image1
Logo

Armin Castello (Hrsg.)

Entwicklungsrisiken bei Kindern und Jugendlichen

Prävention im pädagogischen Alltag

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023953-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024080-3

epub:    ISBN 978-3-17-024081-0

mobi:    ISBN 978-3-17-024082-7

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Bindungserfahrungen
  3. Birte Hoffmann und Armin Castello
  4. Schutz des Kindeswohls
  5. Armin Castello und Torsten Schutzbach
  6. Neurologisch-motorische Entwicklung
  7. Michael Dördelmann
  8. Ernährungsgewohnheiten
  9. Simone Gebhard
  10. Soziale Integration
  11. Steffen Siegemund
  12. Sozialverhalten
  13. Steffen Siegemund
  14. Konzentration und Aufmerksamkeit
  15. Simone Gebhard
  16. Lern- und Leistungsmotivation
  17. Jürgen Wilbert
  18. Schulabsentismus
  19. Heinrich Ricking
  20. Stressbewältigung
  21. Armin Castello
  22. Suchtverhalten
  23. Christian Tilgner
  24. Autoren

Vorwort

 

 

 

Kinder und Jugendliche verbringen einen großen Teil ihres Alltags mit Erziehern1 und Lehrern, die in Schulen, Kitas oder anderen pädagogischen Institutionen tätig sind. Diesem Personenkreis begegnen immer häufiger Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen hinsichtlich der Befriedigung ihrer sozial-emotionalen Grundbedürfnisse, ihrer Kompetenzen zur Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen oder die in ihrer psychischen oder gesundheitlichen Entwicklung gefährdet sind.

Präventives Handeln von Pädagogen kann hier von großer Bedeutung sein und die weitere Entwicklung positiv beeinflussen. Wissen um soziale und personale Risikofaktoren und Kompetenzen zur pädagogischen Prävention sollte daher Bestandteil pädagogischer Basisqualifikation in Schulen und Kitas sein.

Als Unterstützung fachlich fundierten Handelns werden im vorliegenden Band elf zentrale Präventionsthemen praxisnah aufgearbeitet. Experten aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie und Medizin stellen hierzu thematisch geordnet die Grundlagen pädagogischer Prävention, Wissen zu den Ursachen und zum Verlauf von Risiken und Gefährdungen und Konzepte wirksamer Präventionsarbeit dar.

Das Buch richtet sich an Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen, Sonderpädagogen und andere pädagogische Fachkräfte sowie an Studierende. Es wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass Fragen zum Transfer in die Praxis und zur Anwendbarkeit im Alltag beantwortet werden. Alle Kapitel werden durch Fallbeispiele eingerahmt, mit deren Hilfe konkrete Präventionsschritte deutlich gemacht werden. Vielfach werden Online-Ressourcen benannt, die für Mitarbeiter in Schule und Kita erprobte und anschauliche Informations- und Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen.

Flensburg, im Sommer 2014

Armin Castello

 

 

1     Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir uns entschieden, jeweils in der Regel die männliche Form zu verwenden. Es sind aber immer sowohl weibliche als auch männliche Personen gemeint, wenn von Pädagogen, Erziehern, Lehrern, Schülern usf. die Rede ist.

Bindungserfahrungen

Birte Hoffmann und Armin Castello

 

Fallbeispiel

Michaela ist 6;7 Jahre alt und geht seit vier Monaten in die Grundschule ihres Wohnortes. Die Klassenlehrerin beschreibt Michaelas Verhalten als extrem anhänglich und Nähe suchend. Auch wirke sie insgesamt unreifer als ihre Mitschüler. Sie »trödelt« oft nach der Schulstunde, um mit der Lehrerin allein sein zu können und noch ein Gespräch zu führen. Die häufigen Versuche, sich selbst einzuladen, verunsichern die Lehrerin, woraufhin sie Michaela erklärt, dass sie das nicht möchte. Seither habe sich Michaela verstärkt aggressiv gegenüber ihren Mitschülern verhalten. Michaela zeigte ein ähnliches Verhalten schon im Kindergarten: Im gesamten ersten Kindergartenjahr habe sie am »Rockzipfel« der Erzieherin gehangen und verfolgte diese auf Schritt und Tritt. Sie wirkte häufig hilflos, wenn sie schwierigen sozialen Situationen wie z. B. Streitigkeiten mit anderen Kindern ausgesetzt war. Auch in der Schule beobachtet die Lehrerin nun, dass es Michaela an angemessenen Lösungsstrategien fehlt, mit ihrer Wut und ihrem Ärger umzugehen.

1           Bindung, Bindungsqualität und Bindungsrepräsentationen

Unter »Bindung« wird die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen primären Bezugspersonen verstanden. Bindung verbindet das Individuum mit seiner Bezugsperson über Raum und Zeit hinweg. John Bowlby (1907–1989) beschäftigte sich als einer der Ersten intensiv mit dem Zusammenhang der frühen Mutter-Kind-Beziehung und psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen. Dabei galt sein Interesse dem Einfluss häufig wechselnder Bindungs- und Bezugspersonen auf das Verhalten des Kindes beispielsweise bei Klinik- oder Heimaufenthalten (vgl. Zellmer, 2007) und der Bedeutung früher Kindheitstraumata durch familiäre Vernachlässigungs-, Verlust- und Gewalterfahrungen in der Entstehung von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen (vgl. Dornes, 2007). Die Bindungstheorie versteht sich als umfassende Konzeption der emotionalen Entwicklung des Menschen, die seine frühen sozialen Erfahrungen widerspiegelt.

Sie geht von dem evolutionsbiologischen Ursprungsgedanken aus, dass Menschen eine angeborene Bereitschaft zur Bindung mitbringen, die in spezifischen Verhaltensweisen zur Herstellung von Nähe zur primären Bezugsperson deutlich wird. Nähe bedeutet auch Schutz, den das Kind durch Signalverhaltensweisen wie Weinen, Schreien, Lächeln, Hinterherlaufen etc. zu aktivieren versucht. Auf Elternseite steht das ebenfalls evolutionsbiologisch erklärbare Pflege- und Fürsorgeverhalten, das von diesen Signalverhaltensweisen des Kindes ausgelöst wird. Eltern und Kind interagieren also in einer Weise, die dadurch geprägt ist, dass das Kind die Verfügbarkeit der primären Bezugsperson zur Befriedigung wichtiger Grundbedürfnisse wie Nahrung oder Schutz prüft. Dies geschieht durch Signale, die von der Bezugsperson wahrgenommen werden müssen, um prompt und angemessen darauf zu reagieren.

Bindungsverhalten wird ausgelöst, wenn das Kind auf subjektiv als unangenehm oder bedrohlich erlebte Situationen trifft. Dies kann durch Schmerz, Unwohlsein und Hunger oder durch fremde Umgebung und Personen ausgelöst werden. Insbesondere im ersten Lebensjahr wird dieses Bindungsverhalten anhand individueller Erfahrungen bei der Herstellung von Bindung zur Bezugsperson »differenziert, gegliedert und spezifiziert« (Zellmer, 2007, 7) und insbesondere auf bedeutsame Bezugspersonen ausgerichtet.

Dem Bindungsverhalten steht das ebenfalls angeborene Explorationsverhalten (Erkundungsverhalten) des Säuglings und Kleinkindes gegenüber. Es entwickelt sich, sobald der Säugling in der Lage ist, sich fortzubewegen und somit seine Umwelt selbständig erkunden zu können. Dieses Bedürfnis des Kindes wird nur dann handlungsrelevant, wenn sein Bedürfnis nach Schutz und Nähe befriedigt ist.

Bowlby unterscheidet vier Phasen der kindlichen Bindungsentwicklung, in denen Bindungs- und Erkundungsverhaltenssysteme unterschiedlich große Bedeutung haben (vgl. Zellmer, 2007):

•  In der Vorbindungsphase, die sich auf die ersten drei Lebensmonate erstreckt, nimmt der Säugling durch Schreien und Lächeln Kontakt zu seiner Umwelt auf. Wenngleich er zwar zwischen Gegenständen und Personen trennen kann, so kann er noch nicht Personen klar voneinander unterscheiden. Hier überwiegt ein Bindungsverhalten des Säuglings, das durch Signale wie Schreien oder Lächeln zum Ausdruck kommt; er macht dabei seine ersten Erfahrungen durch die Reaktionen des sozialen Gegenübers.

•  Zwischen dem dritten und sechsten Lebensmonat entsteht die erste Bindung an die Person, die dem Säugling am nächsten steht, ihm Schutz und Nähe bietet. Da der Säugling mittlerweile Personen voneinander unterscheidet, werden Erfahrungen auch mit bestimmten Personen verbunden.

•  In der Phase der eindeutigen Bindung, die zwischen dem sechsten Lebensmonat und dem dritten Lebensjahr anzusiedeln ist, gewinnt die primäre Bezugs- (Bindungs-)Person stark an Bedeutung. Sie ist die sichere Basis des Kindes, deren Anwesenheit und Schutzes es sich immer dann versichert, wenn es in für ihn subjektiv belastende Situationen kommt. Sofern keine Belastung oder Gefahr wahrgenommen wird, kann das Kind Explorationsverhalten zeigen.

•  Ab dem Vorschulalter geht die Bindungsentwicklung in die Phase der sogenannten zielkorrigierten Partnerschaft über. Die Kinder haben eine zeitlich stabile und überdauernde Beziehung zu Bindungspersonen aufgebaut. Auf der Verhaltensebene lässt sich beobachten, dass sie nun auch gerne mit anderen Kindern und Erwachsenen spielen, nicht mehr nur in erster Linie mit der Bindungsperson. In diesem Alter nehmen Autonomie, Selbständigkeit, Ich-Stärke und das Gefühl von Selbstwirksamkeit ebenfalls zu (vgl. Zellmer, 2007).

Durch die tägliche Interaktion mit den Bezugspersonen und immer wiederkehrenden Verhaltensweisen zwischen Eltern und Kind entsteht ein verallgemeinertes mentales Modell der Bindungsbeziehung. Während im Kleinkindalter die Kinder nur auf implizites Wissen zurückgreifen können, also auf Fertigkeiten, Erwartungen und Verhaltensweisen, die im »prozeduralen«, also impliziten Gedächtnis abgelegt sind, greifen Kinder im Vorschulalter auf das »deklarative«, also explizite Gedächtnis zurück. Damit können Situationen, Abläufe, Gefühle und vieles mehr bewusst in eine zeitlich geordnete Abfolge gebracht und in Erinnerung gerufen werden, auf die das Kind sich berufen kann.

»Wiederholte Erfahrungen mit den Bindungspersonen werden als Scripts bzw. mentale Ergebnisschemata verallgemeinert und verfestigen sich im deklarativen Gedächtnis zu mentalen Repräsentationen. Es entsteht das so genannte verinnerlichte mentale Bindungsmodell: ein komplexes verinnerlichtes Bild von sich selbst, den Bindungsfiguren sowie Vorstellungen und Erwartungen ihnen gegenüber.« (Bretherton, 2001; Nelson, 1999, zit. n. Zellmer, 2007, 11)

Diese mentalen Repräsentationen werden auch innere Arbeitsmodelle genannt: Das Kind baut aufgrund seiner zahlreichen Erfahrungen mit der Bindungsperson eine Vorstellung ihrer gegenseitigen Beziehung auf. So erlebt das Kind eine gewisse Vorhersagbarkeit der zu erwartenden Reaktion der Bindungsfigur auf sein Verhalten. Das Kind bildet aufgrund seiner Erfahrungen, die es mit der Bindungsperson macht, ein Bild von sich selbst und der Bindungsperson, das die Vorhersagbarkeit, aber auch die Verfügbarkeit und die individuell vom Kind empfundene Zuneigung der Bindungsfigur repräsentiert und das Selbstbild beeinflusst, inwiefern es elterliche Zuneigung und Fürsorge »verdient hat«. Somit lässt sich die mentale Bindungsrepräsentation als

»die verinnerlichte Vorstellung [beschreiben], die eine Person über enge Beziehungen entwickelt hat: was macht enge Beziehung aus, wie verlässlich sind sie, was ist von ihnen zu erwarten und wie weit kann man sie nutzen, wenn Gefahr besteht.« (Gloger-Tippelt et al., 2007, 210)

Dabei macht das Kind möglicherweise unterschiedliche Erfahrungen mit verschiedenen Bindungsfiguren. Es gibt unterschiedliche Hypothesen, wie sich das innere Arbeitsmodell (bzw. die mentale Bindungsrepräsentation) entwickelt, wenn qualitativ unterschiedliche Beziehungen zu verschiedenen Bindungspersonen vorliegen. Vermutlich entwickelt sich aus divergierenden Bindungserfahrungen ein generalisiertes inneres Arbeitsmodell der Bindung.

2          Eltern-Kind-Interaktion als Einflussfaktor

Ist das Bindungsverhalten in den ersten Lebensmonaten zunächst noch ungerichtet, so richtet es sich später an die primäre Bezugsperson, zumeist die Mutter. Die individuell unterschiedlichen Erfahrungen, die Kinder in der Interaktion mit ihrer Mutter machen, werden im Laufe der Zeit so zu individuellen Arbeitsmodellen von Bindung zusammengesetzt, dass unterschiedliche Bindungsqualitäten sichtbar werden. Die große Variationsbreite von kindlichen Signalen und der mütterlichen Reaktion bringen dabei die unterschiedlichen Qualitäten der Bindung zustande (Grossmann et al., 1997).

Die Qualität der Bindungsbeziehung zwischen Mutter und Säugling bzw. Kleinkind ist also davon abhängig, wie deutlich die Signale des Kindes sind und wie die Mutter darauf reagiert. Bedeutsame Merkmale des mütterlichen Interaktions-verhaltens:

•  Wahrnehmen der kindlichen Signale

•  Richtige Interpretation der Signale aus Sicht des Kindes (und nicht aus der Bedürfnislage der Mutter heraus)

•  Angemessenes und promptes Reagieren. Nur wenn die Mutter schnell reagiert, gelingt es dem Säugling, eine Verknüpfung zwischen seinem Verhalten und der spannungsmildernden Wirkung der mütterlichen Handlung herzustellen (Grossmann et al., 1999)

Bedeutsam ist ebenfalls die Angemessenheit, die »Dosierung« der mütterlichen Unterstützung. Im besten Fall ist diese so gelagert, dass sie der Entwicklung des Säuglings entspricht. Die Grenzziehung zwischen Feinfühligkeit und Überbehütung liegt nach Grossmann et al. (1997) darin, dass sich die mütterliche Reaktion entwicklungsfördernd auf das Kind auswirkt. Dies bedeutet, dass die Mutter die kindliche Autonomie respektieren und dessen Kommunikation fördern soll. Als Beispiel dafür nennen die Autoren, dass Trost bei einem weinenden Kind nicht als Verwöhnung, sondern als Antwort auf die Mitteilung des Säuglings von negativen Gefühlen verstanden wird.

Sechs bis neun Monate alte Säuglinge mit feinfühligen Müttern weinen seltener, zeigen eine ausgewogene Balance zwischen selbständigem Spiel und der Freude am Kontakt zur Mutter, suchen bei Trauer und Leid die Nähe der Mutter, lösen sich jedoch auch wieder, sobald sie getröstet sind. Sie zeigen ein großes Vertrauen in die Verfügbarkeit der Mutter und in der sozialen Interaktion weniger Ärger, Wut, Aggression oder Ängstlichkeit (Grossmann et al., 1999).

Mary Ainsworth (1913–1999) hat mit dem sogenannten »Fremde-Situations-Test« unter standardisierten Laborbedingungen das Erkundungs- und Explorationsverhalten unter zunehmender Belastung beobachtet und aus den Befunden ein Klassifikationssystem entwickeln können. Anhand der Erwartung des Kindes an die Bindungsperson als Quelle der Beruhigung kann das Bindungsverhalten des Kindes klassifiziert werden. Aufgrund von zahlreichen Beobachtungen konnten Bindungstypen identifiziert werden, die als Ergebnis bisheriger Bindungserfahrungen verstanden werden (vgl. Castello, 2009):

•  Typ B (sicher): Kinder, die ihre negativen Gefühle in der Erwartung ausdrückten, dass dies feinfühliges Elternverhalten auslöst

•  Typ A (unsicher vermeidend): Kinder, die ihre negativen Gefühle gegenüber einem nicht feinfühlig handelnden Elternteil unterdrücken

•  Typ C (unsicher ambivalent): Kinder, die auf Beruhigung durch einen sich inkonsistent verhaltenden Elternteil zunehmend furchtvoll, verlangend und ärgerlich reagierten

•  Typ D (desorganisiert): Kinder, die desorganisiert agieren, wie z. B. Nähesuchen zur Bezugsperson, aber kurz vor einem Körperkontakt abbrechen, Verhaltensstereotypien zeigen oder plötzlich erstarren (dieser Bindungstyp wurde später von Maine (1982) identifiziert)

Bei der Häufigkeitsverteilung der vier Bindungsqualitäten lassen sich kulturelle Unterschiede beobachten. Im deutschsprachigen Raum wird davon ausgegangen, dass etwa die Hälfte aller Kinder sicher gebunden ist. Nicht ganz ein Drittel aller Kinder lassen sich dem unsicher-vermeidenden und ca. 7 % dem unsicher-ambivalenten Bindungstyp zuordnen. Mit vermuteten knappen 20 % ist auch das desorientierte/desorganisierte Bindungsmuster stark vertreten (vgl. Gloger-Tippelt, 2008).

3           Risikofaktoren für die Entwicklung von Bindungsrepräsentationen

Das Vorhandensein einer sicheren Bindung zu wenigstens einem erwachsenen Interaktionspartner gilt als starker Schutzfaktor. Kinder mit sicherem Bindungshintergrund scheinen auf unterschiedlichen Ebenen zu profitieren:

•  Sie zeigen häufig sozial kompetentes Verhalten,

•  in Krisensituationen mehr psychische Widerstandskraft

•  und sind weniger anfällig für psychische Erkrankungen (vgl. Castello, 2009).

Bindung stellt einen wesentlichen Aspekt der emotionalen Qualität der Eltern-Kind-Beziehung dar (vgl. Gloger-Tippelt et al., 2007). Negative Gefühle oder belastende Situationen werden in Abhängigkeit der Zuwendung und Verfügbarkeit oder aber der Zurückweisung der Bindungsperson von den Kindern erlebt und bewertet: Ängste, Ärger, Wut, Traurigkeit und Trauer sind leichter zu bewältigen, wenn das Kind auf den Trost, die Unterstützung und Nähe der Mutter vertrauen kann. Hingegen stellen sie eine hohe Belastung für das Kind dar, wenn die Bindungsperson das Kind gerade in solchen Situationen alleine lässt oder aber ablehnend reagiert (Grossmann et al., 1997).

Bis zum fünften Lebensjahr ist das innere Arbeitsmodell des Kindes noch labil und wird geprägt durch die Erfahrungen, die es in emotional belastenden Situationen macht. Kontinuitätserfahrung der Kinder spielt hierbei eine maßgebliche Rolle bei der Verfestigung der Bindungsrepräsentationen. In allen weiteren Beziehungen, die das Kind im späteren Leben eingeht, z. B. mit der Erzieherin im Kindergarten oder der Lehrerin in der Schule, versucht das Kind, diese Erfahrungen in Anwendung zu bringen. Erfährt das Kind keine adäquate Unterstützung, Halt, Geborgenheit und Wärme von den Eltern, wird sich dies in den Erwartungen des Kindes an die künftige Qualität der Interaktion widerspiegeln. Macht es die Erfahrung, dass es schwierige Situationen alleine zu bewältigen hat, wird es nach einer gewissen Zeit keine »Hilfesignale« mehr aussenden, sondern versuchen, solchen Situationen der Zurückweisung der Bezugsperson durch Hinwendung auf Sachobjekte und der Vermeidung von Interaktionsverhalten zu entgehen.

In der Entwicklung der Eltern-Kind-Interaktion scheinen generationsübergreifende Muster wirksam zu werden. Das bedeutet, dass sich die kindlichen Bindungserfahrungen der Eltern auf die Bindungsqualität zu ihrem Kind hin auswirken. Bindungsverhalten scheint sich also über Generationen hinweg zu übertragen, so dass die Bindungsrepräsentation der Mutter zu ihren Eltern Einfluss auf ihr Verhalten zu ihrem Kind hat. Dieses mütterliche Verhalten prägt wiederum das Bindungsmuster des eigenen Kindes; anhand der Bindungsrepräsentation der Mutter kann die Bindungsqualität der Kinder vorhergesagt werden (vgl. u. a. Fremmer-Bombik, 1987). Eltern von sicher gebundenen Kindern zeigen eine eher flexible und aufgeschlossene Haltung gegenüber positiven und negativen Gefühlen und Erfahrungen, wohingegen Eltern unsicher-vermeidend gebundener Kinder eher defensiv und abweisend agieren. Eltern von ambivalent gebundenen Kindern handeln eher wütend oder passiv gegenüber negativen Erfahrungen und Emotionen (vgl. Jokschies, 2005). Mary Main hebt hervor, dass diese intergenerationale Übertragung unterbrochen werden kann, indem die Mutter eigene Bindungserfahrungen verarbeitet und sich im Umgang mit ihrem Kind bewusst macht.

Psychische Belastungen eines oder beider Elternteile, insbesondere der primären Bezugsperson des Kindes, stellen ein Risikofaktor für die Qualität der Interaktion dar. Psychisch kranke Eltern sind vielfach nur eingeschränkt in der Lage, auf die Bedürfnisse und Signale des Kindes zu reagieren. Gleichfalls wirksam für die Bindungsqualität ist die Elternpartnerschaft (Grossmann et al., 1997). So vermittelt eine harmonische Partnerschaft der Eltern, in der emotionale Wärme vorherrscht, dem Kind mehr Sicherheit und Stabilität. Die Bindungsqualität zu den Elternteilen leidet vielfach auch unter einer Trennung oder Scheidung der Eltern (Zimmermann, 2009). Die Bindungsaktivität des Kindes wird durch die Trennung der Eltern verstärkt, so dass Fürsorge, Trost und Schutz in besonderem Maße benötigt werden. Der frühe Verlust einer Bezugsperson, sei es durch Trennung oder Tod, kann zu Beeinträchtigungen der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes führen und sich bis in spätere Partnerschaften hinein auswirken (vgl. Grossmann et al., 1997). Äußere Faktoren, wie krisenhafte Erfahrungen durch eine längere Trennung oder der Wechsel der Bezugspersonen, haben einen Einfluss auf die Bindungserwartungen. Tiefgreifende Veränderungen für die ganze Familie wie z. B. Arbeitslosigkeit und eine damit verbundene finanzielle Einschränkung oder Not oder aber ein Umzug können die Bindungsbeziehung ebenfalls negativ beeinflussen.

Auch das kindliche Temperament kann einen Einfluss auf die Bindungsqualität ausüben. Ungünstige Temperamentsmerkmale wie bspw. hohe Erregbarkeit oder Probleme in der emotionalen Selbstregulation scheinen die elterliche Feinfühligkeit zu beeinträchtigen.

Images

Abb. 1: Determinanten der Bindungsqualität, nach Zellmer, 2007

Julius (2008) hat aus klinischen Stichproben herausgestellt, dass die häufigste psychosoziale Belastung von Kindern im Bereich der Kindesmisshandlung, Vernachlässigung, des sexuellen Missbrauchs und der unverarbeiteten Verlustängste liegen. Diese Kinder haben ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung von Verhaltensstörungen. Im Bereich der Erziehungshilfe finden sich 95 % der betroffenen Kinder, in allgemeinen Schulen immerhin 10–15 % (vgl. Julius, 2001, zit. n. Julius, 2008). Diese psychosozialen Belastungsfaktoren sind nicht von der Beziehung zwischen Eltern und Kind zu trennen und finden in der Interaktion zwischen diesen statt.

Unterschieden werden muss zwischen einer klinisch relevanten Bindungsstörung, die diagnostisch erfasst werden kann, oder ob es sich um das Abbild eines Anpassungsprozesses an die Umwelt handelt. Die ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 2011) – ein Klassifikationssystem der WHO, in der auch psychische Störungen aufgeführt werden – unterscheidet zwischen der reaktiven Bindungsstörung (F94.1) und der Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2). Symptome der reaktiven Bindungsstörungen werden in der ICD-10 durch »Furchtsamkeit und Übervorsichtigkeit, eingeschränkte soziale Interaktion mit Gleichaltrigen, gegen sich selbst oder andere gerichteten Aggressionen, Unglücklichsein und in einigen Fällen Wachstumsverzögerung« beschrieben und aus der Beschreibung schwer misshandelter oder vernachlässigter Kinder entwickelt. Die Kernsymptome bei der Bindungsstörung im Kindesalter mit Enthemmung lassen sich als anklammerndes, distanzloses, emotional flaches, oberflächliches und wenig emotional bezogenes Verhalten in der Interaktion mit Gleichaltrigen zusammenfassen.

4           Pädagogische Präventionsmöglichkeiten

Dass Bindungserfahrungen revidierbar sind, zeigen Untersuchungen zur Kontinuität und Diskontinuität von Bindung im Lebenslauf (vgl. u. a. Julius, 2008; Bielefelder und Regensburger Studie von Grossmann, ab 1973).

Da die Fähigkeit zur feinfühligen Reaktion der primären Bindungsperson einer der bedeutsamsten Einflussfaktoren darstellt, bieten Feinfühligkeits- bzw. Sensitivitätstrainings für Mütter eine effektive Möglichkeit der frühen Prävention. Insbesondere Eltern, die selbst Bindungsauffälligkeiten zeigen, sind im Erkennen der kindlichen Signale häufig weniger kompetent, interpretieren diese häufiger falsch und tragen dazu bei, dass eine unsichere Bindungsentwicklung begünstigt wird (Brisch, 2007).

Die meisten Feinfühligkeitstrainings, wie beispielsweise STEEPTM (Erickson & Egeland, 2006), SAFE® (Brisch, 2011) oder FFTE (Hänggi, Schweinberger & Perrez, 2011) sind videogestützte Verfahren, die sowohl Gruppen- als auch Einzelsetting-Elemente beinhalten. Insbesondere im Einzelsetting wird die Videoauswertung von Spiel- bzw. Interaktionssequenzen zwischen Mutter und Kind analysiert und besprochen. Die Besonderheit dieser drei Programme besteht darin, dass das Training bereits vor der Geburt des Kindes beginnt. In diesen pränatalen Trainingssequenzen geht es um eine frühzeitige Schulung der Wahrnehmung von Signalen des Kindes bzw. wie diese gedeutet werden können. Ebenso sind theoretische Einheiten zur Bindungstheorie und zur Bedeutung einer sicheren Bindung eingebunden, auch werden Risiko- und Schutzfaktoren thematisiert. In den postnatalen Trainingseinheiten wird die gezielte Unterstützung der Familien in der neuen Situation mit Kind fokussiert. Elterngruppen dienen als sozialer und emotionaler Anker, um sich auszutauschen und gegenseitig zu stärken. In dieser Trainingsphase werden auch Situationen mit dem Baby videografiert und in den Einzelsitzungen mit den Eltern besprochen. Interpretationen der Eltern hinsichtlich der kindlichen Signale oder Projektionen zum Bindungserleben aus der eigenen Kindheit werden thematisiert und können dann korrigiert werden.

Marte Meo (Bünder, Sirringhaus-Bünder & Helfer, 2009) ist ebenso ein videogestütztes Präventionsprogramm, innerhalb dessen die Förderung und Schulung der mütterlichen Feinfühligkeit zentrale Elemente sind. Es setzt allerdings erst nach der Geburt an, wobei nach dem Prinzip der Rückmeldung positiver bzw. bereits gelungener Interaktionsansätze bei der gemeinsamen Videoauswertung vorgegangen wird. Die Mutter wird unterstützt und ermutigt, vorhandene positive Verhaltensweisen zu verstärken, um auf diese Weise die natürliche Interaktionsschleife zu perpeduieren. Interventionsstudien, in denen die Sensitivität von Müttern aus Risikogruppen und von Müttern aus der Normalpopulation gefördert wurden, konnten positive Effekte auf die kindliche Bindungsrepräsentation nachweisen (vgl. Metaanalyse von Bakermans-Kraneburg et al., 2003).

Viele Eltern berichten selbst über ungünstige Bindungserfahrungen. Problematisch sind hier insbesondere traumatische Erfahrungen, da das kindliche Weinen, Schreien, die Suche nach Schutz und Zärtlichkeit, Erinnerungen wieder aktivieren können. Die plötzliche Konfrontation mit einer traumatischen Erinnerung im Kontakt mit dem Kind kann Auslöser von Kindesmisshandlung sein (Brisch, 2007). Können solche ungelösten traumatischen Erlebnisse frühzeitig erkannt werden, sollte psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen werden, auch, um auf diesem Weg den Risikofaktor einer wiederholten bzw. weitergebenden Bindungserfahrung mit traumatisierenden Anteilen für das eigene Kind zu minimieren.

5           Handlungsmöglichkeiten im pädagogischen Alltag an Schulen und Kitas

Ziegenhain und Wolff (2000) berichten, dass sicher gebundene Kinder im Übergang in die Krippe anfangs deutlich ängstlicher und zurückhaltender waren als ihre Altersgenossen. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder schienen hingegen zunächst fröhlich und aufgeschlossen – am Ende der Eingewöhnungsphase waren die sicher gebundenen Kinder offen und aufgeschlossen, unsicher-vermeidend gebundene Kinder verschlossen und erschöpft. Was bedeutet dieser Befund? Während die vermeidend gebundenen Kinder mit ungünstigen Bindungserfahrungen die eigene Angst und Einsamkeit überspielten, da sie die Erfahrung gemacht haben, dass dieses Verhalten abgelehnt wird, drücken sicher gebundene Kinder ihre Emotionen aus und können sie auf diesem Weg integrieren, mit dem Ergebnis einer besser gelingenden Anpassung (vgl. Castello, 2009).

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder haben das Bedürfnis, sich immer wieder der Verfügbarkeit der erwachsenen Bezugsperson zu versichern, indem sie ihre Nähe und Aufmerksamkeit suchen. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder wirken dagegen vielfach so, als seien sie völlig unabhängig, würden wenig Hilfe benötigen und scheinen distanziert. Julius (2008) schreibt hier den Interventionen außerhalb der Familie eine große Bedeutung zu: Insbesondere Erzieher und Lehrer seien gut geeignet, sich als alternative Bindungsfiguren anzubieten; aufgrund ihrer Professionalität und da sie ebenfalls viel Zeit mit dem Kind verbringen.

Es ist möglich, dass ein Kind auf mehrere Bindungspersonen zurückgreift und neue Bindungserfahrungen ein Arbeitsmodell verändern. Ein Zugang für Pädagogen besteht darin, Kindern sogenannte Diskontinuitätserfahrungen, d. h. qualitativ andere Bindungserfahrungen zu ermöglichen. Dies kann dann gelingen, wenn die Qualität der pädagogischen Beziehung über die bisherigen Bindungserfahrungen des Kindes hinausgeht und ein sicheres Bindungsmodell fördert. Leider löst das Verhalten von Kindern mit ungünstigen Bindungserfahrungen aber offenbar eher komplementäres Handeln von Pädagogen aus. Die Reaktionen der pädagogischen Fachkräfte auf die gezeigten Verhaltensweisen des Kindes sind häufig identisch mit denen der Eltern (Jogschies, 2005). Diese Kontinuitätserfahrungen, die die Kinder dadurch machen, festigen das internalisierte Arbeitsmodell.

Kindern als eine verlässliche Bindungsperson gegenüberzutreten, stellt hohe Anforderungen an Pädagogen. Dies gilt besonders bei großen Gruppen in Schule und Kita und wenn eine große Zahl an Kindern problematische Bindungsbiografien mitbringt. Hier liegt auch die Grenze der Umsetzbarkeit dieser pädagogischen Anstrengung: Eine große Gruppe »bindungsbedürftiger« Kinder wird eine Reihe von Problemen im Alltag aufwerfen. Pädagogen müssen hierfür über grundlegendes Wissen zur Entwicklung und Wirkung von Bindungsrepräsentationen verfügen. Gleichzeitig wird auch eine Reflexion der eigenen Bindungserfahrungen erfolgen müssen, da diese im konkreten pädagogischen Handeln entwicklungspsychologisches Wissen häufig überlagern. Ein Bewusstsein dafür, dass langjährige ungünstige Bindungserfahrungen von Kindern nicht durch die wenigen positiven Interaktionen mit Pädagogen in Schule und Kita veränderbar sind, sollte vor Enttäuschung und Frustration schützen. Wie kann nun pädagogisches Handeln konkret aussehen?

Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungshintergrund zeigen, um Zurückweisung zu vermeiden, seltener Kontaktinitiativen gegenüber Pädagogen. Mit scheinbar selbstsicherem Verhalten versuchen sie, ihre Furcht vor Zurückweisung zu überspielen. Dieses Muster führt nicht selten dazu, dass Kinder »unsympathisch« wirken und sich mit ihren aggressiv anmutenden Verhaltensweisen soziale Probleme in der Gruppe entwickeln. Vielfach gehen leider auch Lernschwierigkeiten mit unsicher-vermeidendem Bindungshintergrund einher. Spielerische Situationen bieten eine gute Möglichkeit für wirksames pädagogisches Handeln, indem in der spielerischen Distanz feinfühlige und fürsorgliche Verhaltensweisen gezeigt und auch angenommen werden »dürfen«. Julius (2009) beschreibt, dass betroffene Kinder in diesen Spielsituationen zunächst versuchen, die Kontrolle zu behalten, bspw. durch Abbruch, Albereien usf. Ein konsistentes Beziehungsangebot, das auch bei aggressivem Verhalten des Kindes aufrechterhalten werden kann, ist besonders wichtig. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den pädagogischen Notwendigkeiten, des Einhaltens von Regeln und der wohlwollenden Aufmerksamkeit als Beziehungsangebot. Es ist wahrscheinlich, dass während des Beziehungsaufbaus von Seiten des Kindes immer wieder aggressive Verhaltensweisen gezeigt werden, die der Abwehr dieser neuen Erfahrungen von Unterstützung, Schutz, Trost und kindlicher Bedürfnisorientierung geschuldet sind. Reagiert die pädagogische Fachkraft weiterhin konsistent, fürsorglich und dem Kind zugewandt, damit nicht die alte Bindungsrepräsentation des Kindes bestätigt wird, kann langfristig eine Veränderung alter Muster entstehen.

Das pädagogische Handeln bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern unterscheidet sich nicht wesentlich von der oben dargestellten. Durch die Erfahrung des Kindes, dass die Bindungsperson nicht verlässlich verfügbar ist, ist das Bindungssystem dieser Kinder überwiegend aktiviert, wodurch auch das Explorationsverhalten, also das Lernen behindert sein kann. Durch Anhänglichkeit und ein oftmals distanzlos wirkendes Verhalten versucht das Kind sich der Zuneigung der Bindungsperson zu versichern. Auch hier ist es wichtig, Verlässlichkeit in der Beziehung zum Kind aufrechtzuerhalten, um vorhersagbar und berechenbar zu sein. Dies gelingt bspw. durch die Einführung fester Rituale und zeitlich und räumlich festgelegter Verabredungen. Hier kann sich das Kind darauf verlassen, dass es Zeit und Aufmerksamkeit erhält, Absagen, Verschiebungen oder Nicht-Einhaltungen werden dabei verhindert.

Meist sind die zur Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen nicht ausreichend, so dass Ärger- und Wutreaktionen gegen Pädagogen nicht selten sind. Teilweise kann die Enttäuschung und Verletzung auch gegen andere, konkurrierende Kinder gerichtet sein. Die naheliegende Reaktion der Bestrafung oder Zurückweisung, die das Kind von zu Hause kennt (Kontinuitätserfahrung) und das innere Arbeitsmodell des Kindes bestätigt, gilt es hier sorgsam zu vermeiden. Statt Zurückweisung ist das Aufzeigen klarer Grenzen für unakzeptables Verhalten wichtig. Durch die Transparenz dieser Regeln werden Reaktionen berechenbar und möglicherweise befürchtete, unvorhersehbare Reaktionen minimiert. Statt Zurückweisung kann mit dem Kind ein neuer Umgang mit Wut und Ärger z. B. durch Verbalisierung der Wut oder des Ärgers erarbeitet werden (Julius, 2008).

Fallbeispiel (Fortsetzung)

Michaelas Lehrerin hat nach einer Phase der Unsicherheit mit schulpsychologischer Unterstützung einige Veränderungen in ihrer Klasse eingeführt. Ihre Schülerinnen und Schüler werden nun jeden Morgen per Handschlag begrüßt, verbunden mit einem kurzen Wortwechsel. Alle Kinder, auch Michaela, haben so unmittelbar zu Schul- bzw. Unterrichtsbeginn einige Momente Zeit mit ihr, in denen ein Kontakt stattfinden kann. Dies ist auch der Zeitpunkt, zu dem die Lehrerin explizit ansprechbar ist und Gelegenheit bekommt, sich ein Bild zur Befindlichkeit des jeweiligen Kindes zu machen. Gleiches gilt für den Abschied nach dem Unterricht, wo häufig noch ein kurzer, positiver und rückmeldender Wortwechsel stattfindet.

Die Lehrerin ist nun auch besser über die private Situation der Kinder in der Klasse informiert, was zunächst ein erheblicher Aufwand war, aber langfristig zu mehr Verständnis und einer angemesseneren Unterrichtsplanung führen soll. Sie weiß, dass die familiären Situationen der Kinder sich dramatisch unterscheiden. Dies betrifft nicht nur die Frage nach der wirtschaftlichen Ausstattung und bildungsbezogenen Unterstützung, sondern auch, inwieweit positive Interaktionserfahrungen mit den Eltern stattfinden. Aufgrund dieser Heterogenität gestaltet sie im Rahmen ihrer zeitlichen Möglichkeiten bewusst für familiär belastete Kinder Unterrichtsphasen.

Derzeit wünschen sich die Kinder häufig das Rollenspiel »Fühl-O-Mat«, wo Kinder emotionale Situationen darstellen und die Lehrerin in der Rolle eines Roboters erkennen muss, was das Kind empfindet, und darauf reagieren soll. Der »Fühl-O-Mat« spendet Trost, unterstützt, zeigt Interesse, gibt Tipps usw.

Michaela erhält bei Verhaltensauffälligkeiten keine Aufmerksamkeit durch die Lehrerin. In Phasen positiven Sozialverhaltens und kooperativen Lernens wird sie gelobt und unterstützt. Die Lehrerin achtet darauf, freundlich zu erwähnen, wenn Michaela empathisch handelt, Regeln und Grenzen einzufordern und Verabredungen und Absprachen einzuhalten. Gleichzeitig versucht sie, Michaela gegenüber gleichbleibende Wertschätzung zu zeigen, unabhängig von Michaelas Verhalten.

 

Literatur

Bakerman-Kraneburg, M.J., van IJzendoorn, M.H. & Juffer, F. (2003). Less is more: Meta-analyses of sensitivity and attachment interventions in early childhoof. Psychological Bulletin, 129, 195–215.

Bretherton, I. (2009). Die Geschichte der Bindungstheorie. In G. Spranger & P. Zimmermann (Hrsg.), Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta, 27–49.

Brisch, K.-H. (2007). Prävention von emotionalen und Bindungsstörungen. In W. von Suchodoletz (Hrsg.), Prävention von Entwicklungsstörungen. Göttingen: Hogrefe, Kap. 9, 167–182.

Bröning, S. (2008). Kinder im Blick. Theoretische und empirische Grundlagen eines Gruppenangebotes für Familien in konfliktbelasteten Trennungssituationen. München: Waxmann.

Bünder, P., Sirringhaus-Bünder, A. & Helfer, A. (2009). Lehrbuch der Marte-Meo-Methode. Entwicklungsförderung mit Videounterstützung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Castello, A. (2009). Soziale Entwicklung. In K. Fröhlich-Gildhoff, C. Mischo & A. Castello (Hrsg.), Entwicklungspsychologie für Fachkräfte in der Frühpädagogik. Köln: Carl Link, 41–57.

Castello, A. (2013). Pädagogische Gesprächsangebote. In A. Castello (Hrsg.), Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten in Schule und Kita: Klinische Psychologie für die pädagogische Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, 192–200.

Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2011). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber.

Dornes, M. (2007). Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch Verlag.

Gloger-Tippelt, G., König, L., Zweyer, K. & Lahl, O. (2007). Bindung und Problemverhalten bei fünf und sechs Jahre alten Kindern. Kindheit und Entwicklung, 16 (4), 209–219.

Gloger-Tippelt, G. (2008). Individuelle Unterschiede in der Bindung und Möglichkeiten ihrer Erhebung bei Kindern. In L. Ahnert (Hrsg) (2008), Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung, 2. Auflage. München: Reinhardt, 82–110.

Grossmann, K. (1995). Kontinuität und Konsequenzen der frühen Bindungsqualität während des Vorschulalters. In G. Spangler & P. Zimmermann (Hrsg), Die Bindungstheorie. Stuttgart: Klett-Cotta, 191–202.

Grossmann, K.E., Becker-Stoll, F., Grossmann, K., Kindler, H., Schieche, M., Sprangler, G., Wensauer, M. & Zimmermann, P. (1997). Die Bindungstheorie: Modell, entwicklungspsychologische Forschung und Ergebnisse. In H. Keller (Hrsg.), Handbuch der Kleinkindforschung. 2. Auflage. Bern: Huber, 51–95.

Jokschies, Grit (2005). Bindungsrepräsentationen und Metakognitive Fähigkeiten bei Jugendlichen und heranwachsenden Gewalttätern. (Dissertation) (http://www.diss.fu-berlin.de/diss/receive/FUDISS_thesis_000000001794; Stand: 01.09.2013).

Julius, H. (2008). Bindungsgeleitete Prävention. In J. Borchert, B. Hartke & P. Jogschies (Hrsg), Frühe Förderung entwicklungsauffälliger Kinder und Jugendlicher. Stuttgart: Kohlhammer.

Julius, H. (2009). Bindungsgeleitete Interventionen in der schulischen Erziehungshilfe. In H. Julius, B. Gasteiger-Klicpera & R. Kißgen (Hrsg.), Bindung im Kindesalter. Diagnostik und Interventionen. Göttingen: Hogrefe, 293–315.

Zellmer, Svenja (2007). Kontinuität der Bindung vom Vorschulalter bis zur mittleren Kindheit (Dissertation) (http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Erziehungswissenschaften/Abteilungen/Psychologie/Dissertation_Svenja_Zellmer.pdf; Stand: 01.09.2013).

Zimmermann, P. (2009). Bindungsentwicklung von der frühen Kindheit bis zum Jugendalter und ihre Bedeutung für den Umgang mit Freundschaftsbeziehungen. G. Sprangler & P. Zimmermann (Hrsg.), Die Bindungstheorie. Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta, 203–231.

Schutz des Kindeswohls

Armin Castello und Torsten Schutzbach

 

Fallbeispiel

Lea (6) ist kürzlich in eine andere Stadt umgezogen und daher erst seit wenigen Wochen in ihrer neuen Kita. Sie soll aber bereits im Sommer eingeschult werden. Das erste Gespräch der Kita-Leitung mit Leas Eltern war leider nur sehr kurz, da beide angeben, mit den neuen Arbeitsstellen, die sie nun hätten, zeitlich sehr eingeschränkt zu sein. Lea kommt seither morgens und geht nachmittags alleine nach Hause.

In der Vorschulgruppe kümmert sich die Erzieherin Frau Hirt neuerdings um Lea. Es werden dort verschiedene Programme zur Vorbereitung der Einschulung durchgeführt. Frau Hirt fällt auf, dass Lea immer noch keinen Kontakt zu anderen Kindern aufnimmt und dass sie in den Übungen, bei denen die meisten Kinder eifrig ans Werk gehen, eher teilnahmslos wirkt. Lea nimmt in den Essenszeiten kaum etwas zu sich, wobei Frau Hirt dabei das lieblos mitgegebene Essen bemerkt. Das Mädchen klagt öfter über Müdigkeit und Bauchschmerzen, sitzt tagsüber lange Phasen einfach nur auf einem Stuhl und meidet den Kontakt zu allen, auch zu Erwachsenen.

Nachdem Lea neulich wieder über Bauchschmerzen klagte, soll sie sich im Ruheraum etwas hinlegen und wird von Frau Hirt begleitet. Als Lea den obersten Knopf ihrer viel zu engen Hose öffnet, sieht Frau Hirt zahlreiche Blutergüsse und große, teils schlecht versorgte Schürfwunden am Bauch des Kindes. Die Erzieherin ist schockiert und fragt Lea, wie denn das passiert sei. Lea antwortet nicht und wendet den Kopf ab. Frau Hirt ist verunsichert und weiß nun nicht, wie sie handeln soll.

1           Ebenen möglicher Kindeswohlgefährdungen

Artikel 19 der von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten UN-Kinderrechtskonvention (Bundesgesetzblatt, 1992) führt verschiedene Ebenen möglicher Kindeswohlgefährdungen auf:

•  Vernachlässigung der Grundversorgung, d. h. keine angemessene Ernährung, Kleidung, Hygiene, Gesundheitsversorgung oder Wohnung; Fehlen eines adäquaten Schutzes vor Gefahren, mangelnde oder keine Befriedigung des natürlichen Bindungsbedürfnisses eines Kindes, inadäquate Betreuung und keine altersangemessene Anregung

•  Seelische Misshandlung, d. h. Unterlassungen (z. B. Ignorieren, Isolieren) oder aktive Handlungen (Beschimpfen, Verspotten, Bedrohen), die die seelische Entwicklung beeinträchtigen (Deegener, 2005, 38)

•  Körperliche Misshandlung wie z. B. Schlagen, Schütteln, Verbrennen

•  Sexuelle Misshandlung, d. h. sexuelle Handlungen, die an, mit oder vor einem Kind durchgeführt werden

Das Kindeswohl kann zudem in Familien gefährdet sein, die sich in Krisensituationen befinden. Hierzu gehören massive Konflikte, wie sie teilweise in Trennungsphasen auftreten, Gewalt zwischen Familienmitgliedern oder eine körperliche und/oder seelische Erkrankung der Eltern (Maywald, 2010). Ebenso kann eine Suchterkrankung der Eltern bzw. von nahen Bezugspersonen als Gefährdung des Kindeswohls wirksam werden.

Jenseits dieser Ebenen werden Kindeswohlgefährdungen unterschieden, abhängig vom Schweregrad und der zeitlichen Ausdehnung bzw. Häufigkeit, in der eine Misshandlung oder Vernachlässigung stattfindet. Ebenso spielt in der Bewertung der Gefährdung eines Kindes oder Jugendlichen dessen Alter eine bedeutsame Rolle.

2           Häufigkeiten

Körperliche Misshandlung erfahren, so die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (AWMF, 2008) 11,8 % der männlichen und 9,9 % der weiblichen Kinder und Jugendlichen. In einer länger zurückliegenden, aber repräsentativen Untersuchung (Pfeiffer et al., 1999) wurden Kinder und Jugendliche nach Gewalterfahrungen durch Eltern befragt, unterschieden nach deren Ausmaß und Häufigkeit.

Angaben in Prozent Kinder Jugendliche

Tab. 1: