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Bernd Kollmann

Neues Testament kompakt

Verlag W. Kohlhammer

In memoriam
Dieter Zeller (1939–2014)

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021235-0

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-026912-5

epub:      ISBN 978-3-17-026913-2

mobi:      ISBN 978-3-17-026914-9

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. I. Einführung in das Neue Testament
  3. arrow      Der Begriff »Neues Testament«
  4. arrow      Die Textüberlieferung
  5. arrow      Aufbau und Entstehung des neutestamentlichen Kanons
  6. arrow      Textausgaben, Übersetzungen und Hilfsmittel
  7. arrow      Materielle Relikte aus neutestamentlicher Zeit
  8. II. Methoden der Textanalyse
  9. arrow      Textkritik
  10. arrow      Literarkritik (synchrone und diachrone Textanalyse)
  11. arrow      Traditionskritik
  12. arrow      Religionsgeschichtlicher Vergleich
  13. arrow      Formkritik
  14. arrow      Redaktionskritik
  15. III. Ausgewählte hermeneutische Zugänge
  16. arrow      Existenziale Hermeneutik
  17. arrow      Biblische Theologie
  18. arrow      Evangelikales Schriftverständnis
  19. arrow      Feministische Hermeneutik und Genderforschung
  20. arrow      Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
  21. arrow      Tiefenpsychologische Zugänge zur Bibel
  22. arrow      Rezeptionsästhetik
  23. arrow      Wirkungsgeschichtliche Bibelauslegung
  24. IV. Der zeitgeschichtliche Kontext des Neuen Testaments
  25. arrow      Beginn der römischen Herrschaft über Judäa
  26. arrow      Das Königreich von Herodes dem Großen
  27. arrow      Teilung des Herodesreichs
  28. arrow      Einrichtung der Provinz Judäa
  29. arrow      Die Anfänge des Prinzipats unter den julisch-claudischen Kaisern
  30. arrow      Das Königreich von Herodes Agrippa I.
  31. arrow      Der Jüdische Krieg
  32. arrow      König Agrippa II. und Königin Berenike
  33. arrow      Geschichte des Kaiserreichs von Vespasian bis Hadrian
  34. arrow      Der Bar-Kochba-Aufstand
  35. V. Das antike Judentum
  36. arrow      Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit
  37. arrow      Flavius Josephus
  38. arrow      Die jüdischen Religionsparteien
  39. arrow      Die Qumrangemeinde
  40. arrow      Die Samaritaner
  41. arrow      Das hellenistische Judentum
  42. arrow      Der Tempel
  43. arrow      Das rabbinische Judentum
  44. VI. Jesus von Nazaret
  45. arrow      Geburt und Herkunft Jesu
  46. arrow      Taufe durch Johannes
  47. arrow      Der Ruf in die Nachfolge
  48. arrow      Die Botschaft von der Herrschaft Gottes
  49. arrow      Die Wunder Jesu
  50. arrow      Verkündigung in Gleichnissen
  51. arrow      Freund der Zöllner und Sünder
  52. arrow      Die Haltung zur Tora
  53. arrow      Einzug in Jerusalem und Tempelreinigung
  54. arrow      Das Abschiedsmahl
  55. arrow      Der Prozess Jesu
  56. arrow      Kreuzigung und Grablegung
  57. arrow      Die Auferstehung Jesu
  58. arrow      Jesus in Talmud und Koran
  59. VII. Schlüsselfiguren im Umfeld Jesu
  60. arrow      Maria und Josef
  61. arrow      Johannes der Täufer
  62. arrow      Jakobus
  63. arrow      Simon Petrus (Kephas)
  64. arrow      Maria Magdalena
  65. arrow      Judas Iskarioth
  66. arrow      Herodes Antipas
  67. arrow      Josef Kajafas
  68. arrow      Pontius Pilatus
  69. VIII. Evangelien und Apostelgeschichte
  70. arrow      Die Spruchquelle Q
  71. arrow      Das Markusevangelium
  72. arrow      Das Matthäusevangelium
  73. arrow      Das Lukasevangelium
  74. arrow      Das Johannesevangelium
  75. arrow      Die Apostelgeschichte
  76. IX. Geschichte des Urchristentums
  77. arrow      Die Jerusalemer Urgemeinde
  78. arrow      Die Mission der Hellenisten
  79. arrow      Antiochia als Geburtsstätte genuinen Christentums
  80. arrow      Verfolgung der Urgemeinde unter Herodes Agrippa I.
  81. arrow      Apostelkonvent und antiochenischer Streit
  82. arrow      Die Lebenswelt des hellenistischen Christentums
  83. arrow      Die paulinischen Gemeinden
  84. arrow      Anfeindungen seitens des Staates und der Gesellschaft
  85. arrow      Das weitere Schicksal der Urgemeinde und des Judenchristentums
  86. arrow      Die Anfänge der christlichen Gnosis
  87. X. Paulus von Tarsus
  88. arrow      Probleme der Chronologie
  89. arrow      Der vorchristliche Paulus
  90. arrow      Das Damaskuserlebnis
  91. arrow      Die »unbekannten Jahre« im Leben des Apostels
  92. arrow      Paulus in Antiochia
  93. arrow      Der Aufbruch nach Europa
  94. arrow      Paulus in Ephesus
  95. arrow      Letzte Jerusalemreise und Gefangennahme
  96. arrow      Das Ende des Paulus
  97. XI. Mitarbeiter des Paulus und Förderer seiner Mission
  98. arrow      Josef Barnabas
  99. arrow      Philippus der Evangelist
  100. arrow      Silas (Silvanus)
  101. arrow      Titus
  102. arrow      Timotheus
  103. arrow      Priscilla und Aquila
  104. arrow      Apollos
  105. arrow      Andronikus und Junia
  106. arrow      Johannes Markus
  107. arrow      Epaphras
  108. XII. Die Paulusbriefsammlung
  109. arrow      Der Römerbrief
  110. arrow      Der erste Korintherbrief
  111. arrow      Der zweite Korintherbrief
  112. arrow      Der Galaterbrief
  113. arrow      Der Epheserbrief
  114. arrow      Der Philipperbrief
  115. arrow      Der Kolosserbrief
  116. arrow      Der erste Thessalonicherbrief
  117. arrow      Der zweite Thessalonicherbrief
  118. arrow      Der erste Timotheusbrief
  119. arrow      Der zweite Timotheusbrief
  120. arrow      Der Titusbrief
  121. arrow      Der Philemonbrief
  122. arrow      Der Hebräerbrief
  123. XIII. Katholische Briefe und prophetisches Buch
  124. arrow      Der Jakobusbrief
  125. arrow      Der erste Petrusbrief
  126. arrow      Der zweite Petrusbrief
  127. arrow      Der erste Johannesbrief
  128. arrow      Der zweite Johannesbrief
  129. arrow      Der dritte Johannesbrief
  130. arrow      Der Judasbrief
  131. arrow      Die Johannesoffenbarung
  132. XIV. Blick auf die außerkanonischen Schriften
  133. arrow      Apostolische Väter und verwandte Schriften
  134. arrow      Apokryphe Evangelien
  135. arrow      Apokryphe Apostelakten
  136. arrow      Apokryphe Apokalypsen
  137. XV. Thematische Querschnitte durch das Neue Testament
  138. arrow      Wundererzählungen
  139. arrow      Gleichnisse
  140. arrow      Die Bergpredigt
  141. arrow      Taufe
  142. arrow      Abendmahl
  143. arrow      Konzeptionen der Christologie
  144. arrow      Deutungen des Todes Jesu
  145. arrow      Auferstehung der Toten
  146. XVI. Grundthemen der neutestamentlichen Ethik
  147. arrow      Nächstenliebe und Gewaltverzicht
  148. arrow      Ehe und Ehescheidung
  149. arrow      Homosexualität
  150. arrow      Kinder
  151. arrow      Eigentum
  152. arrow      Sklaverei
  153. arrow      Verhältnis zum Staat
  154. XVII. Anhang
  155. arrow      Ausgewählte Literatur
  156. arrow      Glossar
  157. arrow      Zeittafel
  158. arrow      Landkarten

Vorwort

Angenommen, man besitzt nur ein einziges Buch zum Neuen Testament – was sollte darin nach Möglichkeit enthalten sein? Mit dieser Fragestellung im Hinterkopf begann in mir vor einigen Jahren die Idee zur Abfassung des vorliegenden Werkes »Neues Testament kompakt« zu reifen und schließlich auch Gestalt anzunehmen. Herausgekommen ist am Ende ein Lehrbuch, das einen weiten Bogen schlägt, in alle studienrelevanten Bereiche des Neuen Testaments einführt und mit seiner äußeren Gestaltung den veränderten Lesegewohnheiten entgegenzukommen sucht.

Der Band ist darum bemüht, in möglichst allgemeinverständlicher Form sämtliche mit dem Neuen Testament verbundenen Themenfelder abzudecken, die mir im Laufe meiner mittlerweile fast drei Jahrzehnte umfassenden Lehrtätigkeit an unterschiedlichen Universitäten wichtig geworden sind. Neben einer Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments bietet das Buch biographische Portraits der wichtigsten Personen des Neuen Testaments und trägt der Einsicht Rechnung, dass Geschichte durch den Blick auf die hinter ihr stehenden Menschen konkret und anschaulich wird. Dabei sind Jesus und Paulus eigene Kapitel gewidmet. Die wichtigsten Methoden der Textanalyse und zentrale hermeneutische Zugänge zum Neuen Testament werden vorgestellt. Hinzu kommen Überblicke zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, zur Umwelt des Neuen Testaments und zur Geschichte des Urchristentums. Ein Ausblick auf das außerkanonische Schrifttum, aus dessen Bereich die gnostischen Evangelien in der populärwissenschaftlichen Sensationsliteratur immer wieder eine zentrale Rolle spielen, schärft das Bewusstsein für den Reichtum und die Vielfalt der frühchristlichen Glaubensvorstellungen. Querschnittartige Überblicke zu ausgewählten theologischen und ethischen Themen des Neuen Testament beschließen das Werk. Dass man dabei keine erschöpfende Abhandlung aller zentralen Punkte erwarten kann, versteht sich von selbst. Das Buch vermeidet bewusst allzu weitläufige Ausflüge in die auf vielen Feldern kaum noch überschaubare wissenschaftliche Diskussion. Quellenangaben und Verweise wurden um der Klarheit der Darstellung willen auf ein Minimum beschränkt. Bei weitergehendem Interesse hilft die im Anhang angeführte Sekundärliteratur weiter.

Bei der Erstellung des Buches habe ich in unterschiedlicher Weise Hilfe und Unterstützung erfahren. Bruce Harwood (H.I.M. Harwood Illustration & Media GmbH, Wolfsburg) hat mir Tipps zur Gestaltung der graphischen Übersichten gegeben. Katharina Stillger, Dominik Neben und ganz besonders Andreas Kiehn danke ich für ihre Mithilfe beim Korrekturlesen. Jürgen Schneider und Florian Specker vom Kohlhammer-Verlag haben die Entstehung des Buches konstruktiv und geduldig begleitet. Gewidmet ist das Buch dem Andenken von Dieter Zeller, mit dem mich seit einem gemeinsamen Forschungsaufenthalt in Chicago Anfang der 1990er Jahre ein anregender fachlicher Austausch und ein freundschaftliches Verhältnis verbunden haben.

Siegen und Wolfsburg, im April 2014

Bernd Kollmann

I. Einführung in das Neue Testament

arrow Literaturgattungen im Neuen Testament arrow

Das Neue Testament bildet gemeinsam mit dem Alten Testament die christliche Bibel. Es umfasst eine Auswahlsammlung von 27 Schriften, die sich in den ersten Jahrhunderten n. Chr. als zweiter Teil der Heiligen Schrift herauskristallisierten. Das Korpus der zum Neuen Testament gewordenen Schriften des frühen Christentums umfasst die Literaturgattungen Evangelium, Apostelgeschichte, Brief und Apokalypse. Zu diesen Formen findet sich in der urchristlichen Literatur eine Vielzahl weiterer Werke, die entweder aus sachlichen Gründen oder wegen ihrer späten Entstehungszeit nicht in den Bibelkanon aufgenommen wurden. Man bezeichnet diese Schriften als die Neutestamentlichen Apokryphen. Die im Neuen Testament vertretenen Literaturgattungen sind überwiegend keine völligen Neuschöpfungen, sondern haben eine Vorgeschichte. Die Gattung Evangelium besitzt zwar unverwechselbare Züge und kann daher als literarisches Novum gelten, weist aber Parallelen zur hellenistischen Biographie auf. Die Apostelgeschichte orientiert sich bei aller Originalität in vielerlei Hinsicht an den stilistischen Merkmalen der griechisch-römischen Historiographie. Die Autoren der neutestamentlichen Briefe folgen im Blick auf die äußere Form bzw. den Rahmen in hohem Maße den Konventionen der antiken Briefliteratur. Die literarische Form der Apokalypse mit Enthüllung des geschichtlichen Heilsplanes Gottes, die im Neuen Testament allein durch die Johannesoffenbarung vertreten ist, entwickelte sich im antiken Judentum und hielt von dort Einzug in das christliche Schrifttum.

arrow Der Begriff »Neues Testament«

arrow Alter Bund und neuer Bund arrow

Im Hintergrund des Begriffs »Neues Testament« steht die Verheißung eines neuen Bundes durch den Propheten Jeremia (Jer 31,31-34). In der griechischen

Das »Neue Testament« enthält die 27 heiligen Schriften des »neuen Bundes«

Übersetzung des Jeremiabuches wird das hebräische Wort für Bund (berit) mit diatheke wiedergegeben, das auch Anordnung oder Verfügung heißt. Daher wählten die lateinischen Bibelübersetzer an dieser Stelle das Wort testamentum. Während Jeremia den neuen Bund als neuerliche Zuwendung Gottes an sein erwähltes Volk Israel verstand, haben frühchristliche Schriftsteller wie Paulus und der Autor des Hebräerbriefes diese prophetische Verheißung auf das endzeitliche Handeln Gottes im Christusgeschehen bezogen. Im 2. Jh. n. Chr. wurde die Aussage vom neuen Bund (lat. novum testamentum) zum Fachbegriff für den zweiten Teil der christlichen Bibel und zog gleichzeitig eine Betrachtung der heiligen Schriften Israels als Altes Testament nach sich. Diese Entwicklung ist durch die paulinische Gegenüberstellung eines alten Bundes, dessen Kennzeichen die in Stein gehauenen Buchstaben des Mosegesetzes sind, und eines neuen Bundes, der sich im Christusgeschehen verwirklicht hat, begünstigt worden (2Kor 3,6-15).

arrow Keine Abwertung des Alten Testamentes arrow

Wenn der Begriff Neues Testament zur Bezeichnung des hebräischen Bibelkanons als Altes Testament führte, ist dies alles andere als unproblematisch. Die neutestamentlichen Autoren kennen keine Kategorisierung der heiligen Schriften Israels als »alt«. Sie ist erst im Rahmen der Abgrenzung der Kirche vom Judentum entstanden und nicht selten mit negativen Konnotationen verbunden, indem sie eine Abwertung des Judentums und eine Betrachtung seiner heiligen Schriften als alt im Sinne von überholt beinhaltet. Vielfach gibt es daher die Forderung, sich von dem Begriffspaar »Altes und Neues Testament« völlig zu verabschieden und es durch »Erstes und Zweites Testament« oder »Hebräische und Griechische Bibel« zu ersetzen. Wenn aus Traditionsverbundenheit an den Begriffen Altes und Neues Testament festgehalten wird, kann dies nur unter der Prämisse geschehen, dass »alt« dabei ohne jeden abwertenden Bedeutungsgehalt im Sinne von »altehrwürdig« gemeint ist und die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament nicht als Gegensatz, sondern als Entsprechung verstanden wird. Beide Testamente sind durch ein und denselben Gott verbunden, von dem sie in jeweils unterschiedlicher Weise Zeugnis geben. Als erster Teil der christlichen Bibel gewinnen die heiligen Schriften Israels eine neue Bedeutung, indem durch ihre Voranstellung das im Neuen Testament dokumentierte Handeln Gottes in Jesus Christus in den heilsgeschichtlichen Kontext der Erschaffung der Welt und der Bundesgeschichte mit Israel eingefügt wird.

arrow Die Textüberlieferung

arrow Probleme der Textüberlieferung arrow

Alle 27 Schriften des Neuen Testaments sind von ihren Autoren in griechischer Sprache niedergeschrieben worden. Von keiner einzigen Schrift ist allerdings das Original erhalten. Wir verfügen nur über handschriftliche Kopien aus späterer Zeit. Diese lassen sich in Papyri, Majuskeln, Minuskeln und Lektionare unterteilen. Der Text galt in den ersten Jahrhunderten keineswegs als unantastbar. Die

Mangelnde Sorgfalt oder willkürliche Eingriffe der Kopisten führten zur Verfälschung des Bibeltextes

Kopisten sind nicht immer penibel ihren Vorlagen gefolgt, sondern haben sich die Freiheit genommen, den Bibeltext durch Kürzungen, Ergänzungen oder Kommentare zu verändern, ohne dies kenntlich zu machen. So konnte sich der Text in der Frühzeit der Kirche frei entfalten. Hinzu kommen Abschreibfehler oder versehentliche Auslassungen. Origenes beklagt im frühen 3. Jh. n. Chr. die großen Unterschiede in den Bibelhandschriften, welche die Kopisten durch nachlässiges Arbeiten oder unverfrorene Eingriffe in den Text verursacht hätten (Orig., comm. Mt 15,14). Die Bibelwissenschaft steht daher vor dem Problem, aus den ungefähr 5500 erhaltenen und sich zum Teil erheblich voneinander unterscheidenden handschriftlichen Zeugen für den neutestamentlichen Text dessen ursprüngliche Gestalt zu rekonstruieren. Diese Aufgabe bezeichnet man als Textkritik.

arrow Papyri als älteste Textzeugen arrow

Die ältesten entdeckten Textzeugen sind Papyri aus dem 2. und 3. Jh. n. Chr., die aber nur Teilstücke des Neuen Testamentes wiedergeben und in der Regel stark beschädigt sind. Papyrus war in der Antike ein relativ preiswertes und daher weit verbreitetes Beschreibmaterial. Für seine Herstellung wurde das Mark der Papyrusstaude verwendet, einer vor allem in Ägypten am Nil gedeihenden Sumpfpflanze. Papyrus zeichnet sich zwar grundsätzlich durch eine erstaunliche Haltbarkeit aus, beginnt aber unter dem Einfluss von Feuchtigkeit sich zu zersetzen und zu verrotten. Die alten Papyri sind noch keine Vollbibeln, sondern bieten nur einzelne Schriften oder Schriftengruppen des Neuen Testaments. Der älteste erhaltene Textzeuge fÜr das Neue Testament, der Papyrus 52 aus der Zeit um 125 n. Chr., enthält nur wenige Sätze aus Joh 18. Dieser Papyrusfetzen ist das einzige überbleibsel einer Handschrift, die einst das gesamte Johannesevangelium umfasste. Von herausragender Bedeutung für die Evangelien sind die Bodmer-Papyri 66 und 75, für die Paulusbriefe der Chester-Beatty-Papyrus 46, die alle aus der Zeit um 200 n. Chr. stammen.

arrow Majuskel-Handschriften arrow

Ab dem 4. Jh. n. Chr. setzte sich zunehmend Pergament als Beschreibstoff durch, das aus Tierhaut gewonnen wurde und ungleich beständiger als Papyrus ist. Der Siegeszug des im Vergleich mit Papyrus deutlich teureren Pergaments hängt auch mit der Konstantinischen Wende zusammen, die das zuvor noch verfolgte Christentum zur staatlich privilegierten Religion werden ließ. Kaiser Konstantin selber gab im Jahr 330 n. Chr. im Zuge der formellen Einweihung von Konstantinopel die Anfertigung von 50 Bibeln auf Staatskosten in Auftrag, nachdem in der letzten großen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian unzählige Bibelhandschriften vernichtet worden waren. Die in griechischen Großbuchstaben

Für eine Bibel aus Pergament wurde das Fell von etwa 400 Tieren benötigt

geschriebenen Pergamenthandschriften, in der Regel bereits Vollbibeln, bezeichnet man als Majuskeln. Für eine Vollbibel waren nahezu 400 große Tierhäute notwendig, die sorgfältig präpariert werden mussten, bevor sie als Beschreibmaterial dienen konnten. Die beiden ältesten griechischen Majuskel-Handschriften, die den gesamten Text des Neuen Testaments enthalten und zudem das Alte Testament in griechischer Version voranstellen, sind der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus. Der aus dem 4. Jh. n. Chr. stammende Codex Sinaiticus wurde im 19. Jh. von Konstantin Tischendorf unter spektakulären Begleitumständen im Katharinenkloster auf dem Sinai entdeckt. Während Teile des Alten Testaments fehlen, ist das Neue Testament vollständig erhalten geblieben. Von der Bedeutung her vergleichbar ist der ähnlich alte Codex Vaticanus, der von seiner Textqualität her sogar noch etwas höher einzuschätzen ist, allerdings in einzelnen Teilen des Neuen Testaments wie den Paulusbriefen oder dem Hebräerbrief erhebliche Beschädigungen aufweist. Der Codex Vaticanus wird seit 1475 im Inventarverzeichnis der Bibliothek des Vatikans geführt und schlummerte dort vor sich hin, bis man im frühen 19. Jh. seine Bedeutung für die Rekonstruktion des ursprünglichen Bibeltextes erkannte und sich wissenschaftlich für ihn zu interessieren begann.

arrow Majuskel-Handschriften arrow

Als Minuskeln bezeichnet man solche Handschriften des Neuen Testaments, die in griechischen Kleinbuchstaben geschrieben sind. Die Minuskeln setzen im 9. Jh. ein und sind zunächst noch aus Pergament gefertigt, das dann ab dem 12. Jh. zunehmend durch Papier als Beschreibstoff verdrängt wird. Die ganz große Mehrzahl der Minuskeln enthält den sogenannten byzantinischen Reichstext, der nach heutigen Kenntnissen eine relativ schlechte Textform darstellt. Etwa ein Zehntel der Minuskeln bietet dagegen eine alte und wertvolle Textform, die sich ohne Weiteres mit dem Text der Papyri und Majuskeln messen kann. Dazu zählt die Minuskel 33, eine in Paris aufbewahrte Handschrift aus dem 9. Jh., die auch als Königin der Minuskeln bezeichnet wird.

arrow Lektionare und alte übersetzungen arrow

Zu den rund 3000 erhaltenen griechischen Papyri, Majuskeln und Minuskeln zum Neuen Testament gesellen sich weit über 2000 Lektionare, die eine Zusammenstellung von Bibeltexten für die Lesung im Gottesdienst bieten. Ihre Bedeutung für die Rekonstruktion des ursprünglichen Textes des Neuen Testaments ist allerdings gering. Weniger wegen seines Textwertes als wegen seiner Geschichte berühmt ist das Argos-Lektionar aus dem 9. Jh., das in der Zeit der Prohibition

Das Argos-Lektionar diente Al Capone und anderen Gangsterbossen Chicagos als Schwurbibel

von den Gangsterbossen Chicagos als Schwurbibel benutzt wurde und sich heute im Besitz der University of Chicago befindet. Auch alte Übersetzungen des Neuen Testaments aus dem Griechischen in das Syrische, Koptische oder Lateinische werden ebenso wie Schriftzitate der Kirchenväter in die Rekonstruktion des Urtextes einbezogen, da sie in Einzelfällen auf einer wertvolleren Textform basieren können, als sie von den erhaltenen griechischen Bibelhandschriften geboten wird.

arrow Kodex statt Schriftrolle arrow

Mit der Form des Kodex setzte das Christentum von Anfang an eigene Akzente. Die Literatur der Antike ist ganz überwiegend in Form von Schriftrollen überliefert. Einzelblätter aus Papyrus oder Leder wurden in gewünschter Länge zu einer Bahn zusammengeklebt, mit dem Text beschrieben und dann aufgerollt. Dieses Verfahren ist mit Nachteilen behaftet. Dadurch, dass die Rolle in aller Regel nur auf der Innenseite beschrieben ist, wird die Hälfte des zur Verfügung stehenden Platzes verschenkt. Zudem sind Rollen recht sperrig, was die Aufbewahrung oder den Transport erschwert. Die christlichen Bibelhandschriften sind dagegen alle in Kodexform erstellt, die bis heute für Bücher oder Hefte gebräuchlich ist. Dazu nahm man einen Stapel von Papyrus- oder Pergamentblättern und faltete ihn in der Mitte zu einem Bogen. Jedes Blatt wurde auf der Vorder- und Rückseite beschrieben. Am Ende wurden die Bögen mit Fäden zusammengeheftet und zu einem Buch gebunden. Ein Nachteil bestand darin, dass der Umfang des Buches vorher genau berechnet werden musste, um die Menge des benötigten Beschreibstoffes abschätzen und die Lagen passend anordnen zu können. Bei einer Schriftrolle hingegen konnte bei Bedarf immer eine weitere Bahn angeklebt werden. Dass das Christentum von Anfang an die Kodexform bevorzugte, dürfte maßgeblich zur schnellen Verbreitung der Bibel beigetragen haben. Der Kodex bot ökonomische und logistische Vorteile. Einerseits wurden die kostbaren Seiten beim Beschreiben voll ausgenutzt. Andererseits entstanden kompakte Bibeln, die sich nicht nur gut transportieren und aufbewahren ließen, sondern auch beim Lesen und Nachschlagen bequemer handhabbar waren.

arrow Handschriftenfamilien mit unterschiedlichem Textwert arrow

Bei der wissenschaftlichen Untersuchung der weit über 5000 erhaltenen griechischen Handschriften des Neuen Testaments haben sich bestimmte Textfamilien mit unterschiedlichem Wert herauskristallisiert. An der Spitze rangiert der alexandrinische Text, der beispielsweise von dem Codex Sinaiticus, dem Codex Vaticanus und der Minuskel 33 repräsentiert wird. Die Bezeichnung als alexandrinischer Text verdankt sich der Tatsache, dass die Kirchenväter Clemens, Origenes, Dionysios und Kyrill aus dem ägyptischen Alexandria in ihren Schriftzitaten diese Form des Textes bieten. Der sogenannte westliche Text, als dessen Hauptvertreter der Codex Bezae Cantabrigiensis und der Codex Claromontanus gelten, ist von deutlich schlechterer Qualität, da sich an vielen Stellen sekundäre Erweiterungen, Kürzungen oder Neuformulierungen nachweisen lassen. Auch der wegen seiner allgemeinen Verbreitung so genannte Koinetext oder byzantinische Reichstext, den etliche Majuskeln und die überwältigende Mehrheit der Minuskeln bieten, kann sich qualitativ nicht mit dem alexandrinischen Text messen. Er ist durch das Bemühen um die Glättung sprachlicher Härten und inhaltlicher Spannungen gekennzeichnet.

arrow Aufbau und Entstehung des neutestamentlichen Kanons

arrow Der Bibelkanon arrow

Die in sich geschlossene Sammlung jener biblischen Schriften, die aufgrund bestimmter Auswahlkriterien als Heilige Schrift verbindliche Autorität für die Kirche gewonnen haben, bezeichnet man als Kanon. Das aus dem Griechischen stammende Wort bedeutet so viel wie »Maßstab« oder »Richtschnur«. Beim Bibelkanon geht es also darum, welche Schriften den Maßstab oder die Richtschnur für den Glauben darstellen sollen. Der Kanon des Alten Testaments und der Kanon

Kanon bedeutet »Maßstab« oder »Richtschnur«

des Neuen Testaments blicken auf eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte zurück. Den Kanon des Alten Testaments hat das Christentum vom Judentum übernommen. In den Kirchen der Reformation wurde dabei das Alte Testament in Form der hebräischen Bibel, in der römisch-katholischen Kirche dagegen in Form der umfangreicheren lateinischen Bibel (Vulgata) zur Heiligen Schrift.

arrow Wachstum des Kanons aus vier Teilsammlungen arrow

Die Festlegung des neutestamentlichen Kanons war ein ebenso komplexer wie kontroverser Prozess, der sich über einen längeren Zeitraum hinzog und im 4. Jh. n. Chr. zum Abschluss kam. Jedes der 27 Bücher des Neuen Testaments wurde als Einzelschrift verfasst und stellte ursprünglich eine Einheit für sich dar. Keiner der neutestamentlichen Autoren konnte damit rechnen, dass seine Schrift einmal die Zeiten überdauern und Bestandteil eines Bibelkanons werden würde. Der Kanon entstand nicht auf einen Schlag, sondern ist das Ergebnis eines Wachstums, das sich in mehreren Etappen vollzog. Zunächst bildeten sich durch die Zusammenstellung verwandter Schriften in Gruppen so etwas wie Keimzellen heraus, die dann ihrerseits am Ende zum Kanon zusammenwuchsen. Man kann vier solcher Keimzellen oder Bausteine des neutestamentlichen Bibelkanons unterscheiden.

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arrow Sammlung von Paulusbriefen arrow

Die erste wichtige Etappe auf dem Weg zur Kanonbildung bestand darin, dass man in den Gemeinden Paulusbriefe sammelte und weitergab. Neben den dreizehn unter dem Namen des Paulus überlieferten Briefen wurde dazu meist auch der Hebräerbrief gerechnet, der keine Angaben zu seinem Verfasser macht. Der Inhalt der eigentlich nur an bestimmte Gemeinden oder Personen gerichteten Briefe des Apostels Paulus wurde im frühen Christentum als derart bedeutsam betrachtet, dass er auch außerhalb des eigentlichen Adressatenkreises Verbreitung finden sollte. Am Ende des Kolosserbriefes (Kol 4,16) fordert der Autor ausdrücklich dazu auf, sein Schreiben auch der Nachbargemeinde in Laodizea zugänglich zu machen und sich umgekehrt eine Kopie des an die dortige Gemeinde gerichteten Briefes zu besorgen, der allerdings nicht erhalten blieb. Wer einen Brief vom Apostel Paulus empfangen hatte, bewahrte diesen demnach nicht nur sorgfältig auf, sondern tauschte auch mit benachbarten Gemeinden Abschriften aus. Dies führte dazu, dass viele Kirchengemeinden bald eine mehr oder weniger umfangreiche Sammlung von Paulusbriefen ihr Eigen nennen konnten. Der um das Jahr 95 in Rom verfasste erste Clemensbrief zitiert nicht nur aus dem Römerbrief, sondern bietet auch Anklänge an den ersten Korintherbrief und den Hebräerbrief. Auch der Autor des zweiten Petrusbriefes hatte Zugriff auf ein Archiv von Paulusbriefen (2Petr 3,16). Etwa um die Mitte des 2. Jh. n. Chr. war die Sammlung jener 13 oder 14 Briefe (je nachdem, ob man den Hebräerbrief einschloss) vollständig, die von Paulus selber geschrieben wurden oder für die

Die Gemeinden tauschten Abschriften von Paulusbriefen untereinander aus

man Paulus als Verfasser reklamierte. Sie erfolgte vermutlich in drei Etappen, wobei der Umfang der einzelnen Briefe das Gliederungsmerkmal darstellte. Zunächst wurden die Briefe an die Römer, die Korinther, die Galater, die Epheser, die Philipper, die Kolosser und die Thessalonicher ihrer Länge nach in absteigender Reihenfolge zusammengestellt. Dann schloss sich eine zweite Teilsammlung mit den an Einzelpersonen – nämlich Timotheus, Titus und Philemon – gerichteten Briefen an. Als letztes wurde der Hebräerbrief, soweit man ihn für paulinisch hielt und zu den heiligen Schriften rechnete, angehängt.

arrow Evangelien, Katholische Briefe und Apokalypse arrow

Im 2. Jh. n. Chr. begann man parallel zu dieser Entwicklung damit, auch Evangelien zu sammeln und in Handschriften zusammenzustellen. Gemeinden, die zunächst nur ein Evangelium kannten oder benutzten, besorgten sich nun Abschriften weiterer Evangelien. Bald kursierten in den Verbreitungsgebieten des frühen Christentums Handschriften mit unseren vier Evangelien, denen man häufig ergänzend die Apostelgeschichte des Lukas beifügte. Eine dritte Keimzelle des neutestamentlichen Bibelkanons ist die Sammlung von sieben sogenannten katholischen Briefen. Katholisch ist hier in dem Sinn gemeint, dass diese Briefe an die gesamte Kirche gerichtet oder in der gesamten Kirche anerkannt sind. Man versteht darunter den Jakobusbrief, die beiden Petrusbriefe, die drei Johannesbriefe und den Judasbrief. Nachdem sich dieses im Umfang zunächst noch offene Korpus als weitere Teilsammlung heiliger Schriften etabliert hatte, wurde ihm in vielen Manuskripten die ursprünglich an die Evangelien angehängte Apostelgeschichte vorangestellt. Die letzte Keimzelle des neutestamentlichen Kanons betrifft die literarische Gattung der Apokalypse. Als kanonisch konnte sich letztendlich nur die im Osten der Kirche lange umstrittene Johannesoffenbarung durchsetzen.

arrow Abschluss der Kanonbildung im 4. Jh. arrow

Aus diesen vier Keimzellen oder Bausteinen bildete sich in der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. ein neutestamentlicher Bibelkanon heraus, über dessen exakten Umfang allerdings im Blick auf den Hebräerbrief, einzelne Katholische Briefe, die Johannesoffenbarung und etliche Schriften, die heute zu den Neutestamentlichen Apokryphen oder Apostolischen Vätern zählen, noch Uneinigkeit herrschte. Unfreiwillig beschleunigt wurde die Kanonbildung durch den Häretiker Markion, der um 140 n. Chr. für seine Gegenkirche eine eigene Bibel aus dem Lukasevangelium und zehn (von angeblichen Zusätzen bereinigten) Paulusbriefen geschaffen hatte. Damit wurde der Großkirche die Aufgabe auferlegt, den Umfang der biblischen Schriften verbindlich zu bestimmen. Neben der umstrittenen Frage, ob man den Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung zu den heiligen Schriften rechnen sollte, war auch die Zahl der Katholischen Briefe noch nicht endgültig festgelegt. Das älteste Kanonverzeichnis, der um 200 n. Chr. entstandene und nach seinem Entdecker benannte Kanon Muratori aus Rom, listet nur drei Katholische Briefe auf, nämlich den Judasbrief und die ersten beiden Johannesbriefe. Umgekehrt standen in vielen Kirchengebieten auch heute weitgehend ins Abseits geratene Werke wie der Barnabasbrief, die Clemensbriefe, die Petrusapokalypse, der Hirt des Hermas oder die Paulusakten im Ansehen heiliger Schriften, ohne

Der Häretiker Markion wurde unfreiwillig zum Katalysator für die Kanonbildung

sich dauerhaft im Bibelkanon etablieren zu können. Der älteste Beleg für den neutestamentlichen Kanon im heutigen Umfang ist der 39. Osterfestbrief des Athanasius von Alexandria aus dem Jahr 367. Nach Anführung aller Bücher des Alten Testaments listet der ägyptische Bischof die 27 Schriften unseres Neuen Testaments auf. Ergänzend erklärt er, dies seien die Quellen des Heils und in ihnen allein werde die Lehre der Frömmigkeit verkündigt. Niemand solle ihnen etwas hinzufügen oder etwas von ihnen wegnehmen. Der Prozess der Kanonbildung war damit weitgehend zum Abschluss gekommen, auch wenn es noch vereinzelte Nachhutgefechte um die Johannesoffenbarung gab, die bis ins frühe Mittelalter in einigen Kirchengebieten strittig war.

arrow Verbindlichkeit des Kanons? arrow

Auf einem anderen Blatt Papier steht die Frage, inwieweit dieser Kanon absolute Verbindlichkeit besitzt. Entscheidender Maßstab für die Aufnahme einer Schrift in den Kanon war, dass man sie durch einen Apostel oder Apostelschüler abgefasst sah. Die kritische Bibelwissenschaft hat allerdings gezeigt, dass die Verfasserangaben der neutestamentlichen Schriften in vielen Fällen in Zweifel zu ziehen sind und die entsprechenden Schriften also gewissermaßen unter falschen Voraussetzungen Einzug in den Kanon hielten. Im Endergebnis kann jedoch die Auswahl der Alten Kirche als geglückt bezeichnet werden. Nur für wenige außerkanonische Schriften wie etwa die Didache, den ersten Clemensbrief oder die Ignatiusbriefe wäre vom heutigen Standpunkt aus ihre Zugehörigkeit zum Kanon als durchaus wünschenswert zu betrachten, während umgekehrt nahezu alle neutestamentlichen Schriften ihre Aufnahme in den Kanon unter inhaltlichen Gesichtspunkten auch verdient haben.

arrow Luthers Sachkritik innerhalb des Kanons arrow

Martin Luther hat den Kanon zwar nicht als solchen in Frage gestellt, aber das rein formale Verständnis von Apostolizität aufgebrochen und innerhalb der Kanongrenzen Sachkritik geübt, indem er die Schriften des Neuen Testaments daran maß, inwieweit sie das Christuszeugnis sachgerecht wiedergeben. Anhand dieses Kriteriums hat er in seiner Bibelübersetzung den Hebräerbrief und den Jakobusbrief eigenmächtig hinter die Johannesbriefe gestellt. Auf diese Weise kommen in der Lutherbibel mit dem Hebräerbrief, dem Jakobusbrief, dem Judasbrief und der Johannesapokalypse jene vier Schriften am Ende des Neuen Testaments zum Stehen, die der Reformator nicht zu den »Hauptbüchern des Neuen Testaments« rechnet, welche »Christum hell und rein darbieten«. Um ihre vermeintliche Unterlegenheit gegenüber den anderen Schriften des Neuen Testaments auszudrücken, hat er ihnen zudem in den Druckausgaben seiner Bibel weder eine Nummer noch eine Seitenzahl zugewiesen. Auch wenn man über Luthers Urteil gespaltener Meinung sein kann, wurde damit die Frage nach der Berechtigung der in der Alten Kirche festgelegten Kanongrenzen aufgeworfen und das Bewusstsein für die Suche nach einer theologischen Mitte des Neuen Testaments geschärft.

arrow Textausgaben, übersetzungen und Hilfsmittel

arrow Notwendigkeit von Hilfsmitteln arrow

Das Neue Testament begegnet uns als eine komplexe Sammlung von 27 verschiedenen Schriften, die zu einem Buch zusammengebunden sind. Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis lässt die Vielfalt der neutestamentlichen Schriften in Form wie Inhalt erkennen und vermittelt einen Eindruck davon, von welchen ganz unterschiedlichen Themen und Absichten die einzelnen neutestamentlichen Schriftsteller geleitet werden. Wer mit dem Neuen Testament arbeiten will, muss sich mit dessen Aufbau vertraut machen und kann für das Verstehen des Textes auf eine ganze Reihe von Hilfsmitteln zurückgreifen.

arrow Beschäftigung mit dem griechischen Urtext des NT arrow

Die Standardausgabe für den griechischen Urtext des Neuen Testaments ist das Novum Testamentum Graece (28. Auflage) des »Instituts für Neutestamentliche Textforschung« in Münster. Diese auch als Nestle-Aland bekannte Edition bietet eine von Fachleuten rekonstruierte Form des Bibeltextes, wie sie sich in keiner einzelnen Handschrift wiederfindet. Im Fußnotenbereich findet sich ein für die Gesamtüberlieferung repräsentativer kritischer Apparat, der die wichtigsten Textzeugen benennt und über abweichende Lesarten mit ihrer Bezeugung informiert. Das Werk wird mit einem abgespeckten textkritischen Apparat auch als

Die weltweit führende Textausgabe des Neuen Testaments kommt aus Münster

Greek New Testament vertrieben und liegt weltweit nahezu allen wissenschaftlich verantworteten Übersetzungen zu Grunde. Umfassende Informationen zur Vielfalt der Überlieferung des Neuen Testaments in seiner griechischen Ursprache bietet das ebenfalls in Münster erarbeitete, allerdings noch nicht vollständig vorliegende Novum Testamentum Graecum. Editio critica maior. Bei der Beschäftigung mit dem Urtext des Neuen Testaments leisten das Griechisch-deutsche Wörterbuch zum Neuen Testament von Walter Bauer/Kurt Aland und der Neue sprachliche Schlüssel zum griechischen Neuen Testament von Wilfrid Haubeck/Heinrich von Siebenthal wichtige Dienste.

arrow Deutsche Übersetzungen des Neuen Testamentes arrow

Da die große Mehrzahl der am Neuen Testament Interessierten nicht Über die sprachlichen Fähigkeiten verfügt, die Bibel im Original lesen zu können, stellt sich die Frage nach geeigneten Übersetzungen. Da jede Übersetzung bereits eine Interpretation des Bibeltextes enthält und die Orientierung am griechischen Urtext unterschiedlich eng ausgeprägt ist, ist es keineswegs gleichgültig, mit welcher deutschen Bibel man arbeitet. Zudem bestehen große Unterschiede, inwieweit die einzelnen Bibelausgaben auch weiterführende Hilfen in Form von Querverweisen, Sacherklärungen, Landkarten, Zeittafeln u.ä. bieten. Die am weitesten verbreiteten deutschen Bibelübersetzungen sind die Lutherbibel, die Einheitsübersetzung und die Neue Zürcher Bibel. Wer über den Bibeltext hinaus umfassende weitere Informationen sucht, greift in der Regel zur Stuttgarter Erklärungsbibel oder zur Elberfelder Bibel. Besonders stark um textgetreue Wörtlichkeit bemühte Übertragungen wie die Interlinearübersetzung und das Münchner Neue Testament müssen zwangsläufig deutliche Abstriche hinsichtlich eines grammatikalisch korrekten deutschen Textes machen. Einzelne der genannten Übersetzungen stehen in den Internet-Portalen der Deutschen Bibelgesellschaft und des Katholischen Bibelwerks auch unentgeltlich als Online-Bibeln zur Verfügung. Zudem haben Neutestamentler wie Ulrich Wilckens, Klaus Berger oder Gerd Lüdemann Übersetzungen des Neuen Testaments erarbeitet, die sich eng am Urtext bewegen. Modernere Bibelübersetzungen in zeitgemäßer Sprache wie Gute Nachricht oder Hoffnung für alle gehen dagegen zwangsläufig recht frei mit dem Urtext um. Eigene Akzente setzt die allerdings kontrovers diskutierte Bibel in gerechter Sprache, die sich um geschlechtergerechte inklusive Sprache, soziale Gerechtigkeit und Gerechtigkeit gegenüber dem Judentum bemüht.

arrow Wichtige Hilfsmittel zur Erforschung der Texte arrow

Der Inhalt und Aufbau der neutestamentlichen Schriften lässt sich mit Hilfe von Lehrbüchern zur Bibelkunde bequem erschließen. Für ein intensiveres Arbeiten an den Texten erweisen sich weitere Hilfsmittel wie Konkordanzen, Synopsen, Wörterbücher, Bibellexika und Bibelkommentare als unentbehrlich. Konkordanzen sind alphabetische Verzeichnisse und ermöglichen es, das Vorkommen bestimmter Wörter in der Bibel zu überprüfen. Als Synopse (»Zusammenschau«) bezeichnet man ein Buch, in dem die Paralleltexte der Evangelien in Spalten nebeneinander abgedruckt sind und sich auf diese

Synopsen ermöglichen den bequemen Vergleich paralleler Evangelientexte

Weise bequem miteinander vergleichen lassen. Deutschsprachige Konkordanzen und Evangeliensynopsen liegen für die Lutherbibel, die Einheitsübersetzung und die Neue Zürcher Bibel vor. Selbstverständlich gibt es auch zum Novum Testamentum Graece eine Konkordanz wie eine Evangeliensynopse. Für Begriffserklärungen, vertieftes Hintergrundwissen und archäologische Informationen stellen Wörterbücher und Bibellexika wie Anchor Bible Dictionary, Encyclopedia of the Bible and Its Reception, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Herders neues Bibellexikon, Neues Bibellexikon, Theologisches Begriffslexikon zur Bibel und Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament eine wichtige Hilfe dar. Hinzu kommt als Online-Angebot der Deutschen Bibelgesellschaft das WiBiLex (Wissenschaftliches Bibellexikon).

arrow Bibelkommentare arrow

Mehr oder weniger umfassende Informationen zu den Texten und meist auch weiterführende Literaturangaben werden von neutestamentlichen Bibelkommentaren geboten. Zu den wichtigsten Kommentarreihen zählen Anchor Bible (AncB), Das Neue Testament Deutsch (NTD), Die Neue Echter Bibel (NEB), Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament (EKK), Handbuch zum Neuen Testament (HNT), Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament (HThKNT), Hermeneia, International Critical Commentary (ICC), Kritisch-exegetischer Kommentar zum Neuen Testament (KEK), Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament (ÖTK), Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament (PKNT), Regensburger Neues Testament (RNT), Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament (ThHK), Theologischer Kommentar zum Neuen Testament (ThKNT), World Biblical Commentary (WBC) und Zürcher Bibelkommentar zum Neuen Testament (ZBK.NT). Etliche der genannten Wörterbücher und Bibelkommentare setzen allerdings altgriechische Sprachkenntnisse voraus.

arrow Materielle Relikte aus neutestamentlicher Zeit

arrow Bedeutung materieller Relikte arrow

Materielle Hinterlassenschaften der Antike, darunter Grabanlagen, Kunstwerke, Inschriften, Münzen, Gebrauchsgegenstände, Werke der Architektur oder ganze Siedlungen, eröffnen wichtige Aufschlüsse über soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten aus biblischer Zeit. Zudem üben sie dadurch einen besonderen Reiz aus, dass sie neutestamentliche Texte anschaulich machen. Es ist die Aufgabe der Biblischen Archäologie, diese Befunde freizulegen und zu bewerten. Neben Palästina als Schauplatz der Geschichte Jesu rückt dabei der gesamte östliche Mittelmeerraum als zentrales Ausbreitungsgebiet des neuen Glaubens und Lebenswelt des frühen Christentums in das Blickfeld.

arrow Biblische Archäologie arrow

Die Biblische Archäologie war lange Zeit zu einseitig auf das Heilige Land beschränkt und Grabungen wurden nicht selten instrumentalisiert, um apologetisch die Wahrheit der Bibel zu untermauern. Heute dominiert in der Biblischen Archäologie eine unvoreingenommene Herangehensweise, welche die Grenzen Palästinas programmatisch überschreitet und neue Verständnismöglichkeiten für die Geschichte wie Kulturgeschichte der neutestamentlichen Orte eröffnet. Durch eine ergebnisoffene archäologische Forschung lässt sich ein eigenständiges

Die Biblische Archäologie arbeitet ergebnisoffen und nicht apologetisch

Bild der Lebensverhältnisse in neutestamentlicher Zeit erheben, das über die literarischen Quellen hinausgehend auch zu völlig neuen Einsichten führen kann. Grabungen in Israel, bei denen nicht nur Teile des antiken Jerusalem, sondern auch bedeutsame Städte wie Cäsarea, Sepphoris, Skythopolis oder Kafarnaum freigelegt wurden, vermitteln ein anschauliches Bild von der Lebenswelt Jesu. Durch lokalgeschichtliche Untersuchungen im östlichen Mittelmeerraum sind zudem praktisch alle zentralen Wirkungsstätten des Apostels Paulus archäologisch erschlossen. Zufallsfunde wie das 1986 im See Gennesaret während einer Dürreperiode ans Tageslicht getretene Fischerboot aus den Tagen Jesu oder die in Jerusalem bei Tiefbauarbeiten entdeckten Familiengräber liefern ebenso wie antike Münzen und Gebrauchsgegenstände wichtige Informationen zur Sozial- und Kulturgeschichte der neutestamentlichen Zeit.

arrow Epigraphische Zeugnisse arrow

Unter den epigraphischen Zeugnissen aus neutestamentlicher Zeit ragen der Pilatusstein, eine Bauinschrift des Pontius Pilatus aus Cäsarea mit der exakten Amtsbezeichung des römischen Statthalters von Judäa (praefectus), und der Galliostein, ein in Stein gemeißelter Brief des Kaisers Claudius mit unschätzbarem Wert für die Datierung der paulinischen Mission in Korinth, heraus. Daneben sind u.a. mit Quirinius (Lk 2,2), Sergius Paulus (Apg 13,7), Erastus (Röm 16,23), Agrippa II. (Apg 25,13) und Berenike (Apg 25,13) weitere Personen des Neuen Testaments auf antiken Inschriften erwähnt. Wenn das Jakobusossuar mit der Inschrift »Jakob, Sohn des Josef, Bruder des Jeschua« echt wäre, besäßen wir auch inschriftliche Beweise für Jesus und seinen Bruder Jakobus. Allerdings steht der Besitzer des Ossuars im Verdacht, die Worte »Bruder des Jeschua« hinzugefälscht zuhaben, um den Steinsarg gewinnbringend mit Jesus von Nazaret in Verbindung bringen zu können.

arrow Passionsreliquien arrow

Skepsis ist auch gegenüber den zahlreichen Passionsreliquien angebracht. Beim Grabtuch von Turin ist die Bewertung kontrovers. Während das Leinen einerseits aufgrund eines allerdings höchst umstrittenen Radiocarbontests in das Mittelalter datiert wird, gibt es andererseits ernstzunehmende Indizien, dass darin ein Mann eingehüllt war, der in der Antike in Palästina gekreuzigt wurde. Andere Objekte wie das Schweißtuch der Veronika, der Heilige Rock von Trier oder die Kreuzestafel aus der »Basilika Santa Croce in Gerusalemme« in Rom erweisen sich klar als spätere Fälschungen.

II. Methoden der Textanalyse

arrow Philologische und literaturwissenschaftliche Zugänge arrow

In der Bibelwissenschaft hat sich ein fest umrissener Kanon von Methoden der Textanalyse etabliert, mit deren Hilfe sich das Verständnis neutestamentlicher Texte tiefer erschließen lässt. Dabei handelt es sich überwiegend um philologische und literaturwissenschaftliche Zugänge zu den Texten, wie sie allgemein in allen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich der Beschäftigung mit literarischen Zeugnissen aus Vergangenheit und Gegenwart widmen, zur Anwendung kommen. Den entscheidenden Anstoß zu der als Textkritik bezeichneten Suche nach dem Urtext des Neuen Testaments gab bereits der Humanismus. Eine historisch

Auch biblische Texte müssen sich der Sachkritik stellen

kritische Betrachtung biblischer Texte im engeren Sinne setzte dann mit der Aufklärung ein. Die davon inspirierten Methoden Literarkritik, Traditionskritik, Religionsgeschichtlicher Vergleich, Formkritik und Redaktionskritik sind im 19. und 20. Jh. ausgeprägt worden. Die biblischen Texte werden dabei als von Menschen verantwortete literarische Zeugnisse betrachtet, die sich wie alle überlieferten Texte der Sachkritik zu stellen haben und deren Auslegung mit einer allgemein nachvollziehbaren wie überprüfbaren Methodik erfolgt. In den letzten Jahrzehnten kamen neue methodische Impulse aus der Linguistik und Literaturwissenschaft hinzu, die im Rahmen synchroner Textbetrachtung nach dem Aufbau, der Erzählstruktur und dem »Funktionieren« von Texten fragen.

arrow Textkritik

arrow Aufgabe der Textkritik arrow

In der Textkritik geht es um die Rekonstruktion der ältesten erreichbaren Gestalt des neutestamentlichen Bibeltextes. Die Notwendigkeit der Textkritik ergibt sich dadurch, dass kein einziges der 27 Bücher des Neuen Testaments im Original oder einer wortgetreuen Abschrift des Originals überlebt hat. Die erhaltenen Handschriften sind Kopien aus späterer Zeit, die sich durch fehlerhaftes Abschreiben oder bewusste Korrekturen zum Teil erheblich vom mutmaßlichen Ursprungstext entfernt haben. Vor diesem Hintergrund besteht die Aufgabe der Textkritik darin, aus den unterschiedlichen handschriftlichen Zeugen für das Neue Testament (Papyri, Majuskeln, Minuskeln, Lektionare, alte Übersetzungen) diejenige Textform hypothetisch zu erschließen, die dem Urtext am nächsten kommt. Dazu muss man allerdings über die Fähigkeit verfügen, das Neue Testament im Original lesen und verstehen zu können.

arrow Vollzug der Textkritik arrow

Beim Vollzug der Textkritik wird zu jeder umstrittenen Textstelle der gesamte handschriftliche Befund in seiner Vielfalt gesichtet, um dann anhand bestimmter Kriterien festzulegen, welche der Textvarianten dem ursprünglichen Wortlaut wohl am nächsten kommt. Dabei unterscheidet man zwischen äußeren und inneren Kriterien. In einem ersten Schritt wird die äußere Bezeugung der Textvarianten durch die unterschiedlichen Handschriften festgestellt und bewertet. Dazu sind Grundkenntnisse über Alter und Textqualität der wichtigsten handschriftlichen Zeugen des Neuen Testaments unverzichtbar. Nur eine Lesart, die von allgemein hochwertigen Handschriften bezeugt wird, kommt als ursprünglicher Text in Betracht. Die quantitative Verbreitung einer Lesart oder Textform ist dagegen kein Qualitätskriterium, denn die überwältigende Mehrheit der erhaltenen Bibelhandschriften bietet den qualitativ schlechten »byzantinischen Reichstext«.

arrow Innere Kriterien der Textrekonstruktion arrow

Ergänzend zu der äußeren Bezeugung werden bei der Textrekonstruktion innere Kriterien angelegt. Bewährt hat sich die Einsicht, dass die kürzere Textform dem Urtext meistens näher steht als die längere Textform. Eine Erweiterung, Ergänzung oder Erläuterung des Bibeltextes ist wahrscheinlicher als eine bewusste Auslassung oder Verkürzung. Als im 13. Jh. die Kapiteleinteilung und im 16. Jh. die Verszählung eingeführt wurden, geschah dies auf der Grundlage von Bibelhandschriften, die aus heutiger Sicht eine qualitativ schlechte Textform bieten. In modernen Bibeln sind zahlreiche Abschnitte des Neuen Testaments wie der Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9-20), der Lobpreis Gottes im Vaterunser (Mt 6,13b), die Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 7,53-8,11) oder das Taufbekenntnis des äthiopischen Kämmerers (Apg 8,37) in Klammern gesetzt oder sogar aus dem Haupttext in den Fußnotenbereich verbannt worden, weil wertvolle alte Textzeugen wie der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus sie nicht enthalten. Da nicht vorstellbar ist, dass die alten Handschriften

Beim Kopieren der Bibelhandschriften kam es unabsichtlich oder bewusst zu Veränderungen

diese Textpassagen gestrichen haben, erweist sich die kürzere Textart als die ursprünglichere. Es handelt sich also um Hinzufügungen von Kopisten. Allerdings darf diese Regel nicht mechanisch gehandhabt werden, da es beim Kopieren der Bibelhandschriften durch Unachtsamkeit auch immer wieder zu unbeabsichtigten Auslassungen kam. Eine weitere bewährte Regel lautet, dass die schwierigere Textform meist die ursprünglichere ist. Hier spiegelt sich die Einsicht wider, dass Textpassagen beim Abschreiben eher geglättet als verkompliziert werden. In Mk 1,2 findet sich, obwohl neben Jes 40,3 auch Mal 3,1 zitiert wird, in einem Teil der Textüberlieferung die Einleitungsformel »wie beim Propheten Jesaja geschrieben steht«. Wenn die große Mehrzahl der griechischen Handschriften des Neuen Testaments stattdessen in Mk 1,2 »wie bei den Propheten steht« bietet, handelt es sich um eine nachträgliche Korrektur, der als der einfacheren Lesart bei der Rekonstruktion des ursprünglichen Bibeltextes nicht der Vorzug eingeräumt werden kann.

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