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Franz B. Wember, Roland Stein, Ulrich Heimlich (Hrsg.):

Handlexikon Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

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1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021812-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-025691-0

epub:   ISBN 978-3-17-025692-7

mobi:   ISBN 978-3-17-025693-4

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Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. I Förderschwerpunkte und Störungsbilder
  3. Ängstlichkeit und soziale Unsicherheit
  4. Aggressivität und Gewalt
  5. Analphabetismus
  6. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
  7. Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)
  8. Delinquenz
  9. Depression
  10. Entwicklung
  11. Essstörungen
  12. ICD/ICF (ICF-CY)
  13. Identität und Selbstkonzept
  14. Intelligenz, Kognition
  15. Kompetenz, Kompetenzorientierung
  16. Lernschwierigkeiten, Lernbeeinträchtigung, Lernbehinderung
  17. Lernen
  18. Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten
  19. Migration
  20. Motivation und Lernmotivation
  21. Motorik
  22. Rechenschwierigkeiten
  23. Schulabsentismus
  24. Soziale Benachteiligung
  25. Sprache
  26. Sucht
  27. Verhaltensstörung und Verhaltensauffälligkeit (Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung)
  28. Wahrnehmungsstörungen
  29. II Förderkonzepte und therapeutische Ansätze
  30. Arbeitslehre
  31. Beratung
  32. Berufliche Bildung
  33. Biografiearbeit
  34. Computer und Internet im Unterricht
  35. Differenzierung und Individualisierung
  36. Direkter Unterricht
  37. Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung
  38. Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen
  39. Entdeckendes Lernen
  40. Erlebnispädagogik
  41. Förderdiagnostik
  42. Förderplanung
  43. Förderung der Handlungsregulation
  44. Frühförderung
  45. Gemeinsame Erziehung
  46. Inklusiver Unterricht
  47. Integration in Arbeit
  48. Intensive Erziehungshilfe
  49. Kognitive Verhaltensmodifikation
  50. Kooperatives Lernen
  51. Lebensweltorientierung
  52. Leistungsmessung und Leistungsbewertung
  53. Lernförderung
  54. Lerntherapie
  55. Moralisches Urteilen und Handeln
  56. Offener Unterricht
  57. Prävention von Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen
  58. Projektunterricht
  59. Psychoanalytische Pädagogik
  60. Psychomotorische Förderung
  61. Schulsozialarbeit
  62. Selbstgesteuertes Lernen
  63. Selbstinstruktionstraining
  64. Sensorische Integration
  65. Spielförderung und -therapie
  66. Systemische Förderansätze
  67. Tiergestützte Pädagogik, Förderung und Therapie
  68. Wahrnehmungsförderung
  69. III Förderorte und Organisationsformen
  70. Benachteiligtenförderung
  71. Berufsbildungswerke
  72. Förderschule
  73. Heimschule/Schule und Heim
  74. Inklusive Schulen/Inklusive Schulentwicklung
  75. Jugendarrest
  76. Jugendvollzug
  77. Kooperationsklasse
  78. Schule für Erziehungshilfe
  79. Schule und Frühförderung
  80. Schule und Jugendhilfe
  81. Schule und Kinder- und Jugendpsychiatrie
  82. Sonderpädagogische Beratungsstelle
  83. Sonderpädagogische Diagnose- und Förderklassen
  84. Sonderpädagogisches Förderzentrum (SFZ)
  85. IV Geschichte
  86. Hilfsschule, Hilfsschulkonzeption
  87. Konfessionelle schulische Einrichtungen
  88. Rettungshäuser
  89. Sonderschule für Erziehungshilfe
  90. Sonderschule für Lernbehinderte
  91. V Theoriekonzepte und Grundbegriffe
  92. Autonomie
  93. Behaviorismus
  94. Bildung
  95. Bindung
  96. Empirische Sonderpädagogik
  97. Erziehung
  98. Evidenzbasierte Praxis
  99. Geisteswissenschaftliche (Sonder-)Pädagogik
  100. Gender/Geschlecht
  101. Humanistische Psychologie und Pädagogik
  102. Individualpsychologie
  103. Inklusion
  104. Integration
  105. Konstruktivismus
  106. Kognitive Lernpsychologie
  107. Materialistische Behindertenpädagogik
  108. Ökologie
  109. Partizipation/Teilhabe
  110. Phänomenologische (Sonder-)Pädagogik
  111. Psychoanalyse
  112. Qualitätsmanagement
  113. Risikomodell
  114. Sonderpädagogische Profession
  115. Soziologische Aspekte des Lernens und Verhaltens
  116. Stigmatisierung
  117. Symbolischer Interaktionismus
  118. Systemtheorie
  119. VI Forschungskonzepte
  120. Evaluation
  121. Fallstudie und Einzelfallanalyse
  122. Forschungsdesign
  123. Metaanalyse
  124. Qualitative Methoden
  125. Quantitative Methoden
  126. VII Internationale Aspekte
  127. Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Entwicklungsländern
  128. Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Europa
  129. Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen in Nordamerika
  130. Vergleichende Sonderpädagogik
  131. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  132. Sachregister

 

 

 

 

I         Förderschwerpunkte und Störungsbilder

Einleitung

 

 

»Rem tene, verba sequentur.« Diese Sentenz, die Cato dem Älteren (234–149 A. D.) zugeschrieben wird, bedeutet in freier Übersetzung: Wenn man eine Sache nur richtig verstanden hat, folgen die passenden Worte von allein. Nach Catos Auffassung geht das Verstehen einer Sache deren sprachlicher Beschreibung voraus, das Verstehen ist primär bedeutsam, die Sprache sekundär. Bereits Plautus, ein Zeitgenosse Catos, hatte die Gegenposition formuliert: »Nomen est omen«, frei übersetzt etwa: Der Name ist Programm. In dieser Sicht liefert die sprachliche Bezeichnung einer Sache bereits eine Vorbedeutung und prägt das Vorverständnis des Gegenstandes, den sie bezeichnet.

In wissenschaftlichen Disziplinen kommt der sprachlichen Bezeichnung von Sachverhalten hohe Bedeutung zu: Im Idealmodell des wissenschaftlichen Forschungsprozesses werden in freien und offenen Diskursen durch Rede und Gegenrede strittige Sachfragen geklärt und alle Beteiligten bemühen sich um Begriffe, die möglichst eindeutig und empirisch gehaltvoll sind, die explizit definiert wurden und deren Bedeutungen möglichst überschneidungsfrei abgestimmt worden sind. Es entsteht im wechselseitigen Austausch der Forscherinnen und Forscher eine Fachsprache, die geeignet ist, Sachverhalte eindeutig und nüchtern zu beschreiben, sich über Sachverhalte kritisch auszutauschen und letztendlich zu verständigen. Gleichzeitig dient das Ringen um geeignetes Fachvokabular dem gedanklichen Durchdringen der zu klärenden Sachverhalte.

Eine Fachsprache ist keineswegs nur für die Kommunikation in grundlagenwissenschaftlichen Disziplinen erforderlich, sondern auch und erst recht in angewandten Disziplinen wie der Pädagogik, der Heil- und Sonderpädagogik oder der Inklusiven Pädagogik; denn in angewandten Wissenschaften erschwert ein alltagspraktisch geprägtes Vorverständnis nicht selten das korrekte Verständnis von Fachbegriffen, denen im präzisen wissenschaftlichen Sprachgebrauch andere Bedeutung zukommt als im wenig kontrollierten alltäglichen Sprachgebrauch. Sprachliche Missverständnisse können sich jedoch gerade in angewandten Disziplinen zu persönlichen und sachlichen Missverständnissen ausweiten und zu erhitzt ausgetragenen Debatten führen, die nicht immer ergiebig verlaufen. Das liegt u. a. daran, dass in der angewandten Forschung durchaus aktuell drängende, sozial bedeutsame und praktisch folgenreiche Streitfragen kontrovers diskutiert werden, in denen emotional gefärbte, persönliche Einstellungen und unterschiedliche Zielsetzungen die sachliche Diskussion erschweren. Dies gilt für nahezu alle Fragen der besonderen pädagogischen Förderung, die in den vergangenen 150 Jahren immer wieder neu gestellt und anders beantwortet worden sind, angefangen bei den → Hilfsschulen des 19. Jahrhunderts über die Sonderschulen des 20. Jahrhunderts bis hin zur Inklusiven Schule des 21. Jahrhunderts als der einen Schule für Alle, ausgehend von karitativen Vorstellungen der Hilfe für Behinderte aus Mitleid hin zu einer Hilfe zur Selbsthilfe. In aktuellen Bewegungen wie Empowerment und People First (»Nicht über uns ohne uns«) fordern Menschen mit Behinderungen selbstbewusst ein, die (so genannten) Experten sollten ihre Beiträge selbstkritisch reflektieren und bedenken, dass die betroffenen Menschen mit Behinderungen die ersten Experten und die wichtigsten Akteure in eigener Sache sind.

Das vorliegende Handlexikon will dazu beitragen, in der Heil- und Sonderpädagogik bzw. Inklusionspädagogik ein Fachvokabular zu entwickeln, das die Kommunikation über Sachfragen und die Kommunikation miteinander erleichtert. Als wissenschaftliche Disziplin hat sich die Heil- bzw. Sonderpädagogik interdisziplinär im Spannungsfeld von Kinder- und Jugendpsychologie und -psychiatrie, pädagogischer Psychologie und Entwicklungspsychologie, Lern- und Unterrichtspsychologie, Pädagogik und Sozialwissenschaften entwickelt. Sie musste immer bemüht sein, die leitende Fragestellung einer Pädagogik unter erschwerten Bedingungen nicht aus den Augen zu verlieren und eigene Begriffe zu klären und zu entwickeln. Dies gilt unverändert bis zum heutigen Tage, denn die Disziplin steht seit ihrer Formierung im Fokus wechselnder Sichtweisen und Interessen, gesellschaftlicher Umbrüche und Neuorientierungen. Es gilt, sich über die Bedeutung eingeführter Termini und über Bedeutungsverschiebungen Gedanken zu machen, bewährte Begriffe semantisch zu sichern und obsolet gewordene Begriffe durch neue und bessere Begriffe zu ersetzen. Zentrale Begriffe wie »Inklusion« oder »inklusive Schule« dürfen in den Zeiten radikaler Umbrüche hin zu einer – hoffentlich – inklusiven Gesellschaft ohne Aussonderung nicht zu Schlagwörtern verkommen, die mit zunehmendem Gebrauch an inhaltlicher Prägnanz verlieren und letztendlich zu leeren Worthülsen degenerieren könnten.

Das vorliegende Handlexikon will zur Weiterentwicklung einer wissenschaftlichen Fachsprache beitragen, indem es Fachbegriffe erläutert, die sich auf die zentralen Handlungsfelder der Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen beziehen. Es ergänzt die bestehenden Handlexika zur Behindertenpädagogik (Antor & Bleidick, 2001, 2006; Antor, Beck, Bleidick und Dederich, i. Vorb.) und zur geistigen Behinderung (Theunissen, Kulig & Schirbort, 2007, 2013). Nahezu zwei Drittel der Kinder, denen im deutschen Schulsystem sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird, weisen primär Förderbedarf in den Bereichen des Lernens und des Verhaltens auf und nahezu alle anderen Kinder und Jugendliche mit kognitiven, sensorischen oder motorischen Beeinträchtigungen zeigen in den Bereichen des Lernens, des Erlebens und des Verhaltens pädagogischen Unterstützungsbedarf. Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen werden in inklusiv arbeitenden Schulen oft als besonders problematisch wahrgenommen, ihnen droht Marginalisierung und Stigmatisierung durch Mitschüler, mangelnde Akzeptanz durch Lehrkräfte und Ablehnung durch manche Eltern, die das erfolgreiche Lernen ihrer nicht behinderten Kinder gefährdet sehen. Folglich ist sachlich korrekte und präzise und nüchtern und zugleich einfühlsam kommunizierte Information als Bedingung für gelingende schulische Praxis wichtig, sodass sich dieses Handlexikon an pädagogisch-praktisch und an theoretisch-wissenschaftlich Tätige richtet, die sich über Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen informieren möchten, seien es Eltern oder Erzieher, Studierende oder Lehrkräfte an Schulen, Kindergärtnerinnen oder Dozentinnen und Dozenten an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten.

Das vorliegende Handlexikon positioniert sich zwischen einem lexikalischen Wörterbuch, das zentrale Informationen kurz und knapp auf den Punkt bringt, und einem Handbuch, das ausführlich und systematisch informiert. Es soll als Nachschlagewerk in Forschung und Praxis fungieren, dessen Inhalte sich leicht und gezielt auf zweifache Weise erschließen lassen:

Das Inhaltsverzeichnis (S. 5–8) dokumentiert das Inventar aller Textbeiträge in der Reihenfolge des Abdrucks im Buch, jedoch geordnet nach sieben Sachgebieten:

•  Förderschwerpunkte und Störungsbilder,

•  örderkonzepte und therapeutische Ansätze,

•  Förderorte und Organisationsformen,

•  Geschichte,

•  Theoriekonzepte und Grundbegriffe,

•  Forschungskonzepte,

•  internationale Aspekte.

Wer das Inhaltsverzeichnis zu Rate zieht, kann Beiträge zu einzelnen Stichworten suchen oder aber das Buch bzw. alle Beiträge zu einem bestimmten Sachgebiet von A bis Z lesen wie in einem Lehrbuch.

Das Sachregister (S. 331–338) erschließt den Inhalt des vorliegenden Handlexikons besonders differenziert hinsichtlich relevanter Fachbegriffe, die im Rahmen anderer Termini erläutert worden sind. Aus Platzgründen konnten nämlich nicht alle wichtigen Begriffe in gesonderten Stichwortbeiträgen behandelt werden, aber selbst dann, wenn sich zu einem bestimmten Fachterminus kein eigenständiger Beitrag findet, findet sich die gesuchte Information möglicherweise in anderen verwandten Beiträgen. Das Sachregister listet in alphabetischer Reihenfolge alle Fachbegriffe auf, die im vorliegenden Handlexikon in eigenständigen Beiträgen erläutert werden und es listet zusätzlich Querverweise auf andere Beiträge, in denen ein Fachbegriff ebenfalls in einiger Ausführlichkeit behandelt wird. Das Sachregister wird folglich diejenigen, die bestimmte Fachbegriffe suchen, schneller und erschöpfender zum Ziel führen als das Inhaltsverzeichnis.

Bei der Auswahl der Stichworte waren die Herausgeber bemüht, traditionelle und aktuelle Begriffe zu berücksichtigen. Es ist gelungen, 72 fachlich ausgewiesene Autorinnen und Autoren zu gewinnen, die 118 Einzelbeiträge erarbeitet und dabei den Spagat zwischen verständlicher und kurzgefasster Information und notwendiger fachlicher Differenzierung gewagt haben. Diesen geschätzten Kolleginnen und Kollegen sind wir zu Dank verpflichtet, denn durch ihre Arbeit hat das Handlexikon inhaltlich Gestalt angenommen. Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth und dem Verlag Kohlhammer danken wir für die gute Zusammenarbeit, denn diese hat es möglich gemacht, dass die 118 Einzelbeiträge nun publiziert vorliegen und somit zugänglich sind.

Dortmund, Würzburg und München, im März 2014

Franz-B. Wember, Roland Stein und Ulrich Heimlich

Literatur

Antor, G., Beck, I., Bleidick, U. & Dederich, M. (Hrsg.) (in Vorb.): Handlexikon der Behindertenpädagogik: Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 3. neu erarb. Aufl. Stuttgart.

Antor, G. & Bleidick, U. (Hrsg.) (2001/2006): Handlexikon der Behindertenpädagogik: Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. 1./2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart.

Theunissen, G., Kulig, W. & Schirbort, K. (Hrsg.) (2007/2013): Handlexikon Geistige Behinderng: Schlüsselbegriffe aus der Heil- und Sonderpädagogik, Sozialen Arbeit, Medizin, Psychologie, Soziologie und Sozialpolitik. 1./2. aktualisierte und erw. Aufl. Stuttgart.

 

 

 

 

II       Förderkonzepte und therapeutische Ansätze

Ängstlichkeit und soziale Unsicherheit

Einleitung

Während → Aggressivität und Gewalt sowie → Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion intensiv erörtert werden, stellen Ängstlichkeit und Angststörungen sowie → Depressivität scheinbar eher »versteckte«, deutlich weniger im Rampenlicht stehende Phänomene dar – vielleicht passend zu diesen Erscheinungen selbst. Ein Blick auf die epidemiologische Forschung offenbart eine erhebliche Schieflage, denn Angstproblematiken sind die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Ihle & Esser 2002). Zudem sind sie oft Vorläufer persistierender Angstproblematiken und auch späterer anderer Störungen.

Ein Blick in die Literatur zeigt, dass es zwar einige grundlegende Arbeiten zu diesem Thema gibt (Essau 2003; Krohne 2010; In-Albon 2011) – aber kaum eine pädagogische oder sonderpädagogische Auseinandersetzung.

Begrifflichkeit

Zu unterscheiden ist zunächst, ob es um Angst, Ängstlichkeit oder Angststörungen geht.

Angst stellt einen zentralen und grundlegenden menschlichen Affekt dar, der zum Leben gehört und den jede und jeder alltäglich erlebt. Fröhlich (1993, 56) definiert Angst als »allgemeine umfassende Bezeichnung für emotionale Erregungszustände, die auf die Wahrnehmung von Hinweisen, auf mehr oder weniger konkrete bzw. realistische Erwartungen oder allgemeine Vorstellungen physischer Gefährdung oder psychischer Bedrohung zurückgehen. A.-Zustände äußern sich in Gefühlen der Spannung bzw. Betroffenheit und gehen mit ausgeprägten autonomen Veränderungen einher«.

Zentrale Komponenten von Angst sind Aufgeregtheit (emotionality) und Besorgtheit (worry). Angst äußert sich auf verschiedenen Ebenen: physiologisch, im Verhalten, im Ausdruck (Mimik, Gestik, Körperhaltung), in der Sprache sowie im subjektiven Erleben – es handelt sich letztlich um ein Konstrukt, das »hinter« diesen Ausdrucksformen steht.

Ängstlichkeit hingegen ist nicht als ein Zustand zu verstehen, sondern als überdauernder Wesenszug: Eine Person reagiert besonders häufig, besonders stark und in vielen Situationen mit dem Affekt Angst. Dies kann, muss aber nicht mit einem besonderen Hilfebedarf verbunden sein.

Angststörungen sind gekennzeichnet durch das auf bestimmte Situationen beschränkte oder auch situationsunabhängige Auftreten massiver Ängste, welche die Funktionen einer Person erheblich einschränken und unter denen diese leidet. Internationale Klassifikationssysteme wie die → ICD-10 unterscheiden verschiedene Formen von Angststörungen (Essau 2003, 31 ff.). Besonders häufig treten bei Kindern und Jugendlichen Phobien auf, also abnorm starke, objekt- oder situationsbezogene Angstreaktionen. Aber auch Zwangsstörungen, Panikstörungen und Generalisierte Angststörungen, durch starke Ängste in verschiedenen Situationen gekennzeichnet, Störungen mit Trennungsangst sowie Posttraumatische Belastungsstörungen sind recht verbreitet (Essau 2003, 118 ff.).

Die kognitive Lernpsychologie hat das Konzept der »Sozialen Unsicherheit« oder des »sozial unsicheren Verhaltens« geprägt (Petermann & Petermann 2010). Hier handelt es sich um stark habitualisierte soziale Ängste mit Vermeidungstendenzen und Defiziten im Sozialverhalten.

Neben diesen Formen allgemeiner Angststörungen gibt es schulspezifische Problematiken: Schulangst kann aus leistungsbezogenen und aus sozialen Situationen heraus entstehen, jedoch, etwa im Falle von Mobbing und Gewalt, auch aus einer erlebten oder realen psychischen oder physischen Bedrohung, also als Existenzangst (Schwarzer 1993). Davon zu unterscheiden ist Schulphobie, die wissenschaftlich zumeist als besondere Form der Vermeidung von Schule verstanden wird, hinter der weniger Angst vor der Schule steht als vielmehr Ängste vor Trennung von den Eltern oder bestimmte familiäre Schwierigkeiten.

Den Angststörungen verwandt ist das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit, welches auf die Forschung von Seligman (1995) zurückgeht. Er beschreibt, wie Tiere und auch Menschen Hilflosigkeitserfahrungen machen und generalisieren können: dass ihr Handeln keine Wirkung entfalten wird. Es entsteht ein Muster des Sich-selbst-Aufgebens mit dreifachem Defizit im Umgang mit situativen Herausforderungen: kognitiv, motivational und emotional. Das Konzept ist für sonderpädagogische Kontexte sehr bedeutsam.

Erklärungskonzepte und Merkmale

Erklärungskonzepte für Ängstlichkeit und Angststörungen kommen aus der Lernpsychologie (Ängste als gelernte Reaktionen), aus der Psychoanalyse (Ängste auf Basis der inneren Dynamik und der intrapsychischen Konflikte einer Person) und aus der Kognitionspsychologie (Ängste auf Basis der Erwartung von kaum bewältigbaren Bedrohungen und auf Basis der Bewertung von Situationen als bedrohlich).

Pädagogisch hilfreich können zentrale Merkmale von Ängstlichkeit sein, die Krohne (1996, 291 ff.) zusammengestellt hat und die auch auf Angststörungen übertragen werden können – Ängstlichkeit ist demnach gekennzeichnet durch

•  starke und häufige, automatisiert erscheinende, erlernte Angstreaktionen in ganz unterschiedlichen oder auch spezifischen Situationen;

•  verstärkte Erwartungen, dass bestimmte situative Ereignisse unangenehme und negative Folgen haben – wobei es durch solche Erwartungen zur stärkeren Wahrnehmung von Bedrohungen kommt;

•  die Erwartung, das eigene Verhalten könne wenig zur Kontrolle der Konsequenzen einer Situation beitragen (»externale Kontroll-Überzeugung«);

•  die Selbsteinschätzung, dass es an Fähigkeiten fehle, ein möglicherweise erfolgreiches Kontrollverhalten überhaupt auszuüben oder die in bedrohlichen Situationen ausgelösten Gefühle regulieren zu können – und schließlich häufig, wenn auch durchaus nicht immer

•  eine tatsächlich geringere Kompetenz zur Ausführung eines effektiven Bewältigungsverhaltens nach außen hin oder auch im Hinblick auf das Regulieren der eigenen Emotionen.

Diese Merkmalsliste soll durch zwei bedeutsame Aspekte ergänzt werden:

•  starke innere Spannungen, die oft aus bisherigen Lebenserfahrungen heraus auf-gebaut wurden, also eine Art Grundpotenzial zu Aufgeregtheit und Besorgtheit, eine »existenzielle Angst« (Seitz & Rausche 2004, 282 ff.);

•  das Auftreten von starker Angst gerade in solchen Situationen, in denen individuelle Werte der Person eine besondere Rolle spielen, also das, was ihr wichtig ist (Krohne 1996).

Beurteilung und Förderung

In pädagogischen Situationen wird sich oft das Problem ergeben, Angstproblematiken zu erkennen. Pädagoginnen und Pädagogen können sich hier nur an den Manifestationsmöglichkeiten orientieren, also an Körper- und Verhaltensmerkmalen sowie dem mehr oder weniger direkten Selbstausdruck von Angsterleben. Die Schwierigkeiten des Erkennens spiegeln sich in der nach wie vor defizitären öffentlichen Berücksichtigung dieser Probleme wider. Über das Erkennen hinaus wird es aber auch wichtig sein zu beurteilen, auf welchem Weg die Angst entstanden ist, um mit einer gezielten Förderung ansetzen zu können.

Zur Förderung wurden mittlerweile verschiedene Programme entwickelt; das Spektrum ist allerdings sicher nicht so breit wie für Aggressionsproblematiken. Ein »Klassiker« ist das über dreißig Jahre auf dem Markt befindliche, aber immer wieder aktualisierte »Training mit sozial unsicheren Kindern« (Petermann & Petermann 2010). Jüngeren Datums sind das australische »FRIENDS«-Programm (Barrett, Lowry-Webster & Turner 2000a; b) mit seiner deutschen Version FREUNDE (Essau & Conradt 2003a; b) sowie das Programm »Gesundheit und Optimismus« (GO; Junge, Neumer, Manz & Margraf 2002). Fast alle vorliegenden Programme sind als Trainings konzipiert und stark kognitiv-behavioral ausgerichtet (siehe zu Überblick und Kritik Stein 2012).

Für pädagogisches Alltagshandeln sind Trainings nur beschränkt hilfreich und mit Skepsis zu betrachten. Am Beispiel des Feldes Schule kann eine Förderung grundsätzlich an zwei Punkten ansetzen (Stein 2012, 134 ff.):

•  Die Gestaltung des Lernfeldes kann so angelegt werden, dass der Entstehung erheblicher Ängste und Angstproblematiken entgegengewirkt wird: durch Schaffung eines günstigen Klimas und Umganges in der Lerngruppe, durch Transparenz der Lerninhalte und Prüfungsbedingungen, durch angstreduzierende Gestaltung der Prüfungen selbst, über eine Reduzierung angsterzeugender Entwicklungsbedingungen im Elternhaus wie etwa starken Leistungsdruck – und durch Arbeit an der eigenen Person und dem Verhalten als Pädagoge, etwa im Hinblick auf Einschätzbarkeit und Verlässlichkeit.

•  Auf der anderen Seite kann, insbesondere im Fall sich anbahnender Angstproblematiken, auch an und mit den Schülern gearbeitet werden – beispielsweise an ihrem Selbstkonzept im Sinne der Ermutigung, an ihren sozialen Kompetenzen und ihrem Verhaltensrepertoire in sozialen Situationen, an der differenzierten Wahrnehmung von Situationen (die nicht so bedrohlich sind wie zunächst erlebt) oder auch an ihren Entspannungsmöglichkeiten und Bewältigungsstrategien für stressende Situationen.

Ein breiter angelegtes, insbesondere präventives und frühinterventives Programm gegen Schulangst hat Strittmatter (1997) entwickelt.

 

Roland Stein

Literatur

Barrett, P.M., Lowry-Webster, H. & Turner, C. (2000a): FRIENDS for children: Group leader manual. Brisbane.

Barrett, P.M., Lowry-Webster, H. & Turner, C. (2000b): FRIENDS for youth: Group leader manual. Brisbane.

Essau, C.A. (2003): Angst bei Kindern und Jugendlichen. München.

Essau, C.A. & Conradt, J. (2003a): FREUNDE für Kinder: Gruppenleitermanual – Trainings-Programm zur Prävention von Angst und Depression. München.

Essau, C.A. & Conradt, J. (2003b): FREUNDE für Kinder. Arbeitsbuch für Kinder. München.

Ihle, W. & Esser, G. (2002): Epidemiologie psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter: Prävalenz, Verlauf, Komorbidität und Geschlechtsunterschiede. In: Psychologische Rundschau 53 (4), 159–169.

Fröhlich, W.D. (1994): dtv-Wörterbuch zur Psychologie. 20. Auflage. München.

In-Albon, T. (2011): Kinder und Jugendliche mit Angststörungen. Stuttgart.

Junge, J., Neumer, S.-P., Manz, R. & Margraf, J. (2002): Angst und Depression im Jugendalter vorbeugen. GO! – Ein Programm für Gesundheit und Optimismus. Weinheim.

Krohne, H. W. (1996): Angst und Angstbewältigung. Stuttgart.

Krohne, H. W. (2010): Psychologie der Angst. Stuttgart.

Petermann, U. & Petermann, F. (2010): Training mit sozial unsicheren Kindern. 10. Auflage. Weinheim.

Schwarzer, R (1993): Streß, Angst und Handlungsregulation. 3. Auflage. Stuttgart.

Seitz, W. & Rausche, A. (2004): Persönlichkeitsfragebogen für Kinder zwischen 9 und 14 Jahren (PFK 9–14). 4. Auflage. Göttingen.

Seligman, M.E.P. (1995): Erlernte Hilflosigkeit. 5. Auflage. Weinheim.

Stein R. (2012): Förderung bei Ängstlichkeit und Angststörungen. Stuttgart.

Strittmatter, P. (1997): Schulangstreduktion. Abbau von Angst in schulischen Leistungssituationen. 2. Auflage. Neuwied.

Aggressivität und Gewalt

Begriffsdiskussion

Sowohl Aggressivität als auch Gewalt werden in der Wissenschaft unterschiedlich verwendet. Unter Aggressivität (lat.: aggredi herangehen, angreifen) wird in der Verhaltensforschung eine erhöhte Neigung zu aggressivem Verhalten verstanden. Aus psychologischer Sicht wird aggressives Verhalten als ein intentionales, gegen andere gerichtetes, schädigendes Verhalten charakterisiert. Es kann geplant (instrumentell-aggressiv) oder spontan (impulsiv-aggressiv) auftreten, wobei neben der Beschädigung von Personen auch die Sachbeschädigung und die Autoaggression mit einbezogen werden. Die Bewertung aggressiven Verhaltens ist vom Kontext abhängig. So ist Aggressivität, z. B. im Sport, legitim und erwünscht.

Obwohl in der wissenschaftlichen Tradition Gewalt eine Teilmenge von Aggression darstellt, werden Aggression und Gewalt zunehmend synonym verwandt. Gewalt (von althochdeutsch waltan stark sein, beherrschen) bezeichnet in den Sozial- und Erziehungswissenschaften die absichtsvolle Schädigung von Menschen durch Menschen. Dabei wird zwischen individueller und institutioneller Gewalt differenziert. Zur individuellen Gewalt zählen die physische Gewalt (Schädigung und Verletzung eines anderen durch körperliche Kraft) und psychische Gewalt (Schädigung durch Abwertung und Ablehnung). Letztere kann verbal, nonverbal oder indirekt (z. B. Gerüchte, Schlechtmachen, Ignorieren) erfolgen. In jüngster Zeit sind neuere Gewaltphänomene wie Mobbing bzw. Bullying und Cyberbullying ins Blickfeld gerückt. Diese bezeichnen sich wiederholende, negative Handlungen eines oder mehrerer Schüler gegenüber einem Schwächeren (Olweus 1995). Zur individuellen Gewalt gehören auch die vandalistische Gewalt (Zerstörung von Gegenständen), daneben solche Formen wie die fremdenfeindliche Gewalt oder die sexuelle Gewalt. Eine besonders schwere Gewaltform stellen Amokläufe an Schulen, sog. School Shootings, dar.

Die institutionelle Gewalt zeigt sich im schulischen Kontext in drei Formen: legitime »Ordnungsgewalt« (Verfügungsmacht der Lehrkräfte zur Erfüllung der gesell-schaftlichen Funktionen der Schule, Schüler- und Lehrerrolle), illegitime »strukturelle« Gewalt (Beeinträchtigung der Selbstentfaltung der Schüler) und kollektive »politische« Gewalt (z. B. Kritik ungerechter Machtverhältnisse) (Hurrelmann & Bründel 2007).

Phänomene, Prävalenzen, Differenzierungen im Schulkontext

Die schulbezogene Gewaltforschung hat folgende Befunde ermittelt (Fuchs u. a. 2005; Baier u. a. 2009; Schubarth 2010; Melzer, Schubarth & Ehninger 2011): Am meisten verbreitet ist die verbale Aggression bzw. verbale Gewalt. Meist in Verbindung mit nonverbalen Provokationen gehören beide psychischen Gewaltformen offenbar zum Schulalltag. Verbale Aggression ist auch die am meisten verbreitete Gewaltform gegenüber Lehrkräften. Verbale Aggression kann auch als Vorform von härterer Gewalt auftreten. In der weiteren Rangreihe folgen die körperliche Gewalt, dann die Gewalt gegen Sachen. Extreme Gewaltformen wie Erpressung oder Waffeneinsatz sind – entgegen dramatisierenden Mediendarstellungen – selten.

Täter- und Opferbefragungen verweisen darauf, dass die überwiegende Mehrheit der Schülerschaft nicht »aggressiv« oder »gewaltbereit« ist. Die kleine Minderheit – der sog. »harte Kern« – von gewaltauffälligen Kindern und Jugendlichen wird mit ca. 5 % beziffert. Ebenso hoch liegt der Opferanteil, wobei enge Wechselbeziehungen zwischen Täter- und Opferstatus vorliegen. Vergleichbare Ergebnisse liegen auch aus anderen Ländern vor (Klewin, Tillmann & Weingart 2002).

Als wichtige Differenzierungsmerkmale gelten das Geschlecht, die Schulform, das Alter und der → Migrationshintergrund. Jungen reagieren stärker mit nach außen, Mädchen eher mit nach innen gerichteten Aggressionen. Während verbale Gewalt auch von Mädchen häufiger ausgeübt wird, vergrößern sich die Geschlechterdifferenzen mit der Härte der Gewalt. Von den Schulformen sind aufgrund der Schülerpopulation die → Förderschulen und die Hauptschulen am meisten belastetet, insbesondere dann, wenn sie in sozialen Brennpunkten liegen (Rabold & Baier 2008). Dass die größte Gewaltbelastung bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 15 Jahren liegt, verweist auf den komplizierten Prozess der Identitätsfindung in der Pubertät. Neuere Studien deuten darauf hin, dass Schüler mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer Sozialisationserfahrungen häufiger Gewalt ausüben als Schüler ohne Migrationshintergrund (Baier u. a. 2009).

Während zur Schülergewalt mittlerweile zahlreiche Befunde vorliegen, ist die Lehrergewalt noch weitgehend ein Tabuthema. Gewalt, vor allem in psychischer Form, gehört jedoch zum Handlungsrepertoire vieler Lehrkräfte. Studien belegen ein beachtliches Ausmaß von Kränkungen und Demütigungen durch Lehrkräfte (Krumm, Lammberger-Baumann & Haider 1997; Schubarth 1997; Baier u. a. 2009).

Erklärungsansätze und Präventionsstrategien

Aggression und Gewalt kann auf unterschiedliche Weise erklärt werden. Mit Blick auf die schulische Gewaltprävention sind vor allem Lerntheorien, psychoanalytische, entwicklungspsychologische, geschlechtsspezifische sowie sozialökologische Ansätze von Relevanz (Schubarth 2010).

Lerntheorien (→ Lernpsychologie) besagen, dass aggressives, gewalttätiges Verhalten erlernt wird. Umgekehrt kann auch friedfertiges Handeln erlernt werden, indem z. B. vorgemacht und erläutert wird, wie man mit Konflikten gewaltfrei umgeht, eigene Gefühle und Wünsche mitteilt und sich kooperativ verhält. Entwicklungspsychologische Ansätze verdeutlichen, dass die Entstehung aggressiver Verhaltensweisen eingebettet ist in die Identitätsbildung und in den Erwerb sozialer und kognitiver Kompetenzen. Psychoanalytische Ansätze (→ Psychoanalyse) sehen im gewalttätigen Schülerhandeln einen Rettungsversuch des Selbst gegenüber verweigerter schulischer Anerkennung, womit die Gestaltung befriedigender schulischer Interaktionsbeziehungen ins Blickfeld rückt. Vor dem Hintergrund geschlechtstypischer Sozialisation kann Gewalt zu einer »Form männlicher Lebensbewältigung« werden, was auf die notwendige kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Geschlechterrollen und auf die Reflexion der Interaktionen zwischen Mädchen und Jungen hinweist. Sozialökologische Ansätze stellen die innerschulischen Bedingungen, vor allem die Schul- und Lernkultur, in den Mittelpunkt. Eine ungünstige schulische Umwelt trägt mit zur Entstehung von Aggression und Gewalt bei. Umgekehrt bedeutet dies, dass Schule durch eine entsprechende Gestaltung der Schul- und Lernkultur die Gewaltentwicklung beeinflussen kann.

Der Beitrag der Schule zur Gewaltprävention besteht vor allem in der Wahrnehmung ihres Erziehungsauftrages und der Förderung sozialer Kompetenzen. Dafür hat sie ein breites Repertoire an Möglichkeiten zur Verfügung, das vom Unterricht über die Ausgestaltung der Schulkultur bis zum Einsatz spezieller Trainingsprogramme reicht. Soziale Kompetenzen können insbesondere durch → Projektunterrricht, → offenen Unterricht sowie durch Partner- und Gruppenarbeit gefördert werden. Ein schülerorientierter Unterricht, ein förderndes Lehrerengagement, die Anerkennung auch für leistungsschwächere Schüler sowie die Fokussierung auf praktisches Handeln und soziale Erfahrung wirken sich ebenfalls positiv auf das Sozialverhalten aus. Gleiches gilt für ein Klassen- und Schulklima, das durch Wertschätzung und Akzeptanz geprägt ist. Bewährt haben sich auch die Erarbeitung und Durchsetzung von verbindlichen Verhaltensregeln. Eine breite Öffnung der Schule zu Vereinen, Unternehmen oder sozialen Einrichtungen im Schulumfeld trägt zu einer guten Schulkultur bei.

Neben den allgemeinen Möglichkeiten im Schul- und Erziehungsalltag wurde in den letzten Jahren im Rahmen der Gewaltprävention eine Vielzahl spezieller schulischer Präventions- und Interventionsprogramme entwickelt, die die Förderung sozialer Kompetenzen zum Ziel haben. Verwiesen sei z. B. auf solche bundesweit bekannt gewordenen Programme wie Streitschlichterprogramme, Programm »Faustlos«, Coolness-Training, Trainingsraum-Methode, Sozialtraining in der Schule, das Buddy-Projekt sowie die Programme »Erwachsen werden«, »Fit for life« oder »fairplayer«. Evaluationsbefunde zu diesen Programmen lassen auf eine fördernde Wirkung bei den sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler schließen. Entsprechende Nachhaltigkeit wird allerdings nur dann erreicht, wenn die Programme in längerfristige Schulentwicklungsprozesse eingebunden sind (Schubarth 2010; Melzer, Schubarth & Ehninger 2011; Scheithauer, Rosenbach & Niebank 2012).

 

Wilfried Schubarth

Literatur

Baier, D., Pfeiffer, Ch., Simonson, J. & Rabold, S. (2009): Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Hannover.

Fuchs, M., Lamnek, S., Luedtke, J. & Baur, N. (2005): Gewalt an Schulen: 1994–1999–2004. Wiesbaden.

Hurrelmann, K. & Bründel, H. (2007): Gewalt an Schulen. Pädagogische Antworten auf eine soziale Krise. Weinheim.

Klewin, G., Tillmann, K.-J. & Weingart, G. (2002): Gewalt in der Schule. In: Heitmeyer, W. & Hagan, J. (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden, 1078–1105.

Krumm, V., Lammberger-Baumann, B. & Haider, G. (1997): Gewalt in der Schule – auch von Lehrern. In: Empirische Pädagogik, 2, 257–274.

Melzer, W., Schubarth, W. & Ehninger, F. (2011): Gewaltprävention und Schulentwicklung. Analysen und Handlungskonzepte. 2. Auflage. Bad Heilbrunn.

Olweus, D. (1995): Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern wissen sollten – und tun können. Bern u. a.

Rabold, S. & Baier, D. (2008): Gewalt und andere Formen abweichenden Verhaltens in Förderschulen für Lernbehinderte. In: Zeitschrift für Pädagogik, 54, 118–141.

Scheithauer, H., Rosenbach, Ch. & Niebank, K. (2012): Gelingensbedingungen für die Prävention von interpersonaler Gewalt im Kindes- und Jugendalter. Expertise. 3. Auflage. Bonn.

Schubarth, W. (1997): Gewaltphänomene aus Sicht von Schülern und Lehrern. Eine empirische Studie an sächsischen Schulen. In: Die Deutsche Schule, 89, 63–76.

Schubarth, W. (2010): Gewalt und Mobbing an Schulen. Möglichkeiten der Prävention und Intervention. Stuttgart.

Analphabetismus

»An-Alphabetismus« bedeutet wörtlich »des Alphabets nicht mächtig« sein. Bis heute besteht aber keine einheitliche Definition.

Primäre , totale, natürliche oder völlige Analphabeten haben aufgrund fehlenden Schulbesuchs und einer nicht-literalisierten Gesellschaft nie Lesen/Schreiben gelernt. Die Zahl der Betroffenen beläuft sich weltweit auf knapp 800 Mio. Erwachsene, fast zwei Drittel davon sind Frauen (Deutsche UNESCO-Kommission 2011). Erst in den 1970er Jahren wird anerkannt, dass es auch in Deutschland Analphabeten gibt. Hierbei handelt es sich um sog. funktionale Analphabeten. Diese verfügen zwar über partielle Lese- und Schreibkompetenzen, können die Funktion von Schrift aber nicht nutzen (Grosche 2012, 27). Da sich der Anspruch an die alphabetischen Fähigkeiten stets auch an den kulturellen Anforderungen orientiert, wird der Grad der Schriftsprachbeherrschung innerhalb der Gesellschaft zum vorrangigen Kriterium für funktionalen Analphabetismus. Sehr viel höher als die bisherigen Schätzungen ist die Zahl der Betroffenen: 14 % (ca. 7,5. Mio.) der erwerbsfähigen Deutschen schreiben und lesen einzelne Sätze, verstehen aber keine Texte wie z. B. Arbeitsanweisungen (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2012). Bis zu 50 % der Jugendlichen aus Zuwandererfamilien erreicht kein ausreichendes Leseverständnis, so dass sich für sie u. a. kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt bieten (Iben, Katzenbach & Rössel 2010, 12).

Als Ursache wird das Zusammenspiel individueller, familiär-soziokultureller, schulischer und gesellschaftlicher Entstehungsfaktoren eruiert. Wenig Zutrauen in eigene Fähigkeiten, ein geringes Selbstbild, Negativerlebnisse in Elternhaus und Schule sowie Diskriminierungserfahrungen führen zur Vermeidung schriftsprachlicher Anforderungssituationen und können die fehlende oder unzureichende Schriftsprachkompetenz verschärfen (Nickel 2002, 5).

Die Relevanz des funktionalen Analphabetismus im Förderschwerpunkt Lernen ist durch vielfältige Schnittstellen auf der anschaulichen Ebene (Schriftsprachkompentenzen, Lernschwierigkeiten, Schulabschluss, soziale Schicht und Lage …) gekennzeichnet. Zu erklären ist dieser Zusammenhang zum einen mit Hilfe des materialistischen Paradigmas in der Heil- und Sonderpädagogik als Ausdruck sozialstruktureller Differenzierung (ebd., 6). Unter interaktionistischem Aspekt wird deutlich, dass Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen oft grundlegende Erfahrungen mit → Sprache und Schrift fehlen (Iben, Katzenbach & Rössel 2010, 12).

Maßnahmen der Prävention und Intervention sind im vorschulischen, schulischen und nachschulischen Bereich möglich. Bei Kindern im Alter vor dem Schuleintritt wird v. a. die Verbesserung des primären Sozialisationsraums gefordert. Damit sind z. B. die Befriedigung der Grundbedürfnisse, der Aufbau von emotionalen Beziehungen, ein spielerischer Umgang mit Sprache und das Sammeln schriftsprachlicher Erfahrungen gemeint. Auch ein Kindergartenbesuch oder spezielle Trainingsprogramme können helfen.

Die Schule muss sich an die Bedürfnisse der Schülerschaft anpassen und variantenreich an die Schriftkultur heranführen, Spracherfahrungen ermöglichen, metaphonologische Fähigkeiten fördern, Unterricht öffnen, Förderpläne entwickeln und mit den Eltern kooperieren. Wichtig sind auch Lernangebote für den Schriftspracherwerb in der Mittel- und Oberstufe (→ Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten).

Um der Stigmatisierungsangst entgegenzuwirken, sind im nachschulischen Bereich niederschwellige Kurse zum Lesen- und Schreibenlernen anzubieten. Diese sollten sich unbedingt an den Teilnehmerbedürfnissen orientieren. Ziel ist dabei die Förderung basaler Lese- und Schreibkompetenzen, um die Erwachsenen beim Erlernen alltagstauglicher Lese- und Schreibfähigkeiten zu unterstützen. Zunächst werden je nach Vorwissen auch einzelne Graphem-Phonem -Verbindungen, Silben, Wortbausteine und Häufigkeitswörter geübt, um Wissenslücken systematisch zu schließen. Außer in speziellen Kursen können die Betroffenen auch Hilfe im Internet finden. Besonders empfehlenswert sind die Online-Portale www.ich-will-schreiben-lernen.de und www.alphabetisierung.de.

 

Tatjana Eckerlein

Literatur

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Nationale Strategie zur Verringerung der Zahl funktionaler Analphabeten [8.1.2012]. Im Internet unter http://www.bmf.de/de/426.php (3.9.2012)

Deutsche UNESCO-Kommission e. V.: Alphabetisierung [ohne Datum]. Im Internet unter http://www.unesco.de/alphabetisierung.html (3.9.2012)

Grosche, M. (2012): Analphabetismus und Lese-Rechtschreibschwächen. Münster.

Iben, G., Katzenbach, D. & Rössel D. (2010): Soziale Benachteiligung, Analphabetismus und Medienkompetenz. In: Iben, G. & Katzenbach, D. (Hrsg): Schriftspracherwerb in schwierigen Lernsituationen. Stuttgart. 9–62.

Nickel, S.: Funktionaler Analphabetismus – Ursachen und Lösungsansätze hier und anderswo [30.5.2002]. Im Internet unter http://www.alphabetisierung.de/service/downloads/fachtexte.html (3.9.2012)

Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Definition, Klassifikation und Ätiologie

Aufmerksamkeitsstörungen gehören zu den häufigsten Verhaltensstörungen bei Kindern. Etwa 3–5 % sind nach den Angaben des Diagnostischen und Statistischen Manuals psychischer Störungen der American Psychiatric Association (2003) davon betroffen. Die Störung selbst wird als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) definiert. Hierbei wird von drei Kardinalsymptomen der Störung ausgegangen, die im Vergleich zum sonstigen Entwicklungsstand des Kindes übermäßig ausgeprägt sind und als wiederkehrendes Muster auftreten:

•  Unaufmerksamkeit umschreibt die mangelnde Aufmerksamkeitsorientierung und Zielgerichtetheit des Verhaltens. Die Kinder haben Schwierigkeiten, Einzelheiten zu beachten und können nur kurze Zeit bei einer Sache verweilen. Beim Lösen von Aufgaben verlieren sie schnell ihr Ziel aus den Augen und vergessen, was sie eigentlich tun wollten. Sie haben Schwierigkeiten, begonnene Aufgaben konsequent zu Ende zu führen und übertragene Arbeiten planvoll und organisiert zu bewältigen.

•  Impulsivität wird durch ein vorschnelles und unbedachtes Verhalten umschrieben. Kennzeichnend dafür sind beispielsweise: antworten, bevor eine Frage vollständig gestellt wurde, nicht abwarten können bei Gruppenaufgaben, beginnen, ohne sich richtig mit den Anweisungen auseinander gesetzt zu haben, unbedachtes Einlassen auf gefährliche Aktivitäten. Durch ihr impulsives Verhalten verstoßen die Kinder oft gegen Regeln, was ihnen Missbilligung und Ablehnung einbringt.

•  Hyperaktivität weist auf die motorische Unruhe der Kinder hin. Sie können sich selten ruhig beschäftigen und zeigen eine eskalierende Unruhe sowie übermäßigen Rededrang, zappeln auf dem Stuhl und laufen in der Klasse umher. Sie erscheinen somit als umtriebig und ungesteuert.

Laut DSM-IV–TR wird ADHS durch »ein durchgängiges Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität« gekennzeichnet. Diese Hauptmerkmale werden als voneinander unabhängige Störungsmerkmale behandelt und getrennt voneinander erhoben. Daraus können sich – je nach Kombination der Störungsmerkmale – verschiedene Subtypen ergeben:

•  Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Mischtypus (Code-Nr. 314.01), bei dem die Störungsmerkmale Unaufmerksamkeit und Impulsivität/Hyperaktivität gemeinsam auftreten.

•  Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bei vorherrschender Unaufmerksamkeit (Code-Nr. 314.00), bei der vornehmlich die Merkmale der Unaufmerksamkeit registriert werden, das hyperaktiv-impulsive Verhalten jedoch nicht beobachtet wird.

•  Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bei vorherrschender Hyperaktivität-Impulsivität (Code-Nr. 314.01). Hier werden vorwiegend hyperaktive Verhaltenssymptome festgestellt, Symptome der Unaufmerksamkeit bleiben unterhalb der kritischen Grenze.

ADHS entwickelt sich auf der Grundlage von bestehenden Risiken und unter Mitwirkung von sozialen und psychologischen Faktoren (Sonuga-Barke 2006). Man geht davon aus, dass es nicht nur einen Weg in die Störung gibt, sondern mehrere. Verschiedene Personen können demnach auf ganz unterschiedlichen Wegen eine ADHS ausbilden, z. B. aufgrund einer Beeinträchtigung in der exekutiven Kontrolle, einer Aversion gegen Bedürfnisaufschub, negativen sozialen Interaktionserfahrungen sowie aufgrund besonderer genetischer Ausgangslagen oder neurologischer Beeinträchtigungen. Ob und wie sich eine ADHS ausbildet, hängt von der Kombination der einzelnen Risiken ab. Die vielschichtigen Ursachen werden in einem biopsychosozialen Modell zusammengefasst (Lauth & Schlottke 2009), das biologische und neurobiologische (etwa genetische Merkmale, Reizübertragung im Gehirn), psychologische Besonderheiten (etwa Impulskontrolle, Selbststeuerung, Planungsverhalten) und soziale Entstehungsbedingungen (etwa ungeeignete Anleitung durch Eltern, Erziehung durch Strafe und Zwang) aufeinander bezieht.

Erscheinungsbild und Entwicklungsprognose

Aufmerksamkeitsstörungen äußern sich vor allem darin, dass Aufgaben nachlässig, fehlerhaft und unzureichend gelöst, Tätigkeiten eher planlos ausgeführt und oft kaum zu Ende gebracht werden. Die Kinder neigen dazu, ohne hinreichende vorausgehende Überlegungen zu handeln und vorschnell verkürzte Problemlösungen zu suchen. Sie haben große Schwierigkeiten, eine Aktivität über eine längere Zeit zu verfolgen und können eine Handlungsabsicht nicht eine längere Zeitspanne beibehalten, sondern wenden sich schnell neuen, wechselnden Inhalten zu. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder erscheinen zum Teil »wie aufgezogen«, ständig »auf dem Sprung«; ihre Schwierigkeit, eine Zeitlang still zu sitzen, eskaliert oft in wachsender Bewegungsunruhe, was zu Konflikten mit Eltern, Lehrern und Gleichaltrigen sowie zu sozialen Anpassungsproblemen führt. Die typischen Probleme aufmerksamkeitsgestörter Kinder zeigen sich insbesondere dann, wenn längere Aufmerksamkeitsspannen, zielgerichtete Tätigkeiten und selbstgesteuerte, länger andauernde Handlungen verlangt werden. Hingegen sind die Schwierigkeiten deutlich geringer, wenn die Kinder auf neue und anregende Inhalte treffen, ihr Verhalten durch einen Erwachsenen reguliert wird und kurzfristige Belohnungen in Aussicht stehen. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder erreichen zumeist schlechtere kognitive Leistungen als unauffällige Gleichaltrige, z. B. schneiden sie im Intelligenztest schlechter ab und erhalten schlechtere Schulnoten.

ADHS tritt häufig nicht alleinig auf, sondern wird von einer weiteren Störung begleitet. Der Anteil wird in Überblicksarbeiten auf 30–90 % geschätzt. Besonders häufig treten Aufmerksamkeitsstörungen gemeinsam auf mit Störungen des Sozialverhaltens (ca. 60 %), oppositionellem Verhalten (ca. 40 %), Depressionen (ca. 27 %), Angst (ca. 29 %), Lernstörungen (ca. 11–35 %), darunter Leseschwäche (8–39 %), Rechtschreibschwäche (12–27 %) und Rechenschwäche (12–27 %) (Barkley 2006; Frazier, Youngstrom, Glutting & Watkins 2009). Längsschnittstudien zeigen, dass bis zu 80 % der Kinder auch noch im jugendlichen Alter von der Störung betroffen sind (Ihle & Esser 2002), bei etwa 60 % setzt sich die Störung sogar bis ins Erwachsenenalter fort.

Diagnosekriterien

Um eine Aufmerksamkeitsstörung zu diagnostizieren, müssen Eltern und Lehrer eine bestimmte Anzahl von speziellen Verhaltensauffälligkeiten bestätigen. Wichtig ist, dass diese Symptome seit sechs Monaten regelmäßig (beständig) beobachtet werden, dass sie nicht mit dem Entwicklungsstand des Kindes zu vereinbaren sind und dass sie als unangemessen zu beurteilen sind. Darüber hinaus gelten folgende Einschlusskriterien:

•  Einige Symptome müssen bereits vor dem siebten Lebensjahr aufgetreten sein und Beeinträchtigungen zur Folge gehabt haben.

•  Die Verhaltenssymptome führen zu aktuellen Beeinträchtigungen des Kindes, die zudem in mindestens zwei Lebensbereichen (z. B. Schule, Freizeit, zu Hause, im Kontakt mit Gleichaltrigen) auffällig sein müssen.

•  Es müssen deutliche Hinweise auf eine klinisch bedeutsame Beeinträchtigung im Bereich des sozialen, des schulleistungsbezogenen oder tätigkeitsbezogenen Verhaltens vorhanden sein.

Für eine Diagnose müssen die intellektuelle Leistungsfähigkeit (Intelligenzdiagnostik), eine Anamnese zur bisherigen Entwicklung des Kindes/Jugendlichen und der bisherigen Umweltbedingungen sowie eine medizinische Untersuchung durchgeführt werden. Eine Aufmerksamkeitsstörung ist auszuschließen, wenn die oben aufgeführten Verhaltenssymptome besser durch andere psychische Störungen erklärt werden können. Als solche gelten z. B. tiefgreifende Entwicklungsstörungen, Epilepsien, Affektive Störungen oder auch Angststörungen.

Behandlung und Intervention