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Pflege fallorientiert lernen und lehren

 

Herausgegeben von Karin Reiber, Juliane Dieterich, Martina Hasseler und Ulrike Höhmann

 

Die geplanten Bände im Überblick

•  Ambulante Pflege

•  Ambulante und stationäre Palliativpflege

•  Chirurgie

•  Fallbasierte Unterrichtsgestaltung – Grundlagen und Konzepte

•  Geriatrie

•  Gynäkologie und Geburtshilfe

•  Innere Medizin

•  Pädiatrie

•  Psychiatrie

•  Rehabilitation

•  Stationäre Langzeitpflege

Juliane Dieterich

Karin Reiber

Fallbasierte Unterrichtsgestaltung Grundlagen und Konzepte

Didaktischer Leitfaden für Lehrende

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Piktogramme

ImagesDefinition
ImagesFalldarstellung
ImagesEin Routinefall
ImagesEin Fall mit Schwierigkeiten
ImagesEin komplizierter Fall

1. Auflage 2014

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022604-3

E-Book Formate:

pdf:       978-3-17-023859-6

epub:    978-3-17-025554-8

mobi:    978-3-17-025555-5

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Inhalt

 

 

  1. Einleitung
  2. 1 Die Struktur der Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren«
  3. 1.1 Institutionen und Handlungsfelder pflegerischer Versorgung
  4. 1.2 Kompetenzen und Rollen professionell Pflegender
  5. 1.3 Der Pflegeprozess als Handlungsstruktur
  6. 1.4 Komplexität von Fall- und Pflegesituationen
  7. 1.5 Neue Formen der Pflegeausbildung
  8. 2 Was ist fallorientierte Didaktik?
  9. 2.1 Begriffliche Annäherung
  10. 2.2 Bedeutung fallbezogener Methoden im Rahmen der allgemeinen und der berufspädagogischen Didaktik
  11. 2.3 Probleme lösen, Entscheidungen treffen
  12. 2.4 Bedeutung der fallorientierten Didaktik im Rahmen der Pflegepädagogik
  13. 3 Methodische Ansätze zur Gestaltung von fallbasiertem Unterricht
  14. 3.1 Auswahl eines geeigneten Falls
  15. 3.1.1 Die analytische Dimension
  16. 3.1.2 Die theoretisch-konzeptionelle Dimension
  17. 3.1.3 Die darstellende Dimension
  18. 3.2 Lernen mit Lösungsbeispielen (ein Routinefall)
  19. 3.2.1 Exemplarische Aufschlüsselung der Wissensgrundlagen
  20. 3.2.2 Musterlösungen im fallbasierten Unterricht
  21. 3.2.3 Grenzen der Arbeit mit Musterlösungen
  22. 3.3 Problemorientiertes Lernen (ein Fall mit Schwierigkeiten)
  23. 3.3.1 Problemorientiertes Lernen im fallbasierten Unterricht
  24. 3.3.2 Die Methode 7-Sprung
  25. 3.3.3 Grenzen des POL im Unterricht
  26. 3.4 Fallstudienarbeit nach Kaiser (ein komplizierter Fall)
  27. 3.4.1 Fallstudienarbeit nach Kaiser im Unterricht
  28. 3.4.2 Rolle und Verantwortung der Lehrenden
  29. 3.4.3 Umgang mit Widerständen
  30. 3.5 Szenische Bearbeitung von Fällen (das Drama des Falls)
  31. 3.5.1 Pflegepädagogische Arbeit an und mit Gefühlen und Haltungen
  32. 3.5.2 Rollenspiel im fallbasierten Unterricht
  33. 3.5.3 Grenzen und Gefahren der szenischen Fallarbeit
  34. 3.6 Fallbasierte Arbeit an ethisch-moralischen Grenzsituationen (das Dilemma im Fall)
  35. 3.6.1 Entwicklung von Werthaltungen als Bildungsziel
  36. 3.6.2 Dilemmadiskussion im fallbasierten Unterricht
  37. 3.6.3 Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion
  38. 3.6.4 Gefahren und Herausforderungen der Dilemmadiskussion
  39. 3.7 Hochschuldidaktische Implikationen der Fallarbeit
  40. 3.7.1 Forschendes Lernen
  41. 3.7.2 Evidenzbasierte Fallbearbeitung
  42. 4 Fallarbeit als Brücke zwischen Theorie und Praxis
  43. 4.1 Ansätze situierten Lernens
  44. 4.2 Einsatz von Lernaufgaben
  45. 4.3 Portfolio: Möglichkeiten der Dokumentation und Reflexion
  46. 5 Potenziale für die Schulentwicklung
  47. 5.1 Fallorientierte Didaktik als Beitrag zur Unterrichtsentwicklung
  48. 5.2 Fallorientierte Didaktik im Zirkel der Unterrichtsentwicklung
  49. 5.3 Unterrichtsentwicklung durch mehrperspektivische Evaluation
  50. 5.4 Von der Unterrichts- zur Schulentwicklung
  51. Literatur
  52. Stichwortverzeichnis

Einleitung

 

 

Die Ausübung des Pflegeberufs wird immer anspruchsvoller: Professionelles Pflegehandeln umfasst verantwortungsvolles Planen, Gestalten und Auswerten von Pflegesituationen. Die Settings, in denen diese berufliche Tätigkeit ausgeübt wird, haben sich zunehmend ausdifferenziert und die Aufgaben werden immer komplexer. Damit sind auch ganz neue Herausforderungen an die Pflegeausbildung gestellt. Die mit diesem didaktischen Begleitband eröffnete neue Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren« versteht sich als ein Kompendium für die Pflegeausbildung, das sowohl die verschiedenen Versorgungsbereiche, in denen Pflegekräfte tätig werden, als auch die unterschiedlichen Lebensalter und -situationen der Pflegeempfänger/-innen abbildet.

Die elf Bände der Reihe spiegeln die wesentlichen Institutionen wider, in denen pflegerische Versorgung stattfindet. In einem Einleitungsteil wird in die Besonderheiten des jeweiligen Settings eingeführt. Pflegewissenschaftliche Experten-Standards und neueste wissenschaftliche Erkenntnisse werden dabei ebenso wie die Ausbildungsziele der Prüfungsordnungen berücksichtigt. Bei der Darbietung von Wissen und Kenntnissen in Form von Musterfällen wird außerdem Bezug genommen auf ein Rollenmodell von professioneller Pflege, das die unterschiedlichen Aspekte des beruflichen Handelns aufzeigt und auf fallbezogene Besonderheiten und Schwerpunkte professionellen pflegerischen Handelns hinweist. Die fallorientierte Aufbereitung von Lerngegenständen greift den berufspädagogischen Trend der Kompetenz- und Handlungsorientierung auf und setzt ihn fachdidaktisch um.

Der hier vorliegende didaktische Begleitband für Lehrende führt in die Grundlagen der fallorientierten Didaktik ein und bietet Anregungen und Hilfestellungen für die konkrete Unterrichtsgestaltung mit ausgearbeiteten Fällen und Musterlösungen der Bandreihe an. Das erste Kapitel führt in Aufbau und Struktur der Lehrbuchreihe entlang der Institutionen pflegerischer Versorgung und professionellem Pflegehandeln ein. Im zweiten Kapitel werden fallorientierte Unterrichtsverfahren einführend lerntheoretisch, berufspädagogisch und pflegedidaktisch erklärt und die inhaltliche Struktur der Fälle und Lösungen näher erläutert. Im dritten Kapitel wird entlang einzelner methodischer Ansätze wie z. B. der Fallarbeit nach Kaiser, dem POL, dem szenischen Spiel und der Dilemmadiskussion erklärt, wie das Lernen und Lehren mit pflegerelevanten Falllösungen erfolgreich gestaltet werden kann. Anschaulich und realitätsnah werden hilfreiche Umsetzungsanregungen beschrieben. Das vierte Kapitel widmet sich der Lernortkooperation: Vorgestellt werden Methoden zur Praxisverknüpfung, die den Transfer im Rahmen fallorientierten Unterrichts entwickelter Kompetenzen auf die Handlungspraxis fordern und fördern.

Den Abschluss bildet ein Schlaglicht auf mögliche Schulentwicklungspotenziale durch unterschiedliche Verfahren und Instrumente der Unterrichtsentwicklung im Kontext fallorientierter Didaktik.

Dieser Band wendet sich an Lehrende in der Pflegeaus- und Weiterbildung an Schulen, Hochschulen oder im Praxisfeld sowie an Studierende der Pflegepädagogik.

 

Kassel/Tübingen im März 2014

1        Die Struktur der Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren«

1.1       Institutionen und Handlungsfelder pflegerischer Versorgung

 

Pflegerische Versorgung wird sowohl in institutionalisierter Form als auch nicht-institutionalisiert geleistet. Die Ausbildung zur professionellen Pflegefachkraft erfolgt innerhalb und für die institutionalisierte Form pflegerischer Versorgung. Im Hinblick auf die Institutionen pflegerischer Versorgung hat sich mit einer quantitativen Zunahme des Pflegebedarfs und mit zunehmender Komplexität pflegerischer Versorgung in den letzten Jahren auch eine zunehmende Differenzierung von Handlungsfeldern entwickelt. Diese Ausdifferenzierung an Handlungsfeldern, in denen professionelle Pflegekräfte erforderlich sind und tätig werden können, bildet sich auch in den gesetzlichen Grundlagen der Pflegeausbildungen ab. In diesen Versorgungsfeldern kommen Gesundheits- und Krankenpflegerinnen, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen und Altenpflegerinnen zum Einsatz.

arrow Orte der praktischen Ausbildung arrow

Die Auszubildenden in der Gesundheits- und Krankenpflege und Gesundheits- und Kinderkrankenpflege müssen unterschiedliche Handlungsfelder im Rahmen ihrer praktischen Ausbildung durchlaufen. In der geltenden Ausbildungs- und Prüfungsordnung werden Praxiseinsätze in den folgenden Fachgebieten verbindlich vorgegeben (vgl. KrPflAPrV, Anlage 1, 2004, S. 10):

•  »Gesundheits- und Krankenpflege von Menschen aller Altersgruppen in der stationären Versorgung in kurativen Gebieten in den Fächern Innere Medizin, Geriatrie, Neurologie, Chirurgie, Gynäkologie, Pädiatrie, Wochen- und Neugeborenenpflege sowie in mindestens zwei dieser Fächer in rehabilitativen und palliativen Gebieten

•  Gesundheits- und Krankenpflege von Menschen aller Altersgruppen in der ambulanten Versorgung in präventiven, kurativen, rehabilitativen und palliativen Gebieten.«

Zur Differenzierung der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege von der zur Gesundheits- und Kinderkrankenpflege kommen für die erst genannte die stationäre Versorgung in der Psychiatrie für die zweit genannte die stationäre Versorgung in der Neonatologie, Kinderchirurgie, Neuropädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie hinzu.

Für die Altenpflege werden im Altenpflegegesetz von 2003 für die praktische Ausbildung die Handlungsfelder Pflegeheim und ambulanter Pflegedienst festgelegt. Neben diesen Pflichteinsätzen sind Einsätze in weiteren Handlungsfeldern möglich, in denen ältere Menschen versorgt und gepflegt werden (vgl. AltPflG 2003, § 4, Abs. 3):

•  psychiatrische Kliniken mit gerontopsychiatrischer Abteilung oder andere Einrichtungen der gemeindenahen Psychiatrie,

•  Allgemeinkrankenhäuser, insbesondere mit geriatrischer Fachabteilung oder geriatrischem Schwerpunkt,

•  geriatrische Rehabilitationseinrichtungen,

•  Einrichtungen der offenen Altenhilfe.

Aus der Zusammenschau der Versorgungsbereiche, die sowohl die praktische Ausbildung aller drei Pflegeberufe als auch deren spätere Handlungsfelder umfassen, leitet sich die Bandstruktur der Lehrbuchreihe ab. Jedem wichtigen Handlungsfeld ist ein eigener Band von »Pflege fallorientiert lernen und lehren« gewidmet:

•  Ambulante Pflege

•  Ambulante und stationäre Palliativpflege

•  Chirurgie

•  Geriatrie

•  Gynäkologie und Geburtshilfe

•  Innere Medizin

•  Pädiatrie

•  Psychiatrie

•  Rehabilitation

•  Stationäre Langzeitpflege

arrow Pflegerische Handlungsfelder arrow

Dieses Strukturierungsprinzip einer Lehrbuchreihe bildet insofern einen neuartigen Ansatz, als es einen induktiven Zugang zum Kompetenzerwerb für reale handlungsfeldbezogene Anforderungen bietet. Ausgangspunkt der Bände ist die Besonderheit der pflegerischen Versorgung in diesem Handlungsfeld und nicht die in dem jeweiligen Bereich vorherrschenden Krankheitsbilder, die sonst häufig Pflegelehrbücher strukturieren. Nachdem das pflegerische Handlungsfeld einleitend umrissen wurde, wird im zweiten und umfangreicheren Teil das pflegespezifische Wissen konsequent fallorientiert aufbereitet und dargeboten. Auch hier folgt also die Darstellung den Situationen, wie sie professionell Pflegenden begegnen und als Handlungsaufforderung wirksam werden, da sie nicht einer medizinischen Systematik folgen. Bereits nach ersten Praxiserfahrungen ergibt sich dadurch ein Wiedererkennungseffekt, der es den Lernenden ermöglicht, sich in die Fälle einzudenken und -zufühlen und Wissen handlungsbezogen zu erwerben.

Der Reihentitel »Pflege fallorientiert lernen und lehren« leitet sich aus dem Anspruch ab, die nach institutionellen Handlungsfeldern gegliederten pflegerischen Versorgungsbereiche anhand von Fällen darzustellen. Mit dieser Gesamtstruktur verbindet sich auch das Anliegen, die Bereiche möglichst handlungsorientiert, realitätsnah und lerngerecht aufzubereiten. Die Bände verstehen sich darüber hinaus als Lernunterstützung für die Auszubildenden, sollen andererseits aber auch den Lehrenden Grundlagen, Ideen und Materialien für die Unterrichtsvorbereitung bieten.

1.2       Kompetenzen und Rollen professionell Pflegender

Berufliche Handlungskompetenz ist das Leitziel aller Berufsausbildungen, so auch der Pflegeausbildungen. Dieses Ziel bezieht sich auch und gerade auf den theoretischen Teil der Ausbildung am Lernort Schule. Nicht träges, gerade noch für die Prüfung abrufbares und nach Fächern sortiertes Wissen, sondern umsichtige und reflektierte Problemlösungskompetenz ist hier gefragt!

Mit ihrem konsequent fallorientierten Aufbau bezieht sich die Buchreihe »Pflege fallorientiert lernen und lehren« auf dieses Ziel, ausgehend vom Pflegeunterricht Kompetenz anzubahnen (vgl. hierzu Images Kap. 2). Dabei wird Kompetenz in Anlehnung an die weithin anerkannte Definition von Weinert (2001, S. 27 f.) bestimmt.

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Weinert (2001, S. 27 f.) definiert Kompetenz als die Bereitschaft und Fähigkeit, Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten in einer konkreten Handlungssituation zu verknüpfen, um eine Herausforderung zu bewältigen bzw. ein Problem zu lösen. Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten stellen dabei die personalen Ressourcen eines Menschen dar, die um externe Ressourcen erweitert werden können. Diese externen Ressourcen kann die Unterstützung durch andere Menschen oder auch die Nutzung von zugänglichen Informationen sein. Die Fähigkeit, Unterstützung durch andere zu organisieren bzw. sich Zugang zu Informationen zu verschaffen und diese auszuwerten, ist ebenso Bestandteil der Kompetenz.

Der Einsatz der personalen Ressourcen und die Art und Weise der Nutzung von externen Ressourcen wird beeinflusst von individuellen Werten, Einstellungen und Bedürfnissen. Diese Normen und Motive sind mit entscheidend dafür, ob und in welcher Weise personale Ressourcen eingesetzt und externe Ressourcen in Anspruch genommen werden. In jedem Fall bedarf es einer echten Herausforderung, um einen Handlungsimpuls auszulösen, der darin gipfelt, dass Kompetenz gezeigt wird und zur Anwendung kommt (Performanz).

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Abb. 1.1: Kompetenzmodell (Reiber, 2012, S. 13)

arrow Aufbau der Reihe arrow

Der fallorientierte Aufbau der Reihe soll Lehrende und Lernende dabei unterstützen, Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten darzubieten bzw. zu erwerben im Hinblick auf ein in der Fallbeschreibung dargelegtes Problem. Dabei werden Lehrende und Lernende das rund um die Fallbeschreibungen und Musterlösungen bereitgestellte Material und ggf. noch zusätzliche weitere Informationsquellen (z. B. Internet, medizinische Fachbücher) nutzen. Sie werden darüber hinaus immer wieder dazu angeregt, die eigenen handlungsleitenden Haltungen zu reflektieren.

Professionelles Pflegehandeln ist äußerst komplex. Es umfasst manuelle Routinefertigkeiten ebenso wie das schnelle Entscheiden und Handeln in völlig unvorhergesehenen Situationen, wie z. B. einem akuten Notfall. Neben der fachlichen und Methodenkompetenz benötigen professionell Pflegende ein großes Repertoire an sozialen und personalen Kompetenzen, um den vielschichtigen Herausforderungen im täglichen Umgang mit kranken bzw. von Krankheit bedrohten Menschen angemessen zu begegnen. Die Zusammenarbeit in einem Team von Angehörigen unterschiedlicher Berufsgruppen macht es darüber hinaus erforderlich, sich in andere professionelle Perspektiven und Sichtweisen eindenken und über die eigene professionelle Position in eine verständliche Aushandlung treten zu können.

arrow Aufgabenschwerpunkte arrow

Dieser Facettenreichtum des professionellen Pflegehandelns wird in den Bänden in Form unterschiedlicher Aufgabenschwerpunkte abgebildet, die situativ in den Vordergrund treten können. Im Mittelpunkt steht der Aufgabenschwerpunkt

arrow Pflegeexpertin arrow

der Pflegeexpertin mit ihrer Problemlösungskompetenz im Rahmen des Pflegeprozesses (ausführlicher dazu Images Kap. 1.3): Es geht hier immer darum, eine Situation mit ihren Problemen, Gefahren und Ressourcen umfassend einzuschätzen und die Vision eines besseren Zustands zu entwerfen. Im Vergleich von Ist- und Soll-Zustand werden unter Beteiligung der Betroffenen die Ziele herausgearbeitet, die in dieser spezifischen Situation maximal erreichbar sind. Auf Basis dieser Ziele werden wiederum die Pflegeinterventionen, deren Zwischen- und Endergebnisse geplant und durchgeführt. Die Abschlussevaluation ermittelt die Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen und ob bzw. inwieweit die Ziele erreicht wurden. Aus ihr werden ggf. weitere Schritte und Maßnahmen abgeleitet.

Alle weiteren Aufgabenschwerpunkte sind Aspekte des Expertenhandelns und in dieses integriert (vgl. Reiber, 2012):

arrow Vermittlerin arrow

•  Vermittlerin: Die Pflegeexpertin kann Informationen unterschiedlichster Quellen aufnehmen, konstruktiv auswerten und miteinander verknüpfen. Sie kann Informationen und ihr eigenes Fachwissen situations- und zielgruppengerecht vermitteln. Sie kann mit Betroffenen und Beteiligten die Ziele und Maßnahmen aushandeln, wobei sie ihre Erfahrung und ihr Wissen dazu nutzt, die zu erwartenden Wirkungen darzulegen.

arrow Interprofessionelle Partnerin arrow

•  Interprofessionelle Partnerin: Die Pflegeexpertin arbeitet mit Angehörigen anderer Gesundheitsberufe fall- und patientenbezogen gleichberechtigt zusammen. Sie bezieht auch Patienten und ggf. ihre Angehörigen in die Zusammenarbeit mit ein. Sie kann Dienstleistungen anderer Organisationseinheiten, wie beispielsweise der Verwaltung oder der Hauswirtschaft, sinnvoll für die Unterstützung ihres professionellen Pflegehandelns nutzen. Umgekehrt liefert sie ihnen die Daten und Informationen, die sie zur Bereitstellung diese Unterstützungsprozesse benötigen.

arrow Managerin arrow

•  Managerin: Die Pflegeexpertin kann alle mit der Problemlösung verbundenen Organisations- und Steuerungsarbeiten wahrnehmen und führt diese so aus, dass sie dem eigentlichen professionellen Pflegehandeln dienen (und nicht umgekehrt). Sie trifft Entscheidungen auf der Basis von anerkannten und transparenten Kriterien und macht diese anderen nachvollziehbar. Sie geht verantwortlich mit den begrenzten Ressourcen Umwelt, Finanzen, Zeit und Personal um.

arrow Gesundheitsfürsprecherin arrow

•  Gesundheitsfürsprecherin: Die Pflegeexpertin stellt ihr Handeln in den Dienst der Gesundheit einzelner Menschen, sozialer Gruppen und der Gesellschaft. Sie nimmt im Rahmen des Pflegeprozesses eine ressourcenorientierte Perspektive ein, um gesundheitliche Potenziale eines Menschen und seines Umfeldes bestmöglich zu berücksichtigen. Dabei hat sie nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch zukünftige gesundheitliche Potenziale und Risiken der Person im Blick.

arrow Lernende und Lehrende arrow

•  Lernende und Lehrende: Die Pflegeexpertin entwickelt ihre Kompetenz fortlaufend weiter und stellt sie anderen als Anleiterin, Mentorin und auch als Vorbild zur Verfügung. Sie unterstützt, so es in ihrer Funktion erforderlich ist, Forschung und Entwicklung und beteiligt sich regelmäßig an Fort- und Weiterbildungen.

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•  Professionelles Vorbild: Die Pflegeexpertin folgt in ihrem Handeln und Verhalten den Standards ihrer Profession, steht hinter deren Berufskodex und trägt aktiv in der täglichen Berufspraxis zu seiner Umsetzung bei. Sie beteiligt sich an der Weiterentwicklung des Pflegeberufs und trägt zu seinem gesellschaftlichen Ansehen bei, ohne anderen Professionen zu schaden.

Diese Aufgabenschwerpunkte sind hergeleitet und für das professionelle Pflegehandeln adaptiert aus dem CanMEDS-Modell (Frank, 2005), den »Canadian Medical Education Directions for Specialists« (Frank, 2005, S. vii), das dank seiner weiten Verbreitung nicht mehr nur auf die Ausbildung von Medizinern und auf den kanadischen Raum begrenzt ist. Inzwischen wird das Modell auch in Europa und im deutschsprachigen Raum für Ausbildungsreformen und im Rahmen der Curriculumentwicklung genutzt – nicht nur mit Blick auf die medizinische Ausbildung, sondern auch für andere Gesundheitsberufe (vgl. Reiber, 2012; Images Abb. 1.2).

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Abb. 1.2: Das CanMEDS-Modell (vgl. Frank, 2005, S. 3, eigene Übersetzung)

Für die Bearbeitung der Fälle bedeutet dieses Rollenmodell, dass jeder Fall als Problemlösungsprozess strukturiert wird. Die Lösung des Falls kann entlang der Wissensgebiete vorgenommen werden, die die Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen vorgeben, d. h. das Wissen wird fallbezogen nach originärem pflegebezogenem und gesundheitswissenschaftlichem Fachwissen oder pflegerelevanten Kenntnissen aus Medizin, Naturwissenschaften, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie aus Recht, Politik und Wirtschaft (vgl. KrPflAPrV, Anlage 1, 2004) aufbereitet und dargestellt.

Innerhalb des Problemlösungsprozesses werden die einzelnen Aufgabenschwerpunkte gemäß ihrer Bedeutung im jeweiligen Fall herausgearbeitet.

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Treffen in einem Fall unterschiedliche Interessen des Pflegeempfängers, seiner Angehörigen und der professionellen Beteiligten aufeinander, ist die Pflegeexpertin in ihrer Rolle als Vermittlerin gefragt: Sie handelt mit allen Betroffenen und Beteiligten unter Einbeziehung ihrer fachlichen Kompetenz aus, welche Ziele mithilfe welcher Maßnahmen erreicht werden sollen. In einem sehr komplexen Setting pflegerischer Versorgung mit

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einer hohen Beteiligung anderer Gesundheitsfachberufe sowie zahlreichen weiteren Dienstleistungen tritt die Pflegeexpertin in ihrer Rolle als interprofessionelle Partnerin auf, indem sie mit den anderen Berufsangehörigen sowie Organisationseinheiten die erforderlichen Informationen austauscht. Wenn sie innerhalb dieses komplexen Settings die Steuerungsfunktion

arrow Managerin arrow

wahrnimmt, indem sie alle weiteren Dienstleistungen patientenbezogen koordiniert, ist ihre Rolle die der Managerin. Im Sinne von Case Management steuert sie den Fall so aus, dass keine Informationen verloren gehen und der Betroffene nicht unnötig (z. B. durch Mehrfachuntersuchungen und -abläufe) belastet wird. Zur Gesundheitsfürsprecherin wird

arrow Gesundheitsfürsprecherin arrow

sie in Fällen, in denen sie sich nicht nur für die Heilung oder Linderung von Krankheiten einsetzt, sondern sich ganz dezidiert für die Gesundheitsförderung stark macht. Dies kann sich auch auf Situationen beziehen, in denen nicht einzelne Pflegeempfänger im Mittelpunkt stehen, sondern die Situation an sich: So kann sie sich z. B. für gesundheitsförderliche Versorgungsstrukturen und Arbeitsbedingungen einsetzen, die dann allen Pflegeempfängern und Kollegen zu Gute kommen. Ist ein Fall dadurch

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gekennzeichnet, dass die anderen beteiligten Pflegekräfte noch sehr unerfahren sind, wird der Aufgabenschwerpunkt »Lehrende und Lernende« eine besondere Rolle spielen, weil die Pflegeexpertin hier besondere Funktionen in der kollegialen Anleitung wahrnimmt. Gehört zur Falllösung, dass der Betroffene zeitweise oder dauerhaft selbst eine Pflegeintervention (z. B. Blutzuckermessung und Insulininjektion bei Diabetes mellitus) durchführen muss, liegt der Aufgabenschwerpunkt der Pflegeexpertin ebenfalls in der Lehrenden-Rolle: Sie muss Patienten und/oder Angehörige dazu anleiten und dabei beraten, diese Aufgabe mit zunehmender Selbstständigkeit selbst auszuführen. Beinhaltet ein Fall ein ethisches

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Dilemma (z. B. die Frage nach lebensverlängernden Maßnahmen, wenn eine Patientenverfügung vorliegt), ist die Pflegeexpertin ihrer Rolle als professionelles Vorbild gefragt: In ihrem Handeln bilden sich die Standards ihrer Profession ab und sie tritt für ihren Berufskodex ein.

1.3        Der Pflegeprozess als Handlungsstruktur

Kern des Expertenhandelns ist der Pflegeprozess. Deshalb bildet er als professioneller Problemlösungsprozess die Handlungsstruktur bei der Fallbearbeitung ab. Der Pflegeprozess ist eine systematische und wissenschaftlich fundierte Vorgehensweise, um pflegerische Probleme zu beheben, zu verhüten oder zu kompensieren; er besteht aus verschiedenen Phasen oder Schritten (vgl. Brobst et al., 2007). Diese Definition des Pflegeprozesses als Problemlösungsprozess hat für die fallorientierte Didaktik eine weitreichende Bedeutung: Bei der Fallbearbeitung wird eine konsequent lösungsorientierte Perspektive eingenommen!

arrow Professioneller Problemlösungsprozess arrow

Die Phasen und Schritte dieses Problemlösungsprozesses entfalten eine vollständige professionell-pflegerische Handlung von der Situationseinschätzung bis hin zur Evaluation der auf der Basis von Zielen gewählten und durchgeführten Intervention(en). Im Einzelnen lassen sich folgende Handlungsschritte unterscheiden (vgl. Brobst et al., 2007; Stefan et al., 2005):

1.  Pflegeassessment: Sammlung und Einschätzung aller objektiven und subjektiven Daten zur Gesundheits- und Pflegesituation der Klientin, einschließlich ihrer Ressourcen und Fähigkeiten und des Potenzials ihres Umfeldes;

2.  Pflegediagnose: Analyse der erhobenen Daten und Zuordnung zu einem bestehenden Klassifikationssystem (z. B. NANDA, ICNP) oder frei formuliert mit dem Ziel, die Ist-Situation zu erfassen, um daraus die Ziele abzuleiten;

3.  Pflegeplanung: Die Pflegediagnosen werden priorisiert gemäß ihrer Bedeutung für den Betroffenen und ihrer Dringlichkeit; Ziele werden als positiver Gegenentwurf zur Ausgangssituation formuliert und mit entsprechenden Überprüfungskriterien hinterlegt. Vor dem Hintergrund der Pflegediagnosen und mit der Ausrichtung auf die fest gelegten Ziele werden die Maßnahmen und Interventionen geplant und dokumentiert, die von der Ist- zur Soll-Situation führen;

4.  Pflegeimplementation: Durchführung und Dokumentation der ausgewählten Maßnahmen sowie die handlungsbegleitende Einschätzung und Überwachung;

5.  Pflegeevaluation: Erhebung der Ergebnisse sowie Bewertung und Dokumentation der Zielerreichung.

Dieses Phasenmodell ist weder mit dem fünften und letzten Schritt abgeschlossen, noch eine Endlosschleife. Vielmehr handelt es sich um ein spiralförmiges Vorgehen insofern, als nach dem Abschluss eines Handlungsablaufs ein oder mehrere weitere Abläufe folgen können, die aber jeweils einen anderen Ausgangspunkt haben. Der Begriff »Pflegeprozess« bringt ja bereits sprachlich zum Ausdruck, dass es sich hierbei um eine dynamische Entwicklung handelt.

Der Pflegeprozess steht gleichsam für die fortschreitende Professionalisierung pflegerischen Handelns: Im Rahmen dieses Prozesses wird das Handeln wissenschaftlich fundiert und systematisch geplant, es wird dokumentiert und damit transparent gemacht und legitimiert und es wird sowohl selbst ausgewertet und eingeschätzt als auch einer externen Überprüfung zugänglich gemacht. Aus diesem Grund bildet der Pflegeprozess den Kern des Expertenhandelns und somit professionell-pflegerischer Handlungskompetenz.

Für die Fallbearbeitung im Rahmen didaktischen Handelns bedeutet dies, dass die Schritte des Pflegeprozesses spiralförmig erarbeitet werden. Eingewoben in diesen Problemlösungsprozess werden dann die anderen Rollenaspekte, die jeweils eine bedeutende Rolle spielen. So ist es z. B. denkbar, dass im Rahmen der Informationssammlung für das Pflegeassessment die Rolle der Vermittlerin hervorgehoben werden muss oder für die Einschätzung dieser Informationen die Rolle der Lernenden besonders bedeutsam wird, da spezifisches Fachwissen erworben werden muss, um die erhobenen Informationen angemessen einschätzen zu können. Bei der Pflegeplanung kann wiederum die Rolle der Gesundheitsfürsprecherin hervorstechen, da sowohl Zielformulierung als auch Maßnahmenplanung dezidiert auf Ressourcen und Bedürfnissen des Betroffenen bezogen werden. Im Rahmen der Umsetzung haben die Rollen der interprofessionellen Partnerin und der Managerin eine zentrale Funktion, da die Pflegeinterventionen mit diagnostischen und therapeutischen Interventionen anderer Gesundheitsberufe abgestimmt werden müssen oder der Pflegeperson sogar die Aufgabe zukommt, alle erforderlichen Maßnahmen des Gesundheitssystems bezogen auf einen Fall bzw. die betroffene Person miteinander zu matchen.

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Abb. 1.3: Modifiziertes und erweitertes Rollenmodell (Reiber, 2012, S. 32)

1.4        Komplexität von Fall- und Pflegesituationen

Neben der Anordnung nach institutionellen Handlungsfeldern, den Rollen und Kernkompetenzen professionell Pflegender und dem Pflegeprozess als Handlungsrahmen spielt bei der Fallbearbeitung im Rahmen der fallorientierten Didaktik natürlich auch eine Rolle, wie komplex die darin vorgestellte Pflegesituation ist. In einem weniger komplexen Fall kann stärker auf Handlungsroutinen zurückgegriffen werden und Komplikationen bzw. nicht absehbare Verlaufsveränderungen sind unwahrscheinlicher. Beides nimmt mit der Komplexität eines Falls zu, so dass in einem komplexeren Fall ein flexibleres professionelles Handeln erforderlich ist, das sich an dynamische Situationen zeitnah anpassen kann. Auch ist in einem komplexeren Fall vermehrt mit Rollenkonflikten zu rechnen, weil zeitgleich hohe Anforderungen an unterschiedliche Rollenaspekte gestellt werden. Aus diesem Grund variieren die Fallbeschreibungen im Rahmen der fallorientierten Didaktik zwischen wenig bis hoch komplexen Pflegesituationen.

Für die Hierarchisierung von Pflegesituationen gemäß ihrer Komplexität und den damit verbundenen Anforderungen an Qualifikation und Kompetenz von Pflegenden bietet der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) eine hilfreiche Struktur (vgl. Olbrich, 2010; DBR, 2007). Bezieht man die formalen Qualifikationsstufen auf den Anforderungsgehalt der damit zu bewältigenden Pflegesituation ergibt sich folgende Systematik:

•  Stabile Pflegesituationen, in denen orientierte Personen bei ihrer Selbstpflege und ggf. bei hauswirtschaftlichen Leistungen unterstützt werden: »Ausgangspunkt ist die Erhaltung und Förderung der Selbstständigkeit des Pflegebedürftigen« (de Jong/Landenberger, 2005, S. 123).

•  Medizinisch-pflegerische komplexe Situationen, die über Standards und Handlungsvorschriften hinausgehen und die auch Beratungs-, Anleitungs-, Koordinations- und Qualitätssicherungsfunktionen umfassen (vgl. de Jong/Landenberger, 2005).