1 Einführung – Überblick und kriminologische Einordung

Ralf Kölbel

1.1 Untersuchungsgegenstand und Forschungsbedarf

Der vorliegende Band versammelt sowohl Beiträge, die auf Grundlage einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten und an der Universität Bielefeld durchgeführten Untersuchung entstanden sind, als auch eine Reihe ergänzender Aufsätze. Thematisch sind die Texte allesamt – direkt oder jedenfalls mittelbar – auf die Problemstellung der besagten Studie bezogen. Diese widmet sich vor einem wirtschaftskriminologischen Hintergrund der korporativen Devianz im Gesundheitssystem und konzentriert sich dabei auf einen spezifischen Ausschnitt. Ihren Gegenstand bildet die Akteursgruppe der Krankenhäuser (während andere unternehmerische Leistungserbringer oder Krankenkassen nicht berücksichtigt werden). Ferner geht es allein um die von Kliniken ausgehenden Fehler und Manipulationen im Kontext der Leistungsabrechnung, nicht aber um anderes normwidriges Agieren (etwa korruptionsnahes Verhalten, arzneimittelrechtliche und transplantationsrechtliche Verstöße). Dies alles ist schließlich auf das Feld der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschränkt (so dass die Besonderheiten bei selbst zahlenden und privat versicherten Patienten außer Acht bleiben).

An einer solchen Untersuchung besteht gleich mehrfach Bedarf: Der Umstand, dass 2011 allein innerhalb der deutschen GKV (mit ca. 70 Mio. Versicherten) für Krankenhausbehandlungen ca. 60 Mrd. Euro (2006: knapp 50 Mrd. Euro) ausgegeben wurden (GKV 2012, S. 13), belegt die enorme volkswirtschaftliche Bedeutung dieses gesellschaftlichen Sektors. Zudem wurden mit dem Jahr 2003 die rechtlichen Grundlagen und mit ihnen die zentrale Logik des Entgeltsystems in einer sehr weitreichenden Weise reformiert. Die dadurch ausgelösten Wirkungen werden seither durchaus erforscht, dies allerdings allein aus einer gesundheitsökonomischen und medizinischen sowie mit Abstrichen auch medizinsoziologischen Warte. Forschungen, die daneben dezidiert nach regelwidrigem Wirtschaftsverhalten fragen, fehlen dagegen völlig – ganz so, als ob es dafür keine Notwendigkeit gäbe. Mehr noch: Die spezifischen Fragestellungen der bislang unbeachtet gebliebenen Kriminologie werden nach den Erfahrungen, die bei der Projektdurchführung gewonnen wurden, von nicht wenigen Systemakteuren nicht nur als neu, sondern als unangenehm oder befremdlich empfunden. Tatsächlich sind sie im gesundheitswissenschaftlichen Spektrum aber weder abwegig noch überflüssig, sondern stellen dort vielmehr eine ganz klare Bereicherung dar, weil sie die fraglichen Phänomene als sozial abweichendes Verhalten und nicht länger nur als ökonomisches Problem thematisieren.

Insofern zeigen denn auch die Erfahrungen ausländischer Gesundheitssysteme, die vergleichbare Krankenhausvergütungsstrukturen eingeführt haben, dass Devianz im Abrechnungsbereich als ein gesellschaftlich relevanter und untersuchungsbedürftiger Gegenstand gelten muss. Dies betrifft beispielsweise Verstöße in Form fehlerhafter Leistungskodierung (sog. Upcoding), deren Verbreitung in den USA am besten analysiert worden ist: »There is substantial evidence that upcoding in U.S. hospitals is common« (Jesilow 2012, S. 34). In Kodierer-Surveys berichtet nahezu die Hälfte des befragten Personals davon, dass ihr Management sie zu grenzwertig erlösmaximierender Kodierung anhält (Lorence und Spink 2002). Ferner haben zahlreiche Studien, in denen Klinikabrechnungen einer nachträglichen Prüfung unterzogen wurden (Krankenakten-Review mit Rekodierung), einen hohen Abrechnungsanteil mit entgeltrelevanten Verschlüsselungsfehlern festgestellt (vgl. die Literaturanalyse von Lüngen und Lauterbach 2001, S. 1450 f.). Da solche Fehler überwiegend zu Lasten der Kostenträger gehen (in klarer Form etwa bei Psaty et al. 1999), werden sie nicht nur auf einfache Irrtümer zurückgeführt, sondern auch auf Erlösmaximierung und ein erhebliches Manipulationspotenzial (Vandenburg 1999; Jesilow 2007; Friedrichs 2009, S. 79 f.; Gosfield 2012, § 1:9). Dies – auch in Deutschland – zu erforschen, ist die originäre Aufgabe der Kriminologie.

Für entsprechende Fragestellungen und Analysen zeichnet sich hierzulande inzwischen auch ein rechtspolitisches Verwertungspotentzial ab. Das geltende Krankenhausvergütungssystem, das ganz wesentlich auf diagnosegestützten Pauschalen beruht, hat sich nämlich in Deutschland gleichermaßen als fehleranfällig erwiesen. Damit geht die Befürchtung einher, dass aus der GKV unberechtigte Entgelte in einem jährlichen Milliardenvolumen an die Leistungserbringer fließen könnten (vgl. etwa die Kalkulationen bei Schönfelder et al. 2009; Bundesrechnungshof 2009). Das Bundessozialgericht sieht die Gefahr, »dass Krankenhäuser den Krankenkassen gegenüber ohne eigenes finanzielles Risiko unter Verstoß gegen ihre gesetzlichen Übermittlungspflichten aus § 301 SGB V fehlerhaft abrechnen könnten« (BSGE 106, 214, Rn 21). Bundesversicherungsamt (2010) und Bundesrechnungshof (2009) drängen die Kassen, weitere Kostensenkungspotenziale durch eine intensivierte Abrechnungsprüfung zu erschließen. Die darauf zielenden Instrumente für die Abrechnungskontrolle auszubauen, ist daher nicht nur eine Forderung der Kostenträger (GKV 2011), sondern wird seit geraumer Zeit wiederholt auch im parlamentarischen Raum diskutiert.1 Selbst das Bundesgesundheitsministerium, das zunächst keinen Problemdruck erkennen mochte (Bundesministerium für Gesundheit 2011), wartete unlängst mit einem Konzeptionspapier auf, das eine Verdichtung der Abrechnungskontrolle erwägt.2 Einschlägige empirische Daten und Analysen durch eine auch kriminologische Forschung kämen solchen Debatten ganz offensichtlich zugute.

Ein Bedarf an Studien der hier vorgestellten Art besteht allerdings nicht nur von Seiten des Gesundheitssystems (seiner Untersuchung und Fortentwicklung), sondern auch von Seiten der Kriminologie: Wirtschaftsdelinquenz ist im Vergleich zur klassischen Kriminalität unterforscht, insbesondere mit Blick auf korporative Devianz. Das betrifft empirisches Wissen wie theoretische Konzeptionen und gilt für die deutsche Kriminologie noch viel mehr als im angelsächsischen Raum (vgl. nur Boers 2010). Insofern tut es aus dieser disziplinären Warte ebenfalls Not, die kriminologische Vermessung wichtiger ökonomischer Felder – wie das der Gesundheitswirtschaft – zu intensivieren.

1.2 Methodische Vorgehensweise der Untersuchung

Gleichwohl ist das Ziel des Projektes (und dieses Bandes) eher bescheiden: Es geht nicht schon darum, die skizzierten Fehlstellen zu füllen, sondern um erste, teilweise auch exemplarische Schritte, um die kriminologische Perspektive auf das besagte Untersuchungsfeld überhaupt zu etablieren und eine erste Phänomenerfassung zu unternehmen. Der durchaus explorative Charakter erklärt sich auch damit, dass Abrechnungsverstöße im stationären Bereich der empirischen Forschung nur unter erheblichem Aufwand zugänglich sind und ein daran angepasstes, zuverlässiges Methodeninventar hierfür erst noch entwickelt werden muss. Dabei bestehen all jene Hürden und Methodenprobleme, die die wirtschaftskriminologische Forschung generell in typischer Weise erschweren: Die wichtigsten traditionellen Instrumente der Kriminologie stehen hier nämlich nicht zur Verfügung. So sind im fraglichen Feld nicht allein die amtlichen Kriminalstatistiken wegen der nur partiellen Strafrechtswertigkeit illegalen Unternehmensverhaltens und der eminenten Verfolgungslücken ohne Aussagewert (Slapper und Tombs 1999, S. 54 ff.), sondern auch quantitative Dunkelfeldforschungen meist aussichtslos. Das Zustandekommen statistisch auswertungsfähiger Stichproben scheitert daran, dass in der Wirtschaft erfahrungsgemäß nicht genügend Bereitschaft für Interviews zur selbstberichteten Delinquenz mobilisiert werden kann (Slapper und Tombs a. a. O., S. 107 f.), während Opferinterviews wegen der Viktimisierungsdiffusität vieler Unternehmensdelikte von vornherein kaum weiter führen (a. a. O., S. 56 f.). Nicht von Ungefähr überwiegen in der Wirtschaftskriminologie daher qualitative Studien, die Einzelereignisse, Deliktskategorien oder Wirtschaftsbranchen untersuchen (Überblick a. a. O., S. 41 ff.).

Einen solchen fallanalytischen Weg, der im Übrigen auch bei (Abrechnungs-) Delikten in Kliniken bereits erprobt worden ist (vgl. Vandenburg 1999), hat daher das im vorliegenden Band vorgestellte Projekt ebenfalls beschritten, wobei es sich einer Methode bedient, auf die sich auch viele andere unternehmenskriminologische Arbeiten stützen: Es wurden offene, nicht-standardisierte, wenngleich leitfadenorientierte Interviews durchgeführt und mit den Mitteln der qualitativen Sozialforschung ausgewertet (zur Vorgehensweise vgl. Froschauer und Lueger 2003; Friese 2012). Die Interviews entsprachen in ihrer Anzahl dem, was mit den Projektressourcen zu bewältigen war. Befragt wurde dabei eine solche Mischung aus unterschiedlichen Systemakteuren, dass dies die Erfassung der maßgeblichen Erfahrungshintergründe und verschiedenen Blickwinkel versprach: neun (teilweise ehemalige) Krankenhausärzte, fünf (teilweise ehemalige) Controller bzw. Abrechnungsmitarbeiter an Kliniken, sechs Kassenprüfsachbearbeiter, zwei Mitarbeiter von Fehlverhaltensermittlungstellen (§ 197a SGB V) der Kassen und eine Justiziarin einer Klinik.

Diese jeweils mehrstündig geführten, sodann transkribierten und textanalytisch ausgewerteten Interviews bilden den empirischen Kern der Untersuchung, den allerdings eine Reihe weiterer Bausteine flankiert:3

1.3 Absichten und Anlage des Bandes

Dass dieser Band neben Aufsätzen von Kölbel und Sulkiewicz, die jeweils über verschiedene, ausgewählte Projektergebnisse berichten, noch eine Reihe weiterer Beiträge enthält, erklärt sich mit einer doppelten Absicht: Einmal werden dem Leser auf diese Weise umfangreichere Informationen geboten – nämlich auch solche, die in der Studie nicht im Mittelpunkt standen und daher auch nicht erschlossen wurden. Vor allem aber soll dies dem Umstand gerecht werden, dass unter den beteiligten Akteuren vor Ort (also nicht etwa nur unter Verbandsvertretern etc.) die Einschätzungen des Abrechnungssystems kontrovers, die Erfahrungshintergründe hinsichtlich der Prüfverfahren gegensätzlich und die Bewertungen von Abrechnungsfehlern grundverschieden sind – wobei die Wahrnehmung keineswegs nur durch die jeweilige Zugehörigkeit zur Leistungserbringer- oder Kostenträgerseite geprägt wird. Um diese Deutungsheterogenität und Perspektivenvielfalt nicht zu überdecken, muss sie zunächst einmal zum Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Beobachtung gemacht werden. Darüber hinaus aber – und eine solche Absicht liegt dem vorliegenden Band zugrunde – kann man sie auch direkt sprechen lassen. Deshalb sind hier neben den Projektberichten einige Beiträge versammelt, die ganz unterschiedliche Blickwinkel repräsentieren: die des Krankenhauscontrollings (Bobrowski) und Klinikmanagements (Merguet), des Vergütungsrechts (Ricken), der krankenhausärztlichen Akteure (Kienzle) und der Abrechnungsprüfung (Dirschedl und Waibel). Dass die Texte dabei nicht eigens auf die Projektberichte von Kölbel und Sulkiewicz abgestimmt sein können, sondern jeweils selbstständigen Charakter haben, versteht sich bei einer solchen editorischen Konzeption von selbst.

Auf den vorliegenden Einleitungstext, der im Anschluss noch eine kriminologische Einordnung und Erklärung von Abrechnungsverstößen im stationären Bereich unternehmen wird, folgen also zunächst zwei Beiträge, die den äußeren Rahmen der Abrechnungspraxis erläutern. Dargestellt werden die juristischen Grundlagen (Ricken) sowie die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Krankenhausführung einen rentablen Betrieb gewährleisten muss (Merguet). Daran schließt sich eine knappe Darstellung der wesentlichen Untersuchungsergebnisse zur Ausprägung von Abrechnungsdevianz an (Kölbel und Sulkiewicz). Ergänzt wird diese empirische Bestandsaufnahme durch drei Beiträge, die das Phänomen aus der Warte des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse beschreiben und bewerten (Dirschedl und Waibel), die Problematik der ökonomisch »infiltrierten« medizinischen Handlungslogik auf der Basis der ärztlichen Berufserfahrung vertiefen (Kienzle) und die Logik der Rechnungsstellung aus der spezifischen Warte des Medizincontrollings erörtern (Bobrowski). Der abschließende Teil des Bandes widmet sich der sozialen Kontrolle von Abrechnungsdevianz. Diskutiert werden dort einige Teile der Studie, die sich auf die kassenseitige Praxis der Abrechnungsprüfung (Sulkiewicz) und speziell den Umgang mit deliktswertigen Fehlerfällen (Kölbel) beziehen.

1.4 Einordnung in kriminologische Kategorien: Corporate Crime

1.4.1 Grundlagen

Die kriminologische Forschung diskutiert jene Form von sozialer Devianz, die für Abrechnungsverstöße von Krankenhäusern prinzipiell einschlägig ist, unter der Bezeichnung »Unternehmensdelinquenz« oder »Corporate Crime«. Hierin wird übereinstimmend eine wichtige Ausprägung von Wirtschaftskriminalität gesehen, bisweilen sogar deren maßgebliche Erscheinungsform (zu dieser Frage etwa Boers 2010, S. 19 ff.). Gekennzeichnet sind Unternehmensdelikte durch eine rechtswidrige, potenziell sanktionierbare Aktivitätsform, die in spezifischer Weise aus einem Unternehmen heraus und in dessen Interesse erfolgt:

Mit der so ausgefüllten Bestimmung bezeichnet der Begriff des Corporate Crime eine theoretisch-konzeptionelle Schwerpunktverlagerung, mit der die Wirtschaftskriminologie einem besonderen Untersuchungsobjekt gerecht zu werden versucht: Liegt der klassische Gegenstand der ätiologischen Kriminologie bei konkreten Deliktsaktivitäten individueller Akteure, für deren personale Entwicklung (oder Situationshandhabung) man eine psychologisch oder soziologisch angelegte Erklärung sucht, geht es nunmehr um das Handeln von Organisationsmitgliedern, das ganz dezidiert durch die Organisationseinbindung beeinflusst ist – d. h. aus anderen Zusammenhängen entsteht und andere Delinquenzformen hervorbringt als »außerhalb« des Verbands. In den Vordergrund rücken folglich die Struktur des Unternehmens und dessen besondere soziale Kontextuierung.5

1.4.2 Abrechnungsfehler als Unternehmensdelikt

Falschabrechnungen einer Klinik können dem Bereich des Corporate Crime zu heuristischen Zwecken in toto zugeordnet werden (Kölbel 2010b, S. 221 f.). Sie stehen – obwohl durch das individuelle Abrechnungspersonal hervorgerufen – mit den wirtschaftlichen Aktivitäten des Hauses in Zusammenhang, erfolgen vor allen auf dessen »Rechnung« und sind der Einrichtung eben deshalb »zurechenbar«. Das gilt insbesondere, weil sie sich im Kontext von Erlössteigerungsbemühungen des Krankenhauses ereignen und typischerweise in dessen Interesse liegen oder sich jedenfalls vor dem Hintergrund der Mitarbeiterhaltung ergeben, dem Unternehmen wirtschaftlich zu dienen. Besonderheiten weist der vorliegende Gegenstand lediglich insofern auf, als er anders als die meisten Corporate Crimes nicht in abgeschlossenen Einzelereignissen besteht, sondern aus einer Vielzahl kleiner, für sich genommen wirtschaftlich auch oft eher unerheblicher Normverstöße, die systematischen Charakter haben können (im Sinne einer kontinuierlich realisierten Tatserie) oder sich einfach nur als mehr oder weniger lange/dichte Kette unabgestimmter Abrechnungsfehler darstellen.

Dass die Fälle, in denen dies strafrechtlich verfolgt wird, beinahe zu vernachlässigen sind (► Kap. 2, Teil III), und auch die Konstellationen, in denen dies jedenfalls möglich wäre, nur einen Ausschnitt der überwiegend nicht-intentionalen Falschabrechnungsgesamtheit bilden (► Kap. 1, Teil II), ist für die kriminologische Einordnung ohne Belang. Gemäß dem hier herangezogenen weiten Deliktsbegriff (► Kap. 1.4.1) kommt es lediglich auf die Regelwidrigkeit der Abrechnungen an (und allenfalls noch darauf, dass das Entgelt daher gekürzt werden kann). Deshalb bezieht sich das hiesige kriminologische Interesse auf das gesamte Fehlerspektrum, wenngleich es hierbei in Analyse und Bewertung zwischen den verschiedenen Fehlerqualitäten zu differenzieren gilt (► Kap. 1, Teil II). Für das Verständnis der Abrechnungsdevianz ist durch diese Kategorisierung aber zunächst einmal noch wenig gewonnen. Unternehmenskriminalität wurde ungeachtet ihrer generellen konzeptionellen Anerkennung bislang in weit geringerem Maße als große Teile der konventionellen Kriminalität erforscht (für einen Überblick über die empirische Forschungslage vgl. Yeager 2007, S. 27 ff.; Friedrichs 2009, S. 228 ff.; Boers 2010, S. 28 ff.). Auch hat sich in der kriminologischen Diskussion noch keine Betrachtungsweise herausgebildet, die die Corporate-Crime-Theorie dominiert (vgl. die Überblicksdarstellung bei Slapper und Tombs 1999, S. 110 ff., S. 131 ff.) und die sich hier übertragen oder jedenfalls direkt fruchtbar machen ließe. Es herrscht eine eher gegenstandsbezogene Sichtweise vor. Deshalb bezieht sich auch das unten vorgeschlagene Konzept (► Kap. 1.6 der Einführung) – ungeachtet seiner prinzipiellen Generalisierbarkeit – vorwiegend auf die Beobachtungen in einem spezifischen Feld.

1.5 Einige allgemeine Beobachtungen und Befunde

Krankenhäuser wirtschaften unter den Bedingungen einer weggefallenen Existenzgarantie, einer nur bedingt zufriedenstellenden Investitionsfinanzierung und einer Betriebskostenfinanzierung, die auf den Prinzipien der pauschalierten Leistungsvergütung (statt der Kostenerstattung) beruht. Der hiervon ausgehende Druck, die Effizienz, Spezialisierung und Ausweitung von Leistungen beständig zu steigern, wird durch die Anbieterkonkurrenz und die Betriebskostenentwicklung aufrechterhalten und stetig gesteigert (► Kap. 2, Teil I). Die Einführung eines Leistungsvergütungssystems, das auf diagnosebezogenen Entgelten beruht (zum Überblick (► Kap. 1, Teil I), hat die Veränderungen des ökonomischen Rahmens ganz wesentlich befeuert. Freilich versucht dieses sog. »G-DRG-System«, trotz des Prinzips der Entgeltpauschalierung auch die Leistungsgerechtigkeit jedes individuellen Fallpreises zumindest einigermaßen sicherzustellen. Dies hat zu einer Strukturkomplexität geführt (Vielzahl von diagnostischen Gruppen, Berücksichtigung von Nebendiagnosen, Prozeduren, Zusatzentgelten, teilweise auch der Behandlungsdauer usw.), durch die nicht nur die Risiken von Abrechnungsfehlern wachsen, sondern auch die Möglichkeiten (der Leistungserbringer und Kostenträger), die Einzelfallabrechnung interessengemäß zu gestalten. Das Verfahren der Abrechnungsprüfung trägt dazu bei.

An sich liegt dem DRG-Vergütungs- und Abrechnungssystem die unausgesprochene (Funktions-)Annahme zugrunde, dass sich erstens für jede Krankenhausleistung anhand vorgegebener Kategorisierungskriterien prinzipiell ein objektiver Preis feststellen lässt und dass zweitens von den beteiligten Akteuren anzunehmen ist, dass sie diese fallkonkreten Preise leistungsentsprechend bestimmen bzw. diese Abrechnung interessenneutral überprüfen: Mit der Realität haben jene Prämissen aber wenig gemein. Durch diagnostisch-therapeutische Uneindeutigkeiten, insbesondere aber durch die Kategorisierungsspielräume des DRG-Systems bleiben die Fallpreise nämlich unterbestimmt – was sie zu einem tauglichen Gegenstand von Aushandlungsprozessen macht. Das Abrechnungs- und Prüfungsgeschehen bietet ungeachtet seiner Massenhaftigkeit und partiellen Standardisierung das Forum, in dem die bilaterale Auseinandersetzung um die jeweils konkret gültige Fallvergütung verläuft:

Auf der einen Seite optimieren und maximieren die Krankenhäuser im Zuge der Rechnungsstellung das Erlöspotenzial ihrer Fälle, was aus ihrer Warte, d. h. unter ihren ökonomischen Bedingungen auch eine Notwendigkeit ist (► Kap. 4, Teil II). Die Vornahme und Abrechnung medizinischer Überleistungen (zu entsprechenden hausinternen Erwartungsstrukturen ► Kap. 3, Teil II) reiht sich hier ein. All dies geht aber nicht selten über die Grenze des Zulässigen auch hinaus (► Kap. 1, Teil II). Dabei kommen den Kliniken zwei strukturelle Vorteile zugute: dass nämlich die Kassen die Abrechnungen der Kliniken prüfen müssen, ohne die Fallrealität zu kennen, und dass sie im Falle der Rechnungskorrektur keine Sanktionsmöglichkeiten haben. Andererseits müssen die Krankenhäuser mit ihrer Behandlung in Vorleistung treten, was es den (ebenfalls unter Wirtschaftlichkeitsdruck stehenden) Kassen im Gegenzug erleichtert, Fallpreisreduzierungen durch eine systematische und in die Breite gehende Abrechnungsfehlersuche durchzusetzen. »Hochrechnen« und »Runterprüfen« sind somit die Modi des bilateralen Preisaushandlungsgeschehens.

Funktional gesehen stellt die Fallprüfung für die Kassen daher eine Rabattierungsstrategie dar, die Kostensenkungen generiert. Steuerungsziele, etwa die Anhebung der Abrechnungskonformität, Wirtschaftlichkeit oder Behandlungsqualität in den geprüften Häusern, treten hierbei in den Hintergrund.6 Das Kontrollverhalten der Kassen hat weder einen objektiv-neutralen noch einen polizeiähnlichen bzw. regulierungsbehördlichen Charakter, sondern ist ausschließlich an den eigen-institutionellen ökonomischen Interessen orientiert. Dies hat eine Reihe von Auswirkungen zur Folge: Dass die Kasse in der Abrechnungsvielzahl konsequent nach Anknüpfungspunkten für die Legitimierung von Preisreduktionen sucht, wird von den Krankenhäusern nicht selten als unfair erlebt, insbesondere wenn die an sich korrekte Rechnung für eine sachgerecht erbrachte Leistung aus formalistischen Gründen gekürzt und das Vorleistungsrisiko der Klinik so ausgenutzt wird. Und in der Tat ist den Kostenträgern bei der Abrechnungsprüfung nicht an einer Fehleraufdeckung und -korrektur als solcher gelegen (etwa zum Zwecke der Gerechtigkeit, der Disziplinierung usw.), sondern ganz ausschließlich daran, mit einem vernünftigen Aufwand einen relevanten »Retaxierungsertrag« zu erwirtschaften (zu den dafür aufschlussreichen Prüfkalkülen der Prüfteams ► Kap. 1, Teil III). An der normativen Einordnung festgestellter Abrechnungsverstöße (Nachlässigkeit, Handhabungsdivergenz, ggf. Manipulation) oder gar an deren Verfolgung als ein Delikt (etwa mit Blick auf eine Betrugsstrafbarkeit) besteht deshalb überhaupt kein Interesse (► Kap. 2, Teil III). Die Kasse agiert bei Abrechnungsprüfung im Ganzen gesehen jedenfalls nicht als eine Kontrollinstitution (dazu, dass aber auch diese oftmals in einem kooperativ-konzilianten, aushandlungsorientierten Stil auf non-konforme Unternehmen einwirken, etwa Gobert und Punch 2003, S. 283 ff.). Vielmehr handeln sie in der Rolle eines (geschädigten) Vertragspartners der Kliniken, der im Rahmen der Zwangskontrahierung eigene kontradiktorische Belange verfolgt (»Gegenspieler«).7

Was als Abrechnungsverstöße/-devianz bekannt, abgearbeitet und öffentlich diskutiert wird (sog. Fehlerhellfeld), ist deswegen nicht nur dadurch geprägt, was die Kassen angesichts ihres Informationsnachteils aufdecken können (und was eben nicht), sondern es hängt auch von ihren Rabattierungsinteressen und -strategien ab. Für die Abrechnungsfehlerrealität hat die Zählung der formell korrigierten Klinikabrechnungen (§ 275 SGB V) so allenfalls schwachen indiziellen Gehalt (► Kap. 1, Teil III). Wird dieser kritisch gewürdigt und um weitere vorhandene Einzelhinweise ergänzt (► Kap. 2, Teil II, ► Kap. 1, Teil II), ist aber immerhin eine vage und vorläufige Prävalenzeinschätzung möglich: Abrechnungsfehler stellen ein großflächiges, wenn auch nicht exakt quantifizierbares Phänomen dar. Intentionale Abrechnungsdevianz erscheint dagegen eher als Einsprengsel in einem ansonsten regelkonformen Krankenhausbetrieb, das mit von Haus zu Haus variierender Größe und Häufigkeit auftritt (wobei es hinsichtlich der Intentionalitätsausprägung allerdings viele Spielarten und Übergangsformen gibt). Ausgegangen werden muss von durchaus abrechnungsauffälligen Häusern, wobei selbst dort eine systematisch betriebene Abrechnungsdevianz nicht gesichert ist.

1.6 Interpretationsversuch

Aus kriminologischer Warte besteht ein Interesse an der Phänomenerklärung insbesondere mit Blick auf die nachlässigkeitsbedingten und intentional begangenen Abrechnungsfehler.8 Deshalb wurden im Verlauf der Studie auch solche Handlungsbedingungen und -logiken der Krankenhausakteure beobachtet, die in diesem Sinne zum kriminologischen Verständnis der Abrechnungsverstöße beitragen könnten (► Kap. 1.5, Teil II). Dabei geht es noch nicht um eine Theorieüberprüfung im engeren Sinne, wohl aber um eine erste empirische Unterlegung eines generellen Konzepts. In diesem Zusammenhang wird hier die allgemeine kriminologische Strain-Theory von Robert Agnew auf korporative Akteure bezogen (zu dieser Übertragung bereits Agnew et al. 2009; ebenso für verwandte anomietheoretische Ansätze Vaughan 1983, S. 54 ff.; Passas 1990; Keane 1993; zuletzt Robinson und Murphy 2009; Wang und Holtfreter 2012; zusammenfassend Singelnstein 2012, S. 56 f.) und dabei zu einem Mehrebenenmodell erweitert, welches die relevanten Faktoren auf verschiedenen Problemschichten lokalisiert (insofern ähnlich Gobert und Punch 2003, S. 14 ff.). Rechtswidrige Aktivitäten der Krankenhäuser lassen sich hiernach als Transaktionsformen verstehen, deren Wahrscheinlichkeit in unternehmensintern »umgelegten«, ökonomischen Drucksituationen steigt, insbesondere bei zugleich vorhandenen Tatgelegenheiten und der Abwesenheit alternativer Bewältigungsmechanismen. Dabei wird die Ausprägung und Wirkung von »Strain«, »Opportunity« und Coping-Fähigkeit« von Gegebenheiten auf den System-, Organisations- und Interaktionsebenen bestimmt (vgl. auch Kölbel 2010b, S. 231 ff.):

1.6.1 Rahmenebene

Auf der Rahmenebene ist zunächst einmal der bereits erwähnte Ökonomisierungsprozess von Belang, der den Krankenhäusern durch die politisch-rechtlich durchgesetzte Umgestaltung des Gesundheitssystems abverlangt wird. Veränderte Bedingungen der Krankenhausfinanzierung drängen die Kliniken in eine neuartige Wettbewerbslage und konfrontieren sie mit einem rigiden Wirtschaftlichkeitszwang. Die Häuser sind daher einem Kostensenkungs- und Einnahmeerhöhungsdruck ausgesetzt, der sich deutlich massiver als die früher vorhandenen Ressourcenkonflikte ausnimmt. Teilweise werden für sie unternehmerische Zielstellungen relevant, insofern von ihnen kostendeckendes oder gar profitables Arbeiten erwartet wird (► Kap. 2, Teil I). Da die Möglichkeiten der Leistungsausweitung und der Leistungspreisanhebung durch die politisch-rechtliche Regulierung des Marktes stark limitiert sind, kann dem auf der Einnahmeseite vorwiegend nur mit indirekten Maßnahmen entsprochen werden (bspw. Spezialisierung, Qualitätssicherung und Renommeebildung). Anpassungen auf der Kostenseite (Rationalisierungen) sind ab einem bestimmten Punkt ausgeschöpft9 und werden dann durch die dynamische Betriebskostenentwicklung wieder aufgezehrt. Probleme insbesondere für öffentliche Häuser entstehen ferner aus der Begrenzung der staatlichen Investitionsfinanzierung, die wiederum die Möglichkeiten der Effektivierung und Leistungsentwicklung limitiert (► Kap. 2, Teil I, ► Kap. 1, Teil II).

Vor diesem Hintergrund ist es leicht möglich, dass angestrebte Entwicklungen (Rentabilität, Gewinne, Marktpositionen usw.) mit den betriebswirtschaftlichen Mitteln einer Klinik nicht realisierbar sind (»Blockage of economic goals«) oder das Haus gar in wirtschaftliche Turbulenzen gerät (»Threat of economic problems«). Durch diese Divergenz von ökonomischen Zielen und Realisierungsmöglichkeiten entsteht »Strain«, insofern das Krankenhaus zu weiteren innovativen Reaktionen gedrängt wird. So mag es insbesondere bemüht sein, sämtliche Reserven konsequent zu erschließen, etwa durch eine weiter kostenorientierte Personalplanung, ein strenges Forderungs- und Widerspruchsmanagement oder ein noch strikter aufwands- und ertragsorientiertes Behandlungsverhalten (standardisierte Behandlungsabläufe; zur streng ökonomischen OP-Planung Kudlich und Schulte-Sasse 2011, S. 243 f.). Falls sich aber auch solche »conventional coping ressources« als unzureichend erweisen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Lösungssuche auf die Einnahmeseite konzentriert und dort nach neuartigen Wegen sucht – sich also auch in Gestalt einer »offensiven« Abrechnungspraxis niederschlägt. Das Unternehmen entwickelt dann innovative Zielerreichungsformen i.S. einer »concomitant utilization of legitimate (i.e., legal) and illegitimate (i.e., illegal) means« (Robinson und Murphy 2009, S. 3).

Begünstigt wird dies durch eine Tatgelegenheitsstruktur (allgemein zur Verbindung von Strain und Opportunity vgl. McKendall und Wagner 1997, S. 626 f.; Wang und Holtfreter 2012, S. 156 f.), die hierfür förderliche Bedingungen setzt: Leistungsrecht und Vergütungsverfahren sind von Ambiguitäten gekennzeichnet10 und weisen daher – mit Blick auf zumindest vordergründige und vorübergehende Vorteilsaussichten – zahlreiche Erlösmaximierungs-Spielräume auf. Aus dieser »Program Vulnerability«11 ergeben sich sowohl Fehlermöglichkeiten wie auch Missbrauchsoptionen, die allein durch Kontrollen eingrenzbar sind. Da die Prüfpraxis der Kassen de facto aus rechtlichen und organisationsstrukturellen Gründen jedoch beträchtliche Lücken aufweist (► Kap. 1, Teil III,) und Manipulationen völlig sanktionsfrei bleiben (► Kap. 1, Teil II,), öffnet sich ein breites deliktisches Möglichkeitsfeld zur Nutzung der abrechnungsdeliktischen Gestaltungspotenziale.

Strain-theoretisch ist folglich anzunehmen, dass angesichts der bestehenden Manipulationsgelegenheiten etliche Krankenhäuser auf die skizzierte Drucksituation mit einer irregulären Abrechnungspraxis reagieren. Erwartet werden kann das vornehmlich von jenen Häusern, deren ökonomische Ziele und Möglichkeiten besonders weit differieren und/oder deren Coping-Potenzial vergleichsweise gering ausgeprägt ist. Dies mag auf einer problematischen hausspezifischen Ausgangslage, einem schwierigen regionalen Wettbewerbsumfeld, auf Investitionshindernissen, Managementfehlern oder anderen spezifisch betriebswirtschaftlichen Faktoren beruhen.

1.6.2 Organisationsebene

Die interne Übersetzung ökonomischen Drucks

Nach dem Stand der kriminologischen Forschung ist ein direkter Zusammenhang zwischen der komplizierten ökonomischen Lage eines Unternehmens und/oder der gesamten Branche und einem geringeren Konformitätsniveau allerdings fraglich (zu den uneindeutigen Befunden vgl. nur Keane 1993; McKendall und Wagner 1997; Clinard und Yeager 2007, S. 127 ff.; Croall 2007, S. 87 ff.; Wang und Holtfreter 2012). Auch in unserem Material gibt es darauf keine Hinweise. Augenscheinlich wird die (variierende) Abrechnungsdevianz der Kliniken also durch eine weitere Faktorengruppe bedingt, die die jeweilige Empfänglichkeit für den »extra-organizational strain« moderiert. Diese hauseigene Ansprechbarkeit hängt von Binnengegebenheiten auf der Organisationsebene ab – namentlich vom Maß, in dem die Unternehmensmitarbeiter einem »intra-organizational strain« ausgesetzt sind (näher: Simpson und Koper 1997; Faßauer und Schirmer 2006), und zwar namentlich jene Mitarbeiter, die die Leistungs- und Abrechnungsentscheidungen treffen. Ein solcher interner Druck entsteht in den betreffenden Unternehmenseinheiten durch rigorose Leistungsziele, die sich angesichts konkret vorhandener Realisierungs-Mittel (d. h. der Erlöspotenziale des Fallbestandes) kaum einlösen lassen.

Dass es zu solchen Binnenvorgaben kommt, ist freilich nicht nur bei einer schwierigen wirtschaftlichen Lage des Hauses, sondern auch unabhängig von einem solchen »Außendruck« möglich (vgl. Passas 1990, S. 163). Entscheidend ist die konkrete Gewinnorientierung des Managements (dahingehende Anhaltspunkte ► Kap. 1, Teil II), dessen Einfluss wiederum durch die mikropolitische Durchsetzungsfähigkeit gegenüber der Ärzteschaft in der Klinik bedingt ist (allgemein zu weiteren, strain-erhöhenden Binnenfaktoren Simpson und Koper 1997, S. 375 ff.). Sind aber derartige Bedingungen gegeben und werden dadurch gleichsam verbindliche Innenzielvorgaben gesetzt, unterliegen jene Abteilungen, die bspw. die betreffenden Erlösvolumina nicht zu erreichen vermögen, einem Innovationsdruck. Dieser kann sich (in Ermangelung konventioneller Alternativen) in solchen delinquenten Reaktionsformen niederschlagen, die eine kurzfristige Zielerreichung versprechen. Sich langfristig einstellende, nachteilige Effekte des regelwidrigen Agierens (z. B. Misstrauen der Kassen oder denkbare ungünstige Budgetauswirkungen) werden dabei leicht in den Hintergrund gerückt (allgemein dazu Faßauer und Schirmer 2006, S. 365 f.).

Abrechnungsdevianz ist also (abgesehen von atypischen Konstellationen) kein Ausdruck von dahingehenden top-down-Direktiven,12 sondern in der Regel vielmehr Effekt einer »strain-verstärkenden« Klinikstruktur, die zu notorischen inneren Stress-Konstellationen führt (weil sich die interne Ertragserwartung nicht mit den Abteilungspotenzialen verträgt). Daraus erwächst eine spezifische Grundausrichtung des Alltagsbetriebs, nämlich ein für Mehrleistungen prinzipiell offenes Behandlungsverhalten und/oder eine auf Erlösoptimierung ausgelegte Abrechnungspraxis.13 Abrechnungsdevianz entsteht auf dieser Grundlage gewissermaßen unorganisiert – indem die generelle »Offensivorientierung« auf Abteilungsebene schließlich einzelne manipulativ angelegte Praktiken hervorbringt oder einfach auch nur zahlreiche nicht-intentionale Fehler provoziert (unternehmenskriminologisch zu organisationsstrukturell angelegten und normalisierten »Nachlässigkeiten« vgl. Vaughan 1996). Eingebunden in ein medizinisch hochwertiges Funktionieren und eine völlig legale Geschäftsform entwickelt sich so eine Vielzahl von einzelnen kontextgebundenen Praktiken, die juristisch mindestens grenzwertig sind, aber über viele kleinere Einzelbeträge die Erlössituation verbessern.

Die Beiträge von »oben« und »unten«

Wenngleich Abrechnungsdevianz demnach nur selten als ein zentral gelenktes und von der Führungsebene gesteuertes Phänomen aufgefasst werden kann,14 wird die stattdessen implizit bleibende, aber gefahrbegründende Praxisausrichtung jedoch in hausspezifischer Weise durch die Unternehmensleitung verstärkt: Dies geschieht letztlich bereits durch Maßnahmen, die im Grunde in allen Häusern erfolgen, etwa die Bereitstellung einer Abrechnungssoftware, die programmgemäß Maximierungsvorschläge generiert. Vor allem aber wirkt es sich aus, wie stark das Personal darauf festlegt ist, in der Fallbehandlung ein wirtschaftliches Primat umzusetzen, sei es durch ein entsprechendes subtiles Erwartungsklima (wie es auch in manchen unserer Interviews sichtbar wird) oder eine Bindung der Gehälter an Fallzahl oder Abrechnungserfolg (dazu etwa Steinbusch et al. 2007, S. 295; vgl. ferner Kudlich und Schulte-Sasse 2011, S. 244).15 Es macht sich aber auch schon bemerkbar, ob spezialisiertes Kodierpersonal eingestellt16 und wie es geschult wird und in welchem Grad interne Kontrollen implementiert worden sind.

Umgelegt in konkrete Abrechnungspraktiken werden die verschiedenen innerorganisatorischen Impulse zur Ausnutzung der »Program Vulnerability« hingegen in weitgehend individuellen Prozessen – abhängig von der Beschaffenheit des Drucks (bzw. der Vorgaben oder Anreize), aber auch von der Gruppendynamik in den Abrechnungsabteilungen und persönlichen Merkmalen. Dass Klinikmitarbeiter zu offensivem bis hin zu regelwidrigem Abrechnungsverhalten bereit sind, obwohl davon zunächst einmal allein ihr Unternehmen profitiert, ist dabei weniger unwahrscheinlich als man es vielfach annimmt (vgl. etwa Fiori et al. 2010, S. 621: »zweifelhafte Unterstellung«). Ein wesentliches Element dieser Bereitschaft liegt nach dem Stand der wirtschaftskriminologischen Befunde (vgl. insbesondere Paternoster und Simpson 1996; Smith et al. 2007; Simpson et al. 2013) zunächst einmal darin, dass die fraglichen Unternehmensmitglieder im Falle von irregulären Erlösmaximierungen keine (individuellen) Nachteile oder Sanktionen fürchten müssen (► Kap. 4.1). Auf dieser Grundlage kann der empirischen Forschung zufolge (was durch entsprechende Anklänge in unseren Interviews bestätigt wird) sodann die Identifizierung und Verbundenheit mit dem Unternehmen – d. h. also ein affektives Commitment (vgl. Robinson und Murphy 2009, S. 61 f.; vgl. hierzu auch die sog. Stewardship-Theory von Davis et al. 1997) – oder etwa die allmählich normalisierende Eingewöhnung in die Üblichkeit grenzwertiger Handhabungen (dazu allg. Vaughan 1996) wirksam werden, gegebenenfalls auch die stillschweigende Unterordnung unter entsprechende Maßgaben bis hin zum vorauseilenden Gehorsam (Piquero und Piquero 2006, S. 404 ff.) oder die Berücksichtigung mittelbarer individueller Vorteile, wie Erfolgsboni, Aufstieg im Haus oder auch nur die Arbeitsplatzsicherung (zu diesem instrumentellem Commitment im hiesigen Zusammenhang auch Passas 1990, S. 159). Meist werden sich mehrere dieser Prozesse mischen. In unseren Interviews lassen sich solche Deutungsmuster und Haltungen immer wieder rekonstruieren.

MDK-Sachbearbeiterin, früher Kodiererin in Klinik (10): 17 »Einmal habe ich gehört, wie eine gesagt hat: Ich probier’s jetzt einfach. Wir haben so wenig Geld für unsere Abteilung. Ich probier’s jetzt dem dem Code, ob ich durchkomme und ob wir das kriegen. Wenn ich nicht durchkomme, O.K.«

Ärztin, früher Klinik (28): »Die Krankenhäuser haben ja auch Ziele. Ich meine, als das DRG-System eingeführt worden ist, und dann die Landesbasisfallwerte immer mehr angeglichen worden sind, da haben ja viele Häuser rote Zahlen geschrieben. Und da war ja auch der Ansporn: ›Wir wollen am Ende des Jahres eine schwarze Null stehen haben.‹ Und solche Ziele werden ja auch unter großen Personalversammlungen gesetzt. Und wird gesagt: ›Am Ende des Jahres muss eine schwarze Null stehen. Ansonsten sieht es schwierig aus.‹ Und bevor Pflegepersonal entlassen wird, weil, das waren ja schon die ersten Konsequenzen, dass man halt entlassen hat, hat man halt schon mal geguckt, dass man so schnell wie möglich da auch reinholt für den Betrieb. Weil es ist ja mein Arbeitsplatz, den ich da rette.«

MDK-Sachbearbeiterin, früher Kodiererin in Klinik (10): »Und das ist eben aufgrund von dieser Fallzahlensteigerung nicht mehr möglich. Und dann artet das Ganze aus, dass der Chefarzt von oben runter mit der Klatsche austeilt.«

Arzt, früher Klinik (29): »Also alle Krankenhäuser, die das Szenario an die Wand malen und auch die, denen es sehr gut geht, dass alle unterfinanziert sind, es ihnen sauschlecht geht und wir bald kein Weihnachtsgeld mehr zahlen können; Urlaub müssen wir auch streichen, also die, ... der Wettbewerb ist schon sehr hart unter den Leistungserbringern und das, Sie werden kaum ein Haus finden, wo die Mitarbeiterschaft von dem Gefühl getragen ist: Unser Haus läuft gut und es geht und prima. Also selbst, ich habe ja in einem Haus gearbeitet, was sehr erfolgreich war, aber selbst da hat die Geschäftsführung großes Interesse daran gehabt, Angst und Schrecken zu verbreiten. Insofern mache ich das aus meiner Motivation, ich will meinen Arbeitsplatz erhalten.«

Ärztin, früher Klinik (36): »Man identifiziert sich mit dem Haus. So würde ich das interpretieren, ja. Mit dem Haus oder zumindest mit der Abteilung, in der man angestellt ist, ja.«

MDK-Sachbearbeiterin, früher Kodiererin in Klinik (10): »Aber er will einfach. Es ist in der Regel schon so, dass die Kodierleute sich mit ihren Abteilungen und ihren Häusern sehr identifizieren. Und sagen: Das ist mein Haus, dem bin ich zugeordnet und da will ich möglichst viel rausholen und wenn es nachher nur heißt: Im großen Plenum sozusagen unsere Abteilung hat eine Steigerung ...«

Ärztin, früher Klinik (26): »Das ist auch einer gewisser ... ja Druck auch auf die ja von der Geschäftsleitung, auf die Chef- und Oberärzte muss man sagen. Also daher wird auch schon ... ja, ja viele Chefärzte wollen ja was, die wollen ein neues Ultraschall-Gerät, die wollen neue Instrumente für den OP. Und dann sagt die Verwaltung ganz schnell: Ja, Sie waren nicht der Erlös, (...) Sie haben zu wenig Hüften operiert, das ist nicht rein gekommen, dann können wir Ihnen auch keine neuen Instrumente für den OP kaufen.«

1.6.3 Interaktionsebene

Einstellungen, Haltungen und Rationalisierungen, die in einem Krankenhaus verbreitet sind und überindividuell geteilt werden, beeinflussen das Denken, Deuten, Wahrnehmen und Entscheiden der Organisationsmitglieder. Unternehmenskriminologisch relevant sind hierunter insbesondere jene selbstverständlich gebrauchten, kognitiven und rhetorischen Rechtfertigungsmuster, durch die auch deliktische Verhaltensweisen organisationsintern unproblematisch kommunizierbar werden, weil sie den Mitarbeitern akzeptabel, gerechtfertigt und angemessen erscheinen (hierzu bei Corporate Crimes allg. etwa Passas 1990, S. 165 ff.; Hochstetler und Copes 2001; Hefendehl 2003; ders. 2005; Heath 2008, S. 605 ff.).

Im Krankenhaus bilden sich solche sog. »Neutralisationstechniken« vor einem Erfahrungshintergrund aus, der auf Grundlage wiederkehrender Interaktionsverhältnisse entsteht, insbesondere anhand des Erlebens der Patientenbeziehung und der Wahrnehmung des Verhaltens der Kassenprüfer. So entwickelt das Personal der Kliniken diverse Haltungen, dank derer sich Überleistungen oder offensives Kodieren als gerechtfertigt empfinden und wechselseitig bestätigen lässt – etwa unter Hinweis auf begründete Patientenanliegen, wirtschaftliche Zwänge, die Sachwidrigkeit der Entgeltkriterien oder die Notwendigkeit, sich gegen schikanöse, lebensfremde bzw. rabattierungsmotivierte Kassenprüfungen zu wehren (► Kap. 1, Teil II). Hinzu kommt ein Denkmuster, selbst doch »nur ein austauschbares Rad im Getriebe« zu sein (dazu allg. etwa Hefendehl 2003, S. 33; ders. 2005, S. 453). Durch all diese Sichtweisen werden grenzwertige und irreguläre Aktionsformen »gereinigt« und so deren psychische Kosten gesenkt. Man fühlt sich nicht als Urheber illegalen Verhaltens. Zu Abrechnungsverstößen sind damit auch Personen im Stande, die außerhalb ihrer Klinik unauffällig und angepasst leben. Selbst wenn die Akteure reflektieren, dass sie sich mindestens in einer Grauzone bewegen, erscheint ihnen dies als letztlich legitim. Da dadurch selbst ein positiv-gesellschaftskonformes Selbstbild unbeschädigt bleibt, kommen Hemmungen gar nicht erst auf.