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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Wort »Professor« kommt vom lateinischen »professio« und meint ein öffentliches Bekenntnis. In diesem Buch gibt es ein großes Bekenntnis. Es lautet: Das Alter ist eine Bereicherung für das Leben jedes Einzelnen und für die Gesellschaft.

Dass dies oft anders gesehen wird, müssen wir hier nicht betonen. Dem öffentlichen Vorurteil stehen allerdings moderne Erkenntnisse aus der Hirnforschung sowie Erfahrungen aus Jahrtausenden gegenüber. Sie alle besagen: Ältere Menschen haben gegenüber den jungen auch viele Vorteile. Allerdings müssen sich die Menschen anstrengen, wenn sie in den Genuss dieser Vorteile kommen möchten. Dies ist – neben der positiven Sichtweise auf das Alter – unsere zweite Botschaft.

Das Buch enthält zehn Kapitel, von dem jedes einer bestimmten Aussage gewidmet ist, zum Beispiel, dass man auch als älterer Mensch noch lernen oder gut aussehen kann. In jedem Fall geht es darum, warum sich das Leben mit zunehmendem Alter durchaus verbessert. Dieser einleitenden These folgt ein Forschungsbericht, für den die Koautorin des Buches, die Medizinjournalistin, die Funktion einer Chronologin einnimmt und dem Erstautor, dem forschenden Professor, über die Schulter schaut und in sein Leben Einblick nimmt. Die Verknüpfung von (Gehirn-)Forschung und Lebensgeschichte spielt dabei eine wichtige Rolle, denn Thesen und Ideen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern sind immer mit dem Leben verknüpft, auch in der Wissenschaft.

Der Forschungsbericht wird jeweils durch eine Selbstreflexion des Erstautors ergänzt, um zu zeigen, ob die aufgestellten Thesen auch praktisch umsetzbar sind. Damit es Ihnen leichter fällt, die wertvollen Erkenntnisse in Ihr eigenes Leben zu integrieren, schließen sich konkrete Tipps an die Berichte und Reflexionen an. Abschließend wurde eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens dazu eingeladen, sich zum jeweiligen Thema beziehungsweise zum Thema »älter werden« allgemein zu äußern. So werden alle Kapitel durch individuelle Sichtweisen auf das Alter abgerundet.

Apropos abgerundet: Die zehn Kapitel stehen nicht allein für sich, sondern sie schließen sich zu einem Kreis und repräsentieren so auch den Lebenslauf des Menschen: Das Leben beginnt, und wir müssen lernen. Wir erkennen die Gegenwart und den Moment. Wir legen Wert auf unsere Erscheinung und erweitern durch Taten und Erzählungen unsere Lebenszeit. Nicht alles gelingt uns, aber indem wir lernen, uns selbst zu akzeptieren, gelingt es uns auch, mit dem Scheitern umzugehen. Wir staunen und setzen eigene Maßstäbe. Und mit all diesen Fähigkeiten werden wir eventuell sogar weise. Aber damit ist das Buch nicht beendet, sondern es folgt noch Kapitel zehn: etwas Neues beginnen. In jedem Alter. Und somit geht das letzte Kapitel wieder in Kapitel eins über. Diesen Kreislauf des Lebens erkennen wir im Alter, somit nennen wir ihn einfach salopp: das Alten-Rad, aus dem – so hoffen wir – ein Alten-Rat wird.

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In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine kurzweilige und erkenntnisreiche Lektüre.

Ernst Pöppel und Beatrice Wagner

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ICH WERDE ÄLTER UND LERNE IMMER NOCH DAZU

»Ich werde alt – und lerne immer noch dazu«, sagte Solon, einer der sieben Weisen der Antike, und das gilt heute noch. Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, dass wir auch mit 100 Jahren noch lernen können; wir müssen uns nur ein Ziel setzen. Das Gehirn macht mit.

FORSCHUNG – Vom wandernden Projektil zum Gehirntraining

Es war ein kühler, regnerischer Sommer im Jahr 1974. Deutschland war damals noch zweigeteilt. Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier und Helmut Schön hießen die Helden der »BRD«, denn sie hatten das Land zum Weltmeistertitel im Fußball geführt. Aber abgesehen davon gab es nicht so viel Grund zur Freude. Die Nachwirkungen der Ölkrise waren zu spüren, sie verstärkten die Wirtschaftskrise und führten zu Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Insolvenzen von Unternehmen. Es war auch ein Jahr der Rücktritte: In den USA trat Präsident Richard Nixon aufgrund der Watergate-Affäre zurück, in Israel Golda Meir wegen des Jom-Kippur-Krieges. Und bei uns stolperte Willy Brandt über die Guillaume-Affäre, den bedeutendsten deutsch-deutschen Spionagefall.

Aus der Störung lernt man das Normale

Doch all diese Nachrichten drangen kaum bis in die dunkle Versuchskammer des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München durch. Hier war ein junger Forscher tätig, der immer wieder mit einem Gefühl des Schauderns an einen bestimmten Patienten denken musste. Dieser Patient, ein ehemaliger Soldat, hatte seit dem Zweiten Weltkrieg ein Projektil in seinem Kopf spazieren getragen. Es schmerzte nicht und störte nicht. So hatte man es damals im Kopf belassen. Dann aber, 30 Jahre später, begann das Projektil zu wandern und hinterließ eine Spur der Zerstörung. Wo auch immer es hindrückte, wurden Neuronen zerquetscht und Blutgefäße verletzt. Der Versuch, es herauszuholen, hätte den sofortigen Tod zur Folge gehabt. So lebte der Ex-Soldat mit seinem langsam wandernden Geschoss im Kopf weiter und stellte sich in seinen letzten Lebensmonaten der Wissenschaft zur Verfügung. Da das Projektil vor allem die Sehbahn streifte, führte der junge Wissenschaftler immer wieder Sehtests mit dem Patienten durch. Und nachdem dieser verstorben war, wurde schließlich sein Gehirn seziert. Das bedeutet, der Schädel wurde geöffnet, das Gehirn herausgenommen und in Scheiben geschnitten. Auch das hatte der junge Forscher miterlebt und weitreichende Erkenntnisse daraus gewonnen.

Er war damals 34 Jahre alt. Zuvor hatte er in Cambridge am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gearbeitet und sich dann in der Sinnesphysiologie habilitiert. Jetzt war er Leiter einer Arbeitsgruppe Neuropsychologie in München. Hier hatte er entdeckt, dass das Gesichtsfeld in einen zentralen und einen peripheren Bereich aufgeteilt ist. Jeder kennt das von sich: Der zentrale Bereich ist dafür zuständig, etwas genau in den Blick zu nehmen und Objekte zu erkennen. Die Peripherie des Gesichtsfeldes dient der Orientierung im Raum, hier erkennt man die Gegenstände nur schemenhaft, der Blick kann dann aber dorthin gezogen werden. Das Gehirn des ehemaligen Soldaten zeigte, dass der zentrale und der periphere Bereich in verschiedenen Regionen des Gehirns verarbeitet werden. »Die normalen Funktionen des Gehirns lernt man nur von Patienten, die Funktionsausfälle haben. Aus der Störung lernt man das Normale, Pöppel«, redete der Forscher vor sich hin. Er hatte nämlich die merkwürdige Angewohnheit, laut zu denken und sich dabei selbst mit seinem Nachnamen anzureden. (Seine Mitarbeiter freute die Angewohnheit, so konnten sie selbst ungeniert vom »Pöppel« reden.) Manchmal erinnerte er sich auch in der dritten Person an sich selbst: »Das hat doch der Pöppel neulich publiziert.« Aus der Erkenntnis über die unterschiedliche Verarbeitung des zentralen und peripheren Sehens war ein außerordentlich kontrovers diskutierter wissenschaftlicher Artikel entstanden, den Pöppel in der Zeitschrift NATURE veröffentlichte, wo jeder Forscher gerne als Autor vertreten sein möchte. Wohl aufgrund dieses Artikels wurden ihm immer wieder Patienten mit interessanten Sehstörungen ins Labor gebracht.

Sehbehindert nach einem Schlaganfall

Einmal war es ein auf den ersten Blick sofort sympathisch wirkender älterer Herr, der hilflos am Arm eines Begleiters das Labor betrat. Der Herr war korrekt gekleidet und freundlich. Aber er wirkte verunsichert, weil ihm niemand glaubte, dass er nach seinem Schlaganfall fast nichts mehr sehen konnte. Es galt auszuschließen, dass der Patient womöglich nur simulierte, um von der Versicherung Geld zu bekommen. Dass die Untersuchung dieses Mannes letztlich aber die Geburtsstunde der Neuro-Rehabilitation des Sehens bilden würde, hat in dem Moment sicher niemand geahnt. Und auch nicht, dass »H. H.« – unter diesem Kürzel ging der Patient in die wissenschaftliche Literatur ein – den Beweis dafür erbringen würde, dass die Fähigkeit des Lernens lebenslang in einem hohen Umfang erhalten bleiben, aber auch unwiderruflich verloren gehen kann. Je nachdem, ob man sein Gehirn trainiert oder nicht.

Der Schlaganfall hatte die beiden Gehirnhälften im hinteren Bereich getroffen. Hier befindet sich unter anderem der visuelle Kortex, der Teil der Großhirnrinde, der die optischen Informationen verarbeitet. H. H. hatte deshalb eine starke Sehbehinderung, obwohl seine Augen gesund waren. Alles, was er noch sehen konnte, war auf ein stark reduziertes Gesichtsfeld beschränkt, so, als würde er durch eine Küchenrolle hindurchschauen. Rechts und links der Öffnung herrschte blindes Nichts. ›Das kleine Licht am Ende des langen Tunnels, das ist unsere Hoffnung‹, dachte sich Pöppel. Aber zuerst musste das Anliegen der Krankenkasse erfüllt werden. Herauszufinden, ob H. H. simulierte oder nicht, ging mit einem einfachen Experiment. Pöppel zeigte ihm Gegenstände in zwei verschiedenen Distanzen. Jemand, der simulieren möchte, würde vermutlich davon ausgehen, dass man den Gegenstand in einem kleinen Gesichtsfeld schlechter sehen würde, wenn er etwas weiter weg ist, und entsprechend antworten. Doch das Gesichtsfeld verhält sich nach den einfachen geometrischen Regeln des Strahlensatzes: Ein gegebener Winkel führt zu einer größeren Fläche, wenn diese weiter weg ist. Es ist so, als gingen vom Auge zwei Strahlen aus, die einen bestimmten Winkel einschließen, zum Beispiel von zehn Grad. Ein Grad entspricht etwa der Breite des Daumens auf Armeslänge. Zehn Grad sind also zehn übereinandergelegte Daumenbreiten. Wenn man die zehn übereinandergelegten Daumen aus einem Meter Abstand misst, dann ist die Fläche nur halb so groß, als wenn man sie aus einem Abstand von zwei Metern misst. Genau danach hatte Pöppel den Patienten gefragt – und der hatte richtig geantwortet. H. H. war also kein Simulant, bei ihm lag tatsächlich eine Störung mit einer extremen Einengung des Gesichtsfeldes vor.

Ein bahnbrechender Versuch

Nun begann die eigentliche Arbeit. Es war ja offenbar noch etwas Hirnsubstanz vorhanden. Das Bild des toten Soldaten mit seinem Projektil war plötzlich wie weggewischt. Hier stand ein lebender Patient, dem Pöppel helfen konnte. Es müsste doch möglich sein, hier mehr Sehleistung rauszuholen. Angeregt wurde Pöppel durch die Erfahrung mit Tieren, deren Sehfunktion er nach einer Verletzung an der Sehrinde tatsächlich wieder verbessern konnte. H. H. aber wäre der erste Mensch, bei dem dies je versucht würde. Bislang dachten die Forscher, dass ein geschädigter Hirnbereich für immer funktionsuntüchtig sei und im besten Fall andere Hirnbereiche manchmal deren Aufgaben übernehmen könnten. »Wenn Sie mitmachen, dann können wir es gemeinsam schaffen, Ihr Augenlicht zurückzuholen. Ich will etwas ganz Neues versuchen«, erklärte der Wissenschaftler seinem Patienten. Seine Idee: Wenn Baumkronen beschnitten werden, sprießen danach junge dünne Zweige nach. Nach einem Schlaganfall findet im Gehirn ebenfalls ein Nachsprießen statt, das sogenannte axonale Sprossen oder sprouting. Dabei vergrößert sich der Dendritenbaum einer jeden einzelnen Nervenzelle – Dendriten sind die »Antennen« der Nervenzelle, mit welchen sie hereinkommende Signale aufnimmt. Allerdings war es noch ungewiss, ob die jungen Sprossen oder Dendriten je eine andere Synapse, also die Kontaktstelle zwischen den Nervenzellen, erreichen würden; nur dann könnte nämlich auch eine Informationsübertragung stattfinden. »Von alleine geschieht dies jedenfalls nicht, nur durch systematisches Training. Und das ist anstrengend. Es erfordert viel Disziplin.« H. H. sollte über Monate hinweg nahezu täglich trainieren. Dazu musste er den Kopf so still wie möglich halten und während der gesamten Übungsdauer einen bestimmten Punkt anstarren, um die Augen nicht zu bewegen. Dass er die Augen wirklich auf den Punkt gerichtet hielt, kontrollierte Pöppel mit einem Perimeter, einem Gerät, das zur Vermessung des Gesichtsfeldes dient. Mit dem Computer wäre die Kontrolle damals noch nicht machbar gewesen. Doch das hatte auch etwas Gutes: Die Interaktion mit Pöppel motivierte den Patienten sehr stark, bei den anstrengenden Übungen mitzumachen. Der Trick bestand nun darin, Lichtsignale auszusenden, und zwar dorthin, wo H. H. gerade noch mit viel Anstrengung etwas erkennen konnte. Damit wollte Pöppel die Verbesserung der Informationsverarbeitung im neuronalen Netz gezielt in eine bestimmte Richtung locken. H. H. durfte erst dann mit dem Üben aufhören, wenn er richtig erschöpft war. Denn beim Neuronentraining muss sich genau wie beim Muskeltraining innerhalb einer Übungsstunde eine zentrale Erschöpfung einstellen. Damit werden Muskeln wie auch Neuronen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gebracht und somit – bildlich ausgedrückt – in Existenznot zum Aufbau neuer Substanz animiert. Das heißt, H. H. musste in einer Übungseinheit so lange trainieren, bis seine Leistungen merklich nachließen. Erst dann durfte er wieder gehen.

Die Neuro-Rehabilitation des Sehens

Die erste Zeit war frustrierend: keine Veränderung, keine Verbesserung. Das tunnelartige Gesichtsfeld blieb eng und klein, der umgebende tote Raum groß und deprimierend. Immer wieder sprach Pöppel seinem Patienten Mut zu. Da H. H. früher einmal sportlich gewesen war, erinnerte er sich, dass auch beim Muskeltraining aller Anfang schwer ist. Aber das Gehirn arbeitet doch nicht wie ein Muskel. Oder doch?

Die Wende trat nach etwa drei Wochen ein. Als Pöppel an diesem Tag H. H.s Gesichtsfeld neu ausmaß, stellte sich heraus: Es war deutlich größer geworden! Das bedeutete, dass sich das Gehirn tatsächlich wie ein Muskel verhält: Wenn man es ordentlich strapaziert und benutzt, wird es leistungsfähiger, sprich, es werden die synaptischen Kontakte zu anderen Nervenzellen deutlich gestärkt. Das bedeutete weiter, dass vermutlich neue Dendriten wachsen und möglicherweise auch die Aktivität der Nervenbotenstoffe erhöht wird. Jetzt ging es bergauf! In der darauffolgenden Übungsstunde setzte H. H. bereits auf einem höheren Level ein. Er lernte, immer mehr zu sehen. Als er nach drei Monaten sein ursprüngliches eingeschränktes Gesichtsfeld verdreifacht hatte, versprach er dem Hirnforscher, von nun an täglich zu Hause allein weiterzuüben.

Leider nahm die persönliche Geschichte von H. H. ein nicht so erfolgreiches Ende. Als er nämlich zur Nachuntersuchung nach drei Monaten wieder seinen Fuß in die Tür zum Max-Planck-Institut setzte, benahm er sich wie ein Blinder. Er hatte einen Stock bei sich, mit dem er sich vorantastete. Und als Pöppel ihn ansprach, konnte H. H. ihm nicht in die Augen sehen. Das tägliche eiserne Training war ihm zu anstrengend geworden, und so hat er es beendet.

Von dem Moment an schrumpfte sein Gesichtsfeld wieder zusammen. Bei der Nachuntersuchung war es wieder genauso klein wie zu Beginn des Trainings. Und daran hat sich zu Lebzeiten nichts mehr geändert, auch nicht durch den zweiten Versuch einer Therapie. Denn mittlerweile war zu viel Zeit verstrichen, die Hirnfunktionen lassen sich am besten so schnell wie möglich nach einem Schlaganfall oder einem Gehirntrauma wieder aufbauen. ›Schon wieder ein unglückliches Patientenschicksal‹, musste Pöppel sich eingestehen. Doch für die Wissenschaft war der Fall H. H. von großem Wert, denn mit ihm begann die Erforschung der Neuro-Rehabilitation des Sehens.

Andere Forscher ließen sich von dem Fall inspirieren und haben das Pöppelsche Sehtraining weiterentwickelt. In Deutschland und den USA gibt es heute mehrere Firmen, die das Trainingsprogramm kommerziell anbieten. Damit ist es möglich, das Gesichtsfeld von Schlaganfallpatienten mit Sehstörungen, von denen es jedes Jahr alleine in Deutschland viele Tausende gibt, zu erweitern.

Älterwerden – kein Lernhindernis

Und mehr noch: Was bei den Kranken geht, funktioniert auch bei den Gesunden. Der Fall H. H. hat zu neuen Erkenntnissen in der Lerntheorie geführt, nämlich dass das Gehirn lebenslang dazu fähig ist, die Effizienz der Zusammenarbeit zwischen seinen Abermilliarden Nervenzellen zu verbessern und zwischen ihnen möglicherweise auch neue Verbindungen aufzubauen. Dabei ging Pöppel von der Idee aus, dass innerhalb umgrenzter Hirnbereiche alle Neuronen eines zusammengehörigen Netzwerkes mehr oder weniger gut dazu gebracht werden können, gegenseitig ihre Aufgaben zu übernehmen. Dies ist das »Prinzip der neuronalen Plastizität«, auf dessen Grundlage der Patient H. H. so erstaunliche Fortschritte machen konnte. Und aufgrund dieses Prinzips kann jeder Mensch jeden Alters neues Wissen aufnehmen und neue Kenntnisse erwerben. Man kann heute also sagen: Das Lernen ist im Alter immer noch sehr gut möglich, aber man lernt anders als in der Jugend.

Später haben dann Forscher wie Dr. Rüdiger Ilg vom Klinikum rechts der Isar in München, übrigens ein Doktorand von Pöppel, mit bildgebenden Verfahren zeigen können, dass sich bei älteren Menschen tatsächlich die Hirnmasse in den jeweils beanspruchten Hirnbereichen verdichtet, wenn sie etwas Neues lernen. Das kann man sich vermutlich wohl mit Dendritenwachstum erklären. Andere Untersuchungen haben gezeigt: Ältere Menschen schneiden bei allen Lernaufgaben, die Konzentration erfordern, sogar besser ab als jüngere. Allerdings ist die Jugend dem Alter in puncto Lerngeschwindigkeit voraus. Doch unter dem Strich gewinnen die älteren Menschen an Ausdauer und Konzentrationsvermögen mehr, als was sie an Lernschnelligkeit einbüßen.

Herausforderungen für die Zukunft

Das Erstaunliche beim Lernen ist übrigens, dass es zu einer wohlgeordneten Anreicherung von Wissen kommt. Das bedeutet, im Gehirn gibt es offenbar eine Art Überwachungsinstanz, die dafür sorgt, dass das Gelernte gleich in einem Bedeutungsrahmen untergebracht oder von sogenannten Attraktoren angezogen und nicht einfach irgendwo eingespeichert wird. Es werden, je nach Bedeutungsinhalt, semantische Schubladen geöffnet, in welche die Überwachungsinstanz das neu Gelernte hineinlegt. Wie aber kann man sich die Überwachungsinstanz vorstellen? Das zu erforschen, ist eine große Herausforderung für die Zukunft.

Gar nicht wohlgeordnet ist hingegen die Kreativität. Kreativität bedeutet, das, was man weiß, neu miteinander zu verknüpfen. Man lernt also getrennte Sachverhalte, speichert sie in geordneten Bedeutungsrahmen – und kann sie trotzdem miteinander in Verbindung bringen.

Der Übergang von der Kreativität zum Chaos ist fließend, denn Chaos würde herrschen, wenn alles mit allem verknüpft wäre. Bei manchen Patienten mit Denkstörungen ist dies auch tatsächlich der Fall. Aber warum ist die Überwachungsinstanz in manchen Fällen rigider, in anderen Fällen toleranter? Auch das ist – bis jetzt noch – rätselhaft.

Fazit für das Älterwerden

Das Gehirn ist lebenslang dazu fähig, die Effizienz der Zusammenarbeit zwischen seinen Abermilliarden Nervenzellen zu verbessern und zwischen ihnen möglicherweise auch neue Verbindungen aufzubauen. So wird mit zunehmendem Alter die Fähigkeit zu denken und zu lernen nicht unbedingt schlechter, und in mancherlei Hinsicht sogar besser. Vor allem in puncto Konzentration und Ausdauervermögen schneiden ältere Menschen deutlich besser ab als jüngere. Aber wichtig ist: Beim Neuronentraining muss sich genau wie beim Muskeltraining innerhalb einer Übungsstunde eine zentrale Erschöpfung einstellen. Nur so findet effektives Lernen statt.

SELBSTREFLEXION – Lyrik, Sport und Gehirntraining

Das Lernen fällt mir heute deutlich leichter als früher. Allerdings habe ich schon immer viel und gerne gelernt. Und wenn man viel lernt, lernt man zu lernen. Und erst im trainierten Zustand ist das Gehirn auch gut vorbereitet auf alle möglichen Herausforderungen – ganz ähnlich wie ein Muskel. Ich habe allerdings festgestellt, dass ich nicht auf Halde oder auf Vorrat lernen kann, sondern immer nur zielorientiert. Das Lernen nur um des Lernens willen funktioniert nicht. Man lernt immer nur für einen bestimmten Zweck. Sonst wäre das Lernen überflüssig. Und wenn ich keinen vorgegebenen Zweck habe, denke ich mir einen aus. Denn »wer vom Ziel nichts weiß, kann den Weg nicht finden«, besagt ein bekanntes Sprichwort. Das ist auch ein Prinzip des Gehirns, dass es sich nur anstrengt, wenn es einen Sinn dahinter sieht. Aber es gilt ebenfalls: Wer vom Weg nichts weiß, kann das Ziel nicht finden. Das bedeutet: Man muss wissen, dass es den Weg des Lernens gibt, den man auch dann noch beschreiten kann, wenn man alt oder sogar uralt ist.

Wir brauchen Ziele, sonst lernen wir nicht

Als Wissenschaftler, der sich mit dem Gehirn beschäftigt, habe ich natürlich einen gewissen Vorteil. Denn ich weiß, was in jahrelanger Forschungsarbeit entdeckt wurde, nämlich dass es beim zielgerichteten Lernen, das einen innerlich ganz in Anspruch nimmt, zu einer vermehrten Produktion der chemischen Botenstoffe (Neurotransmitter) Dopamin und BDNF (»Brain-derived neurotrophic factor«) kommt. Dies geschieht vor allem in den Arealen, die etwas mit dem Gefühl der Belohnung und der Befriedigung zu tun haben.

Nun könnte man natürlich sagen, und von vielen wird das sogar propagiert, dass durch die Einnahme bestimmter Medikamente, die auf den Botenstoffwechsel des Gehirns einwirken, die Fähigkeit zu lernen und die Freude am Lernen gesteigert würden. Unter dem Schlagwort »Neuro-Enhancement« wird – natürlich nicht offiziell – entsprechend experimentiert: Verschiedene Medikamente, die vor allem gegen Krankheiten wie Narkolepsie oder Hyperaktivität wirken, sollen die Wachheit des Gehirns vergrößern. Ich sehe das aber sehr skeptisch: Denn es kommt nur dann zu einem Ausstoß von glücklichmachenden Botenstoffen des Belohnungssystems, wenn man sich ein Ziel gesetzt hat, das man hoch motiviert zu erreichen versucht und schließlich auch erreicht. Anders gesagt: Ich selbst bin dafür verantwortlich, ob ich diesen Zustand der Beglückung durch Lernen erfahre. Nur wenn ich ein klares Ziel mit hoher Motivation, manchmal mit Inbrunst, erreichen will und weiß, wozu Wissensanreicherung notwendig ist, kommt es in mir zu diesem Zustand der inneren Zufriedenheit. Ich kann das auch deshalb so gut abschätzen, weil ich häufig daran scheitere. Ich merke, wenn ich in meiner Tätigkeit unbefriedigt bleibe, wenn ich ziellos geschäftig und beschäftigt bin, dass sich ein Zustand der Frustration einstellt. Dies ist für mich immer ein klares Signal, mit neuen Zielen jeweils lernend in das Gefüge meines Gehirns einzugreifen und mein Wissen dementsprechend zu erweitern.

Eine innere Bibliothek schaffen

Um den »Muskel« Gehirn zu trainieren, hat es sich für mich so ergeben, Gedichte zu lernen. Natürlich lerne ich sie nicht einfach nur so, sondern verfolge damit ein Ziel: Gedichte haben mich schon immer angesprochen, weil sie voller Bilder sind und einen besonderen Sprachrhythmus besitzen. Nachdem ich mich intensiver mit Lyrik befasst hatte, merkte ich, dass sich in Gedichten meist typische Lebenssituationen widerspiegeln, also Einsamkeit, Enttäuschung, Verlust eines Menschen, Ungewissheit, innere Verletzung, aber auch schöne Gefühle wie Freude, Liebe oder innerer Friede. Gedichte sprechen mich an, wenn ein Dichter mit einer gewissen Ich-Nähe einen Gedanken ausdrückt, mit dem ich mich identifizieren kann. Ich-Nähe bedeutet, dass man innerlich beteiligt ist. Abstraktes Wissen zum Beispiel ist nicht ich-nah, denn man betrachtet es distanziert, es ist ich-fern. Man kann davon ausgehen, wenn ein Dichter lange um einen bestimmten Ausdruck, eine Sprachrhythmik oder auch nur um einen Reim ringt, dann betreibt er diesen Aufwand nur für solche Botschaften, die ihm auch wichtig sind und daher Ich-Nähe besitzen. Ein solches Gedicht möchte ich dann auswendig können. Ich möchte es in meine innere Welt aufnehmen, um diese damit zu gestalten. So baue ich mir ein inneres Museum auf oder eine innere Bibliothek von verschiedenen Lebenssituationen. Auf diese kann ich dann zugreifen, wenn ich selbst in eine solche Situation hineingerate.

Der innere Bezug zu einem Gedicht stellt sich allerdings nur dann her, wenn ich es laut spreche. Für das Auswendiglernen ist entscheidend, dass ich es nicht nur sinngemäß, sondern Wort für Wort lerne, um auch die Sprachmelodie aufzunehmen. Wenn mir das Wort-für-Wort-Lernen schwerfällt, dann befindet sich vielleicht in der Sprachmelodie ein Fehler. Man kann dann das Lernen natürlich bleiben lassen. Oder der Zeile seine eigene Sprachmelodie aufoktroyieren. Bei mir erwacht an solchen Schwierigkeiten der Ehrgeiz, es trotzdem zu schaffen. Ich lerne dann gegen den Widerstand trotzdem weiter.

Eine weitere Motivation für mich, ein Gedicht zu lernen, ist: Ich stelle damit einen zeitübergreifenden sozialen Bezug her. So ist zum Beispiel der Anfang des Liedtextes »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius die Übersetzung eines Gedichtes der griechischen Dichterin Sappho, die vor über 2500 Jahren lebte. Allerdings geht das Gedicht bei Sappho anders weiter als bei Claudius, es wird erotisch.

Man stellt aber mit älteren Gedichten generell immer einen Zeitbezug zu heute und zu unserem Kulturkreis her und merkt, dass all unsere grundsätzlichen Lebensfragen die Menschen schon immer beschäftigt haben. Das ist auch ein tröstlicher Gedanke. Aus diesem Grunde lerne ich auch nicht nur Gedichte einer bestimmten Zeitepoche, etwa nur der Romantik oder nur moderne Gedichte, denn damit würde mir viel entgehen. Vielmehr verinnerliche ich etwas über verschiedene Epochen. Die Kür besteht dann darin, Gedichte in anderen Sprachen zu lernen, um auch etwas über andere Kulturen zu erfahren. »Omnia mea mecum porto«, »alles, was ich habe, trage ich mit mir«. Darum geht es auch bei der inneren Bibliothek.

Neben dem Erstellen einer inneren Bibliothek geht es mir beim Gedichtelernen noch um etwas anderes: Gedichte kann ich auch in ein Gespräch einflechten und gebe diesem damit eine neue Richtung. Ein Thema erhält durch Gedichte eine würdige Bedeutung, und ich kann es damit gleichzeitig elegant beenden, weil mein Gegenüber dann meist lieber über Gedichte und das Phänomen des Auswendiglernens spricht. Und auf diese Weise bediene ich auch meine – allzumenschliche – Eitelkeit.

Der Squashprofessor

Aber nicht nur die Lyrik, sondern auch der Sport ist für mich immer eine besondere Herausforderung gewesen. Als ich Professor wurde und Medizinstudenten unterrichten musste, habe ich beschlossen, einen neuen Sport zu lernen. Es war Squash, was man vor allem in England und an der Ostküste der USA spielt. Ich habe jeden Tag trainiert, woran zu sehen ist, dass ein Professor durchaus auch Zeit für andere Tätigkeiten hat. Daran ist weiterhin zu sehen, dass man auch im Erwachsenenalter neue Bewegungsabläufe lernen kann, obwohl das immer als schwierig gilt. Eine Voraussetzung ist allerdings, dass man als Kind viel Sport betrieben hat. Dann fällt es einem im Alter und sogar im hohen Alter umso leichter, sich noch einmal neue Bewegungsabläufe anzueignen. Bei mir hat es jedenfalls so gut geklappt, dass ich den Studenten regelmäßig folgendes Angebot gemacht habe: Sie müssen keine Prüfung in medizinischer Psychologie ablegen, wenn sie mich im Squash schlagen. Das ist allerdings niemandem gelungen. In der Münchner Abendzeitung stand dann irgendwann einmal ein Bericht über den »Squashprofessor«.

Jetzt, da ich älter bin, lasse ich mich vermehrt auf die für mich faszinierendste Sportart und die schwierigste Sportart überhaupt ein, nämlich das Golfspielen. Bislang ist meine Lernkurve jedoch leider eher flach. Vor allem das Einlochen des Balls fällt mir schwer. Nun habe ich erst einmal einen wissenschaftlichen Artikel darüber geschrieben, mit dem Titel »Putting is impossible« – »Einlochen ist unmöglich«: Was leicht aussieht, muss nicht leicht sein, und einen liegenden Ball mit einer exakt abgestimmten Geschwindigkeit in eine präzise Richtung zu stoßen, bei unterschiedlichen Oberflächen des Rasens oder unterschiedlichen Neigungswinkeln des Grüns, ist außerordentlich kompliziert. Das alles zu lernen,
ist eine wirkliche Herausforderung, die ich aber mit sehr viel Freude annehme.

TIPPS FÜR DIE LESER Wie Sie das Lernen lernen können

Lernen muss immer ein aktiver Prozess sein, der mit einem Ziel und mit Sinn verbunden ist. Gleichgültig ob es sich um ein Sehtraining im Max-Planck-Institut handelt oder um Schule, Vorlesung oder Gedichtauswendiglernen. Wichtig ist – und dies mag paradox klingen –, dass Sie sich so lange anstrengen, bis das Lernen schwerer fällt. Wenn diese Ermüdung auftritt, haben Sie sich Ruhe verdient.

Jetzt können Sie sowieso nichts mehr erzwingen. Ruhen Sie sich also aus, oder beschäftigen Sie sich mit irgendetwas anderem – und lassen Sie Ihr Gehirn ungestört weiterarbeiten, denn das tut es, sogar im Schlaf.

Die neueste Forschung hat ergeben, dass der Tiefschlaf wichtig für das Lernen ist, dass man also tatsächlich »im Schlaf lernt«. Wenn Sie am nächsten Tag wieder mit dem Lernen starten, werden Sie merken, dass Sie besser geworden sind – mehr Vokabeln wissen, die Fingerübung auf dem Klavier besser beherrschen oder eine schwierige Rechenaufgabe plötzlich verstehen. Oder Sie finden wie von alleine die Lösung für ein Problem. Auf jeden Fall merken Sie, dass das Lernen eine Grundlage geschaffen hat, die Sie nun erweitern können. Und noch etwas: Körperliche Fitness wirkt sich fördernd auf die Hirnleistung aus. Wenn Sie regelmäßig schwimmen, Golf spielen, ins Fitnessstudio gehen, dann trainieren Sie damit auch das Denkvermögen.

  • Ein Gedicht lernen in sechs Stufen

Erste Stufe – Kontext: Lesen Sie etwas über den Dichter. So stellen Sie einen Bezug zu seiner Person, seiner Zeit und seinen Lebensumständen her.

Damit fällt es Ihnen wesentlich leichter, das Gedicht in Ihrem Wissen zu verankern.

Zweite Stufe – Inhalt: Lesen Sie das Gedicht mehrmals leise. Dabei stellten sich weiteres Wissen über den Inhalt und eine gewisse Faszination von abstrakter inhaltlicher Art ein.

Dritte Stufe – Klang: Lesen Sie das Gedicht laut, denn dann »klingt« es. Spielen Sie mit verschiedenen Betonungen. Wenn Sie der Klang und die Sprachrhythmik des Gedichtes ansprechen, dann wollen Sie es auch lernen. Wenn nicht, ist es besser, ein anderes Gedicht auszusuchen.

Vierte Stufe – Bilder: Teilen Sie das Gedicht in Sinneinheiten ein und stellen Sie sich dazu innerlich Bilder vor. Lesen Sie das Gedicht also nicht nur einfach automatisch herunter; damit ist zwar auch ein Auswendiglernen zu erzielen, dies geschieht dann aber mehr über sinnentleerte automatische Sprechbewegungen, und es stellt sich kein Bezug zwischen Ihnen und dem Gedicht ein.

Fünfte Stufe – Regelmäßigkeit: Lernen Sie jeden Tag mindestens vier oder vielleicht sogar acht Zeilen (mehr ist nicht verboten). Diese sollten natürlich eine Sinneinheit oder eine Strophe bilden. Es ist eine überschaubare Menge, die zu schaffen ist und Sie nicht frustriert. Am Anfang fällt es schwer, mit der Zeit geht es immer leichter.

Sechste Stufe – Beharrlichkeit: Wenn Sie einen Passus immer wieder vergessen, dann ist das ein Hinweis darauf, dass mit der inneren Struktur des Gedichtes vielleicht etwas nicht stimmt. Der Dichter Gottfried Benn hat einmal gesagt, dass jeder Dichter, und sei er auch noch so bedeutend, in seinem ganzen Leben nur sehr wenige vollkommene Gedichte geschrieben hat, weniger als zehn. Dichter sind also nur Menschen, verzweifeln Sie nicht an sich selbst. Geben Sie dem Gedicht Ihren eigenen Rhythmus, wie ein Schauspieler, der eine Rolle auf sich überträgt. Vielleicht passt das Gedicht in dem Moment auch einfach nicht in Ihre innere Bibliothek. In dem Fall suchen Sie besser ein anderes aus.

Für den Anfang sind humorvolle Gedichte, wie von Christian Morgenstern oder Joachim Ringelnatz, leichter zu lernen als schwere, tragende Gedichte. Damit Sie nicht lange nach Gedichten zum Auswendiglernen suchen müssen, steht am Ende eines jeden Kapitels ein Vorschlag. Ein erstes Gedicht finden Sie hier: Es ist das Gedicht, das Pöppel bislang am häufigsten vorgetragen hat. Denn seine Kinder liebten es und wollten es immer und immer wieder von ihm hören:

Im Park

Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum

Still und verklärt wie im Traum.

Das war des Nachts elf Uhr zwei.

Und dann kam ich um vier

Morgens wieder vorbei,

Und da träumte noch immer das Tier.

Nun schlich ich mich leise – ich atmete kaum –

Gegen den Wind an den Baum,

Und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.

Und da war es aus Gips.

Joachim Ringelnatz

Interview mit der Kammersängerin Frau Professor Edda Moser

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Die Sopranistin Edda Moser ist in der internationalen Musikwelt durch ihre Darstellungen der großen dramatischen Mozartpartien bekannt geworden. Die von ihr gesungene Arie der Königin der Nacht, »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen«, aus Mozarts »Zauberflöte« wird an Bord der Raumsonde Voyager II auf der »goldenen Platte« für eine Billion Jahre bewahrt und als Botschaft der menschlichen Opernstimme über das Sonnensystem hinausgetragen. Heute ist Edda Moser Professorin für Gesangstechnik an der Hochschule für Musik und Tanz Köln.

Frau Moser, wir wollen uns heute über das lebenslange Lernen unterhalten. Inwieweit gilt das auch für die Musik?

EDDA MOSER: Singen ist ein Singenmüssen. Aus diesem zutiefst drängenden Gefühl ergibt sich das Lebensmotto »Übe immer!«. Insofern ist das Praktizieren von Musik per se ein lebenslanges Lernen.

Für eine Sopranistin ist die aktive Zeit des Gesangs begrenzt. Wir haben es alle bei Maria Callas erlebt: Sie ist in der Metropolitan Opera sogar ausgepfiffen worden, als ihre Stimme versagte. Wie ist das, wenn die Stimme nicht mehr mitmacht?

Eine Stimme entwickelt sich etwa bis zum 36. Lebensjahr, ab diesem Zeitpunkt muss das Wissen um die Gesangstechnik vollendet sein. Maria Callas, eine der ganz großen Interpretinnen, hat wahrscheinlich um diese Entwicklung zu wenig gewusst und konnte sich vor ihren emotionalen Attacken nicht früh genug in die Sicherheit der Gesangstechnik retten. Natürlich kommt der Tag, an dem man sein Versagen erlauscht, bevor es das Publikum bemerkt, und vor diesem Tag fürchtet sich jeder Sänger. Die Grenzenlosigkeit der Kraft scheint lange Zeit selbstverständlich, aber man soll wach bleiben, sich mit den Ohren der Feinde prüfen und die Stunde des Beendens einer Karriere früh genug selbst bestimmen. Nie darf es heißen »Sie singt noch immer«, sondern es muss heißen »Schade, dass sie nicht mehr singt«. Das ist wichtig, denn so bleibt man dem Publikum in guter Erinnerung.

Sie haben dann nicht etwa die Hände in den Schoß gelegt, sondern etwas Neues gelernt. Sie sind Professorin für Gesangstechnik an der Hochschule für Musik und Tanz Köln geworden.

Ja, ich habe – zeitbedingt – begonnen, mein Wissen weiterzugeben, junge Begabungen zu informieren. Denn das Einzige, das mit dem Älterwerden besser wird, ist, dass man viel mehr Übersicht hat. Mir ist bewusst, dass die Menschen heute mehr Möglichkeiten zum Lernen haben, aber ihnen fehlen die Grunddisziplinen: Bescheidenheit, Fleiß, Demut.

Ich versuche als Professorin hauptberuflich davor zu warnen, diese Disziplinen zu vernachlässigen. Dieses Wissen schützt meine Studenten davor, ihr Talent zu vergeuden.

Denn kaum einem ist es vergönnt, den Weg zu gehen, den ihm sein Talent vorschreibt, da die Demut, die sich aus Fleiß und Disziplin zusammenfügt, heute ein Fremdwort geworden ist. Ich lehre sie, sich auf das Wesentliche der Kunst einzulassen, und gebe weiter, was ich im Laufe des Lebens selbst gelernt habe.

Wie gehen Sie dem Älterwerden entgegen?

Da ich das Altwerden als schlechte Angewohnheit kategorisch ablehne, suche ich neue Herausforderungen, Wissen und Erfahrungen, was Sie auch mit lebenslangem Lernen übersetzen können. So habe ich das Festspiel der Deutschen Sprache in der Goethestadt Bad Lauchstädt gegründet, denn darum geht es mir jetzt in meiner neuen Lebensphase auch: Deutsch als Sprache in seiner Reinheit und Schönheit zu bewahren.