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Grundriss Gerontologie

 

Band 3

 

herausgegeben von Clemens Tesch-Römer, Hans-Werner Wahl, Siegfried Weyerer und Susanne Zank

 

Band 1

H.-W. Wahl/V.Heyl

Gerontologie – Einführung und Geschichte

 

Band 4

H. Künemund/K. R. Schroeter/F. Frerichs

Soziologie des Alters

 

Band 5

F. Schulz-Nieswandt

Sozialpolitik im Alter

 

Band 8

C. Tesch-Römer

Soziale Beziehungen alter Menschen

 

Band 9

B. Leipold

Lebenslanges Lernen und Bildung im Alter

 

Band 10

C. Claßen/F. Oswald/M. Doh/U. Kleinemas/H.-W. Wahl

Umwelten des Alterns

 

Band 11

R. Heinze/G. Naegele/K. Schneiders

Wirtschaftliche Potentiale des Alters

 

Band 12

J. Werle/A. Woll/S. Tittlbach

Gesundheitsförderung

 

Band 13

S. Weyerer/C. Ding-Greiner/U. Marwedel/T. Kaufeler

Epidemiologie körperlicher Erkrankungen und Einschränkungen im Alter

 

Band 14

S. Weyerer/H. Bickel

Epidemiologie psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter

 

Band 15

T. Gunzelmann/W. D. Oswald

Gerontopsychologische Diagnostik und Assessment

 

Band 17

H. Gutzmann/S. Zank

Demenzielle Erkrankungen

 

Band 18

O. Dibelius/C. Uzarewicz

Pflege von Menschen höherer Lebensalter

 

Band 19

S. Zank/M. Peters/G. Wilz

Klinische Psychologie und Psychotherapie des Alters

 

Band 22

H. Helmchen/S. Kanowski/H. Lauter

Ethik in der Altersmedizin

Mike Martin

Matthias Kliegel

Psychologische Grundlagen der Gerontologie

4., durchgesehene und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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4., durchgesehene und aktualisierte Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023989-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023990-6

epub:    ISBN 978-3-17-023991-3

mobi:    ISBN 978-3-17-023992-0

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Einleitung
  3. 1.1 Einführung
  4. 1.2 Leitthemen der Gerontopsychologie
  5. 1.2.1 Alter und Altern
  6. 1.2.2 Lebenslange Entwicklung
  7. 1.2.3 Entwicklungsregulation
  8. 1.2.4 Variabilität des Alters und des Alterns
  9. 2 Psychologische Grundlagen der Gerontologie: Definitionen
  10. 2.1 Gegenstand der Gerontopsychologie
  11. 2.1.1 Altersdefinitionen
  12. 2.1.2 Forschungsdefinitionen
  13. 2.1.3 Subjektive Wahrnehmung und Bewertung des Alters
  14. 2.2 Multidirektionalität und Multidimensionalität von Altersveränderungen
  15. 2.3 Generelle und differentielle Alternsprozesse
  16. 2.4 Erklärung von Alternsprozessen
  17. 3 Gerontopsychologische Theorien
  18. 3.1 Theorien in der Gerontopsychologie
  19. 3.2 Gerontopsychologische Theorien mit bereichsübergreifendem Anspruch
  20. 3.2.1 Entwicklungsaufgaben
  21. 3.2.2 Das Dritte und Vierte Lebensalter
  22. 3.2.3 Lebensspannenpsychologie
  23. 3.2.4 Eindimensionale mechanistische Defizitmodelle des Alterns
  24. 3.2.5 Theorien des erfolgreichen Alterns
  25. 3.3 Bereichsspezifische Theorien der Gerontopsychologie
  26. 3.3.1 Theorien zur kognitiven Entwicklung
  27. 3.3.2 Theorien zur sozioemotionalen Entwicklung
  28. 3.4 Entwicklungskontextuelle Ansätze
  29. 3.4.1 Person-Kontext-Passung
  30. 3.4.2 Historischer und sozialstruktureller Kontext
  31. 3.4.3 Alter im Kontext demographischer Veränderungen
  32. 3.4.4 Kontext Arbeitswelt
  33. 3.4.5 Geschlechterrolle als Kontext
  34. 3.4.6 Biographischer Kontext
  35. 3.4.7 Lebensereignisse und Krisen im Alter als Kontext
  36. 4 Methoden psychologischer Alternsforschung
  37. 4.1 Begriffsbestimmungen
  38. 4.2 Zusammenhang zwischen Theorie und Datensammlung
  39. 4.3 Erhebungsinstrumente
  40. 4.3.1 Psychometrische Verfahren
  41. 4.3.2 Befragungen
  42. 4.3.3 Retrospektive Datenerhebung
  43. 4.3.4 Verhaltensbeobachtung
  44. 4.4 Forschungsdesigns
  45. 4.4.1 Längsschnittstudien
  46. 4.4.2 Querschnittstudien
  47. 4.4.3 Quer- oder Längsschnitt
  48. 4.4.4 Experiment
  49. 4.4.5 Neurowissenschaftliche Verfahren
  50. 4.4.5 Evaluationsstudien
  51. 4.5 Auswertungsverfahren
  52. 4.5.1 Fokus Individuum vs. Mehrpersoneneinheiten
  53. 5 Psychische Entwicklung im höheren Erwachsenenalter
  54. 5.1 Wahrnehmung
  55. 5.1.1 Altersveränderungen in der Hörleistung
  56. 5.1.2 Altersveränderungen in der Sehleistung
  57. 5.1.3 Periphere versus zentrale Altersveränderungen
  58. 5.2 Psychomotorik
  59. 5.3 Kognition
  60. 5.3.1 Intelligenzentwicklung
  61. 5.3.2 Gedächtnis im Alter
  62. 5.3.3 Normale Gedächtnisentwicklung im Alter und Demenz
  63. 5.4 Plastizität und Lernen
  64. 5.5 Subjektives Wohlbefinden, Emotionen und Lebenszufriedenheit
  65. 5.6 Soziale Beziehungen
  66. 5.7 Persönlichkeit
  67. 5.8 Psychische Gesundheit
  68. 6 Anwendungsfelder der Gerontopsychologie
  69. 6.1 Ressourcen, Kontexte, Ziele und Passungen als Interventionsgegenstände
  70. 6.2 Kognitive Trainings
  71. 6.3 Lebenslanges Lernen
  72. 6.3.1 Internet-Nutzung im Alter und altersgerechtes Internet durch angepasste Web- und App-Gestaltung
  73. 6.4 Public Health
  74. 6.5 Gesundheitsverhalten
  75. 6.5.1 Gesundheit und Krankheit im Alter
  76. 6.5.2 Erkrankungen im Alter als chronische Beeinträchtigungen
  77. 6.5.3 Ein allgemeines Modell zum Gesundheitsverhalten
  78. 6.5.4 Besonderheiten des Gesundheitsverhaltens im höheren Erwachsenenalter
  79. 6.5.5 Eine gerontopsychologische Modifikation des Health Action Process Approach
  80. 6.6 Pflegekontexte
  81. 6.7 Beratung und Therapie
  82. 6.8 Evaluation
  83. 6.9 Differentielle Diagnostik
  84. 6.10 Prävention
  85. 7 Partizipative Altersforschung
  86. 7.1 Hintergrund: Begleitung und Pflege von Demenzkranken durch Angehörige
  87. 7.1.1 Zusammenarbeit am Runden Tisch: Befürchtungen und Hoffnungen
  88. 7.1.2 Teilnehmende, Struktur und Ziele des Runden Tischs
  89. 7.1.3 Partizipation an Altersforschung: Vorteile und Grenzen
  90. Literatur
  91. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Mit der vierten Auflage wird der vorliegende Band »Psychologische Grundlagen der Gerontologie« in aktualisierter Form neu aufgelegt. Dabei werden die neuesten Entwicklungen der Plastizitäts- und Persönlichkeitsforschung wie auch die Darstellung der wichtigsten Längsschnittstudien berücksichtigt. Zusätzlich wurde das Sachverzeichnis erweitert, um die Nutzbarkeit des Bandes zu erhöhen.

Wir möchten uns bei den Herausgeberinnen und Herausgebern der vorliegenden Reihe »Grundriss Gerontologie« für die fachliche Beratung und Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Bandes bedanken, insbesondere bei Professor Dr. Hans-Werner Wahl. Dem Kohlhammer Verlag sind wir für die Hilfe bei der Erstellung des Endmanuskriptes zu Dank verpflichtet. Dr. Mathias Allemand, Dr. Jacqueline Zöllig, Dr. Anne Eschen, Dr. Katharina Schnitzspahn, Canan Akgün, Alexandra Hering, Jasmin Simon, Dr. Roger Schmid, Heribert Engstler, Dr. Philippe Rast, Dr. Melanie Peter-Wight, Dr. Christina Röcke, Hans Rudolf Schelling, Dr. Caroline Moor, Dr. Marion Landis und Prof. Dr. Daniel Zimprich danken wir für die wertvollen Anregungen und Beiträge. Schließlich möchten wir uns bei den kritischen Studierenden der Gerontopsychologie und der Gerontologie der Universität Zürich sowie der Entwicklungspsychologie der Universität Genf bedanken, die durch ihre Hinweise und Nachfragen zur verbesserten Version des Buchmanuskriptes beigetragen haben.

Zürich und Genf, im Frühjahr 2014

Mike Martin und Matthias Kliegel

1         Einleitung

 

 

 

1.1        Einführung

Innerhalb der Psychologie kommt der Gerontopsychologie als einem eigenständigen Fachgebiet eine Wegbereiterrolle für die Untersuchung psychologischer Alterungsprozesse und deren Beeinflussung durch gerontopsychologische Interventionen zu. Sie zeichnet sich aus durch einen eigenständigen inhaltlichen Gegenstandsbereich und eine eigenständige methodische Zugangsweise mit einem Schwerpunkt auf der Beobachtung, Messung und Erklärung von Veränderungsprozessen alternder Individuen, die sich sowohl vom Niveau, von der Richtung und der Vielfältigkeit stark von anderen Altersabschnitten der Lebensspanne abheben. Durch die Fokussierung auf die altersbezogenen Veränderungen psychologischer Kompetenzen spielt die Gerontopsychologie zudem eine wichtige Rolle im interdisziplinären Verbund der gerontologisch orientierten Fächer. Wie in diesem Band deutlich werden wird, greift die Gerontopsychologie dabei auf eine Reihe von theoretischen Ansätzen und empirischen Methoden zurück, die aus anderen psychologischen Spezialdisziplinen mit unterschiedlichen inhaltlichen und methodischen Fragestellungen stammen und die von der Gerontopsychologie weiterentwickelt wurden. So entstammt der Ansatz der Entwicklung im Sinne einer Entfaltung vorhandener Potentiale der Entwicklungspsychologie, die dies jedoch vor allem auf die Entwicklung bis zum Erwachsenenalter bezieht. Ebenso aufgenommen und weiterentwickelt wurde der Ansatz der differentiellen Veränderungsprozesse der Persönlichkeitspsychologie, indem er auf Differenzierungs- bzw. Dedifferenzierungsprozesse im Alter angewendet wurde. Die Ansätze der Lernforschung der Allgemeinen Psychologie zur Erforschung des Lernens im Alter wurden mit eingebunden, indem die Wechselwirkung zwischen psychologischen Alternsprozessen und Lernleistungen verstärkt analysiert wurde. Der Ansatz der Plastizität aus der Neuropsychologie wurde auf den Bereich des Verhaltens erweitert und Ansätze der Klassifizierung und Behandlung alterstypischer psychischer Erkrankungen der klinischen Psychologie wurden entsprechend weiterentwickelt und auf die Altersunterschiede im hohen Alter angewendet. Ansätze zur Untersuchung der Dynamik sozialer Interaktionsprozesse der Sozialpsychologie wurden auf Gruppen alter Personen bezogen und die Ansätze zur Untersuchung von arbeitsbezogenen Kompetenzen der Arbeits- und Organisationspsychologie wurden herangezogen, um die spezifischen Kompetenzen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Wechselwirkung mit altersangepassten Arbeitsumwelten zu thematisieren. In umgekehrter Richtung hat die Gerontopsychologie eine Reihe von Ansätzen aus anderen gerontologischen Disziplinen, insbesondere der Biologie, der Medizin, der Soziologie und der Demographie des Alterns aufgenommen und für andere psychologische Fachgebiete fruchtbar gemacht. Schließlich werden die innovativen Methoden der intra- und interindividuellenVeränderungsmessung, die die altersbezogene Variabilität der Entwicklung abbilden können, mittlerweile auch in anderen gerontologischen Disziplinen rezipiert.

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Abb. 1.1: Psychologische Quellen und Bezugsdisziplinen der Gerontopsychologie

Das Thema der Gerontopsychologie ist die Untersuchung von Phänomenen des individuellen Alters und des Alterns aus psychologischer Sicht. Die psychologische Sicht ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil die Unterschiede zwischen Personen in den psychologischen Aspekten des individuellen Erlebens, Wahrnehmens, Erkennens, Bewertens und Verhaltens über die gesamte Lebensspanne bis ins höchste Alter den Entwicklungsverlauf von Wohlbefinden, Gesundheit und Selbstständigkeit bestimmen. Darüber hinaus sind viele psychologische Faktoren veränderbar, sei es durch Training, Übung oder die Gestaltung von sozialen oder räumlichen Kontexten (Lindenberger, 2002). Die Erforschung der Grundlagen von Altersunterschieden und Altersveränderungen im Alter liefern somit wichtige Erkenntnisse für die Gestaltung von Interventionen, die auf den Erhalt oder eine Steigerung von Wohlbefinden im Alter ausgerichtet sind. Aufgrund der wachsenden sozialpolitischen Bedeutung des Themas werden daher die psychologischen Grundlagen der Gerontologie an Bedeutung gewinnen.

Mehrfach konnte gezeigt werden, dass psychologische Aspekte für die Vorhersage der Langlebigkeit, der Gesundheit, des Wohlbefindens und des Gesundheitsverhaltens von alten Personen ähnlich bedeutsam sind wie genetische und biologische oder physiologische Veränderungen (Klein, 2004). Vor allem unterschiedliche Lebensstile und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen in Bezug auf Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum oder körperliche Bewegung, Bildung und soziale Unterstützung werden zunehmend mit der Sterblichkeit (Mortalität) in Verbindung gebracht. Zudem ist für das Verhalten und das Wohlbefinden der meisten alten Personen das subjektive Erleben der eigenen Lebenssituation entscheidend und verdient besondere Aufmerksamkeit. So ist beispielsweise nur unter der Voraussetzung, dass Personen von den positiven Folgen einer Verhaltensweise wie der sportlichen Aktivität oder den Vorteilen einer sozialen Beziehung überzeugt sind, damit zu rechnen, dass diese Verhaltensweisen dauerhaft aufrechterhalten werden oder diese soziale Beziehung gepflegt wird. Nur wenn man also subjektiv von den Vorteilen der Handlung überzeugt ist, wird sie häufiger gezeigt. Hat das Verhalten tatsächlich positive Folgen, kann dies in der Konsequenz eine höhere Selbstwirksamkeit, größere Zufriedenheit und Gesundheit nach sich ziehen, was sich wiederum langfristig positiv auf das Verhalten auswirken kann. Die subjektiven Bewertungen der eigenen Lebenssituation sind somit entscheidend für die weitere Entwicklung. Dies kann gerade im Hinblick auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung alter Personen von Bedeutung sein, wenn für den Erhalt der Selbstständigkeit objektiv weniger oder weniger steigerbare Ressourcen verfügbar sind. Dann kann die Nutzung der bestehenden Handlungsmöglichkeiten von größerer Bedeutung für das Wohlbefinden und die Einstellungen zum Alter insgesamt sein als in jüngeren Altersgruppen (vgl. M. Schmitt, Kliegel & Shapiro, 2007).

Die Bedeutung gerontopsychologischer Forschung nimmt zu, weil die demographischen Veränderungen des 21. Jahrhunderts mit einem Zuwachs an Lebenserwartung und einem wachsenden Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung in vielen Ländern zu einem bisher unbekannten Altersphänomen führen. Bisher gab es historisch gesehen noch nie die Situation, dass Personen verlässlich davon ausgehen konnten, ein Alter von über 80 Jahren zu erreichen, lange Jahre mit ihren Partnern und Partnerinnen, Gleichaltrigen und Geschwistern zu leben, Familienangehörige über fünf Generationen zu erleben und sich langfristig auf das Alter vorbereiten zu können. In vielen Ländern haben sich in den letzten Jahrzehnten die Bildungschancen, die ökonomische Lage der Einzelnen und die Möglichkeiten der politischen Partizipation verbessert. Man kann daher zwar gut prognostizieren, wie viele Personen welchen Alters es in den nächsten Jahrzehnten geben wird. Vorhersagen aber aufgrund der Daten der heute über 80-Jährigen über die psychologischen Konsequenzen – beispielsweise der Wandlung intergenerativer und partnerschaftlicher Beziehungen, der Häufigkeit alter Menschen, der heute im mittleren Alter bei vielen gegebenen Mobilität und Unabhängigkeit oder der Einstellungen zum Alter – werden vermutlich fehlerhaft sein. Forschung ist also auch deshalb wichtig, um frühzeitig die psychologischen Bedingungen des Alterns der nahen Zukunft zu kennen und der Personen, die heute als »Baby Boomer« im mittleren Alter sind. Noch immer gibt es jedoch wenige Untersuchungen zur Erklärung von Veränderungen psychologischer Ressourcen im Alter oder sie vernachlässigen die großen interindividuellen Unterschiede innerhalb der Gruppe alter Menschen. Einseitig defizitorientierte Sichtweisen können jedoch die Möglichkeiten für effektive Interventions- und Präventionsmaßnahmen verschleiern.

1.2        Leitthemen der Gerontopsychologie

1.2.1      Alter und Altern

Die Bezeichnungen Alter und Altern verweisen auf eine wichtige Unterscheidung in der Gerontopsychologie: Die Gerontopsychologie als »Psychologie des Alterns« bezieht sich auf Entwicklungs- und Veränderungsprozesse. Sie fokussiert dabei auf den Altersbereich der über 60-jährigen Menschen. Veränderungsprozesse finden über die gesamte Lebensspanne statt und sorgen dafür, dass sich die Gruppe alter Personen in vielen Aspekten von jüngeren Altersgruppen unterscheidet, sei es, dass sie aufgrund von Erfahrung mit Problemsituationen anders umgehen oder dass sie sich neuen Lebensaufgaben gegenübersehen. Daher ist ein wichtiger Gegenstand der Gerontopsychologie die Untersuchung der vielfältigen und interindividuell unterschiedlichen »Psychologie des Alters«. Andererseits gehen wir davon aus, dass auch die Gruppe der über 60-Jährigen keine homogene Gruppe darstellt, sondern deren Mitglieder sich bis ins höchste Alter verändern und entwickeln können. Welche Veränderungsprozesse dabei wirksam werden und wodurch sie ausgelöst und verändert werden können, wird im Hinblick auf die intraindividuell unterschiedlichen Erscheinungsweisen des Alterns thematisiert. Zusammenfassend kann man daher sagen, dass sowohl das Alter als auch das Altern Gegenstand gerontopsychologischer Betrachtung sind.

1.2.2      Lebenslange Entwicklung

Die Gerontopsychologie geht davon aus, dass über die gesamte Lebensspanne Entwicklung stattfindet, also Personen sich in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zielgerichtet verändern. Die traditionelle Definition von Entwicklung (s. Flammer, 2009) bezog sich vor allem auf das Kindes- und Jugendalter. Sie betont, dass:

•  Entwicklung eine Veränderungsreihe mit mehreren Schritten ist,

•  die eine Richtung auf einen Endzustand aufweist,

•  der gegenüber dem Ausgangszustand höherwertig ist,

•  wenn die Abfolge der Schritte unumkehrbar ist, und

•  die Veränderungen sich als qualitative, strukturelle Transformationen im Unterschied zu quantitativem Wachstum beschreiben lassen.

•  Die früheren Glieder der Veränderungsreihe sind Voraussetzung für die späteren (Stufenmodell),

•  die entwicklungsmäßigen Veränderungen sind mit dem Lebensalter korreliert und

•  sie sind universell,

•  sie sind natürlich und nicht kulturgebunden.

Entwicklung wird im Sinne einer Entfaltung eines inneren Bauplanes verstanden.

Diese Definition ist aus unserer Sicht für die Gerontopsychologie problematisch, da bei der Entwicklung im Alter

•  Veränderungen im Sinne einer gelungenen Anpassung an neue situative oder umweltbezogene Anforderungen besser als Wandel eines Ausgangszustandes beschreibbar sind;

•  die Entwicklung zu einem höherem Niveau eines Wertkriteriums bedarf und nicht immer Einigkeit bei Wertvorstellungen und Einstellungen besteht;

•  Fehlentwicklungen und Abbauprozesse in der Definition nicht enthalten sind;

•  der Kontextbezug der Bewertung von Fähigkeiten unberücksichtigt bleibt;

•  die Trennung zwischen quantitativen und qualitativen Veränderungen interpretationsbedürftig ist;

•  der Universalitätsanspruch im Gegensatz zur Bedeutung von Entwicklungskontexten und somit zu einer differentiellen Gerontopsychologie steht.

Entwicklung im Alter wird also verstanden als Veränderungen und Stabilität, die sinnvollerweise auf die Zeitdimension Lebensalter bezogen werden können. Entwicklung findet statt, wenn anhaltende Veränderungen zu beobachten sind. Die Tatsache, dass Einflüsse der Kindheit aktuelle Wirkungen im Alter haben, ist gerontopsychologisch relevant, wenn diese Einflüsse sich auf die weitere Entwicklung auswirken. Innerhalb einer Person kann gleichzeitig Veränderung und Stabilität vorkommen. So können Veränderungen in einzelnen Ressourcen (z. B. kognitive oder soziale Ressourcen) sehr unterschiedlich verlaufen, ihre Wechselwirkung jedoch zu hoher Stabilität in Zielgrößen wie der Autonomie oder dem Wohlbefinden führen.

1.2.3      Entwicklungsregulation

Die ressourcenorientierte Sichtweise steht im Kontrast zur frühen gerontologischen Forschung mit ihrem vornehmlich medizinischen Hintergrund, der vor allem Aspekte des Rückgangs der körperlichen Leistungsfähigkeit und der altersassoziiert häufigeren Erkrankungen (Morbidität) und der Sterblichkeit (Mortalität) untersuchte. Alter selbst wurde praktisch gleichgesetzt mit Abbau, also als Lebensphase nach Überschreiten des Leistungshöhepunkts der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit. Bis heute spiegelt sich dies im alltäglichen Sprachgebrauch wider, wenn eine chronologisch alte Person eine hohe Leistungsfähigkeit aufweist und man sagt, dass diese Person »nicht wirklich alt« sei. Die abbauorientierte Sicht auf das Alter hat sich in der Theorienentwicklung besonders dann als fruchtbar erwiesen, wenn durch eine spezifische Leistungsverringerung das Wohlbefinden älterer Personen beeinträchtigt wird. Dann zeigt sich, dass Interventionsmaßnahmen zur gezielten Behebung von spezifischen Leistungsverlusten erhebliche Auswirkungen auf die Verbesserung der Leistungen und des Wohlbefindens haben. Häufig wird die Betonung des alterskorrelierten Abbaus von Leistungsfähigkeit als einseitig defizitorientiert kritisiert und hervorgehoben, dass es auch Bereiche gibt, in denen die Leistung mit dem Alter zunimmt (Images Kap. 3.3.1 zur Kognition). Die gewinnorientierte Sicht auf das Alter erweist sich dann als fruchtbar, wenn nach möglichen Schutzfaktoren gesucht wird, deren Stützung zur Stabilisierung der Selbstständigkeit im Alter beitragen. Beide Sichtweisen, die Betonung von Abbau wie die Betonung möglicher Zugewinne, haben den Fokus auf jeweils einzelne Dimensionen der Leistung gemeinsam. Der Streit darüber, welche einzelne Dimension die wichtigste ist, ist jedoch müßig. Selbstverständlich kann angenommen werden, dass mit zunehmender Nähe zum Tod Leistungsabnahmen unvermeidlich sind, denn mit dem Tod sind alle Leistungsfähigkeiten erloschen. Wie wir noch sehen werden, ist erst die gleichzeitige Beachtung mehrerer Leistungsdimensionen (Multidimensionalität) in Verbindung mit der Funktionalität von Fähigkeiten (Fähigkeiten dienen zur Erreichung individuell bedeutsamer Ziele und sind kein Selbstzweck) der entscheidende theoretische Fortschritt, ohne den die Konzepte der Plastizität und Kompensation gar nicht denkbar geworden wären.

Die Untersuchung altersspezifischer Entwicklungsprozesse aus psychologischer Sicht ohne eine direkte Bewertung im Sinne der Über- oder Unterlegenheit einer Altersgruppe findet erstmals bei C. Bühler in der Untersuchung des menschlichen Lebenslaufs statt (1933). Es kann vermutet werden, dass weit verbreitete Vorstellungen über abnehmende Leistungsfähigkeiten alternder Personen auf den Ergebnissen von Studien beruhen, die für einfach und reliabel messbare Leistungsindikatoren wie z. B. Handkraft oder einfache Reaktionszeiten Altersunterschiede zu Gunsten jüngerer Vergleichsgruppen berichtet haben. So werden in den querschnittlichen Untersuchungen von Miles (1933) oder Yerkes (1921) die Altersgruppen mit der höchsten Intelligenzleistung bestimmt und durchgehend ein Altersunterschied zugunsten der jungen Versuchspersonen festgestellt. Verschiedentlich wird sogar von einer impliziten Defizittheorie des Alters gesprochen, die sich in derartigen Untersuchungen zeigen, da die Erklärungen für die beobachteten Altersunterschiede sich auf die Annahme eines kaum beeinflussbaren Zusammenhangs zwischen altersnormalen körperlichen und geistigen Abbauprozessen stützen. Diese Vermutung spielte auch eine Rolle bei der Rezeption der Disengagement-Theorie des Alterns von Cumming und Henry (1961), die von einem kaum beeinflussbaren Zusammenhang zwischen körperlichem Abbau und der adaptiven Wirkung eines sozialen Rückzugs ausgeht.

Dabei haben diese Erklärungen gemeinsam, dass sie durch die Interpretation von Mittelwertsunterschieden nahelegen, dass diese Altersunterschiede bei allen Personen in gleicher Weise zu erwarten sind, der Alternsprozess so gesehen »eindimensional« und praktisch immer in eine Richtung (»unidirektional«) im Sinne einer Leistungsverringerung verläuft. Die Unterschiede zwischen jeweils gleichaltrigen Personen werden in diesem Zusammenhang als Messfehler betrachtet. Die Daten von Miles weisen allerdings bereits darauf hin, dass die Höchstleistungsalter je nach verwendetem Test und untersuchtem Bereich in einem breiten Streuungsbereich um das 20. Lebensjahr liegen. Auch die Daten der »Bonner Längsschnittstudie über das Altern« (BOLSA), die von 1965 bis 1983 psychologische und medizinische Fragestellungen kombinierte, legen nahe, dass bei Berücksichtigung der teilweise erheblichen Unterschiede zwischen den untersuchten Personen eher von inter- und intraindividuell variierenden Alternsformen als von allgemeingültigen Altersnormen der Entwicklung ausgegangen werden muss (Lehr, Thomae & Diehl, 1987).

Die Unterschiede in den Veränderungen zwischen verschiedenen Bereichen der Leistung bei Miles weisen darauf hin, dass Entwicklung im Alter multidirektional verlaufen kann, also für verschiedene Fähigkeiten zunehmend, stabil oder abnehmend. Um dies gezielt zu untersuchen, werden mittlerweile in vielen Ländern multi- und interdisziplinäre Längsschnittstudien durchgeführt. Diese erlauben die empirische Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Veränderungen in unterschiedlichen Ressourcenbereichen, um mehr darüber zu erfahren, wie zur stabilen Erreichung von Autonomie Veränderungen in einer Ressource, beispielsweise dem sozialen Netzwerk, durch andere Ressourcen, beispielsweise der Umbewertung der Bedeutung sozialer Kontakte, ausgeglichen werden können. Havighurst und Neugarten führten beispielsweise 1952–1962 die »Kansas City Study of Adult Development« durch, die sich auf die Veränderungen des Zusammenhangs zwischen Sozialkontakten und Lebenszufriedenheit konzentrierte. Mayer und Baltes initiierten die Berliner Altersstudie (BASE; 1996), die den Verlauf kognitiver, sozialer, emotionaler, körperlicher und mentaler Ressourcen bei über 70-Jährigen untersucht. Schaie (2013) führt seit 1956 die Seattle Longitudinal Study (SLS) durch, in der die Wechselwirkung von Veränderungen im Bereich der intellektuellen Leistung, der Alltagsleistung und der Verhaltensstile und der Alltagskomplexität analysiert werden.

Dabei liefern in diesen Studien die Unterschiede zwischen jeweils gleichaltrigen Personen wertvolle Informationen über die Ursachen der Altersunterschiede. Zudem weisen sie darauf hin, dass es möglich ist, nach Leistungsbereichen zu suchen, in denen alte Menschen jüngeren Menschen überlegen sein könnten. Bereits Hall (1922) hat in seinem Buch »Senescence« Überlegungen dazu angestellt, welche besonderen Stärken mit zunehmendem Alter zu erwarten sind. Dies spielt in der aktuellen Literatur zu den Kompetenzen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Rolle, genau so wie in der Betonung des Erfahrungswissens in Expertisebereichen, in denen ältere Menschen über mehr Erfahrung verfügen, sei es im Bereich beruflicher Expertise, Entscheidungskompetenz oder in der Beurteilung und Meisterung schwieriger Alltagssituationen im Sinne eines »weisen« Handelns oder Ratgebens (Glück & Bluck, 2014).

Für ein vollständiges Bild des Alters ist auch die enorme Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit von Menschen in allen Altersbereichen in den Blick zu nehmen. So wird ein negativer korrelativer Zusammenhang zwischen Alter und Leistung immer gleich hoch ausfallen, wenn die relative Position einer Person innerhalb einer Gruppe die Gleiche ist. Mit anderen Worten, eine negative Alterskorrelation kann gleich groß sein, egal ob die Veränderung bei jeder Person sehr klein oder sehr groß ausfällt, sofern sie nur bei allen Personen gleich groß ist (Images Abb. 1.2).

Beide dargestellten grauen Linien zeigen einen negativen mittleren Alterseffekt, die untere Kurve allerdings einen stärkeren mittleren Abfall. Statistisch kann der Alterseffekt (also die Korrelation zwischen Alter und Wohlbefinden) in beiden Fällen gleich hoch ausfallen und ist in jedem Fall negativ. Interessant ist hier aber nicht, dass es in sehr vielen Bereichen irgendwann, wenn man die Altersspanne nur ausreichend groß wählt, zu Leistungs- oder Wohlbefindensverlusten kommt. Erstaunlich ist empirisch gesehen vielmehr die Tatsache, dass mit zunehmendem Alter die Lebensqualität oder das Wohlbefinden im Verhältnis zur Zunahme an Belastungen oder Abnahme an Leistungsfähigkeit sehr viel weniger abnehmen, als man eigentlich erwarten müsste. Wir werden daher unseren Blick auf diesen Unterschied zwischen den beiden Linien legen, da dieser Unterschied die enormen adaptiven Kapazitäten alter Menschen anzeigt, zu dem sehr viel weniger bekannt ist als zu den mittleren Altersveränderungen.

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Abb. 1.2: Zwei gleich perfekt negativ alterskorrelierte Verläufe des Wohlbefindens und das erst durch die Mittelwertsvergleiche erkennbare adaptive Potential im Altersverlauf.

Die neuere Forschungstradition der Gerontopsychologie zeigt neben der Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung der Ressourcen alter Personen auch eine Tendenz, die von alternden Personen eingesetzten entwicklungsregulativen Prozesse zu betrachten. Man kann dies als einen Trend zur Kontextualisierung und zur Personenorientierung der Gerontopsychologie betrachten. In diesem Sinne ist es nicht korrekt, den Alternsprozess ausschließlich durch die Veränderung einer einzelnen Kompetenz, etwa des nachlassenden Tempos der Verarbeitung neuer Informationen erklären zu wollen, sondern die kontextadäquate aktive Nutzung von Ressourcen zur Erreichung der selbstgesetzten Ziele (also ein regulativer Prozess) beschreibt die Herausforderung im Alter. Wir werden daher durchgehend diese person-, kontext- und ressourcenorientierte Sichtweise auf das Alter beibehalten.

Leistungsparameter müssen immer im Hinblick auf die individuellen, sozialen, historischen und räumlichen Kontexte gesehen werden, in denen alte Personen sich entwickeln, und die aufgesucht, vermieden oder beeinflusst werden können. Das Verständnis der Psychologie des Alterns setzt dazu voraus, dass Personen jeweils individuelle Ziele verfolgen, zu deren Erreichung nach Bedarf und nach Möglichkeiten die verfügbaren Ressourcen eingesetzt werden. Eine ressourcenorientierte Sichtweise des Alterns erfordert also die Untersuchung der intraindividuellen Wechselwirkung zwischen Ressourcen einer Person, den individuellen Zielen einer Person, den von der Person eingesetzten Prozessen zur Zielerreichung und den Kontexten.

Mit zunehmendem Alter werden also nicht zwangsläufig alle verfügbaren Ressourcen und Kompetenzen in gleichem Maße geringer, sondern die unterschiedlichen Ressourcen werden in Abhängigkeit von Kontexten in ganz unterschiedlichem Maß von Personen aktiv eingesetzt (= orchestriert), um ihre subjektiven, selbstgesetzten Ziele zu erreichen. Die Ziele und die Art ihrer Erreichung unterscheiden sich spezifisch, können aber in gleicher Weise erreicht werden. So wirft die Betrachtung des Alternsprozesses die Frage auf, wie es Personen in unterschiedlichen Abschnitten ihres Lebens jeweils gelingt, ihre individuellen Ziele zu erreichen. Diese Betrachtungsweise rückt die alternde Person, ihre Ziele, ihre Kompetenzen und ihre Möglichkeiten der Ressourcennutzung in den Vordergrund. Der Altersvergleich einzelner Fähigkeiten ist demnach nur sinnvoll im Zusammenhang mit deren Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den altersunterschiedlichen Lebensaufgaben und -herausforderungen.

Orchestrierung von Ressourcen zur Entwicklungsregulation

Man kann sich die »Entwicklung der kontextadäquaten Ressourcennutzung« analog zu einem Orchester (= Person) vorstellen, dass einen harmonischen Gesamtklang (= Lebensqualität) anstrebt und dazu unterschiedliche Musikerinnen und Musiker (= Ressourcen) einsetzt. Dieser Klang kann nun erreicht werden, indem die richtigen Personen (= die für die Aufgabenstellung relevanten Fähigkeiten) für das jeweilige Stück (= Passungsherstellung zwischen Fähigkeit und Anforderung) zusammengestellt werden, die fehlenden Ressourcen durch Übung verbessert werden (= Plastizitäts-/Kapazitätsausschöpfung) oder das passende Stück für die vorhandenen Fähigkeiten ausgewählt wird (= Umweltanpassung). Dabei ist es am effektivsten, wenn nicht alle Musiker das Gleiche üben, sondern jedes Instrument das jeweils dazu passende. Schließlich sind der Klang und das Stück für jedes Orchester unterschiedlich, aber es kann in gleicher Weise »gut« klingen, so wie es gut gespielte klassische Musik ebenso wie gut gespielte Rockmusik gibt. Angewandt auf eine alternde Person kann man davon sprechen, dass sie ihre Fähigkeiten und Aktivitäten im Hinblick auf ihre Ziele und ihre Lebensqualität »orchestriert«. Auch wenn das Repertoire an Fähigkeiten, Aktivitäten, Plastizitätsausschöpfung und Umweltanpassung für alle gleich ist, ergeben sich aus der zielgerichteten Orchestrierung jeweils unterschiedliche Kombinationen, die in gleicher Weise zum Ziel führen können.

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Abb. 1.3: Orchestrierungsmodell der Lebensqualität (in Anlehnung an Schumacher & Martin, 2010)

Die Abbildung 1.3 deutet an, welche fünf Hauptfaktoren die Orchestrierung der Lebensqualität beeinflussen: Fähigkeiten, Umwelten, die Plastizität (oder Veränderbarkeit) der Fähigkeiten und Umwelten sowie die Lebensqualität selbst. Diese fünf Faktoren stehen in einer Wechselwirkung und die Wechselwirkung kann durch Interventionenbeeinflusst werden. Die einzelne Person hat nach diesem Modell bei lebensqualitätsgefährdenden Situationen die Möglichkeit, stabile Lebensqualität herzustellen, indem sie

•  bisher wenig genutzte Fähigkeiten einsetzt,

•  die Plastizität bestehender Fähigkeiten ausschöpft (z. B. durch Training),

•  die zu den Fähigkeiten passenden Umwelten aufsucht (z. B. durch Umzug),

•  die bestehenden Umwelten den bestehenden Fähigkeiten anpasst (z. B. durch Umbau) und

•  die Bewertung der Lebensqualität selbst verändert.

Um die Konsequenzen dieser Sichtweise anzudeuten: Im ersten Fall stellt man die bisher typischen Fragen der Gerontopsychologie, nämlich: Wie verändern sich Kompetenzen in der Gruppe älter werdender Personen und in welchem Zusammenhang stehen diese Veränderungen mit dem Wohlbefinden? Daraus wird für die Interventionspraxis abgeleitet, dass Steigerungen der Kompetenz zu höherem Wohlbefinden führen müssten. Dadurch, dass nicht alle Personen von einer Verbesserung der Kompetenz profitieren, sind die Effekte solcher Interventionen meist begrenzt auf wenige Prozent mittlerer Verbesserung. Im zweiten Fall stellt man die Frage: Welches individuell unterschiedliche Zusammenspiel an Fähigkeiten, Prozessen und Umwelteinflüssen trägt bei einer einzelnen Person zum Wohlbefinden bei? Daraus kann für die Interventionspraxis abgeleitet werden, dass unterschiedliche Interventionen zu höherem Wohlbefinden führen müssten. Dadurch, dass die unterschiedlichen Ursachen für die individuelle Stabilisierung von Wohlbefinden individuell genutzt werden, ergeben sich für jede Person deutlich größere Effekte. Mittelt man diese individuellen Effekte, erhält man deutlich größere mittlere Effekte.

Die Herausforderung für die gerontopsychologische Forschung liegt hier also darin begründet, dass es in der interessanten Zielgröße, nämlich dem Wohlbefinden oder der Lebensqualität, wenig Varianz gibt, weil es meist gelingt, diese zu stabilisieren. Der umgekehrte Blick auf die Varianz im Zusammenspiel verschiedener Fähigkeiten, Aktivitäten und Kontexteinflüsse rückt dagegen die Frage nach individuellen Unterschieden in der aktiven Herstellung der Lebensqualität in den Vordergrund.

Aus psychologischer Sicht stehen als Ressourcen die sensorischen, kognitiven, verhaltens- und erlebensbezogene Kompetenzen im Vordergrund, als Ziele das Bewältigen altersspezifischer und alterstypischer Anforderungen zur Erreichung und Erhaltung von Wohlbefinden, Autonomie und sozialer Integration, als Kontexte die sozialen, räumlichen, kulturellen, finanziell-strukturellen und historischen Rahmenbedingungen und als Prozesse zur Zielerreichung die regulativen Aktivitäten einer Person, sei es im Sinne einer Neubewertung der eigenen Lebenssituation und dem Setzen neuer Ziele oder der Veränderung von Ressourcen durch vermehrte Übung oder Training.

Die Bedeutung von Kontexten zeigt sich in empirischen Studien immer dann, wenn Veränderungen des sozialen oder räumlichen Kontextes zu Verhaltensänderungen führen, beispielsweise wenn in den Studien zur Förderung selbstständiger Verhaltensweisen im stationären Pflegebereich gezeigt werden kann, dass die Einübung selbstständigkeitsfördernder Verhaltensweisen auf Seiten des Pflegepersonals zu einer tatsächlichen Erhöhung selbstständiger Handlungen führt – aber nur in der Interaktion mit dem geschulten Personal (Baltes & Carstensen, 1996). Aber auch veränderte kulturelle oder historische Kontexte, wie sie in der Interdisziplinären Längsschnittstudie des Erwachsenenalters (ILSE; Martin, Grünendahl & Martin, 2001) zwischen ostdeutschen und westdeutschen Stichproben untersucht werden konnten, lassen sich im Hinblick auf Alter heranziehen. Schließlich bieten Veränderungen der Wohnumgebung, etwa nach oder während Umbaumaßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit, Gelegenheiten, alterstypische Anpassungsprozesse zu beobachten.

Fazit: Eine ressourcenorientierte Sichtweise des Alterns erfordert die Deskription der Altersveränderung der Ressourcen einer Person, der individuellen Ziele einer Person, der von der Person eingesetzten Prozesse zur Zielerreichung und der historischen, sozialen oder kulturellen Kontexte, in denen Altern stattfindet. Als Ressourcen werden dabei die »Gesamtheit der Mittel und Fähigkeiten (Kompetenzen) verstanden, die prinzipiell für die Bewältigung von Lebensaufgaben, die Erreichung von Zielen oder den Umgang mit Verlusten eingesetzt werden können« (Martin, 2001, S. 19). Ressourcen können in diesem Sinne kognitive oder soziale Kompetenzen, Kompetenzen zur Konfliktbewältigung, soziale Kontakte oder finanzielle Mittel sein. Wir werden im Kapitel zu den Anwendungsfeldern ein darauf aufbauendes Modell der Lebensqualitätsstützung vorstellen, das zur Ableitung entsprechender Interventionen dient (Rübsam & Martin, 2009).

1.2.4      Variabilität des Alters und des Alterns

Mit der Betonung der regulativen, zielgerichteten Aktivitäten von alternden Personen geht die Suche nach Kompetenzen und Ressourcen von alten Personen und deren Grenzen einher. Dies bedeutet auch eine Betonung der Bedeutung von Unterschieden zwischen Personen in den Zielen und Ressourcen, deren Verfügbarkeit, Bewertung und Nutzung. Die Herstellung einer individuellen, spezifischen Passung zwischen Ressourcen und vorhandenen Anforderungen stellt sich somit im Alter als eine neue Herausforderung dar, der eine Psychologie des Alters gerecht werden muss, d. h. die durch die empirische Untersuchung erklärt und verbessert werden sollte. Wegen der Bedeutung psychologischer Mechanismen ist für effektive Interventionen oder früh im Lebenslauf ansetzende präventive Maßnahmen ein Verständnis psychologischer Wirkmechanismen erforderlich. Die Grundlage zu einer effektiven Intervention bildet die Feststellung der altersspezifischen individuellen Ressourcen, Ziele, möglicher regulativer Prozesse sowie der Beeinflussbarkeit oder Plastizität dieser Faktoren, die ausführlicher im Band »Diagnostik und Assessment alter Menschen« in dieser Reihe dargestellt wird.

Wir möchten in diesem Band für die Bereiche der altersspezifischen Anforderungen die Ressourcen, die Ziele, die regulativen Prozesse und die Kontexte sowie deren Wechselwirkung und die wichtigsten theoretischen Erklärungen vermitteln. Dabei werden zum einen die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung betrachtet, die für alle alternden Personen gelten. Wegen der Unterschiede zwischen Personen gleichen Alters in Bezug auf die Ziele, Ressourcen, Kontexte und Passungen wird unser Hauptaugenmerk jedoch auf der Variabilität dieser Faktoren liegen. Die Variabilität ist eine wichtige Informationsquelle, da sie Hinweise auf mögliche Erklärungen für Altersveränderungen liefert.

Ein Beispiel: Wenn im Altersvergleich eine jüngere Altersgruppe im Durchschnitt einen kleineren Wortschatz aufweist als eine alte Altersgruppe, dann könnte man vermuten, dass als eine Folge zunehmenden Alters mit einem Anwachsen des Wortschatzes zu rechnen ist. Möchte man nun durch eine Intervention den Wortschatz einer Person vergrößern, müsste die Empfehlung lauten, einfach nur abzuwarten, dass man älter wird. Findet man aber heraus, dass es innerhalb der alten Gruppe sowohl Personen mit einem sehr großen als auch Personen mit einem sehr kleinen Wortschatz gibt, dann kann man überprüfen, ob nicht das Alter, sondern vielleicht die Bildung, eine abwechslungsreiche berufliche Tätigkeit oder das Lernen von Fremdsprachen zu einem höheren Wortschatz führen. Dementsprechend würde die Intervention dann diesen Zusammenhang gezielt für ein Training nutzen und zusätzliche Bildungsangebote machen, eine abwechslungsreiche Tätigkeit empfehlen oder Fremdsprachen unterrichten. Methodisch geht es also darum, inhaltlich und theoretisch plausibel zu erklären, wie es zu den beobachteten Altersunterschieden kommen kann. Nur dies liefert praktikable Hinweise für Interventionen zur Veränderung von Verhalten, der Bewertung der eigenen Lebenssituation oder der kognitiven Leistung. Welchen Aspekt der Variabilität von Entwicklung man untersucht, hängt dabei von der gewählten Fragestellung ab (Images Tab. 1.1).

Zusammenfassung

Leitthema der psychologischen Grundlagen der Gerontologie ist ein Prozessmodell der Entwicklungsregulation über die Lebensspanne, das den Fokus auf die Optimierung bzw. Regulation von Prozessen anstelle der Vermeidung oder Reparatur vermeintlicher Defizite legt. Es wird hervorgehoben, dass im Alternsverlauf subjektiv wichtige Ziel wie Autonomie oder Wohlbefinden erreicht werden können, wenn es Personen gelingt, die individuellen Kompetenzen und verfügbaren Ressourcen aktiv im Sinne einer Passung zu regulieren. Im Alter finden Veränderungen von Ressourcen, Zielen und regulativen Aktivitäten statt, so dass mit einem hohen Maß an Variabilität von Altersphänomenen gerechnet werden muss.

Unterschiede zwischen Analyseziel Beispiele

Tab. 1.1: Variabilität der psychologischen Entwicklung im Alter: Art der betrachteten Unterschiede, Analyseziele und Beispiele für Fragestellungen

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Fragen zur Selbstüberprüfung

1.    Welche Bedeutung haben psychologische Faktoren für Gesundheit und Wohlbefinden im Alter?

2.    Welche Unterschiede bestehen zwischen einer ressourcenorientierten Betrachtungsweise und einer defizitorientierten Betrachtungsweise? Welche Folgen können die Betrachtungsweisen für die Interpretation von Forschungsergebnissen haben?

3.    Was ist mit dem Begriff der Orchestrierung von Ressourcen gemeint und wie kann man untersuchen, ob tatsächlich Orchestrierungsprozesse stattfinden?

4.    Welche Rolle spielen Ressourcen, Ziele, Prozesse zur Zielerreichung und Kontexte im Alternsprozess?

5.    Was sind die wesentlichen Aspekte der Variabilität des Alternsprozesses?

6.    Welche Informationen können die verschiedenen Variabilitätsindikatoren liefern?

Weiterführende Literatur

Baltes, P. B. (1990). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze. Psychologische Rundschau, 41, 1–24.

Schaie, K. W. & Willis, S. L. (Hrsg.) (2011). Handbook of the psychology of aging. London: Academic Press.

Brandtstätter, J. (2001). Entwicklung, Intentionalität, Handeln. Stuttgart: Kohlhammer.

2         Psychologische Grundlagen der Gerontologie: Definitionen

 

 

 

2.1        Gegenstand der Gerontopsychologie

Ausgangspunkt der Darstellungen in diesem Buch ist zunächst die Definition des Gegenstandes der Gerontopsychologie. Anschließend wird dann auf die in der Definition verwendeten Begriffe ausführlicher eingegangen. Gegenstand der Gerontopsychologie ist die Beschreibung und Erklärung der Veränderungen von Strukturen und Prozessen über die gesamte Lebensspanne, die menschliches Erleben und Verhalten und dessen interindividuelle Unterschiede bis ins extrem hohe Alter bedingen. Eine wichtige Aufgabe stellt die Untersuchung der psychischen Verarbeitung und Bewältigung der mit dem Älterwerden verbundenen Defizite, Einschränkungen und Verluste dar. Von herausgehobener Bedeutung sind die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung im höheren Erwachsenenalter sowie die Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, sozialen und räumlichen Rahmenbedingungen.

Zu deren Erforschung dient die Entwicklung adäquater Untersuchungsinstrumente von Befragungen bis zu längsschnittlichen Veränderungsmessungen und die Kombination experimenteller, psychometrischer, quer- und längsschnittlicher Ansätze. Die Erforschung von Entwicklungsprozessen im höheren Alter erfolgt mit einem Anwendungsbezug und schließt die Methoden der Intervention und Prävention ein. Sie bildet damit die Grundlagen für Anwendung und praktischpsychologische Tätigkeiten im Bereich der Gerontopsychologie (Wahl, Diehl, Kruse, Lang & Martin, 2008).

2.1.1      Altersdefinitionen

Die Bezeichnung »Alter« ist weniger eindeutig, als man oft annimmt. Alter wird meist als chronologisches Alter gefasst, also die Zeit zwischen Geburtsdatum und dem aktuellen Datum. Tatsächlich bestehen zwischen Personen gleichen Alters oft große Unterschiede in psychologisch wichtigen Bereichen. Daher gibt es abhängig von theoretischen oder statistischen Grundannahmen eine Reihe von Altersdefinitionen.

Normales, erfolgreiches und pathologisches Alter

Gerade im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Stichproben alter Personen wird angesichts der großen Unterschiede der Alternsformen (Thomae, 1983) innerhalb gleichaltriger Gruppen (Images Kap. 1.2.4 zu Variabilität) versucht, Eigenschaften von größeren Gruppen gleichaltriger alter Personen zu definieren. Hierzu werden zumeist funktionale Aspekte des Befindens herangezogen (vgl. Gerok & Brandtstädter, 1992). Unter »normalem Altern« versteht man nicht das durchschnittliche Alter, sondern das Altern ohne chronische Erkrankungen wie Demenz, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, um den Alternsprozess von körperlichen Erkrankungen abzugrenzen. Entsprechend werden unter »pathologischem Altern« Veränderungsprozesse verstanden, die mit einer chronischen Erkrankung einhergehen.

Als »erfolgreiches Altern« wird bezeichnet, wenn alternde Personen selbst einen Zustand der Zufriedenheit empfinden, weil es ihnen gelingt, sich an die veränderte Lebenssituation im Alter anzupassen (Havighurst, 1948/1972). Es bezeichnet also zunächst ein subjektives Kriterium, das als Resultat des Ausgleichs zwischen individuellen Bedürfnissen und dem aktuellen Entwicklungskontext gilt (vgl. Lehr, 2003). Die Bezeichnung wird aber auch im Zusammenhang mit einem relativ hohen Maß an objektiver Gesundheit und Langlebigkeit und subjektivem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit verwendet. Die Bezeichnung »erfolgreiches Altern« ist uneindeutig, da die Definition von »Erfolg« wesentlich von der individuellen Lebenssituation und Zielsetzung abhängt und somit auch angesichts von erheblichen objektiven Belastungen wie beispielsweise einer Erkrankung oder dem Verlust einer nahestehenden Person verwendet werden kann. Die Bezeichnung kann missverständlich sein, wenn darunter ausschließlich objektive Kriterien wie beispielsweise die Lebenserwartung, die ja nicht notwendigerweise positiv erlebt werden muss, verstanden werden (vgl. Lindenberger, 2002; Yerkes, 1921).

Alt ist man … Weil … Art der Definition

Tab. 2.1: Altersdefinitionen

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Keine der Definitionen fußt ausschließlich auf psychologischen Aspekten, sondern wird stark durch pragmatische, demographische oder populationsstatistische Überlegungen geprägt. So ist auch keine der Definitionen unproblematisch. Beispielsweise könnte sich mit der Verschiebung der Altersgrenze oder der Veränderung der Lebenserwartung eine Verschiebung der Altersdefinition ergeben, in einem Ländervergleich z. B. zwischen Südafrika und der Schweiz müssten zur Erzielung von definitorisch Gleichaltrigen Personen im »Vierten Alter« über 45-Jährige mit über 80-Jährigen verglichen werden. Die Altersbestimmung über Lebensereignisse oder die Pensionierung ist auch deshalb problematisch, weil diese Ereignisse nicht alle Mitglieder einer Altersgruppe betreffen, sondern manche eben nur diejenigen, die berufstätig sind, oder diejenigen, die verheiratet sind oder Kinder haben. Darüber hinaus ist das Altersspektrum, in dem diese Ereignisse eintreten, relativ breit. Analog wird vorgeschlagen, Alter anhand von Entwicklungsaufgaben festzumachen. Die Definition der Nähe zum Tod ist praktisch dann problematisch, wenn der Zeitraum oder die Ursache des Todes unberücksichtigt bleiben und demnach auch ein sterbendes Kind alt wäre.