1 Einführung:
Autonomie und Stellvertretung – Medizinische Entscheidungen in der modernen Gesellschaft

Christof Breitsameter

1.1

Motiv und Grund

1.2

Autorität und Authentizität

1.3

Die Beträge

Literatur

Während lange Zeit das Wohl des Kranken als oberste Maxime des ärztlichen Handelns galt, tritt heute der Wille des Patienten mehr und mehr in den Vordergrund. Sowohl aus ethischer als auch aus juristischer Perspektive erscheint es weitgehend unumstritten, dass erst die autonome Willensäußerung des Patienten medizinische Maßnahmen rechtfertigt (vgl. Krones und Richter 2006, S. 94–106). Die Vorstellung von einem informierten Patienten, der gemäß eigener Wertüberzeugungen darüber befinden kann, was mit seinem Körper zu geschehen hat, ist jedoch nicht selten mehr Idealbild als realistische Beschreibung der tatsächlichen Umstände. Neben existierenden Restbeständen einer paternalistischen Arzt-Patient-Beziehung führt zu Problemen bei der praktischen Umsetzung des Respekts vor der Patientenautonomie vor allem die Tatsache, dass nur ein Teil jener Menschen, die medizinische Hilfe benötigen, auch faktisch der Idee eines autonom entscheidenden Gegenübers entspricht. Viele Patienten zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die Fähigkeit zur Autonomieausübung vorübergehend oder dauerhaft verloren oder diese noch gar nicht erworben haben. Zu denken ist hier an alte und demente Patienten, an Patienten, die sich aufgrund von Drogen- oder Medikamenteneinwirkung nicht äußern können, sowie auch an sehr junge Kinder oder geistig behinderte Patienten. Diese nicht einwilligungsfähigen Personen als eine Randgruppe zu betrachten, würde allein schon ihrer rein quantitativen Relevanz nicht gerecht. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass eine Krankheit stets (zum Beispiel aufgrund von Symptomen wie Schmerzen) ein unterschiedlich hohes Ausmaß an Einschränkungen der persönlichen Entscheidungsfähigkeit mit sich bringt. Von daher stellt sich die prinzipielle Frage, ob an der Vorstellung eines rational und unter Bezugnahme auf die eigenen Wertüberzeugungen entscheidenden Individuums, etwa im Falle einer schweren Erkrankung, überhaupt festgehalten werden kann. Zudem muss pragmatisch festgelegt werden, wie der klinische Entscheidungsprozess bei nicht einwilligungsfähigen Patienten zu strukturieren ist. Konkret muss hier gefragt werden: Wer entscheidet auf der Grundlage welcher Kriterien? Die Spannbreite möglicher Positionen reicht hier von einer Entscheidung allein durch den Arzt – etwa in einer klinischen Notfallsituation – bis zu all jenen Instrumenten, die der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens dienlich sein sollen.

1.1 Motiv und Grund

Um verstehen zu können, warum medizinisches Handeln, das doch dem Wohl des Patienten zu dienen hat, überhaupt begründet werden muss und welche Rolle dabei der Wille des Patienten spielt, ist ein Blick auf die Struktur der modernen Gesellschaft unumgänglich. Hier sind ethische Fragen Begründungsfragen. Anders gesagt: Wenn Ethik die Reflexion von Moral ist, dann stattet sie unser Handeln mit Gründen aus (vgl. Breitsameter 2010, S. 7). Wenn man allerdings in die Geschichte der Ethik blickt, sieht man in antiken und mittelalterlichen Theorien weniger Begründungs- als vielmehr Haltungsdiskurse, in denen weitgehend klar ist, was richtiges Handeln ist – nämlich tugendhaftes Handeln. Dies muss nicht weiter begründet werden, weil eine Ordnung vorausgesetzt wird, die nicht begründungsbedürftig ist, sondern eben gilt. Rechtfertigungsbedürftig ist allein die Abweichung von dem, was als tugendhaft angesehen wird. Dahinter steht eine Gesellschaft, in der der Einzelne im Regelfall weiß, was von ihm wann erwartet wird, und in der so etwas wie ein Gesamtsinn dessen erkennbar ist, was getan werden soll.

Die moderne Gesellschaft dagegen setzt sich, vereinfacht gesagt, aus Funktionen zusammen, die sich voneinander abgekoppelt haben (vgl. Luhmann 1997, S. 625). In der Wirtschaft gilt eine andere Logik als in der Politik, in der Wissenschaft eine andere als in der Medizin, um nur einige wenige Perspektiven anzuführen. Diese Logiken können sich autonom entfalten – und müssen es auch: Was in der Medizin getan werden soll, darf nicht primär von wirtschaftlichen Gesichtspunkten her diktiert werden, was in der Wissenschaft als richtig erkannt wird, kann nicht direkt von dem beeinflusst sein, was politisch als opportun gilt (und wenn das der Fall ist, wie beispielsweise bei Gefälligkeitsgutachten für die Industrie, wird dies als Missbrauch wissenschaftlicher Logik gebrandmarkt). Die gesellschaftlichen Funktionssysteme sind freilich nicht autark: Was medizinisch sinnvoll ist, ist unter Umständen nicht zu bezahlen, und was von wissenschaftlicher Seite empfohlen wird, politisch nicht durchsetzbar (vgl. Breitsameter 2003). In einer solchen funktional differenzierten Gesellschaft kann die Frage nach dem richtigen Handeln nicht mehr mit dem Hinweis auf Tugendkataloge gelöst werden. Haltungsfragen werden von Begründungsfragen, wenn nicht abgelöst, so doch dominiert. Denn die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist in normativer Hinsicht durch Uneindeutigkeit gekennzeichnet. Die Struktur der Gesellschaft selbst lässt das Individuum in Fragen des richtigen Handelns unterbestimmt, damit es sich flexibel auf die unterschiedlichen und womöglich antinomischen Erwartungen einlassen kann, die an es herangetragen werden. Man bezeichnet diesen Prozess auch als Individualisierung. Individualisierung meint nicht, dass Menschen dazu in der Lage sind, über alles, was ihr Leben betrifft, individuell zu entscheiden. Individualisierung hebt vielmehr darauf ab, dass wir in einer Welt leben, in der die Handlungen verschiedener Individuen strukturell gleichzeitig voneinander unabhängig und aufeinander bezogen sind (vgl. Beck 1986, S. 205ff.). In einer solchen Welt treten Begründungsfragen auf. Weil Begründungen sich aber nicht auf Eindeutigkeiten stützen können, die sozusagen objektiv von außen zu lösen sind, werden sie nach innen verlegt, und zwar in die subjektive Form des Motivs. Dabei gilt als Motiv nicht beispielsweise ein Wunsch, der einem Menschen spontan in den Sinn kommt. Ein Motiv ist grundsätzlich kritisierbar, es kann immer auch ein anderes Handlungsmotiv geben, und wir müssen – uns selbst oder anderen Personen – Gründe dafür liefern, warum wir einem bestimmten Wunsch den Vorzug vor einem anderen geben (vgl. Gosepath 1999, S. 19). Dadurch entsteht eine unaufhebbare Korrespondenz von Gründe- und Motivwelt – unaufhebbar, weil die Gründe motivbasiert bleiben und sich nicht in einen vernünftigen Konsens aufheben lassen (vgl. Habermas 1988, S. 185).

1.2 Autorität und Authentizität

Da die moderne Gesellschaft sich als funktional differenzierte Gesellschaft reflektiert, ist es für sie selbstverständlich geworden, ein und denselben Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlich zu betrachten, ohne dass einer bestimmten Perspektive ein gesellschaftsweit konzedierter Vorrang eingeräumt wird. Eine medizinische Entscheidungslage kann auch wirtschaftlich oder politisch betrachtet werden, und unter Umständen wird man zu unterschiedlichen Urteilen darüber gelangen, was zu tun ist. Dadurch entsteht das Paradox einer Symmetrie von Asymmetrien, was Auswirkungen auf die klassischen Autoritäten bzw. auf die professionelle Expertise hat. Die autoritativen Sprecherpositionen, zu der auch der Arzt gehört, werden in der Moderne auf Augenhöhe zueinander gebracht, ohne aufzuhören, professionelle Sprecherpositionen zu sein (vgl. Nassehi 2008). Eine medizinische Entscheidung, die ehemals eine autoritative Entscheidung war, kann nun angezweifelt werden, weshalb sie mit Gründen ausgestattet werden muss. Man kann also den Arzt fragen, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, oder warum er so handeln will, wie er vorhat zu handeln, und man hebt mit der Forderung, Gründe für sein Handeln zu benennen, auf seine Motivlage ab. Diese Möglichkeit, den Arzt nach Gründen für sein Verhalten zu befragen, die wiederum auf seine Motive verweisen, kann so weit gehen, dass ihm unterstellt wird, aus wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen oder wissenschaftlichen und eben nicht aus medizinischen Motiven heraus gehandelt zu haben. Aber selbst wenn man dem Arzt unterstellt, sich von rein medizinischen Überlegungen leiten zu lassen, kann man die Frage stellen, ob die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Maßnahme richtig war. Genau dadurch ist die moralische Uneindeutigkeit der Moderne charakterisiert. Was medizinisch getan werden soll und was der Arzt deshalb vorschlägt, kann durch den Juristen oder Psychiater bestritten oder infrage gestellt werden, mit der Folge, dass im Grunde immer weiter diskutiert werden muss, was als richtiges Handeln anzusehen ist. Und selbst dann, wenn in dieser Frage Einigkeit erzielt wäre, wenn also ein autoritativer Konsens darüber bestünde, was dem Wohl des Patienten dient, kann der Wille des Betroffenen von dem abweichen, was ihm als zuträglich empfohlen wird. Daher stellt sich die Frage, was als authentischer Wille des Patienten gelten kann.

Das Medium, in dem ethische Begründungen sich ereignen, ist dann jedenfalls nicht mehr Autorität, sondern Authentizität (vgl. Taylor 1991). Ethisch ist an dieser Praxis, dass über alles geredet werden darf und sogar geredet werden muss. Ob sich uneindeutige medizinische Entscheidungslagen aus ethischer Sicht auflösen lassen, indem einfach der Wille des Patienten befolgt wird, sei dahingestellt. Die genannte Entwicklung führt aber, und das ist inzwischen Allgemeingut geworden, dazu, dass die Kommunikation mit dem Patienten an Bedeutung gewinnt. Galt es also ehedem als vernünftig, das zu tun, was der Arzt empfahl, – hatte man sich dieser medizinischen Vernunft einfach zu unterwerfen –, wird nun genau dies mit dem Verweis auf authentisches Entscheiden, das heißt auf Subjektivität, infrage gestellt (vgl. Sarasin 2001, S. 24). Damit wird die Frage nach dem Verhältnis von Autorität und Authentizität aufgeworfen (vgl. Quante 2002, S. 333 – 337). Gefragt wird dann etwa: Ist, was der Patient aktual wünscht, Ausdruck personaler Autonomie? Ist, was der Patient in einer Verfügung festlegt, noch gültig, wenn er sediert ist? Der Jurist kann vielleicht nicht anders, als diese Frage zu bejahen, der Psychologe nicht anders, als zu zweifeln, der Mediziner unter Umständen nicht anders, als diese Frage zu verneinen.

Der medizinethische Diskurs zielt auf eine Neubestimmung des Verhältnisses von Asymmetrie und Symmetrie, von Authentizität und Autorität, ausgelöst durch die Vielfalt der Perspektiven, die in der modernen Gesellschaft gegenüber dem Patienten, aber auch vom Patienten selbst eingenommen werden können. Die Ethik kann dabei allerdings nur ethische Probleme lösen, und sie reagiert damit auf die Uneindeutigkeit der Moderne, die ohne – bezweifelbare – Begründung nicht sagen kann, was sein soll (vgl. Nassehi 2006, S. 165). Daher kann die Ethik keine Eindeutigkeit in medizinischen Entscheidungslagen schaffen, und es wäre falsch, das von ihr zu erwarten. Sie kann nur Kommunikation anregen (vgl. van den Daele 2001, S. 4 – 22). Das heißt, sie kann Sprecher sprechen lassen und von Sprechern verlangen, dass sie sich authentisch äußern: Ärzte genauso wie Pflegende, und vor allem natürlich der Patient, solange das irgendwie geht. Man kann die Erwartungen, die in diesem Umfeld entstehen, auch so formulieren: Die moralische Uneindeutigkeit, durch die die Moderne gekennzeichnet ist, soll durch ethische Begründung geheilt werden, und zwar durch Gründe, die nicht nur abstrakt gelten, sondern einen Träger haben, einen Träger, der nicht nur eine Gründe-, sondern auch eine Motivwelt besitzt. Dieses Subjekt aber ist der authentische Sprecher. Die Frage nach der normativen Valenz der authentischen Sprecherposition kann angesichts der Pluralisierung der klassischen Autoritäten nur durch die Kommunikation von Motiven und damit von potenziell anderen Gründen beantwortet werden. Das Interessante an der Symmetrisierung von Sprecherpositionen ist also nicht, dass sie ebenbürtige Positionen und reversible Argumente schafft, sondern dass es nun gute Gründe für alles gibt und gerade deshalb keinen Grund für eine richtige Entscheidung.

Klar wird freilich auch, dass Probleme entstehen, wenn jede individuelle Äußerung als der individuelle Wille einer Person gelten kann. Anders als der Wille, der ehemals durch den Verweis auf den autoritativen Sprecher hergestellt wurde, entsteht nun mit Blick auf authentisches Sprechen ein Wille, der einfach Wille sein darf. Ihn mit guten Gründen zu domestizieren, macht erst auf die Kontingenz von Gründen aufmerksam, mit der Folge, dass jeder zusätzliche Sprecher und jeder zusätzliche Grund, der die Uneindeutigkeit der Entscheidungssituation nährt und mehrt, als Gewinn betrachtet werden muss. Die ethische Theorie Kants ist ganz aus dem Versuch gespeist, Wollen und Sollen, die in der Moderne auseinander getreten sind, durch gute Gründe zu versöhnen. In die medizinethische Debatte übersetzt bedeutet das: Wollen ist nur wirkliches Wollen, wenn es mit guten Gründen ausgestattet ist. Deshalb spricht Kant auch vom „guten Willen“, der zur Maßgabe des Handelns wird. Nicht die spontane Willensäußerung ist Ausdruck individuellen Wollens, sondern nur diejenige, die sich auch im Diskurs bewährt, man könnte auch sagen: die qualifizierte Willensäußerung. Nur so kann die Idee entstehen, dass ein Mehr an Auseinandersetzung und Kommunikation auch ein Mehr an guten Entscheidungen produziert – auch wenn genau diese Situation das Entscheiden selbst fast unmöglich macht (vgl. Nassehi 2003, S. 72f.). Denn Entscheidungen sind ja gerade davon abhängig, auf gute Gründe bisweilen verzichten zu können und zu tun, was zu tun ist. Allerdings wird – und das ist die Thematik des vorliegenden Bandes – das Ideal einer eigenverantwortlichen Lebensplanung und -gestaltung, das als essenzielles Moment der modernen Vorstellung vom guten Leben auch die Medizin erreicht hat, angesichts der geschilderten Asymmetrien nicht nur bei entscheidungsfähigen, sondern auch und erst recht bei entscheidungsunfähigen Patienten nur schwierig zu verwirklichen sein, sodass sich die Frage ergibt, wie die authentische Sprecherposition in diesen Fällen rekonstruiert werden kann (vgl. Harris 1995, S. 277).

1.3 Die Beiträge1

Der vorliegende Band soll die Frage beleuchten, wie das medizinethische Prinzip des Respekts vor der Patientenautonomie auch bei nicht entscheidungsfähigen Patienten Berücksichtigung finden kann. Dazu sollen zunächst medizinethische und juristische Grundlagen des Problems dargestellt werden, um dann zu einigen Anwendungsfeldern überzugehen und die jeweils spezifischen Anforderungen in den Blick zu nehmen.

Die Klärung des Problems, wie in medizinischen Entscheidungen die Selbstbestimmung einwilligungsunfähiger Patienten respektiert werden kann, geht Georg Marckmann mit der Frage an, wie dies bei einwilligungsfähigen Patienten in einer ethisch angemessenen Weise erfolgen soll. Grundgedanken des Modells des „informed consent“ lassen sich nämlich auch auf die Situation des nicht mehr äußerungsfähigen Patienten übertragen. Es wird daher erläutert, an welchen Standards sich die stellvertretende Entscheidung für einen einwilligungsunfähigen Patienten orientieren sollte. Besondere Bedeutung kommt in diesem Kontext vorausverfügten Behandlungswünschen zu. Hier wird die These vertreten, dass die Patientenverfügung zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Wahrung der Selbstbestimmung bei nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten ist, weil wesentliche Elemente des „informed consent“ fehlen. Erforderlich ist vielmehr ein kommunikativer Prozess der gesundheitlichen Vorsorgeplanung, der den Anforderungen eines „informed consent“ genügt. Mit dem „Advance Care Planning“ wurde in den USA ein Konzept der gesundheitlichen Vorsorgeplanung entwickelt, das die Erstellung einer Patientenverfügung in einen mehrzeitigen Gesprächsprozess einbaut, bei dem die Betroffenen von eigens hierfür ausgebildetem nicht-ärztlichem Personal mit Informationen versorgt und bei ihren Entscheidungen unterstützt werden. Am Ende resultieren Festlegungen, die auch einem anspruchsvollen Konzept des „informed consent“ entsprechen und aufgrund einer ärztlichen Anordnung über lebensverlängernde Maßnahmen in die Praxis umgesetzt werden. Mittels der Entwicklung entsprechender Routinen im Umgang mit Patientenverfügungen und ärztlichen Anordnungen für den Notfall einschließlich einer Schulung des Gesundheitspersonals kann – wie jüngste Daten belegen – erreicht werden, dass annähernd 100 % der Versterbenden über eine Vorausplanung verfügen, die in der Praxis fast ausnahmslos bei Entscheidungen über den Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen berücksichtigt wird.

Der Beitrag von Gunnar Duttge diskutiert die Frage der Selbstbestimmung bei einwilligungsunfähigen Patienten aus rechtlicher Sicht. Auch wenn die authentische Erklärung eines bestmöglich aufgeklärten, von störenden äußeren und inneren Zwängen gänzlich unbelasteten Patienten unmittelbar zum relevanten Entscheidungszeitpunkt – rechtlich wie ethisch – das Ideal einer selbstbestimmten Entscheidung und entsprechend einer patientenseitigen Legitimation des ärztlichen Eingriffs darstellt, so geht mit dem Verlust der Einwilligungsfähigkeit die Stellung als Rechtssubjekt mitsamt dem daraus fließenden Anspruch auf Achtung – auch hinsichtlich des individuell Gewollten – nicht verloren. Es bedarf nur wegen der Unmöglichkeit einer rechtlich wirksamen höchstpersönlichen Willensbekundung anderer Ausdrucksformen des Selbstbestimmungsrechts. Verglichen mit höchstpersönlichen Entscheidungen informierter Patienten in der Akutsituation sind die ersatzweise in den Blick tretenden Ausdrucksformen mit Zweifeln darüber belastet, ob sie dem Patientenwillen wirklich und verlässlich Rechnung tragen. Dabei kommt der Patientenverfügung allerdings generell noch immer eine vergleichsweise hohe Wertigkeit insofern zu, als sie immerhin eine authentische, substanzielle Willensbekundung des tatsächlich Betroffenen enthält. Der ihr immanente „Zeitsprung“ lässt freilich die Aktualität des Verfügten notwendigerweise fraglich erscheinen, und dies nicht etwa nur wegen eventuell nicht voraussehbarer neuer Entwicklungen der Medizin, sondern nicht minder im Hinblick auf einen möglichen Wandel der eigenen Haltung im Laufe neuer Lebenserfahrungen und veränderter (insbesondere eingeschränkter) Lebensperspektiven. Daher ist die Frage zu stellen, ob mit dem Instrument der Patientenverfügung in seiner geltenden Ausgestaltung eher eine Gefahr droht denn ein Schritt in die richtige Richtung getan wurde.

Häufig wird deshalb gefordert, dass die Entscheidung über Diagnose bzw. Therapie auf der Basis einer Interaktion zwischen Arzt und Patient gefällt werden soll, gerade auch für Situationen, in denen der Betroffene sich nicht mehr selbst äußern kann und in denen deshalb stellvertretend entschieden werden muss. Dies wirft allerdings die Frage auf, was der Arzt und was der Patient zu einer gemeinsam getroffenen Entscheidung beitragen soll. Grundsätzlicher formuliert: Welcher Stellenwert bleibt der Patientenautonomie im Angesicht ärztlicher Fürsorge? Das klassische Modell der Beziehung zwischen Arzt und Patient ist dadurch gekennzeichnet, dass der Arzt aufgrund seines Expertenwissens dem Patienten bei der Festlegung von Diagnose bzw. Therapie eine passive Rolle zuschreibt. Dahinter steht die Haltung, der Arzt wisse aufgrund seiner fachlichen Qualifikation am besten, was für den Patienten richtig ist. Er habe den Patienten geradezu zu schützen, indem er ihm Informationen, die ihn beunruhigen oder überfordern könnten, vorenthalte und wichtige Entscheidungen stellvertretend für ihn treffe. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist in diesem Modell asymmetrisch gestaltet, das Moment der Fürsorge gegenüber dem Moment der Selbstbestimmung deutlicher ausgeprägt. Eine mildere Form der paternalistischen Arzt-Patient-Beziehung besteht dort, wo der Patient einer vorgeschlagenen Diagnose zustimmen bzw. nicht zustimmen oder in eine Therapie einwilligen bzw. nicht einwilligen kann. Hier fehlt allerdings das Moment der Wahlfreiheit, weil dem Patienten keine alternativen Behandlungsoptionen vorgeschlagen werden. Diese Art der Fürsorge wird als informierte Einwilligung oder informierte Zustimmung („informed consent“) bezeichnet. Aus ethischer und rechtlicher Perspektive bildet die informierte Einwilligung das Minimum an Patientenautonomie. Viel spricht allerdings dafür, sich an einem Modell zu orientieren, das der Autonomie des Patienten einen höheren Rang einräumt. Das bedeutet, dass Arzt und Patient unterschiedliche Kenntnisse in die Entscheidung einbringen: Der Arzt weiß über diagnostische Methoden und Möglichkeiten der Therapie Bescheid, während der Patient seine Ziele und Wertvorstellungen kennt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Patienten über die Vor- und Nachteile einer Behandlung und deren Alternativen informiert werden und dann auf der Grundlage dieser Informationen darüber entscheiden, welche Behandlung sie vornehmen lassen bzw. ob sie auf eine Behandlung verzichten wollen. Von daher stellt Christof Breitsameter die Frage, ob Autonomie und Fürsorge einen Gegensatz bilden oder nicht vielmehr als komplementäre Prinzipien konzeptualisiert werden können.

Der Beitrag von Lara Huber befasst sich mit der Reichweite von Autonomiemodellen bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens. Hier zeigt sich, dass die ethische Auseinandersetzung um den Respekt vor der Patientenautonomie durch die dichotome Lesart zwischen der aktualen Fähigkeit eines Individuums und dem Ideal der Selbstbestimmung andererseits geprägt ist. Zudem weist der Begriff der Patientenautonomie einen präskriptiven wie einen deskriptiven Gehalt auf: Gemeint ist die konzeptuelle Doppelgestalt der Autonomie als Rechtsanspruch sowie als Fähigkeit zur rationalen Entscheidungsfindung einer Person. Daran angeschlossen ist die empirisch angelegte Frage, ob die Evaluierung der individuellen Fähigkeit zur autonomen Entscheidung im medizinischen Bereich grundsätzlich einen besonderen Status besitzt, der von anderen Entscheidungssituationen zu unterscheiden ist. Normative Gesichtspunkte schließen die Frage ein, ob Patienten aufgrund einer Erkrankung bzw. der damit einhergehenden psychischen Belastung bzw. kognitiven Beeinträchtigung die Kompetenz zur rationalen Entscheidungsfindung abgesprochen werden darf sowie ferner, inwiefern die Vulnerabilität bestimmter Patientengruppen dies in ethischer Hinsicht gerade gebietet. Von hier aus ist zu prüfen, ob sich aus einer nicht existenten oder erheblich eingeschränkten Krankheitseinsicht auch die Unfähigkeit zur autonomen Entscheidungsfindung ableiten lässt, und zudem, wie sich Einsichtsfähigkeit einerseits und Einwilligungsfähigkeit andererseits zum Prinzip der Patientenautonomie verhalten.

Eine theoretische Rekonstruktion des medizinethischen Autonomiebegriffs bleibt schwierig. Weder darf er mit zu stark normativen („idealisierenden“) Anforderungen an den Patienten verknüpft sein, noch kann er von jeglichem normativen Anspruch entleert werden, um nicht einer „Wunsch-Medizin“ Vorschub zu leisten, im Rahmen derer die kritische Frage nach der medizinischen Sinnhaftigkeit eines Eingriffs vernachlässigt wird. Die ärztliche Indikation bietet hier, so zeigt Sabine Salloch, die Möglichkeit eines normativen Korrektivs, welches neben dem wissenschaftlich-sachlichen Aspekt auch den Patienten als Person berücksichtigt. Über diese theoretischen Schwierigkeiten, welche mit dem Begriff der Patientenautonomie in Verbindung stehen, sollte jedoch nicht vergessen werden, welches Interesse der medizinethischen Diskussion eigentlich zugrunde liegt. Es ist dies die Stärkung der Interessen des Patienten und seiner Selbstbestimmung im medizinischen Umfeld, in welchem er lange Zeit überwiegend als Objekt ärztlichen Handelns gesehen wurde. Auch heute noch wird das Krankenhaus nicht selten als eine übermächtig agierende Institution erlebt, innerhalb derer die Rechte und die Individualität des Patienten wenig Beachtung finden. Das Interesse sollte daher auf eine praktische Verbesserung von Möglichkeiten der Selbstbestimmung im klinischen Alltag gerichtet sein.

Innerhalb einzelner konkreter Anwendungsfelder befasst sich Ralf Jox mit dem Verhältnis von Autonomie und Stellvertretung bei Wachkomapatienten. Auch wenn diese Patienten aufgrund ihrer vergleichsweise geringen Gesamtzahl nicht repräsentativ für die Gruppe der Patienten insgesamt sind, stellt der Umgang mit Wachkomapatienten vor allem angesichts des gesellschaftlichen Trends, der Patientenselbstbestimmung gerade am Lebensende mehr und mehr Raum zu geben, eine wichtige medizinethische Herausforderung dar. Bevor jedoch Kriterien des Umgangs mit Wachkomapatienten entwickelt werden, müssen die medizinischen und neurowissenschaftlichen Grundlagen nach aktueller Evidenzlage resümiert werden. In einem ersten deskriptiven Teil geht der Beitrag deshalb der Frage nach der Definition des Wachkomas und der Abgrenzung von verwandten und verwechselbaren Zuständen nach, erläutert, welche pathologischen Mechanismen zum Wachkoma führen und wie die Diagnose gestellt werden kann, beschreibt, in welchem mentalen Zustand sich ein Wachkomapatient befindet, was er wahrnimmt und empfindet, und geht schließlich auf Prognose und Therapiemöglichkeiten ein. Der zweite Teil ist einer Ethik der Therapieentscheidungen gewidmet. Hier wird zunächst diskutiert, was es bedeutet, die Autonomie von Wachkomapatienten anhand einer gezielten Vorausverfügung oder durch die Ermittlung ihres mutmaßlichen Willens zu wahren. Aufgrund der Schwierigkeiten, bei Wachkomapatienten nach dem Kriterium der Patientenautonomie zu handeln, wird in einem weiteren Schritt das Verhältnis von Patientenwohl und Indikation beleuchtet. Abschließend wird die Rolle weiterer ethischer Entscheidungskriterien – vor allem das Prinzip der Gerechtigkeit – in Erwägung gezogen.

Von Monika Bobbert wird die Frage nach der Reichweite des Autonomiekonzepts angesichts der Pflege entscheidungsunfähiger Patienten gestellt. Weil Pflege in die physische wie psychische Integrität des Patienten sowie seine Alltagsgestaltung und Lebensführung eingreift, muss die Ambivalenz des Helfens, das unterstützend, aber auch bis zur Entmündigung einschränkend sein kann, zentraler Gegenstand ethischer Reflexion sein. Den Ausgangspunkt bildet das Recht auf Selbstbestimmung, das sich in vier konkrete moralische Rechte ausdifferenzieren lässt: das Recht auf informierte Zustimmung oder Ablehnung, das Recht auf Festlegung des eigenen Wohls, das Recht auf Wahl zwischen möglichen Alternativen und das Recht auf eine möglichst geringe Einschränkung des Handlungsspielraums. Diesen Forderungen nach dem Respekt vor der Autonomie der Patienten stehen die faktischen Bedingungen gegenüber. Vier Asymmetrien prägen dabei die Beziehung zwischen pflegebedürftigen Menschen und professionellen Pflegekräften: der fachliche Wissensvorsprung professioneller Helfer gegenüber den betroffenen Laien, die Vertrautheit von Rollen und Regeln, innerhalb derer sich die Pflegekräfte bewegen, die Pflegebedürftigen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung in der Ausübung ihrer Autonomie eingeschränkt sind, und schließlich die Standardabläufe in den Institutionen des Gesundheitswesens und der Altersversorgung, die primär auf entscheidungsfähige Patienten ausgerichtet sind. Deshalb ist es gerade bei kognitiv stark eingeschränkten Pflegebedürftigen notwendig, ihren Willen zu erkunden, was am Beispiel Demenz näher ausgeführt wird. Wo dies nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich ist, gilt es, das „Eigenwohl“ des Betroffenen zu bestimmen. Dabei müssen von außen an den Pflegebedürftigen herangetragene Vorstellungen vom guten Leben individualisiert werden und es gilt, jederzeit Korrekturen gegenüber aufgeschlossen zu bleiben. Damit sind die vonseiten der Pflege eingebrachten Handlungsziele, die letztlich Vorannahmen in Bezug auf das „objektive Wohl“ eines Patienten darstellen, von Bedeutung. Der Beitrag erläutert die in der professionellen Pflege implizit und explizit verfolgten Ziele und hinterfragt sie auf ihre Berechtigung hin.

Für die Mitarbeit bei der Publikation des vorliegenden Bandes danke ich herzlich Frau Monika Konik, Frau Simone Horstmann, Herrn Christian Berkenkopf sowie Herrn Kai Kämper, für die Betreuung der Drucklegung Frau Dagmar Kühnle.

Literatur

Beck U (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Breitsameter C (2010): Handeln verantworten. In: Baranzke H, Breitsameter C, Feeser-Lichterfeld U, Heyer M, Kowalski B (Hrsg.): Handeln verantworten. Freiburg i. Br.: Herder. S. 7–41.

Breitsameter C (2003): Identität und Moral in der modernen Gesellschaft. Sozialwissenschaften und theologische Ethik im interdisziplinären Gespräch. Paderborn u.a.: Schöningh.

van den Daele W (2001): Von moralischer Kommunikation zur Kommunikation über Moral. Reflexive Distanz im diskursiven Verfahren. Zeitschrift für Soziologie 30: 4–22.

Gosepath S (Hrsg.) (1999): Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer.

Habermas J (1988): Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Harris J (1995): Der Wert des Lebens. Eine Einführung in die medizinische Ethik. Berlin: Akademie Verlag.

Krones T, Richter G (2006): Die Arzt-Patient-Beziehung. In: Schulz S, Steigleder K, Fangerau H, Paul NW (Hrsg.): Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Eine Einführung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 94–106.

Luhmann N (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Nassehi A (2008): Organisation, Macht, Medizin. Diskontinuitäten in einer Gesellschaft der Gegenwarten. In: Saake I, Vogd W (Hrsg.): Moderne Mythen der Medizin. Studien zur organisierten Krankenbehandlung. Wiesbaden: VS-Verlag. S. 379–397.

Nassehi A (2006): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Nassehi A (2003): Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Quante M (2002): Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sarasin P (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Taylor C (1991): The ethics of authenticity. Cambridge: University Press.

1 Für eine bessere Lesbarkeit wird für Geschlechterbezeichnungen im gesamten Werk vorwiegend die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind jedoch immer beide Formen gemeint.

2 Selbstbestimmung bei entscheidungsunfähigen Patienten aus medizinethischer Sicht

Georg Marckmann

2.1

Bedeutung der Patienten-Autonomie in der modernen Medizin

2.2

Informed Consent – das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in der Praxis

2.3

Die Arzt-Patient-Beziehung – Rahmen für die Selbstbestimmung des Patienten

2.4

Selbstbestimmung bei entscheidungsunfähigen Patienten

2.5

Inhaltliche Standards für die stellvertretende Entscheidung

2.6

Wahrung der Selbstbestimmung mittels Patientenverfügung?

2.7

Patientenorientierte gesundheitliche Vorsorgeplanung – der Schlüssel zu einem wirksamen Schutz der Selbstbestimmung bei nicht mehr entscheidungsfähigen Personen

2.8

Zusammenfassung

Literatur

Seit dem Altertum kennt die Medizin moralische Regeln für das Verhalten von Ärzten. Zu den ältesten Dokumenten gehört der sog. Hippokratische Eid, der vor weit über 2000 Jahren vermutlich von einer pythagoreischen Ärztegruppe formuliert wurde. Dieser Moralkodex enthält Vorgaben für das Verhalten von Ärzten, die auch heute noch relevant sind: Demnach soll der Arzt seine Verordnungen „zum Nutzen der Kranken“ treffen und sich davor hüten, „sie zum Schaden und in unrechter Weise“ anzuwenden (Wiesing 2004). Die moralische Verpflichtung, die Selbstbestimmung des Patienten zu respektieren, fand hingegen erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ihren Weg in die Medizin. Wesentlichen Anteil hieran hatte – neben dem Rechtssystem – die „moderne“ biomedizinische Ethik, die sich seit den 1960er Jahren zunächst in den USA, später auch in Europa an den Universitäten und in den Versorgungseinrichtungen des Gesundheitswesens etablierte. Man konnte in dieser Anfangsphase den Eindruck gewinnen, es ginge eigentlich vor allem darum, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in die Medizin einzuführen; der ärztliche Paternalismus galt als der Feind einer ethisch akzeptablen Medizin (Brody 1992). Inzwischen sind einige Jahrzehnte vergangen und die Diskussion um die Selbstbestimmung der Patienten konnte sich – zumindest im akademischen Bereich – aus der wenig fruchtbaren Antinomie zwischen Paternalismus und Autonomie befreien. Die Frage ist nicht mehr, ob die Autonomie des Patienten zu respektieren ist, sondern, wie dies in angemessener Art und Weise geschehen kann. Der Patient sollte mit seiner Entscheidung nicht alleine bleiben, sondern darin unterstützt werden, die für ihn unter den gegebenen Umständen bestmögliche Auswahl aus den verfügbaren Optionen zu treffen.

Eine besondere Herausforderung stellen dabei Situationen dar, in denen der Patient seine Einwilligungsfähigkeit verloren hat und nicht mehr selbst entscheiden kann, welche medizinischen Maßnahmen bei ihm durchgeführt werden sollen. Es besteht weitgehende Einigkeit darin, dass das Selbstbestimmungsrecht auch dann erhalten bleibt, wenn ein Patient dies nicht mehr selbst aktiv wahrnehmen kann, d.h., wenn er seine Entscheidungsfähigkeit verloren hat. Wie aber können die Wünsche eines solchen Patienten bei Behandlungsentscheidungen berücksichtigt werden? Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag nach. Zunächst sei aber noch einmal kurz begründet, weshalb es gerade heute so wichtig ist, die Selbstbestimmung des Patienten zu respektieren, auch – und vielleicht sogar vor allem – nach dem Verlust der Entscheidungsfähigkeit. Um die Frage beantworten zu können, wie die Autonomie eines einwilligungsunfähigen Patienten zu berücksichtigten ist, sollte man zunächst klären, wie dies beim einwilligungsfähigen Patienten in ethisch angemessener Weise erfolgen sollte. Zwei Abschnitte widmen sich deshalb dem „informed consent“ und der Arzt-Patient-Beziehung. Verschiedene Grundgedanken daraus lassen sich auf die Situation des nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten übertragen. Anschließend werde ich erläutern, an welchen Standards sich die stellvertretende Entscheidung für einen nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten orientieren sollte. Besondere Bedeutung kommt hierbei vorausverfügten Behandlungswünschen zu. Ich werde die These vertreten, dass die Patientenverfügung zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für die Wahrung der Selbstbestimmung bei nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten ist. Erforderlich ist vielmehr ein kommunikativer Prozess der gesundheitlichen Vorsorgeplanung („Advance Care Planning“), der den Anforderungen eines „informed consent“ genügt. Diese in Deutschland flächendeckend zu etablieren, stellt den Schlüssel für eine effektive Wahrung der Selbstbestimmung bei nicht mehr äußerungsfähigen Patienten dar.

2.1 Bedeutung der Patienten-Autonomie in der modernen Medizin

Es ist sicher kein Zufall, dass die Selbstbestimmung des Patienten erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewann. Die erweiterten Möglichkeiten der (Intensiv-)Medizin, menschliches Leben auch unter schwierigsten Bedingungen aufrechtzuerhalten, bedeuteten für viele Kranke und Verletzte eine große Chance. Allerdings befinden sich die Patienten häufig in einem so eingeschränkten körperlichen und geistigen Zustand, dass unsicher ist, ob man dem Patienten mit der Verlängerung ihres Lebens noch etwas Gutes tut. Die kontroversen Diskussionen um die Behandlung von Patienten im persistierenden vegetativen Zustand (sog. „Wachkoma“) stellen ein paradigmatisches Beispiel hierfür dar (Synofzik und Marckmann 2005): Soll man menschliches Leben unter allen Umständen erhalten? Es herrscht inzwischen weitgehende Einigkeit, dass nicht immer alle medizinischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung auch ausgeschöpft werden müssen. Das moralisch Richtige ergibt sich nicht aus dem medizinisch Möglichen. Wann der richtige Zeitpunkt zum Sterben und damit zum Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen gekommen ist, lässt sich nicht direkt aus dem medizinischen Fachwissen ableiten, sondern erfordert Bewertungen wie z. B. der verbleibenden Lebensqualität, der noch erreichbaren Behandlungsziele oder des Nutzen-Schaden-Verhältnisses medizinischer Maßnahmen. Diese Werturteile sollten sich an den Wertmaßstäben jener Person orientieren, die von der Entscheidung am meisten betroffen ist: Der Patient sollte selbst entscheiden, ob z.B. bei einer weit fortgeschrittenen Tumorerkrankung noch eine weitere Chemotherapie durchgeführt oder bei einer schwersten, irreversiblen Gehirnschädigung die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr fortgesetzt werden sollte (Synofzik und Marckmann 2008).

Aufgrund dieser evaluativen Dimension medizinischer Entscheidungen kommt dem Respekt der Patientenautonomie eine herausragende Bedeutung in der modernen Medizin zu. Wir leben in einer (noch weiter zunehmend) wertpluralen Gesellschaft und können nicht mehr davon ausgehen, dass alle Menschen eine gemeinsame Vorstellung des guten Lebens teilen und damit die Chancen und Risiken medizinischer Maßnahmen gleich bewerten. Es gibt folglich keine Alternative zur Patientenautonomie, auch wenn dies die Entscheidung für alle Beteiligten – Ärzte, Patienten, Angehörige – nicht einfacher macht. Und es gibt insbesondere auch dann, wenn der Patient seine Einwilligungsfähigkeit verloren hat, keine Alternative zum Respekt vor der Selbstbestimmung: Gerade wenn die Schädigung des Gehirns so schwer ausgeprägt ist, dass der Patient nicht mehr selbst entscheiden kann – wie z. B. beim persistierenden vegetativen Zustand oder bei der fortgeschrittenen Demenz –, variiert die Bewertung des Lebenszustands von Mensch zu Mensch. Bevor ich mich der zentralen Frage zuwende, wie die Autonomie eines nicht mehr entscheidungsfähigen Menschen respektiert werden kann, möchte ich zunächst erläutern, wie die Selbstbestimmung des einwilligungsfähigen Patienten im Konzept des „informed consent“ seinen Eingang in die medizinische Praxis gefunden hat. Dabei wird deutlich, dass es sich bei der Selbstbestimmung des Patienten um ein anspruchsvolles Konzept handelt, dessen Realisierung in der konkreten Arzt-Patient-Beziehung schon beim Einwilligungsfähigen einige Herausforderungen birgt.

2.2 Informed Consent – das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in der Praxis

Die begriffsgeschichtlichen Wurzeln des „informed consent“ liegen in den 1950er Jahren. Größere Bedeutung in der medizinethischen Diskussion erlangte das Konzept des „informed consent“ jedoch erst in den 1970er Jahren im Gefolge juristischer Präzedenzfälle in den USA (Beauchamp und Faden 1995). Zuvor hatte der Nürnberger Ärzteprozess bereits 1946/47 eindrücklich die Notwendigkeit der freien Probandeneinwilligung bei der Forschung am Menschen formuliert. Im Konzept des informierten Einverständnisses („informed consent“) findet das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in der Praxis seinen Ausdruck. Es formuliert verschiedene Bedingungen, die Voraussetzung für die – ethisch wie rechtliche – Legitimität jeglicher medizinischen Maßnahme sind (vgl. Beauchamp und Childress 2008, S. 120).

Tab. 2.1: Elemente des informierten Einverständnisses

I. Voraussetzungen

(1) Fähigkeit zu verstehen und zu entscheiden

(2) Freiwilligkeit

II. Aufklärung

(3) Erläuterung der relevanten Information

(4) Empfehlung einer Vorgehensweise

(5) Verständnis von (3) und (4)

III. Einwilligung

(6) Entscheidung für eine Vorgehensweise

(7) Erteilung des Behandlungsauftrags

Demnach liegt ein informiertes Einverständnis des Patienten vor, wenn dieser ausreichend aufgeklärt wurde, die Aufklärung verstanden hat, freiwillig entscheidet, dabei entscheidungskompetent ist und schließlich seine Zustimmung zur Maßnahme gibt. Der Patient muss folglich interne (Entscheidungsfähigkeit) und externe (keine Beeinflussung) Voraussetzungen mitbringen und dann vom Arzt durch eine gleichermaßen verständliche wie einfühlsame Aufklärung über seine medizinische Situation und die verfügbaren Behandlungsoptionen (einschließlich der jeweiligen Chancen und Risiken) in die Lage versetzt werden, eine Entscheidung zu treffen, die mit seinen eigenen Werthaltungen übereinstimmt. Selbstbestimmung ist folglich nicht etwas, das der Patient bereits mitbringt: Er muss durch die angemessene Unterstützung des Arztes in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt darüber zu entscheiden, welche Maßnahmen bei ihm durchgeführt werden sollen (zur Umsetzung vgl. den folgenden Abschnitt zur Arzt-Patient-Beziehung).

Obwohl die Voraussetzungen für das „informed consent“ grundsätzlich akzeptiert sind, können sich bei der Anwendung im Einzelfall verschiedene Probleme ergeben: Wie umfassend ist der Patient aufzuklären? Wie kann man sicherstellen, dass der Patient die Aufklärung wirklich verstanden hat? Kann man angesichts der vielfältigen Einflüsse, denen ein Patient bei seiner Entscheidung unterliegt, überhaupt noch von einem freiwilligen Entschluss ausgehen? Besonders relevant ist folgende Frage: An welche Bedingungen ist die Einsichtsfähigkeit und Entscheidungskompetenz des Patienten gebunden und wie kann sie im Zweifelsfall überprüft werden? Die Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit eines Patienten stellt eine besondere Herausforderung dar, da es sich bei der Entscheidungskompetenz um eine kontinuierliche „Variable“ handelt, schließlich aber eine dichotome Einschätzung – einwilligungsfähig oder nicht einwilligungsfähig – zu treffen ist. Einiges spricht dafür, in Abhängigkeit von der Tragweite der Entscheidung einen jeweils unterschiedlich strengen Maßstab an die Einwilligungsfähigkeit zu stellen: Je schwerwiegender die potenziellen Konsequenzen der anstehenden Entscheidung sind, desto höhere Anforderungen sind an die Entscheidungskompetenz zu stellen, um den Patienten vor möglichem Schaden durch seine eigene Entscheidung zu schützen.

Tab. 2.2: Einwilligungsfähigkeit – Kriterien

An dieser Stelle sei betont, dass das Vorliegen eines „informed consent“ eine notwendige, aber nicht hinreichende ethische Legitimation für die Durchführung einer medizinischen Maßnahme darstellt. Die Einwilligung des Patienten entbindet den Arzt nicht von seinen Fürsorge-Verpflichtungen: Er muss (vorab!) selbst genau prüfen, ob die Maßnahme aus seiner Sicht dem Patienten insgesamt mehr Nutzen als Schaden bietet. Eine im engeren Sinne nutzlose Maßnahme, die nicht mehr in der Lage ist, das angestrebte Behandlungsziel zu erreichen, darf der Arzt dem Patienten gar nicht erst anbieten (Marckmann 2004).

2.3 Die Arzt-Patient-Beziehung – Rahmen für die Selbstbestimmung des Patienten

Der „informed consent“ wird immer in einer konkreten Arzt-Patient-Beziehung realisiert. Als die Patientenautonomie in den USA zunehmend an Gewicht gewann, konnte man den Eindruck gewinnen, als ginge es vor allem darum, sich von ärztlicher Seite jeglicher Einflussnahme zu enthalten und die Patienten nur mit medizinischen Informationen („Fakten“) zu versorgen (Brody 1992). Der Patient sollte dann ganz alleine – autonom – entscheiden, welche Behandlung bei ihm durchgeführt werden soll. Inzwischen ist diese „extreme“ Interpretation des Selbstbestimmungsrechts des Patienten einer differenzierteren Sichtweise gewichen. Die beiden US-amerikanischen Autoren Ezekiel und Linda Emanuel haben diese Diskussion wesentlich mit geprägt. Sie unterscheiden vier idealtypische Modelle der Arzt-Patient-Beziehung (Emanuel und Emanuel 1992a):

  1. Das paternalistische Modell betont die ärztliche Fürsorgepflicht: Der Arzt entscheidet, welche Maßnahmen dem Wohl des Patienten am besten dienen. Der Patient seinerseits ordnet sich vertrauensvoll der Entscheidungsautorität des Arztes unter, da dieser am besten weiß, was für ihn (den Patienten) am besten ist.
  2. Demgegenüber akzentuiert das informative Modell, auch als Vertragsmodell der Arzt-Patient-Beziehung bezeichnet, die Entscheidungsautonomie des Patienten. Nachdem der Arzt den Patienten über die medizinischen Sachverhalte informiert hat, wählt Letzterer selbstbestimmt entsprechend seinen eigenen Wertvorstellungen die bevorzugte Behandlungsoption. Dieses Modell wird mit der Annahme begründet, dass sich Arzt und Patient hinsichtlich grundlegender Wertüberzeugungen fremd seien und sich als gleichberechtigte Partner in einem Vertragsverhältnis gegenüberträten.
  3. Zwischen ärztlicher Fürsorgepflicht und Patientenautonomie vermittelnde Positionen nehmen das interpretative und das deliberative Modell der Arzt-Patient-Beziehung ein. Beim interpretativen Modell hält sich der Arzt selbst zwar mit gesundheits- bzw. krankheitsbezogenen Bewertungen zurück, hilft aber dem Patienten, seine eigenen Wertvorstellungen zu klären und die entsprechende Behandlungsoption auszuwählen.
  4. Das deliberative Modell betont den gemeinsamen Entscheidungsprozess, in dem der Arzt versucht, den Patienten von den Werten und Zielvorstellungen zu überzeugen, die aus ärztlicher Sicht realisierbar und für den Patienten am besten wären. Dabei sollte der Patient argumentativ überzeugt und nicht rhetorisch manipuliert werden.

Welches der vier Modelle ist nun zu bevorzugen? Sicher wird es auch von der Persönlichkeit des Patienten abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient entwickelt bzw. entwickeln sollte. Verschiedene Argumente sprechen jedoch für das deliberative Modell der Arzt-Patient-Beziehung, da es dieses möglich macht, einem ärztlichen Paternalismus einerseits und einem reinen Subjektivismus andererseits zu entgehen. Dem Modell zufolge ist eine eigenständige evaluative Positionierung des Arztes in der Arzt-Patienten-Beziehung zur Bewertung von Nutzen und Schaden einer Maßnahme nicht nur notwendig, sondern auch ethisch wünschenswert (zur Quelle der evaluativen Positionierung vgl. ausführlicher Synofzik und Marckmann 2008). Allerdings gibt der Arzt diese Positionierung dem Patienten nicht einfach vor – wie es der Paternalismus nahe legt –, sondern er bringt sie in die gemeinsame Deliberation über Behandlungsziele und -möglichkeiten ein. Dabei kann er die Wunschvorstellungen des Patienten kennenlernen und ihn bei der Weiterentwicklung derselben aktiv unterstützen. Er darf durchaus versuchen, den Patienten zu überzeugen, sollte aber seine Werte nicht als allgemein verbindlich voraussetzen. Entsprechend beschränkt sich der