugendhilfe die Kooperation der Disziplinen, Professionen und Institutionen organisieren und verstetigen? Kann die Kommunikation transdisziplinär optimiert werden? Ist in den Hilfeplanungsprozessen eine Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs und ein gemeinsames Fallverständnis möglich? Müssten nicht die Begrifflichkeiten und die diagnostischen Praktiken im Sinne der Zwecke der Jugendhilfe koordiniert sein?

Insgesamt bewerteten die teilnehmenden Fachkräfte die Möglichkeit, eine Reihe von diagnostischen Herangehensweisen kennenzulernen und interprofessionell besser nachvollziehen zu können, als fruchtbar. Als Vorteile von Diagnostik im interprofessionellen Diskurs betrachteten sie die reichhaltigeren Erklärungsmodelle für komplexe und »unverständliche« Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, die dadurch zustande kommen, und den Abbau von Kooperationshemmnissen zwischen den Berufsständen, auch zwischen erkenntnistheoretisch unterschiedlichen »Herkünften«. Viele Fragen und Anliegen hat der Jour Fixe freilich offengelassen. Aber er hat zu weiterer Ausarbeitung und Umsetzung angeregt. Und er hat der interprofessionellen Diagnose- und Indikationspraxis der Kinder- und Jugendhilfe bei den TeilnehmerInnen zu ein wenig mehr Sicherheit im Feld verholfen. Die Erfahrungen aus den Präsentationen und Diskussionen einer Reihe bereits erprobter Diagnostikmodelle aus allen Disziplinen und Professionen und Ideen für neue, noch zu entwickelnde Verfahrensweisen haben die Konzeption des vorliegenden Bandes angeregt.

Zum Einstieg wurden dafür im ersten Abschnitt des Buches – »Interdisziplinäre und interprofessionelle Aspekte Biopsychosozialer Diagnostik« – alle Disziplinen aufgefordert, ihre jeweilige Perspektive auf Diagnostik darzustellen. Silke Birgitta Gahleitner, Karl Wahlen und Oliver Bilke-Hentsch stellen in den ersten drei Beiträgen Diagnostik aus der Perspektive der jeweiligen Disziplinen Soziale Arbeit, Psychologie und Medizin vor. Soziale Diagnostik, psychologische Diagnostik und medizinische Diagnostik – so wird in allen drei Beiträgen deutlich – kann ohne den kooperativen Bezug auf die jeweils anderen disziplinären Wissensbestände keine tragfähigen diagnostischen Realitätsbeschreibungen, Befunde und Interpretationen hervorbringen. Psychologische, medizinische und soziale Diagnostik sind nicht bereits an und für sich, jeweils von sich aus schon biopsychosoziale Diagnostik. Alle drei diagnostischen Perspektiven müssen dafür von der Struktur ihres eigenen Untersuchungsbereiches her biopsychosozial dimensioniert gedacht werden. Individuelles, psychisches Erleben und Verhalten ist somit stets somatisch verankert und zugleich an sozial validiertem, in sozialen Systemen zur Geltung gebrachtem Sinn orientiert. »Das Psychische« – so wird in den Beiträgen deutlich – entsteht als individueller erlebens- und verhaltensförmiger Anpassungsprozess an der Grenze zwischen dem menschlichen Organismus und seiner sozialen Umwelt stets neu. Um diesen Prozess diagnostisch angemessen erfassen zu können, muss er jeweils in einem biopsychosozialen Rahmen begriffen werden. In diesem Sinne integrierte diagnostische Prozesse befinden sich an vielen Stellen noch in den Kinderschuhen.

In dem darauf folgenden Artikel »Diagnostik aus der Perspektive des Jugendamtes« stellt Karl Wahlen die Verbindung der eingangs erarbeiteten Einsichten zur Praxis der Kinder- und Jugendhilfe im Arbeitsbereich des Jugendamtes her. Jugendhilfespezifische Diagnostik als biopsychosoziale Diagnostik – im Unterschied zur »rein« psychologischen und medizinischen, aber auch zur sog. sozialpädagogischen Diagnose – ist nach wie vor eher ein Desiderat als eine gängige Praxis. Der Beitrag untersucht zunächst die Barrieren in der praktischen Umsetzung qualitativ anspruchsvoller Diagnostik, sodann wird ein Vorschlag skizziert, wie fallzuständige Fachleute im Jugendamt den diagnostischen Prozess adäquat organisieren können. Im Zentrum einer solchen Diagnostik steht die stets am Kindeswohl orientierte Abwägung von erkennbaren Chancen und Risiken, die sowohl mit dem Unterlassen als auch mit dem Gewähren von Hilfen verknüpft sind.

Im abschließenden Artikel des ersten Buchabschnitts »Interprofessionelle Kooperation in Diagnostikprozessen der Kinder- und Jugendhilfe« widmen sich Hans Günther Homfeldt und Silke Birgitta Gahleitner dem Thema Kooperation. Die Zunahme von »Hochrisikogruppen« in der Kinder- und Jugendhilfe stellt die derzeitigen Versorgungssysteme vor die Aufgabe der Spezialisierung. Aus dieser Entwicklung ergeben sich weitreichende Folgen für die Tätigkeitsmerkmale der Fachkräfte der Sozialen Dienste sowie im Hinblick auf organisatorische Ausdifferenzierungen. Die daraus entstehende wechselseitige Verwiesenheit der sozialen Dienste kann nur durch die Integration bzw. Kooperation sozialarbeiterischer, sozialpädagogischer, therapeutischer und medizinischer Hilfen gelöst werden. In der Alltagsrealität der Fachkräfte jedoch fehlen für gelingende Kooperationen zwischen den Professionellen der Kinder- und Jugendhilfe des Gesundheitsbereiches bislang zumeist die Voraussetzungen – methodisch wie strukturell. In dem vorliegenden Artikel werden auf Basis der Hintergründe und Traditionen interprofessioneller Zusammenarbeit Kooperationsverhältnisse charakterisiert, konkrete Erfahrungen aus dem bereits in der Einleitung benannten Jour Fixe eingebracht und konstruktive Anregungen für gelingende Kooperationen gegeben.

Das Kapitel »Kategoriale, biografie- und lebensweltorientierte Zugänge zur Diagnostik im Kinder- und Jugendbereich« wird eingeleitet durch zwei Artikel von Klaus Hennicke. Nach einer allgemeinen Einführung in die Problematik von psychiatrischer Diagnostik und Klassifikation im Artikel »Psychiatrische Diagnosen und deren Klassifikation nach der ICD-10« wird in einem weiteren Artikel – »Das multiaxiale Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters (MAS)« – ausführlich auf die Struktur und Methodik der ICD-10 am Beispiel des MAS (Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO) eingegangen. Die ICD kann auf diese Weise in der Kinder- und Jugendhilfe ein praktikables Instrument darstellen, menschliche Äußerungsformen, die von einer gedachten Normalität signifikant abweichen, möglichst objektiv, d. h. mit mehr oder weniger eindeutig operationalisierten Kriterien zu erkennen und zu einem Störungsbild zusammenzufassen – mit dem Ziel, multimodale therapeutische Interventionen auf allen Ebenen zu begründen. Die Möglichkeiten der multiaxialen Klassifikation und das Prinzip der Komorbidität erlauben dann – bei aller Kritik – eine hinreichende dimensionale Abbildung menschlicher Problemlagen und psychischer Leidensformen zur Begründung von Hilfekonzepten.

In ihrem Artikel »Die operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter (OPD-KJ) als Instrument zur multimodalen Therapieplanung« veranschaulichen Oliver Bilke-Hentsch, Agnes von Wyl und Ruth Weissensteiner eine Herangehensweise an Diagnostik aus einer ganz anderen Perspektive. Das tiefenpsychologisch-psychodynamisch orientierte Instrument hat eine beachtliche Historie in den diagnostischen Bemühungen einer langen Reihe psychoanalytischer AutorInnen. Gleichwohl hat es sich als Klassifikations- und Diagnosesystem aufgrund seiner Komplexität bisher praktisch nicht recht durchsetzen können. Ab Anfang der 1990er Jahre hat eine Gruppe von psychodynamisch orientierten PsychotherapeutInnen versucht, das Problem der mit jeder Operationalisierung einhergehenden Reduktion der Komplexität von klinischen Einzelfällen zu lösen und sich damit den Kriterien der Nachvollziehbarkeit, einer gewissen Objektivität sowie der Reliabilität zu stellen. Die AutorInnen veranschaulichen das Instrument an einem Einzelfallbeispiel.

In ihrem Artikel »Diagnostik der Erziehungs- und Entwicklungssituation nach dem Multiaxialen Diagnosesystem Jugendhilfe (MAD-J)« stellen Karl Wahlen und André Jacob ein weiteres spezifisches Diagnoseinstrument vor, welches sich auf den komplexen Themenbereich der elterlichen Erziehung und kindlichen Entwicklung bezieht. Es schlägt eine mehrdimensionale Systematik vor, die wesentliche Aspekte des Erziehungshandelns von Eltern, der Entwicklung ihrer Kinder und der Bedingungen beschreibt, unter denen sich in Familien Erziehungs- und Entwicklungsprozesse vollziehen und miteinander verschränken. Die MAD-J-Dimensionen spannen einen Merkmalsraum auf, der die diagnostische Aufmerksamkeit differenziert und wichtige Wirkfaktoren hervorhebt, die auf das familiäre Erziehungs- und Entwicklungsgeschehen Einfluss nehmen. Auf diese Weise lassen sich jugendhilferelevante familiäre Störungen, die die Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen, leichter erkennen, beschreiben, verstehen/erklären und bewerten und passende, bedarfsgerechte Hilfeformen finden.

In ihrem Artikel »Sozialpädagogische Diagnose – ein Meilenstein auf dem Weg zu einer wirkungsorientierten Prozessgestaltung in der Einzelfallhilfe« bringen Hans Hillmeier und Harald Britze ein weiteres, bereits zahlreich bewährtes Diagnostikinstrument ein. Mit den Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen hat das Bayerische Landesjugendamt bereits seit vielen Jahren eine Handreichung zur Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe geboten, die Fachkräfte in der Alltagspraxis der Gefährdungseinschätzung, der Feststellung der Leistungsvoraussetzungen für eine Hilfe zur Erziehung und in der Hilfeplanung unterstützt. Im vorliegenden Beitrag werden die Grundzüge der vor kurzem evaluierten und aktualisierten Sozialpädagogischen Diagnose-Tabellen beschrieben und verfahrensstrukturell in das Hilfeplanverfahren eingeordnet. Auf dem Weg zu einer wirkungsorientierten Steuerung und im Dialog mit Kooperationspartnern in der Gesundheitshilfe, Schule, Verwaltung und Justiz wird zudem versucht, sozialpädagogische Fachlichkeit als rechtsstaatliches Verwaltungshandeln nachvollziehbar auf den Punkt und zur Geltung zu bringen.

In ihrem Artikel »Biografieorientiertes Verstehen und Verständigen als ganzheitlich, lebensweltlich und dialogisch orientierte Fallarbeit. Ein rekonstruktiver Zugang in der Kinder- und Jugendhilfe« stellt Bettina Völter einen ganzheitlichen und damit klassisch sozialarbeiterischen Zugang zur Diagnostik vor, der die Grundprinzipien eines lebenswelt- und subjektorientierten, transperspektivischen und transdimensionellen, professions- und institutionenkritischen, auch i.S. von Macht dekonstruierenden, selbst- und fremdreflexiven sowie ethnografisch und qualitativ-rekonstruktiv fundierten Fallverstehens vertritt. Der Alltags- und Lebensweltbezug ist in diesem Ansatz ebenso enthalten wie gesundheitliche, soziale oder psychische Aspekte. Die Methoden der Biografiearbeit sind für dieses Verfahren ebenso geeignet wie Formen narrativer und narrativ-biografischer Gesprächsführung. Darüber hinaus werden im Aufsatz zwei Varianten der professionellen und diagnostischen Aufarbeitung einer dialogisch und/oder spielerisch erhobenen Wissensbasis vorgestellt. Das Verfahren schließt damit an die aktuellen Diskussionen in der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe sowie an partizipative sowie dialogische Ansätze in der Kinder- und Jugendhilfe an.

In ihrem Artikel »EQUALS – ein teilstandardisiertes Instrument zur interdisziplinären Zielvereinbarung und Unterstützung des Hilfeplanverfahrens in der Kinder- und Jugendhilfe« vertreten Martin Schröder, Nils Jenkel und Marc Schmid eine vermittelnde Position zwischen den bisher vorgestellten Ansätzen. Der Beitrag der Autoren zielt darauf ab, den Bedarf eines interdisziplinären und teilstandardisierten Instruments zur Bestimmung der gesellschaftlichen Teilhabe von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe deutlich zu machen. Auf der Grundlage einer gemeinsam erarbeiteten Diagnostik wird ein umfassendes Fallverständnis produziert, welches die Basis für die Hilfeplangespräche im Einzelnen und somit für die gesamte Erziehungshilfe im Allgemeinen legt. Anhand eines Praxisbeispiels mit dem Computerprogramm EQUALS wird ein idealtypischer Verlauf zur Strukturierung und Erstellung eines Hilfeplangesprächs verdeutlicht. Damit wird der Nutzen eines strukturierten Hilfeplangesprächs unter Verwendung von EQUALS für alle Beteiligten deutlich und führt nach Ansicht der AutorInnen zu einer Professionalisierung des Hilfeplanverfahrens.

In seinem Artikel »Lebenswelt und Lebensfeld – Diagnostik des Sozialen in der Jugendhilfe« beschäftigt sich Peter Pantuček mit diagnostischen Verfahren, die verschiedene Aspekte der sozialen Einbindung von Personen abbilden. Diese sind geeignet, Ressourcen und Hindernisse für wünschenswerte Änderungen in der Lebenssituation der AdressatInnen aufzuspüren. Im Fokus stehen die Beziehungen im Umfeld, Aspekte der Inklusion, aber auch biografische Fakten. Besonders interessant, so der Autor, sind dabei Instrumente, die eine strukturierte kooperative Diagnostik, also die Beteiligung der KlientInnen am Prozess der Datenproduktion und Interpretation ermöglichen. Gerahmt wird der Beitrag durch grundsätzliche Überlegungen zu Fragen der Sozialen Diagnostik im Kontext der Jugendhilfe, insbesondere zum Verhältnis von Diagnose und Intervention und zu Problemen der Einschätzung von Risiken.

In seinem Artikel »Systematische Diagnostik in der Jugendhilfe mit dem Störungsübergreifenden Diagnostik-System für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (SDS-KJ)« stellt Michael Borg-Laufs ein Verfahren vor, das eine systematische Diagnostik ermöglicht, die – so der Autor – im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gut nutzbar ist. Exemplarisch wird dazu in das Diagnostik-System eingeführt. Auf den Ebenen Verhaltensanalyse, Beziehungsanalyse, Motivationsanalyse, Störungsbildanalyse, Ressourcenanalyse und Systemanalyse werden interventionsorientierte Einschätzungen generiert, die wichtige Aspekte der Kinder- und Jugendhilfe abdecken.

In ihrem Artikel »Zugänge und Anwendungen systemischer Diagnostik« reflektieren Sebastian Baumann und Hartmut Epple die Entwicklungen im systemischen Bereich zum vorliegenden Thema. Die Zeiten, in denen systemische Therapeuten auf diagnostische Verfahren einzig mit Stirnrunzeln reagierten, sind ihrer Ansicht nach vorbei, geblieben ist jedoch, so die Autoren, ein spezifisches Verständnis von Diagnostik. Der vorliegende Beitrag schafft einen Zugang dazu, wozu systemische Diagnostik in der Jugendhilfe nützlich sein kann und worin sie sich im Vergleich zu anderen diagnostischen Sichtweisen und Selbstverständnissen unterscheidet. Im zweiten Teil des Artikels werden systemisch orientierte diagnostische Perspektiven auf drei miteinander verbundenen Ebenen vorgestellt: Der Ebene der Klienten, der des Helfersystems sowie einer Selbstdiagnostik. Die einzelnen Zugänge und Anwendungen sind durch Fallbeispiele erläutert.

In ihrem Artikel »Sonderpädagogische Diagnostik als Teil des Beratungsauftrags von Klinikschulen am Beispiel der Berliner Schule in der Charité« zeigen Inka Vogler und Ronald Vierock, dass Klinikschulen über den Bildungs- und Erziehungsauftrag hinaus auch weitere Aufgaben haben. Ein wesentlicher Auftrag ist die Schullaufbahnberatung für Kliniken, Schüler und Eltern, aber auch für Heimatschulen und andere beteiligte Institutionen. Dazu ist es erforderlich, wesentliche Informationen zur schulischen Entwicklung, zum Lern- und Entwicklungsstand und zum Sozialverhalten zu ermitteln und in die klinische Diagnostik einzubringen. Auf dieser Grundlage wird eine fundierte schulische Empfehlung formuliert, die sich auf die Kompetenzen der Schülerin bzw. des Schülers bezieht und an sonderpädagogischen Kriterien sowie an inklusiven schulischen Voraussetzungen orientiert ist. Hierzu wurden in den letzten Jahren zahlreich Verfahren entwickelt. Der Artikel gibt einen Überblick.

Das abschließende Kapitel »Vorschlag für ein biopsychosoziales Rahmen-Verbundmodell« versucht, über alle vorhergehenden Artikel hinweg einen Bogen zu spannen. Es wird ein Modell vorgestellt, in dem konzeptionell die vorherigen Ideen, Instrumente und Vorgehensweisen Platz finden. Dieses Rahmen-Verbundmodell wird skizzenhaft an einem Fallbeispiel verdeutlicht. Unter dem Titel »Zur Implementation biopsychosozialer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe: ein Vorschlag« reflektieren Silke Birgitta Gahleitner und Hans Günther Homfeldt jedoch zugleich, ob und inwiefern die Implementation biopsychosozialer Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe gelingen kann und welche Aspekte dabei zu berücksichtigen sind. Dabei wird deutlich: Das Projekt »biopsychosozial« stellt an die beteiligten Professionen und an die zugrundeliegenden Disziplinen hohe Ansprüche. Für deren Einlösung hat die Kinder- und Jugendhilfe noch eine Reihe von Aufgaben vor sich.

Die Kinder- und Jugendhilfe steht in einem prekären Spannungsfeld von gesellschaftlichen und professionellen Veränderungsprozessen. Lebens- und Arbeitswelten verlangen – besonders von Heranwachsenden –, sich flexibel zu verhalten, Risiken einzugehen und selbstbestimmt zu leben. Die Auflösung sozialer Milieus, Individualisierungsschübe und die Entgrenzung der Lebensalter beschleunigen sich wechselseitig und treffen Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch und -kulturell benachteiligten Bevölkerungsteilen besonders hart. Ihre Teilhabechancen am gesellschaftlichen Leben sind so eingeschränkt, dass sie einen »besonderen Versorgungsbedarf« aufweisen. Vor diesem Hintergrund ist ein spezifischer psychosozialer Hilfebedarf entstanden (Keupp, 2012), der beteiligte Fachkräfte wie Institutionen vor beachtliche Herausforderungen stellt. Insbesondere der Diagnostikbereich stellt hier einen sensiblen Abschnitt in der Hilfeplanung dar, der besonderes Augenmerk verlangt. Wir hoffen, das vorliegende Buch trägt dazu bei, im Prozess der Hilfeplanung und -durchführung noch etwas genauer hinzuschauen, Kooperationen besser gelingen zu lassen und Entscheidungen über die Gewährung und Gestaltung von Hilfen noch fundierter zu treffen.

Berlin, Dezember 2012

Silke Birgitta Gahleitner, Karl Wahlen,

Oliver Bilke-Hentsch und

Dorothee Hillenbrand

Literatur

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2002). Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin: BMFSFJ.

(www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/kjb/data/download/11_Jugendbericht_gesamt.pdf), Zugriff am 02. 08. 2012

Schmid, M., Nützel, J., Fegert, J. M. & Goldbeck, L. (2006). Wie unterscheiden sich Kinder aus Tagesgruppen von Kindern aus der stationären Jugendhilfe? Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 55 (7), 544 – 558.

Verein für Kommunalwissenschaften (VfK) e. V. (2005). Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Vom Fallverstehen zur richtigen Hilfe. Dokumentation der Fachtagung vom 21.–22. April 2005 (Reihe: Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe, Bd. 51). Berlin: Verein für Kommunalwissenschaften e. V. (edoc.difu.de/edoc.php?iU31 045WG), Zugriff am 25. 10. 2012

1 Der Bericht benutzt den Ausdruck »sozialpädagogische Diagnose«, um das Besondere von Diagnostik in der Jugendhilfe hervorzuheben (ebd.). Die Verengung jugendhilfespezifischer Diagnostik auf sozialpädagogische Diagnostik ist üblich; siehe z. B. den VfK-Tagungsbericht zum Thema »Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe« (2005). Fast ausnahmslos sind es Vertreter der sozialpädagogischen Profession, die sich in der Kontroverse um das Für und Wider diagnostischer Urteilsbildungen in der Jugendhilfe befinden: Gibt es eine sozialpädagogische Diagnostik? Sollte es sie überhaupt geben? Wenn ja, wie sollte sie gestaltet sein? Andere Professionen (Medizin, Psychologie, Psychotherapie) werden in dieser Kontroverse nur erwähnt, wenn es um Schnittstellen-, Abgrenzungs- und Kooperationsfragen geht, die sich im Verhältnis der Jugendhilfe zu anderen Versorgungssystemen, insbesondere zum Gesundheitswesen, stellen.

2 Siehe: http://www.psychotherapeutenkammer-berlin.de (Suchwort: KJHG)

5 Interprofessionelle Kooperation in Diagnostikprozessen der Kinder- und Jugendhilfe

Hans Günther Homfeldt und Silke Birgitta Gahleitner

Die in Kapitel 1 dargelegte Zunahme von »Hochrisikogruppen« in der Kinder- und Jugendhilfe stellt die Systeme der psychosozialen Versorgung vor große Herausforderungen: Zum einen wächst die Notwendigkeit, die professionelle Problemlösekompetenz zu erhöhen, zum anderen entstehen mit ihr weitere Spezialisierungsbedarfe und Differenzierungsnotwendigkeiten der Versorgungsstrukturen. Mit einer solchen Entwicklung ergeben sich jedoch auch weitergehende Folgen für die Tätigkeitsmerkmale der Fachkräfte der jeweiligen sozialen Dienste und für die jeweiligen zugrundeliegenden wissenschaftlichen Disziplinen.

Auf der Ebene der Praxis droht der Verlust von Lebensweltorientierung und mit ihr einhergehend ein Wirksamkeitsverlust der Maßnahmen (vgl. Santen & Seckinger, 2003, S. 15). Hinzu kommt, dass die Bedarfslagen der KlientInnen – nach gesundem Aufwachsen in grundsätzlicher Hinsicht, nach angemessenen sozial-emotionalen Beziehungen, nach sozialen Unterstützungsnetzwerken in spezieller Hinsicht und einer sozialen Unterstützungsstruktur im Allgemeinen – zumeist nicht in die sich ausdifferenzierenden Angebote passen. Andererseits ist eine schlichte Verweigerung organisatorischer Ausdifferenzierung auch nicht hilfreich.

Diese knapp skizzierte Paradoxie verweist auf eine wechselseitige Verwiesenheit der sozialen Dienste. Dem komplexen Versorgungsbedarf kann nur durch die Integration sozialarbeiterischer, sozialpädagogischer, therapeutischer und medizinischer Hilfen begegnet werden. Einzig kooperative Ansätze zwischen Professionellen verschiedener sozialer Dienste und darüber hinausreichend Ansätze interorganisationeller Kooperation scheinen Lösungswege zu einem möglichst »bruchlosen« Gesamthilfeprozess (vgl. Gahleitner & Homfeldt, 2012) und damit auch aus der schwer auflösbaren Paradoxie funktionaler Differenzierung anzubieten. Sie liegt »in der Gleichzeitigkeit von Autonomie und Abhängigkeit von organisierten Teilsystemen« (Bauer, 2011, S. 344).

In der Realität des beruflichen Alltags der Fachkräfte jedoch – sowohl im Bereich der Diagnostik wie auch der Interventionsplanung – fehlen für gelingende Kooperationen zwischen den Professionellen der Kinder- und Jugendhilfe, der Gesundheitshilfe wie auch der Behindertenhilfe bislang zumeist die Voraussetzungen – methodisch wie strukturell – trotz guten Willens von allen Seiten. Dabei bleibt jedoch viel auf der Strecke, da sich die Fragwürdigkeit spezialisierter Leistungen durch die jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme nicht in erster Linie durch die Leistungserbringer stellt, sondern »vielmehr aus Sicht der Leistungsempfänger, um nicht in der Vielfalt und Heterogenität der spezialisierten Angebote verloren zu gehen« (Bauer, 2011, S. 345). Im Folgenden werden daher nach der Darstellung einiger Hintergründe und Traditionen von interprofessioneller Zusammenarbeit Kooperationsverhältnisse charakterisiert, konkrete Erfahrungen aus dem bereits in der Einleitung benannten Jour Fixe eingebracht und konstruktive Anregungen für gelingende Kooperationen gegeben.

5.1 Diagnostik und Kooperation: eine schwierige Liaison

Kooperation kann als eine Gegenbewegung zur immer weiter voranschreitenden Differenzierung der Dienstangebote in der Kinder- und Jugendhilfe, der Gesundheitshilfe und Eingliederungshilfe verstanden werden. Kooperation fassen wir »als das strukturierte, d. h. nicht zufällige, auf relative Dauer gestellte und sich durch (zumindest temporäre) wechselseitige Erwartungssicherheit (entweder auf reziproker oder auf nicht-reziproker Basis) begründende koordinierte (und damit zielorientierte) Wirken (Zusammenwirken) Mehrerer« (Endreß, 2012, S. 87). Bedauerlicherweise klafft im Diagnostikbereich ein besonders tiefer, inzwischen als historisch zu begreifender Graben zwischen den verschiedenen Berufsgruppen (Gahleitner, 2010). Gerade in Kinder- und Jugendhilfezusammenhängen distanzieren sich die sozialen und pädagogischen Berufsgruppen daher häufig – enttäuscht von machtträchtigen Entmündigungsprozessen aus den dominanten medizinischen und psychologischen Professionsbereichen – von Diagnostikprozessen.

Zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den soeben genannten Problemlagen gehört jedoch ein interprofessionelles und mehrdimensionales Diagnostikrepertoire, das konstruktiv von allen beteiligten Berufsgruppen in den Hilfeplanungsprozess einzubringen ist. Vor dem Hintergrund der wechselvollen deutschen Geschichte ist ein kritischer, sensibler und berufsethisch reflektierter Umgang mit Diagnostik in der Sozialen Arbeit zwar angesagt (► Kap. 1–3). Die gesellschaftskritische Debatte darf jedoch nicht zu einer fehlenden Präsenz der Sozialen Arbeit in Diagnostikzusammenhängen führen. Denn für die Kinder- und Jugendhilfe bedeutete das eine Leerstelle derjenigen Berufsgruppe, die die Hilfeprozesse weitgehend steuern soll. Zudem ist der Anteil der gemeinsamen Klientel der Sektoren Jugendhilfe und Jugendgesundheit massiv gestiegen (Beck & Warnke, 2009). Von früheren Untersuchungen, die 10–15 % gemeinsame Kinder- und Jugendliche im Jugendhilfe- und Gesundheitssystem ausweisen, belegen die Zahlen bereits um das Jahr 2000 30 % gemeinsame Klientel (Darius, Hellwig & Schrapper, 2001).

Diese Entwicklung birgt Chancen wie Gefahren. Die Folge kann eine – durch die Überlastung noch verstärkt – ausgrenzende Handlungspraxis sein: Der medizinisch-psychotherapeutische Bereich z.B. nutzt dann die Jugendhilfe nur noch als »Dienstleister«, die Jugendhilfe wiederum instrumentalisiert den medizinischpsychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich zum reinen »Reparaturbetrieb«. »Je nach fachlicher Orientierung sollen ›Verhaltensauffälligkeiten behandelt‹ oder ›belastende Lebenssituationen bewältigt‹ werden« (du Bois, 2004, S. 1428; vgl. zu den Problemen der Kooperation in der Kinder- und Jugendhilfe auch Fegert & Schrapper, 2004). Betrachtet man nun noch zusätzlich die Beziehungen zwischen Jugendhilfe, Gesundheitsbereich und Schule, sind schulisches Scheitern, Sonderbeschulung oder gar Ausschulung oftmals immer noch das Ende einer Kette demotivierender Erfahrungen (Freese, Holz & Adam, 2009; Haller, 2009; Herz, 2009).

Es gibt aber auch andere Umgangsformen mit den steigenden Anforderungen. Neben den beschriebenen Zerwürfnissen existiert nämlich auch eine Reihe Mut machender Beispiele zur Integration und Konvergenz sozialarbeiterischen, pädagogischen, psychologischen und medizinischen Denkens – historisch wie aktuell (► Kap. 1–3). Auch über den § 35 a SGB VIII wurde die Chance auf interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Hilfesegmenten zu fördern versucht, um ärztliche und pädagogische Kompetenzen bei den Planungen zur Eingliederungshilfe psychisch kranker Kinder und Jugendlicher zu vereinen, auch wenn in diesem Bereich noch eine Reihe von Veränderungsnotwendigkeiten im Sinne der +Entwicklung zu einer »Großen Lösung« besteht (siehe unten; ► Kap. 18; Schmid, 2010).

Was jedoch bedeutet Kooperation bei steigenden Anforderungen in der sozialen Diagnostik von Kindern und Jugendlichen, und welche Wege sind zu beschreiten? Was würde es erfordern, auch diagnostisch, die Voraussetzungen für eine angemessene professionelle Antwort auf gesundheitliche Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse postmoderner Lebensverhältnisse und unausgewogener Chancenstrukturen bereitzustellen?

Auf diese Frage gibt es noch keine befriedigende, geschweige denn endgültige Antwort. Fest steht jedoch: Kinder- und Jugendliche, die an Abbrüchen und Diskontinuitäten leiden, brauchen nicht nur verlässliche Bindungspersonen im Familien- und HelferInnenumfeld, sondern vor allem verlässlich-strukturierende bzw. strukturierte Hilfenetzwerke. Diese Überlegungen waren die Ausgangsituation zur Einrichtung des bereits in der Einleitung benannten »Interprofessionellen Jour Fixe: Psychosoziale Diagnostik im Kinder- und Jugendhilfebereich«.

In der dreijährigen Zusammenarbeit tauchten neben den soeben genannten und bekannten Differenzen zwischen den Professionen häufig auch – unerwartet – Parallelen auf. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Im Kinder- und Jugendbereich verfügt auch die ICD-10 in der Version des MAS, des sogenannten »Multiaxialen Diagnosesystems«, über verschiedene Unterachsen (Remschmidt, 2006; ► Kap. 6). Bei gegenseitigem Respekt kann die im letzten Artikel dieses Bandes dargestellte Biografie- und Lebensweltdiagnostik psychosozialer Berufsgruppen wertvolle Hinweise für die Ausgestaltung dieser Achsen für MedizinerInnen und PsychologInnen geben (► Kap. 1).

Bei der Präsentation der verschiedenen Vorschläge und Perspektiven diagnostischer Herangehensweisen in der dreijährigen Zusammenarbeit gab es jedoch – wie zu erwarten – eine Reihe kontroverser und z. T. durchaus harter Diskussionen, die sich häufig entlang der Professionslinien entfalteten. Die Ursache dafür lässt sich bereits in den Ausbildungsgängen lokalisieren. In den medizinischen und psychologischen Studiengängen mangelt es an Praxisbezug, bei den Studien- und Ausbildungsgängen der Sozialen Arbeit, Pädagogik und Heilpädagogik an klinischen sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Kenntnissen. Hier zeigen sich die negativen Konsequenzen einer traditionell angelegten disziplinären und in ihrer Folge professionellen Versäulung. Die Praxis des Gesundheitsbereiches ist daher stark von medizinischen und psychologischen Konzepten dominiert, die ihre Logik weitgehend am Individuum ausrichten; Differenzaspekte wie materielle Verhältnisse, politische Verhältnisse, Ethnie, Geschlecht, kultureller Hintergrund, Bildung usw. finden erst langsam Eingang.

Einem skizzenhaften, per E-Mail eingeholten Stimmungsbild zufolge wurde jedoch genau diese Möglichkeit wertgeschätzt, »den jeweils aktuellen Stand zum Thema Diagnostik in der Jugendhilfe zu erhalten und sich in die Fachlichkeit und die Sprache der Partnersysteme hineindenken zu müssen«. Der Austausch im Jour Fixe wurde andererseits auf einem Niveau erlebt und beschrieben, der sich im zeitlich knapp bemessenen Arbeitsalltag ohne konkrete Vernetzungsinitiativen kaum ermöglichen lässt. Vonseiten einer Mitarbeiterin des Jugendamtes wurde z.B. angemerkt, der Einblick in Klassifikationssysteme und Hintergründe der stärker medizinisch orientierten Berufsgruppen werde als sehr wichtig für die Arbeit an der Basis erlebt, die Teilnahme gestalte sich jedoch durch zunehmende Ressourcenknappheit und die mangelnde Resonanz im eigenen Arbeitszusammenhang schwierig und werde von der Leitung und anderen Teammitgliedern im Jugendamt z. T. sogar als störend wahrgenommen.

Aber auch von den anderen Berufsgruppen wurde und wird die mangelnde Möglichkeit, die in einem Kooperationsgefüge gemeinsam erarbeiteten Inhalte noch stärker in den Praxiskontext zu implementieren und auf struktureller Ebene zu verankern, beklagt. Eine Teilnehmerin schrieb kurz und bündig: »Zum Jour fixe gehe ich selten, weil ich überlastet bin. Inhaltlich finde ich es spannend und anregend.« Ähnliche Erfahrungen machen andere Kooperationsinitiativen und Modellprojekte (vgl. dazu z.B. das Modellprojekt »Kooperation von Kinder- und Jugendpsychiatrie, Jugendhilfe und Schule« in Berlin; Freese et al., 2009).

Kooperative Arbeitszusammenhänge sind bisher also eher auf engagierte Einzelinitiativen angewiesen, beklagt wird immer wieder die mangelnde Möglichkeit, die gemeinsam erarbeiteten Inhalte noch stärker in den Praxiskontext zu implementieren und auch auf struktureller Ebene zu verankern. Darauf soll im Folgenden nochmals näher eingegangen werden.

5.2 »Gelingende Kooperation« in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen: Geht das überhaupt?

Ist Kooperation also ein hehres, aber unerreichbares Ziel? Viele der Forderungen sind eigentlich bekannt, in der Realität aber wenig umgesetzt: Feste Einrichtungen, wie z.B. regelmäßige gemeinsame Fallanalysen bzw. Fallkonferenzen an festgelegten Orten, auf die sich alle involvierten Fachstellen einigen müssen, klare Strukturen, Beschreibungen und Methoden des Vorgehens vermitteln KlientInnen wie Professionellen Sicherheit und Halt. So können Meinungsverschiedenheiten über Diagnostik und Intervention sowie andere fachbereichsspezifische Vorstellungen aus dem medizinischen, psychologischen und sozialpädagogischen und schulischen Bereich regelmäßig ausgetauscht werden. Die gemeinsamen Aushandlungsprozesse erfordern zwar zunächst ein Mehr an Einsatz bzw. Arbeitskapazitäten, langfristig jedoch wird die Arbeit erheblich effektiver.

Dennoch bedarf der Aufbau eines solchen Gefüges der Bereitstellung angemessener finanzieller, personeller, zeitlicher und struktureller Ressourcen, wenn sie lebendig bleiben wollen, und darf nicht allein auf dem Engagement einzelner Personen beruhen, die »ausnahmsweise« erfolgreich Kontakt geknüpft haben. So jedenfalls der Tenor einer Reihe von ExpertInnen verschiedener Professionen zu diesem Thema aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit besonderem Versorgungsbedarf (vgl. dazu den Sammelband Gahleitner & Homfeldt, 2012). Im Folgenden soll aus diesen Ergebnissen überblickshaft Auskunft gegeben und auf einige Grundsätze, Formen und Voraussetzungen verwiesen werden.

Grob betrachtet lassen sich professions- und organisationsbezogene Kooperationen voneinander unterscheiden. Während die professionsbezogenen Kooperationen freiwillig erfolgen, zumeist »auf langjährigen vertrauensvollen, stark persönlich eingefärbten Beziehungen beteiligter Akteure« (Bauer, 2011, S. 352), freiwillig und dabei wenig institutionell sowie strukturell gesichert agieren, sind in organisationsbezogenen Kooperationen die Professionellen in erster Linie VertreterInnen ihrer sozialen Dienste.

Bei der Umsetzung sowohl der professions- wie auch organisationsbezogenen Kooperation ist darauf zu achten, dass möglichst keine unausgesprochenen wechselseitig überzogenen Erwartungen oder das Vertrauen einer guten Zusammenarbeit beeinträchtigende Vorbehalte existieren, dass der je eigene Sprachcode und ebenso der Denk- und Arbeitsstil durch die Professionellen der anderen sozialen Dienste verstanden werden (zu weiteren Aspekten in Bezug auf das Jugendamt Tenhaken, 2010, S. 95f.; bezogen auf Schule und Jugendhilfe Thimm, 2012). Zur Entwicklung einer gemeinsamen Kooperationsperspektive gehört als Voraussetzung (vgl. Gahleitner, Homfeldt & Fegert, 2012) u. a.

Von besonderer Bedeutung ist dabei Vertrauen als kooperationsfördernde Ressource. Keinesfalls konfliktfrei und unproblematisch aufzubauen, bildet es eine wichtige Grundlage in sozialen Austauschprozessen, in der Familie, in beruflichen wie auch gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen (vgl. Wagenblass, 2004, S. 51; Santen & Seckinger, 2011, S. 390). Dabei bezieht sich Vertrauen auf Zukünftiges und ist in diesem Zusammenhang in der Regel nicht mit spezifischen und kalkulierten Erwartungen verknüpft, sondern bestimmt mitlaufend wirksam Handlungssituationen (vgl. Endreß, 2012, S. 83).

In personenbezogenen Kooperationen kann Vertrauen ein durchaus brüchiges Gut sein und aufgrund negativer Einschätzungen (z.B. in Fragen von Verlässlichkeit) zu Vertrauenskrisen führen und in Misstrauen umschlagen. Zu wenig Misstrauen andererseits, so Endreß (2012, S. 86), im Sinne von Leichtgläubigkeit und Vertrauensseligkeit, kann für Kooperationen ebenfalls hinderlich sein. Auf der Ebene organisationsbezogener Kooperationen ist Vertrauen nicht bereits durch schriftlich gefasste Vereinbarungen sichergestellt, sondern es muss in konkreten Situationen immer wieder neu gefestigt werden, zumal ja Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheits- und Behindertenhilfe gleichzeitig immer auch noch im Wettbewerb miteinander stehen.

Vertrauensförderlich ist daher eine gewisse Konstanz beim Personal (vgl. Schweer, 2012, S. 112), sie »führt nachweislich zu weniger Misserfolgen bei Kooperationsbeziehungen« (ebd.). Wichtige Faktoren für Kooperationsförderung sind ferner ehrliche Kommunikation, Informationsweitergabe, Interesse am Gegenüber und das Ernstnehmen von Problemen des Anderen. Santen und Seckinger (2011, S. 392) verdeutlichen, dass insbesondere die Anfangsphase einer Kooperation wichtig sei, da in ihr Images gebildet würden, die später oftmals nur mühsam revidierbar seien. Beide Autoren skizzieren den Durchlauf von Kooperationszyklen und mit ihm den Aufbau des Vertrauens. Organisationen könnten überdies untereinander, losgelöst von konkreten Erfahrungen, ein sog. eigenschaftsbasiertes Vertrauen entwickeln, das aus anerkannten Eigenschaften der Organisation resultiere (ebd., S. 393).

Kooperation erfolgreich zu gestalten ist also außerordentlich voraussetzungsreich und ihr Gelingen mit Hürden gespickt. Die dazu erforderlichen Aufgaben werden häufig unterschätzt – inhaltlich wie strukturell. Systematisch und kontinuierlich auf der Basis von gegenseitigem Respekt, Kenntnis und Anerkennung der jeweiligen Arbeitsaufgaben und Relevanzstrukturen fallübergreifend Kooperationsnetze zu entwickeln füllt einen eigenen Aufgabenbereich und geht nicht »nebenbei«. Kooperation ist daher nur als ein fortwährender Prozess möglich, der stets weiterzuentwickeln und von allen Beteiligten gepflegt und evaluiert werden muss.

5.3 Ausblick

In Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Behinderung(en), aber grundsätzlich auch für alle Kinder und Jugendlichen wird in der Stellungnahme der Bundesregierung im 13. Kinder- und Jugendbericht markant herausgestellt: »Der junge Mensch muss im Mittelpunkt der verantwortlichen Teilsysteme stehen« (BT-Drs. 16/12 860, 2009, S. 13). Angesichts der immer noch vorfindbaren Aufspaltung der Verantwortungen und fehlender struktureller Regelungen für ein »Schnittstellenmanagement« sind nicht nur in Bezug auf Kooperationen Systemübergänge, sondern auch Diagnostik und Interventionsplanungen als Herzstücke jeglicher inklusiver Ansätze in den Blick zu nehmen.

Diese Aspekte sind bereits in den hochschulischen Ausbildungsgängen der beteiligten Professionen zu fördern. Eine gemeinsame Wissensbasis und Kompetenzausstattung aller am Netzwerk beteiligten AusbildungskandidatInnen mit zentralen pädagogisch-therapeutischen, klinischen und rechtlichen Inhalten dagegen könnte nicht nur gegenseitiges Verstehen, sondern auch ein beträchtlich besseres gemeinsames »Diagnostisches Fallverstehen« (Heiner, 2010) möglich machen. Um diese Entwicklungen noch weitreichender voranzutreiben, wären gemeinsame Forschungsfragen zu entwickeln und zu verfolgen (vgl. dazu eingehender Gahleitner et al., 2012). Insbesondere Soziale Arbeit sollte sich hier als »Hüterin interprofessionellen Wissens« (Gahleitner & Homfeldt, 2012; Sommerfeld, Hollenstein & Calzaferri, 2011) verantwortlich fühlen.

In den letzten zehn Jahren haben sich als Antwort auf die wachsenden Multiproblemlagen tatsächlich auch zunehmend Spezialisierungstendenzen in der Sozialen Arbeit entwickelt, die in diese Richtung gehen (Kraus et al., 2011). So hat sich z.B. Klinische Sozialarbeit (Pauls, 2011; Gahleitner & Hahn, 2008, 2009, 2010, 2012) explizit zur Aufgabe gemacht, die Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen, physischen und alltagssituativen Situationen auszuleuchten (vgl. Pauls & Mühlum, 2005; vgl. auch Franzkowiak, Homfeldt & Mühlum, 2011). Sie könnte sich auf der Grundlage ihres Wissensbestandes noch intensiver und konstruktiver an der Weiterentwicklung kooperationsdienlicher Wissensbestände beteiligen. Als ein erster Schritt wird am Ende dieses Bandes ein biopsychosoziales Rahmenverbundmodell zur Diskussion gestellt.