Mystische Dimensionen in den Märchen

Jürgen Wagner

Inhalt

Die weiße Taube

Vorwort

1. Die Suche

Das Wasser des Lebens

2. Reinheit des Herzens und des Geistes

Die goldene Gans

3. Blindheit

Der Korb mit den wunderbaren Sachen

4. Schweigen

Die Prinzessin, die keiner zum Schweigen bringen konnte

5. Liebe

Die blaue Rose

6. Die Schwere des Weges

Die Gänsehirtin am Brunnen

7. Nichts

Die Sterntaler

8. Erlösung

Die Alte im Wald

9. Was von uns gefordert ist

Frau Holle

Nachwort

Die weiße Taube

Vor eines Königs Palast stand ein prächtiger Birnbaum, der trug jedes Jahr die schönsten Früchte, aber wenn sie reif waren, wurden sie in einer Nacht alle geholt, und kein Mensch wusste, wer es getan hatte. Der König aber hatte drei Söhne, davon ward der jüngste für einfältig gehalten, und hieß der Dummling.

Da befahl er dem ältesten, er solle ein Jahr lang alle Nacht unter dem Birnbaum wachen, damit der Dieb einmal entdeckt werde. Der tat das auch und wachte alle Nacht, der Baum blühte und war ganz voll von Früchten, und wie sie anfingen reif zu werden, wachte er noch fleißiger, und endlich waren sie ganz reif und sollten am andern Tage abgebrochen werden; in der letzten Nacht aber überfiel ihn ein Schlaf und er schlief ein, und wie er aufwachte, waren alle Früchte fort, und nur die Blätter noch übrig.

Da befahl der König dem zweiten Sohn ein Jahr zu wachen, dem ging es nicht besser, als dem ersten; in der letzten Nacht konnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren, und am Morgen waren die Birnen alle abgebrochen.

Endlich befahl der König dem Dummling ein Jahr zu wachen, darüber lachten alle, die an des Königs Hof waren. Der Dummling aber wachte, und in der letzten Nacht wehrte er sich den Schlaf ab, da sah er, wie eine weiße Taube geflogen kam, eine Birne nach der andern abpickte und fort trug. Und als sie mit der letzten fortflog, stand der Dummling auf und ging ihr nach.

Die Taube flog aber auf einen hohen Berg und verschwand auf einmal in einem Felsenritz. Der Dummling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: »Gott segne dich!« »Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte«, antwortete das Männchen, »denn sie haben mich erlöst, steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.«

Der Dummling trat in den Felsen, viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die Weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt. Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch, und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst, und sie ward seine Gemahlin und er ein reicher König, und regierte sein Land mit Weisheit.

Märchen der Brüder Grimm

Vorwort

Die Sehnsucht nach Erlösung ist sicher eine der tiefsten in der Menschheit. Und einer der Gründe, warum Märchen erzählt werden, warum es spirituelle Wege gibt, warum es auch so mühevolle Wege wie die Mystik gibt. Volksweisheit und Religion haben vermutlich doch mehr gemeinsam, als das auf den ersten Blick erscheint. Beide bieten Wege und Lösungen an, die nicht immer so weit voneinander entfernt sind: ein einziges Segenswort, eine einzige Begegnung kann, wie unser Eingangsmärchen zeigt, die Erlösung bewirken. Aber ohne Selbstüberwindung und einen Weg in die Weite und Tiefe wird es, wie das Märchen wunderbar schildert, kaum gehen.

Dieses Buch stellt im Folgenden weitere 9 Märchen vor, die mit einer kurzen Auslegung versehen transparent werden für Tiefendimensionen, die man ‚mystisch‘ nennen kann. Ein leerer Korb mit wunderbaren Sachen (Kap 3), das Wasser des Lebens (Kap 1), mit nichts dastehen (Sterntaler Kap 7), gefangen im Spinnennetz und die Befreiung (die weiße Taube), der Durchbruch zum Stillsein-können (Kap 4), das ‚Koan‘ einer ‚‘blauen Rose‘ (Kap 5), was das Leben in Wahrheit von uns verlangt (Frau Holle Kap 9), der reine Geist (Kap 2), die Verführung des kostbaren Geschmeides und die erlösende Kraft des schlichten Ringes (Kap 8), die weise Lehrerin, Prophetin und Behüterin (Kap 6).

Es liegt in der Natur der Sache, dass weitschweifige Ausführungen hier nicht am Platze sind. So bleibt es mehr bei Andeutungen, als dass vollständige Interpretationen gegeben werden. Dies muss kein Mangel sein.

Kurze mystische Texte im Anschluss lassen die Bezüge aufleuchten und stellen vielleicht das eine oder andere Märchen noch einmal in ein anderes Licht, als wir es gewohnt sind.

Mystik (wohl von griech. µúειν die Augen oder Lippen schließen) ist im Kern eine Erfahrung von tiefer Versenkung oder auch spontaner Einheit. Das ist im Kindesalter gar nicht mal so selten. Völlig versunken sein (in ein Spiel) oder sich rundum eins fühlen erleben manche. Eine Erfahrung völliger Gelöstheit ist wahrscheinlich eher einem gefestigten und gereiften Menschen möglich. Die Mystik mündet gesunderweise in einem angemessenen alltäglichen Weg:

„An meinen täglichen Verrichtungen ist nichts Besonderes,

ich bin einfach in natürlichem Einklang mit ihnen.

An nichts mich haltend und auch nichts zurückweisend

finde ich keinen Widerstand und bin nie abgetrennt.

Was soll mir denn der Prunk von purpurnen Gewändern?

Der reine Gipfel ward von keinem Staubkorn je befleckt.

Meine magische Kraft und geistige Übung liegt im Wasserholen
und im Holzhacken.“

Plang Yün (Zen-Laie des alten China)

In vielen Kulturen und Religionen ist die Mystik ein spiritueller innerer Weg, der in die Stille führt und erhofftermaßen zu eben diesen Erfahrungen von Tiefe und Frieden, von Freiheit und Einheit.

„Es war einmal – es wird wieder sein“ – Volksmärchen sind alte und doch zeitlose Erzählungen. In ihrer Bilder- und Symbolsprache schildern sie geheimnisvoll und dramatisch das Lebensschicksal und den Lebensweg in einer Weise, die dem Hörer zu Herzen geht. Die Märchen erreichen ebenfalls eine Tiefe jenseits des Verstandesdenkens - so, dass er es nicht weiß, aber sich danach ausrichten mag und kann. Sie zeigen ihm dabei ungeahnte Lösungswege auf. Deshalb lohnt es sich, gleichsam in den ‚Brunnen‘ hinabzusteigen und einmal behutsam auszuloten, wohinein sie sprechen oder sprechen können.

Man kann Märchen ebenso wie biblische Geschichten auf mehreren Ebenen lesen oder hören: auf der Erzählebene, auf der symbolischen Ebene, auf der psychologischen Ebene – z.B. Nicht alle, aber manche Geschichten können uns wohl tief und innerlich berühren.

Ivan Bilibin