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Schätze bergen

Alltag in Freien Alternativschulen

Nicola Kriesel und Jan Kasiske

Vorwort

von Niklas Gidion

In diesem Buch ist eine reichhaltige Auswahl an Portraits von interessanten Schulen versammelt. Es sind Schulen, an denen Kinder und Jugendliche weitgehend selbstbestimmt leben und lernen können.

Der Titel verspricht es: Hier gibt es Schätze zu bergen! Viel Wertvolles könnte aus den Erfahrungen der Freien Schulen für die Gestaltung und Verbesserung der Bildungslandschaft genutzt werden. Um diese schönen Schätze jedoch zu bergen, muss man sie zuerst erkennen! Und »Schönheit ist eine Frage der Geschwindigkeit des Blicks.« Dieses Buch ist also ein Aufruf, sich Freie Schulen in Ruhe genau anzuschauen, sie näher zu betrachten, sie mehr zu erforschen. Die meisten (wenn nicht sogar alle) der hier vorgestellten Schulen bieten die Möglichkeit an, zu Besuch zu kommen, vielleicht gar im Schulalltag zu hospitieren. Liebe Leser*, nutzen Sie diese Gelegenheit!

Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk. Natürlich von Nicola Kriesel und Jan Kasiske, aber auch von den vielen Menschen aus der Praxis, die durch Interviews, Gespräche und Kommentare die Inhalte für das Buch mitgeliefert haben. Hier kommt konkrete Erfahrung zu Wort.

Das Buch ist eine Einladung, miteinander ins Gespräch zu kommen. Es gibt sehr viel, was die hier vorgestellten Schulen verbindet. Und es gibt eben auch viele Unterschiede. Gerade diese Unterschiede sind besonders spannend und erkenntnisreich. Auch für Menschen, die bereits an Freien Schulen arbeiten, lohnt sich der genaue Blick in andere Schulen, die Vernetzung und der Austausch mit Menschen aus anderen Schulen. Die Kapriole in Freiburg (eine Demokratische Schule, an der ich seit 2004 arbeite) pflegt diese Betrachtung ähnlicher, aber eben doch leicht anderer Schulen in regelmäßigen, wechselseitigen Besuchen (zur Zeit mit der Freien Schule Leipzig, der Netzwerk-Schule in Berlin und der Freien Schule Heckenbeck). Ziel ist es, der besuchten Schule hinterher ein kritisches, kollegiales Feedback zu geben und eventuell auf unreflektierte Bereiche in der Praxis hinzuweisen. Daneben haben wir gelernt, dass die besuchten Schulen vor allem den Besuchern* ein äußerst interessanter »Spiegel« für die Arbeit an der jeweils eigenen Schule sind, der die eigene Arbeit anders betrachtbar macht. Diese gegenseitigen Schulbesuche, von uns als eine Form der Evaluation betrachtet, sind sehr zu empfehlen. Um sich dafür zu verabreden gibt es mittlerweile viele Netzwerke, an denen man sich beteiligen kann. Neben dem Bundesverband der Freien Alternativschulen (BFAS) und der European Democratic Education Community (EUDEC) möchte ich in diesem Zusammenhang noch Blick über den Zaun erwähnen, einen Schulverbund, der eigens zum Zweck wechselseitiger Schulbesuche gegründet wurde. Sowohl der BFAS als auch die EUDEC veranstalten jährlich Treffen, Fortbildungen und Konferenzen, die bestens dafür geeignet sind, mit Menschen anderer Schulen ins Gespräch zu kommen und sich zu verabreden.

Die Autoren* haben die Sammlung der Schulportraits mit Beiträgen zu Themen angereichert, mit denen sich heute jede Schule auseinandersetzen muss! Sichere Orte für Kinder – wie kann Schule so gestaltet werden, dass Kinder und Jugendliche in ihr sicher vor sexualisierten Übergriffen oder sexualisierter Gewalt sind; Inklusion – wie kann Schule so gestaltet werden, dass sie eine Schule für alle Kinder sein kann; Organisationsentwicklung – wie entwickelt sich eine Schule, ohne dass die »Wachstumsschmerzen« dabei zu groß werden; Nachwuchs-Entwicklung von Fachkräften für Freie Schulen – wie kann das Lernen an Hochschulen so gestaltet werden, dass die studierenden, zukünftigen Pädagogen* gut darauf vorbereitet sind, Kinder und Jugendliche bei selbstbestimmtem Lernen zu begleiten und nicht lediglich die eigene Schulerfahrung zu reproduzieren.

Die Reihe dieser Extrathemen ließe sich leicht ergänzen. Mir wäre das Thema »Demokratische Schule« noch wichtig gewesen, denn ich halte die Kultur der Demokratischen Schulen u. a. für das beste Mittel, um die Freiheit der Schüler*, selbstbestimmt in der Schule leben und lernen zu können, gegen Einflüsse von Erwachsenen abzusichern. Auch in vielen Freien Schulen führen die Ängste und Befürchtungen der Erwachsenen dazu, die Selbst- und Mitbestimmung der Schüler* einzuschränken. Eine gute Schuldemokratie, in der die Schüler* gleichberechtigt ihre Schule gestalten, ist dazu ein wirksames Gegenmittel. Und ganz nebenbei ist bzw. wäre eine Demokratische Schule für eine demokratische Gesellschaft eine famose Möglichkeit, ihren jungen Menschen Teilhabe und Mitgestaltung der Gesellschaft nahezulegen.

Der Serviceteil am Ende des Buches zeigt Quellen und Empfehlungen zum Weiterlesen auf.

Einigen Leserinnen und Lesern mögen die hier portraitierten Schulen als spannende, erstaunliche »Projekte« oder »Experimente« erscheinen, deren Gelingen oder sogar deren Existenzberechtigung erst noch zu beweisen ist. Ich möchte deshalb noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass viele dieser Schulen auf Erfahrungen aus jahrzehntelanger Praxis zurückblicken können, was Beweis genug für das Gelingen sein sollte. Und, an die Adresse der Entscheidungsträger in der Bildungspolitik gewandt: Es wäre an der Zeit, diese Schulen als das anzuerkennen und zu behandeln, was sie sind – wertvolle Bestandteile, oft sogar »Motoren der Weiterentwicklung« der Bildungslandschaft, die es zu nutzen und zu unterstützen, anstatt zu behindern gilt.

Und überhaupt – eigentlich wird hier über Praxis aus dem letzten Jahrtausend berichtet, könnte man scherzhaft anmerken, so alt sind manche dieser Schulen schon. Dass Schule auch ganz anders gelebt werden kann, sollte doch eigentlich »Schnee von gestern« sein.

Was also tun, wenn man angeregt von der Lektüre dieses Buches weitere Schritte in Richtung Neuland gehen möchte?

Es ist an der Zeit … Freie Demokratische Universitäten zu gründen, an denen Studierende (wieder?) selbstbestimmt lernen, studieren, forschen können. Es wird Zeit, in mehr Fortbildungsveranstaltungen über die Pädagogik Freier Alternativschulen und die Kultur Demokratischer Schulen zu informieren, vielleicht entsprechende Institute zu gründen. Und es wird natürlich Zeit, mehr Freie Schulen zu gründen, an denen Kinder und Jugendliche frei und selbstbestimmt lernen können, damit diese Art Schule Mainstream wird, damit diese Art Schule irgendwann eine real verfügbare Möglichkeit für jedes Kind ist.

Vorwort der Autoren*

Vor über zehn Jahren sind wir uns an der Freien Schule Prenzlauer Berg, heute Freie Schule am Mauerpark, auf einem Elternabend begegnet. Unsere Kinder waren im ersten bzw. zweiten Schuljahr in der Schule. An dem Abend wurde eine Konzept-Arbeitsgruppe zur Aktualisierung der Öffentlichkeitsarbeit der damals gut zehn Jahre alten Schule gegründet. Das fanden wir beide spannend und beteiligten uns.

Im Laufe der nachfolgenden Jahre engagierte sich Nicola als kommissarische Geschäftsführerin/Verwaltungskraft an der Schule, Jan war im Vorstand des Trägervereins aktiv. In unsere aktive Vereinszeit fiel der Umzug der Schule, die Umbenennung, die Einstellung einer Schulkoordinatorin und der lange Umbau des neuen großen Gebäudes; neben vielen anderen Aufgaben im Alltag einer Freien Schule – Aufnahme von Kindern, Neubesetzung von Stellen, Wachstum, Trägerschaftsübernahme von Gründungsinitiativen, Konfliktschlichtung und spannende Entwicklungsprozesse. Wir waren mit viel Spaß dabei.

Die Kinder wurden größer und unsere beruflichen Kompetenzen erweiterten sich. Wir arbeiten beide als Berater* und 2006 reifte die Idee, unsere Feldkompetenz und Leidenschaft für Freie Schulen mit unserer Beratungskompetenz zu verbinden. So entstand unser erstes gemeinsames Seminarangebot »Chef und Kunde gleichzeitig« für (Eltern)Vorstände an Freien Schulen.

Die Begeisterung und das große Interesse für diese Freien Schulen haben uns nie verlassen. Seitdem begleiten wir auch professionell Schulen in Veränderungsprozessen – Teamentwicklung, Strategieentwicklung, Vorstandsberatung, Coaching, Gründungsberatung, Fundraising. Das Feld ist weit und wir stellen unsere Erfahrung gerne zur Verfügung.

Von 2010 bis 2013 schrieben wir ehrenamtlich für das unerzogen Magazin die hier veröffentlichten Schulportraits. 2012 nahmen wir die Idee der Verleger* auf, daraus ein Buch zu machen, das mit einigen anderen Themen angereichert ist. Nun liegt es vor Ihnen und bringt Ihnen unsere Eindrücke in die Welt der Freien Schulen näher.

Wir danken allen Menschen, die uns im Umfeld der Freien Schule am Mauerpark in unserer Entwicklung bereichert haben; und allen Schulen mit denen wir arbeiten und die wir portraitieren durften, für ihr Vertrauen. Wir sind froh, dass wir Niklas Gidion von der Demokratischen Schule Kapriole in Freiburg, mit seinen Erfahrungen als BFAS-Vorstand und EUDEC-Council, als Vorwortschreiber gewinnen konnten.

Vielen Dank auch an Ines Boban, Benjamin Schmutzer, Dr. Meta Sell, Fred Krüger, Prof. Dr. Tölle und alle, die uns mit den Kommentaren geholfen haben. Wir haben diesen Austausch sehr genossen.

Und »Danke!« für leckeren Kaffee und immer freundliche Bewirtung an das Café La Tazza!

Nicola Kriesel und Jan Kasiske, April 2014

Zu den Schreibweisen:

Mit »Freie Schule« meinen wir nicht nur Schulen in freier Trägerschaft, sondern vor allem Schulen im Bundesverband der Freien Alternativschulen e. V., bei denen »Frei« für Freiheit im Lernen steht, und die außerdem noch Schulen in freier Trägerschaft sind.

Das gleiche gilt für Demokratische Schulen. Von solchen Schulen sprechen wir, wenn sie sich auf die Grundsätze der European Democratic Education Community (EUDEC) e. V. berufen.

Das * nutzen wir zur Kenntlichmachung aller Geschlechter.

Wann sind die Ferien endlich zu Ende? Ich will wieder in die Schule!

Die Welt auf den Kopf gestellt –
vom Alltag, den Beziehungen und Utopien an der Freien Schule am Mauerpark in Berlin

»Hallo Sylva, da bist du endlich«, ruft Sofie aus der zweiten Klasse und schmeißt sich der gerade ankommenden Lehrerin in die Arme: »Was machen wir heute? Guck mal, was ich habe.« Stolz präsentiert Sofie einen Anstecker aus Hamburg, wo sie einige Tage bei ihrer Schwester war. Das Verhältnis zwischen Lehrern* und Schülern* ist hier herzlich und offen.

Drüben am Frühstückstisch erklärt Matthias, ein Lehrer, einem Kind in der Probewoche, was es erwarten kann: »Sag mir, wenn du was machen willst, wo du mich brauchst. Ich bin heute für dich da. Und, was ich ganz wichtig finde: sag mir bitte, wenn dich jemand ärgert.«

Jetzt klettert Ali vom Schoß seines Vaters und geht mit Matthias und den anderen »Probekindern« das Haus anschauen. Louis aus fünften Klasse freut sich, heute die Fotoausstellung über die Projektfahrt vorzubereiten.

Betroffene werden Beteiligte

Dienstags von 9.30 bis 10.00 Uhr ist Schulversammlung. Einige Kinder laufen durchs Haus und schlagen die Kuhglocke als Signal für den Beginn im Saal.

Die Schulversammlung ist verpflichtend für alle Kinder und Teamer*. Hier werden Termine, Vorhaben, Kritik und Lob besprochen. An anderen Tagen halten die Kinder Morgenrunden in ihren Lernräumen ab. Die Verabredungen und Termine aus der Schulversammlung werden auf eine große Wand geschrieben und bleiben dort die ganze Woche stehen. Heute ist die Stimmung gut, aber manchmal sind viele Kinder auch genervt.

Sofie meldet sich in der Versammlung der siebzig Menschen zu Wort: »Ich find‹s doof, dass wir uns beim Malen nicht mehr die Räume aussuchen dürfen und mir ist es hier zu laut.«

Das Fußballturnier gegen eine andere Freie Alternativschule muss geplant werden, der Schreibschriftkurs beginnt heute um elf Uhr im Atelier und es werden Freiwillige gesucht, die den monatlichen Infoabend für interessierte Eltern gestalten. Spontan entscheidet Louis sich fürs das Malen von Transparenten mit Claudia und Mari zum Anfeuern des Fußballteams nächste Woche. Er fragt Holger, den Mathelehrer, ob er mitmacht.

Nun schwärmen alle lautstark aus zum Lernen, Entdecken, Verabreden oder Spielen: »Dem freien Spiel geben wir in unserer Schule viel Raum. Einiges, was die Kinder in der Schule und außerhalb lernen, können sie hier mit ihren Freunden* ausprobieren. Im Wechsel von Phasen des freien Spiels und Angeboten wie Schulversammlung oder Arbeitszeit1 können die Kinder ihre Fragestellungen mit und ohne Erwachsene beantworten.«

Gelernt wird immer – nicht nur beim Spielen

Die Schule bietet Unterricht in kleinen Gruppen oder in Verabredungen, Lernbüros2, Projekten, Kursen, thematische Lernecken oder Werkstätten zur Auswahl an. Ungefähr 15 Kinder teilen sich mit zwei Erwachsenen einen Hauptlernraum. Die Haltung des pädagogischen Teams, das sich als lernbegleitend versteht, wird im Konzept deutlich: »Für uns ist es wichtig, zu verstehen, was die Kinder interessiert und warum sie z. B. die Arbeitszeit nicht in vollem Umfang nutzen bzw. was sie brauchen, um sich auf ›mehr‹ Arbeitszeit einzulassen.«3

Im weiteren Verlauf des Tages gehen einige Kinder ins Theater, andere ruhen sich in den gemütlichen Räumen oder den selbst gestalteten Bereichen auf alten Sofas oder dem Boden aus. Manche Teamer* sind in Verabredungen mit einzelnen oder ganz kleinen Gruppen4. Da geht es ums korrekte Multiplizieren, um Vokabeln oder einen Text über den Stadtteil.

Vom Umgang mit Freiheit

Bei soviel Freiheit im Lernarrangement, und den immer wieder zu verhandelnden Bedürfnissen aller, kommen manches Mal Zweifel auf – schließlich unterliegt auch diese Grundschule (bis zur sechsten Klasse) dem Rahmenlehrplan des Landes Berlin. »Ja«, sagen die Lehrenden, »wir haben auch sechs Jahre Zeit dafür und entscheiden mit den Kindern, was, wann, wo und mit wem wie lange gelernt, entdeckt und erprobt wird.«

Dennoch fallen Sätze wie: »Dritte Klasse und sie kann noch nicht schreiben.« oder »Wie soll denn Moritz ohne Zeugnis auf der weiterführenden Schule zurecht kommen?« oder »Wenn Englisch eben keinen Spaß macht, dann kann sie sich gut darum herum drücken.«

Für solche Fälle gibt es dann feste und spontane Zeit für Elterngespräche, in denen die weitere Begleitung der Kinder sehr individuell besprochen wird.

Louis sagt dazu: »Ich komme immer gerne her. Früher auf meiner alten Schule hat sich nie jemand so für mich interessiert, und außerdem kann ich ja hier viel mehr machen und selber bestimmen.«

Soziales Lernen und Konfliktlösen

Als der Spielplatz an der Ecke, ein Lieblingsplatz der Kinder, in ein Parkhaus umgewandelt werden sollte, trafen sich über ein Jahr lang wöchentlich Kinder, um dagegen etwas zu unternehmen. Durch die Begleitung eines Erwachsenen wurde nicht nur eine Unterschriftenaktion und eine Demonstration ins Leben gerufen, sondern auch Kontakt zu den Anwohnenden im Brunnenkiez aufgenommen und der Stadtteil erkundet. Die Kinder suchten Antworten auf Fragen, beispielsweise womit Kinder früher gespielt haben, was vorher auf dem Platz war oder warum die Berliner Mauer hier entlang verlief.

Louis streitet gerade mit Atti. Eine Tür knallt, eine wilde Jagd beginnt. Nach zehn Minuten holt Louis sich Hilfe bei seinem Lehrer Holger.

Streiten und Konflikte lösen, zu zweit oder innerhalb der Gruppe mit ihrer speziellen Dynamik: Dafür wird sich viel Zeit genommen und die Klärungen helfen, soziale Kompetenzen zu erwerben.

Einige sagen, dass die Größe der Schule ein Vorteil ist, wegen der Überschaubarkeit und der Nähe zueinander. Andere sagen es sei ein Nachteil, beispielsweise wenn Kinder Cliquen bilden und ganz schnell mal ein, zwei ausgeschlossen werden. Dann nämlich fehlten Alternativen.

Eltern machen's möglich

Um 12.30 Uhr gibt es gemeinsames Mittagessen. Seit einem halben Jahr kocht ein Koch in der neuen Mensaküche, die mit Fördermitteln im ehemaligen Kirchengemeindesaal errichtet wurde. Dafür hat sich der Trägerverein Freies Lernen in Berlin e. V. eingesetzt5. Mit großem Arbeitseinsatz haben Eltern, Kinder und Team viel in Selbstbauweise renoviert und umgebaut, seit die Schule im Jahr 2004 in das dreiteilige Gebäude (ehemalige Kita, Saal, Wohnturm) der Evangelischen Kirchengemeinde eingezogen ist. Im Juni 2010 hat der Trägerverein das Gebäude gekauft.

Beim Bringen oder Holen der Kinder entstehen freundschaftliche Kontakte rund um das Thema »Leben mit Kindern«. Verbindlicher wird das miteinander Tun bei der Organisation und der ehrenamtlichen Weiterentwicklung des Vereins. In zahlreichen Arbeitsgruppen engagieren sich die Beteiligten. Elternmitarbeit ist zwar laut Schulvertrag verpflichtend, geht aber oft über dieses festgelegte Maß hinaus. Gerne bringen Eltern auch ihre beruflichen Kompetenzen ein. Außerdem schärfen die Eltern ihre Positionen hinsichtlich Bildung und Erziehung in einer ständigen Auseinandersetzung mit dem Umfeld: »Warum gerade diese Schule?«

Das besondere an dieser Schule ist, dass sie von Anfang an eine Elterninitiativschule war, und den Eltern bis heute eine ebenbürtige Rolle im Verbund mit Kindern und dem Team zukommt. So ist die Mitglieder*versammlung, die alle sechs bis acht Wochen stattfindet, der Ort, an dem die wichtigsten organisatorischen Entscheidungen getroffen werden.

Der Gründer*geist wirkt bis heute: Eltern gründeten 1991 den Trägerverein für den Kinderladen und später die Schule. Alles war noch sehr improvisiert und nicht ganz legal. Doch wollten sie nach dem Ableben des DDR-Schulsystems eine Alternative schaffen, um den eigenen Kindern eine wohlige und lustvolle Lernatmosphäre zu bieten, deren Persönlichkeit zu achten und sie behutsam bei ihrer Entfaltung zu begleiten6.

Denn: »Lernen ist die Entdeckung, dass etwas möglich ist.« (Fritz Perls)Und das seit zwanzig Jahren an der Freien Schule am Mauerpark Berlin.

Gespräch mit Jörg Wappler, Vater eines 25-Jährigen, der zur ersten Generation an der Freien Schule am Mauerpark gehörte

Was macht Ihr Sohn heute?

Nach einigen Umwegen führt er als Selbständiger eine Pizzeria.

Wie hat er damals den Übergang von der Freien Schule zur Gesamtschule verkraftet?

Sehr gut. Er liebte seine Schule und war immer der erste morgens und der letzte am Nachmittag. Im sechsten Schuljahr half die Freie Schule ufaFabrik – eine der ältesten Deutschlands –, den formalen Übergang zu machen.

Was hat denn die Familie dazu gesagt, dass Jacques auf so eine Schule ging?

Wir stießen auf komplettes Unverständnis. Jacques allerdings war total gelassen gegenüber Negativreaktionen seitens der Großeltern.

Und wie war diese Zeit für euch Eltern?

Intensiv. Es war eine wilde Zeit, in der wir uns alle sehr intensiv mit reformpädagogischen Gedanken beschäftigt haben.

Wie war das mit dem Schulgeld?

Happig. Das war viel Geld, 60 DM damals … aber keine Sekunde haben wir das bereut. Wer nicht zahlen konnte, dem halfen alle dann über Privatkredite. Keiner musste deshalb gehen.

Gab es Zweifel?

Nie. Ich war mir immer sicher. Es hat Jacques gut getan. Alles andere war mein Problem. Das Vertrauen war immer da.

Gespräch mit Beate Hillert, Lehrerin für Deutsch und Englisch, seit 2001 an der Schule

Was ist das Besondere an dieser Schule?

Für die Freie Schule am Mauerpark ist die Vielzahl von Angeboten und Lernformen, die wir gemeinsam immer weiter entwickeln und verändern können, charakteristisch.

Den Kindern dort zu begegnen und Dinge zu ermöglichen, wo sie gerade stehen, wie es ihrem Wesen und ihren Interessen entspricht, ohne durch Druck von außen gedeckelt zu werden, halte ich für einzigartig.

Wo sind die theoretischen Wurzel dieser Schule?

Ursprünglich gründen sich Freie Alternativschulen auf A. S. Neill, der seine berühmte Schule in Summerhill führte. Mittlerweile gibt es bei uns auch andere Einflüsse wie Freinet, oder aus der humanistischen Psychologie Fritz Perls.

Was war ein schönes Erlebnis?

Richtig gute Momente sind die, wenn Kinder plötzlich entdecken, was in ihnen steckt. Neulich in einer langen Einzelverabredung sagte ein Kind: »Ich wusste gar nicht, dass ich so gut zeichnen kann.«

Okay. Das würde ein Lehrer* einer Regelschule sicher auch sagen können?

An der Regelschule erfüllen Kinder meist die Anforderungen, die von außen gestellt werden. Bei uns können sie unterschiedlichste Dinge von sich aus erleben und ausprobieren: ganz überraschend merken, dass sie ein Talent haben, wo sie es selbst nicht vermutet haben.

erschienen im Juni 2010

Informationen zur Schule

Freie Schule am Mauerpark

Wolliner Str. 25/26

13355 Berlin Wedding

Telefon: 030 42022690

info@freieschuleberlin.de

www.freieschuleberlin.de

Gespräch mit Marion Schebesta, seit 2010 Vorstand von Freies Lernen in Berlin e. V. Sie hat zur Zeit ein Kind an der Freien Schule am Mauerpark, Frühjahr 2014

Mitbestimmung, Kultur, Bio und Verein

Als 2010 das Portrait über die Freie Schule am Mauerpark erschien, war die Schulversammlung für alle verpflichtend. Ist das heute noch so? Oder hat sich etwas verändert? Wie wird die damalige Verpflichtung zur Teilnahme in Bezug auf Freiwilligkeit, die in der Schule einen hohen Rang hat, heute gesehen?

Die damalige Verpflichtung zur Schulversammlung wurde sowohl von Kindern, als auch von Teamern* und Eltern kontrovers diskutiert. Nachdem zum Schuljahresende 2012/2013 der Besuch der Schulversammlung freiwillig wurde, zeigten nur noch wenig Kinder Interesse an der Schulversammlung. Im Herbst 2013 gab es eine Open-Space-Konferenz für die Kinder und dort wurden u. a. neue Regeln für die Schulversammlung aufgestellt. So zum Beispiel:

Seitdem hat die Resonanz auf die Schulversammlung wieder deutlich zugenommen.

Wie ist der aktuelle Umgang mit Herausforderungen, wie Erlernen der Kulturtechniken in den Rahmenbedingungen der sechsjährigen Grundschule? Die Schule ist doch immer in Bewegung. Welche Erfahrungen gibt es da?

Unsere Tochter, jetzt in der fünften Klasse, beglückt uns immer wieder mit tollen Entwicklungsschritten! Diese haben erstmal nicht so viel mit den Kulturtechniken zu tun, sondern liegen im sozialen und vor allem im künstlerisch-musischen Bereich. Sie konnte an dieser Schule schon viele persönliche Stärken entdecken und entwickeln. Und dann hat sie irgendwann auch die Kulturtechniken für sich entdeckt. Sie vertieft das Gelernte mit Freude, indem sie es anwendet, z. B. bei einem Vortrag.

Die Arbeitsumgebung, die fachliche Qualität der Lernbegleitung und auch die Möglichkeit, das Gelernte einzusetzen, sind meiner Meinung nach wichtig für die Lernlust. Bei dem Prinzip des selbstbestimmten Lernens zeigt sich leider auch, dass Vermeidungsstrategien und persönliche Unsicherheiten auftreten, wenn Kinder unter Lernschwierigkeiten wie Dyskalkulie oder Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) leiden. Unser Team arbeitet gerade an Schlüsselprozessen, mit denen Lernschwierigkeiten bis zum dritten oder vierten Schuljahr erkannt werden sollen. Darüberhinaus werden zur Zeit Fortbildungen zum Thema LRS und Dyskalkulie wahrgenommen, um die Kinder auch fachlich gut zu begleiten.

Im Portrait ist von der neueingerichteten Mensaküche die Rede. Wie wird sie heute genutzt? Gibt es da etwas besonderes zu erzählen?

Unsere Küche im Saal ist ein Erfolg. Dies verdanken wir unserer Küchen-AG, die vier Jahre lang gearbeitet hat, um die Stelle für einen Koch einzurichten und zu begleiten. Und vor allem verdanken wir das unserem Koch Raik Weber, der seit 2010 für uns kocht. 2012 hat er die Umstellung auf 100 % Bio-Essen initiiert, und trotzdem kommt er mit weniger als einem Euro pro Essen aus. Was Raik so kocht, kann man in seinem Blog täglich nachlesen:
http://schulesseninwedding.wordpress.com.

Wir wissen, dass der Trägerverein zwischenzeitlich vom Vereinsregister Berlin mit der Löschung bedroht wurde, da dort angenommen wird, dass Schulen in freier Trägerschaft keine Idealvereine sein könnten. Das hat den Vorstand und die Schule sicher in Aufruhr gebracht? Wie ist die Schulgemeinschaft mit dieser Bedrohung umgegangen? Und wie ist der Stand der Dinge?

Wir wurden als Vorstand vom Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS) gut beraten, und uns wurde sowohl vom DaKS als auch vom BFAS finanzielle Unterstützung im Falle eines Rechtsstreits mit dem Vereinsregister zugesagt. Die Elternschaft konnten wir also erst einmal beruhigen. Unsere Schule wäre ein idealer Verein gewesen, um diesen Rechtsstreit zu führen. Und dies haben wir auch dem Vereinsregister dargelegt: Unseren Zweckbetrieb brauchen wir, um dem Vereinsinhalt nachzugehen – nämlich Schulen zu betreiben. Die Elternschaft ist aktiv, der Vorstand arbeitet ehrenamtlich usw. Im Frühjahr erhielten wir dann Bescheid vom Vereinsregister, dass der Status des Idealvereins weiterhin anerkannt wird. Darüber freuen wir uns sehr und hoffen, dass nun auch andere Schulen weiter diese Rechtsform behalten können. Ein großes Danke bei der Gelegenheit an Ute Karnopp aus dem Büro, die den Vorstand mit ihrer Zuarbeit sehr unterstützt hat!

1) »In der Arbeitszeit bearbeiten die Kinder neben den Kulturtechniken die unterschiedlichsten Phänomene, Fragestellungen und Lerninhalte, je nach eigenem aktuellen Interesse.« Dafür gibt es feste Zeitblöcke in denen Kinder alleine, in Gruppen mit oder ohne Lehrer* arbeiten. Die Lehrer* vergeben einzeln Tagesaufgaben oder Wochenaufgaben oder helfen bei längeren Projekten (Pädagogische Arbeitsgrundlage – Freie Schule am Mauerpark, S.24).

2) »Büros sind eine Mischform aus Arbeitszeit und Verabredung. Sie sind thematisch ausgerichtet, beschränken sich aber nicht auf eine feste Gruppe von Personen, sondern sprechen alle Kinder der Jahrgänge 4-6 an.« An der Schule gibt es derzeit Büros für Deutsch, Mathematik und Englisch, wobei immer zwei bis drei Lehrende zur Verfügung stehen (ebenda, S.25).

3) Vgl. S.24

4) Verabredungen sind Zeiten, die verbindlich sind. Dabei gibt es feste wöchentliche Termine, einzeln oder in Gruppen, über einen Zeitraum von 8 Wochen bis zu einem halben Jahr zwischen Lehrern* und Kindern (vgl. Pädagogische Arbeitsgrundlage, 2009, S.24).

5) Die Freie Alternativschule am Mauerpark ist gemäß dem Grundgesetz eine Schule in privater Trägerschaft. Deshalb wird Schulgeld erhoben. Mittlerweile haben die Verantwortlichen an der Schule ein System gefunden, das Schulgeld einkommensabhängig zu gestalten.

6) Das Selbstverständnis als Freie Alternativschule gründet sich auf den acht Thesen des Bundesverbandes Freier Alternativschulen (BFAS) aus dem Jahr 1986; vgl. www.freie-alternativschulen.de