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Hans-Werner Wahl Andreas Kruse (Hrsg.)

Lebensläufe im Wandel

Sichtweisen verschiedener Disziplinen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022171-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023909-8

epub:    ISBN 978-3-17-025376-6

mobi:    ISBN 978-3-17-025377-3

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Inhalt

  1. Vorwort
  2. I    Einführung und ausgewählte Zugänge
  3.      Vorspann der Herausgeber
  4. 1   Lebenslaufforschung – ein altes und neues interdisziplinäres Forschungsthema
  5.   Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl
  6. 2   Grundlagen der soziologischen Lebenslaufforschung
  7.   Gertrud M. Backes
  8. 3   Grundlagen der psychologischen Lebenslaufforschung
  9.   Hans-Werner Wahl und Andreas Kruse
  10. 4   Grundlagen der ethnologischen Lebenslaufforschung
  11.   Anita von Poser und Alexis Th. von Poser
  12. II    Partialblicke auf neue Lebensläufe – Auswirkungen auf den gesamten Lebenslauf
  13.      Vorspann der Herausgeber
  14. 5   Was ist ein Baby/Kleinkind? Wie unsere Sicht auf die frühe Kindheit das Leben in dieser Phase prägt
  15.   Sabina Pauen
  16. 6   Schule in neuen Gewändern – Veränderungen der Institution Schule und ihre Auswirkungen auf den Lebenslauf
  17.   Birgit Spinath
  18. 7   Jugendalter – alte und neue Herausforderungen beim Übergang ins Erwachsenenalter
  19.   Andreas Kruse und Eric Schmitt
  20. 8   Die Entwicklung von sozialen Beziehungs- und Familienformen im mittleren Erwachsenenalter
  21.   Jan Eckhard und Thomas Klein
  22. 9   Herausforderungen und neue Gestaltungsmöglichkeiten des mittleren Lebensalters
  23.   Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger
  24. 10   Berufliche Entwicklung in Veränderung
  25.   Andreas Kruse und Michael Hüther
  26. 11   Neue Übergänge von der späten Berufsphase in den Ruhestand
  27.   Andreas Kruse
  28. 12   Die neue Lebensphase Alter
  29.   Franz Kolland und Anna Wanka
  30. 13 Herausforderungen am Ende der Lebensspanne – Facetten von Hochaltrigkeit zwischen bedeutsamer Anpassung und hoher Verletzlichkeit
  31.   Oliver Schilling und Hans-Werner Wahl
  32. 14 Gestaltung des Lebensendes – End of Life Care
  33.   Hartmut Remmers und Andreas Kruse
  34. III    Variationen von Gesamtsichtweisen des Lebenslaufs
  35. IIIa   Sozialkulturelle Kontexte veränderter Lebensläufe
  36.      Vorspann der Herausgeber
  37. 15 Neue Lebenslaufkonzeptionen im Hinblick auf körperliche Gesundheit und Prävention
  38.   Hartmut Remmers
  39. 16 Neue Bildung über den Lebenslauf
  40.   Rudolf Tippelt und Johanna Gebrande
  41. 17 Neue Medien – neue Lebensläufe? Vergleichende Betrachtungen der Rolle neuer Medien für Kindheit/Jugend und für das höhere Lebensalter
  42.   Sabina Misoch, Michael Doh und Hans-Werner Wahl
  43. 18 Die Bedeutung von Altersbildern im Lebenslauf
  44.   Catherine E. Bowen, Anna E. Kornadt und Eva-Marie Kessler
  45. IIIb Ethische und spirituelle Fragen im Lichte der drei monotheistischen Religionen
  46.      Vorspann der Herausgeber
  47. 19 Neue ethische Fragen neuer Lebenslaufmuster und -anforderungen
  48.   Thomas Rentsch
  49. 20 Jüdische Lebensläufe – Kritische Lebensereignisse und ihre Rituale
  50.   Micha Brumlik
  51. 21 Neue Entwicklungsanforderungen über die Lebensspanne aus Sicht des Christentums
  52.   Uwe Sperling
  53. 22 Ein Blick auf islamische Traditionen: Die Stellung älterer Menschen im islamisch geprägten Ägypten
  54.   Michael Bolk
  55. IV  Neue Lebensläufe als Herausforderung einer interdisziplinären Lebenslaufforschung: (De-)Standardisierung des Lebenslaufs, Genderaspekte und Resümee
  56.      Vorspann der Herausgeber
  57. 23 Neue Lebenslaufmuster im Wechselspiel von Standardisierung und De-Standardisierung
  58.   Simone Scherger
  59. 24 Neue Lebensläufe der Geschlechter aus entwicklungspsychologischer Sicht
  60.   Insa Fooken
  61. 25 Selbstbestimmte vs. fremdbestimmte Entwicklung im Lebenslauf – Ein Resümee vor dem Hintergrund der Beiträge des Buches
  62.   Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl
  63. Verzeichnis der Herausgeber und Autoren
  64. Stichwortverzeichnis

Inhalt des elektronischen Zusatzmaterials

 

 

Zu zahlreichen Kapiteln des Buchs erhalten Sie zusätzliche Materialien im Webshop des Kohlhammer Verlags unter www.kohlhammer.de. (Bitte suchen Sie hier den Buchtitel)

•  Fragen zum Beitrag

•  Weiterführende Literatur

•  »Hot topics« im Bereich der Forschung, in denen in Bezug auf die Thematik des Beitrags besondere Zukunftsherausforderungen bestehen

•  Bedeutsame gesellschaftliche Herausforderungen in Bezug auf die Thematik des Beitrags

•  Kommentierte Linkliste

Vorwort

 

 

Lebensläufe sind, wie es bisweilen heißt, in Veränderung begriffen, und diese Veränderungen zeigen Auswirkungen auf die »Lebenswelt« der Person. So gilt es zum Beispiel, die sich immer weiter ausdehnende Altersphase zu gestalten, ja, zuerst einmal zu lernen, die Gestaltungsmöglichkeiten auch tatsächlich umzusetzen bzw. als neue, späte Freiheit zu begreifen. Aber auch in frühen Lebensphasen ist die Veränderungsdynamik deutlich zu spüren, etwa wenn systematisch neue Bildungsimpulse bereits im Kindergarten gegeben werden, wenn Schule den Beginn einer lebenslangen Bildungssozialisation darstellt. Auch die mittlere Lebensphase, traditionell in der Entwicklungspsychologie eher als »Ruhephase« mit primär stabilen Elementen angesehen, unterliegt deutlichen Veränderungen. Eine Herausforderung besteht zum Beispiel darin, sich in der mittleren Lebensphase beruflich noch einmal neu zu orientieren und insgesamt eine längere »produktive« Arbeitsphase als Teil des eigenen Älterwerdens zu gestalten.

Vor diesem Hintergrund sei gefragt: Wer beschäftigt sich eigentlich wissenschaftlich mit diesen Fragen? Unsere Lebenslaufgestalt ist ein Gesamtganzes, sollte auch wissenschaftlich letztlich so verstanden werden, jedoch ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lebenslauf weiterhin in selten miteinander korrespondierende disziplinäre Sichtweisen gegliedert, etwa jene der Entwicklungspsychologie, der Soziologie, der Bildungswissenschaft, der Ethnologie und der Gerontologie.

In dem vorliegenden, unterschiedliche Disziplinen vereinigenden Buch unternehmen die Autoren den Versuch, diese unbefriedigende Ausgangslage zu verbessern. So kommen in diesem Buch Vertreter der Disziplinen Bildungswissenschaft, Gerontologie, Medien- und Technikforschung, Gesundheitsforschung, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Ethik, Philosophie und Theologie zu Wort.

Das Buch ist wie folgt aufgebaut: In Teil I wird anhand von ausgewählten Zugängen eine Einführung in die Lebenslaufforschung gegeben. In den Teilen II und III werden dann Partialblicke auf »neue Lebensläufe« (ohne den Lebenslauf in seiner Gesamtheit zu vernachlässigen) und Gesamtsichtweisen auf neue Lebenslaufdynamiken (ohne einzelne Phasen zu ignorieren) einander gegenübergestellt. Teil III teilt sich noch einmal auf in einen Teil IIIa (»Sozialkulturelle Kontexte veränderter Lebensläufe«) und Teil IIIb (»Ethische und spirituelle Fragen im Lichte der drei monotheistischen Religionen«). In Teil IV werden schließlich noch zwei uns zentral erscheinende, übergreifende Sichtweisen (De-/Standardisierung des Lebenslaufs, Genderaspekte) thematisiert. Teil IV schließt mit dem Versuch eines Gesamtresümees. Zu Beginn jeden Teils des Buches findet sich ein Vorspann, der das Lesen und Wesen der jeweiligen Kapitel vorbereiten soll. Zu vielen Kapiteln des Buchs liegen zudem weitere Online-Materialien vor (siehe S. 9).

Wir wünschen uns unterschiedliche Leserinnen und Lesergruppen. An erster Stelle richtet sich das Buch an Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen. Es möchte dazu beitragen, anhand von theoretischem und empirischem Wissen lebenslange Entwicklung und Lebensläufe im Wandel besser zu verstehen – und dies eben aus Sicht unterschiedlicher Disziplinen. Wir möchten aber auch Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen ansprechen, die an Fragen der Entwicklungsforschung interessiert sind. Schließlich würde uns freuen, wenn das Buch in der Praxis (z. B. Pflege, kommunale Planung, Rehabilitation) Interesse fände.

Wir möchten uns sehr herzlich beim Kohlhammer Verlag, Stuttgart, speziell bei Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Frau Celestina Filbrandt und Frau Anita Brutler, dafür bedanken, dass dieses Projekt eine sehr gute Publikationsplattform gefunden hat. Vielfältig vermittelter sehr guter Rat hat unsere Überlegungen im Hinblick auf Inhalt und Gestaltung des Buches immer wieder bereichert. Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für Engagement und enge Kooperation. Und schließlich sei Frau Ursula König für die sehr kompetente und wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung des Manuskripts herzlich gedankt.

 

Heidelberg, im Frühjahr 2014

Hans-Werner Wahl & Andreas Kruse

I         Einführung und ausgewählte Zugänge

Teil I – Vorspann der Herausgeber

 

 

Hier und im Folgenden zu Beginn aller Teilbereiche des Buches möchten wir Sie als Herausgeber auf die Beiträge einstimmen.

Im ersten Teil des Buches sollen Grundlagen gelegt werden, auf die Sie immer wieder bei der Lektüre der weiteren Teile zurückgreifen können. Schon im ersten Teil wird deutlich werden, dass die Beschäftigung mit dem Phänomen Lebenslauf stets selektiv erfolgen muss. Zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen haben zu den Fragen nach der Natur des Ablaufs unseres Lebens viel zu sagen. Einige allerdings haben sich hier traditionell besonders hervorgetan; andere entdecken erst in den zurückliegenden Jahren die intellektuelle und praktische Bedeutung, die in Fragen (und Antworten) nach dem Verlauf unseres Lebens liegt.

Wir beginnen mit einem »Aufschlag« (Images Kap. 1, Kruse und Wahl) zu Grundfragen der Lebenslaufforschung und ihrer Geschichte. Vor allem soll, zentral für das gesamte Buch, aufgezeigt werden, dass eine umfassende Lebenslaufforschung nur interdisziplinär betrieben werden kann. Unseres Wissens wird in diesem Kapitel zum ersten Mal der Versuch unternommen, ein solches Zusammenwirken unterschiedlicher Disziplinen in Gestalt von insgesamt 18 Zugängen zur Lebenslaufforschung darzulegen.

Für die Soziologie (Images Kap. 2, Backes) stehen Fragen nach der Ablaufgestalt des Lebens im Zentrum des Interesses: Sind solche Ablauflogiken gesellschaftlich, historisch, politisch weitgehend festgelegt? Leben wir letztlich »nur« das, was uns an Normen und institutionellen Regelungen vorgegeben ist? Wie verändern gesellschaftliche Entwicklungen letztlich auch unsere ganz persönlichen Werdegänge? Wo bleibt dabei so etwas wie »Entwicklungsfreiheit«?

Die Psychologie (Images Kap. 3, Wahl und Kruse) hat demgegenüber mit dem Begriff der »Entwicklung« stets sehr stark, viel stärker als die Soziologie, auf den Beitrag des Einzelnen im Hinblick auf Gestaltungsmöglichkeiten abgehoben. Ist nicht, so wird gefragt, das lebenslang hochindividualisierte Entwicklungsgeschehen (Biografie!) konstitutiv für eine Anthropologie? Wer überzieht hier den Bogen: die individuelle Sichtweise der Psychologie oder die gesellschaftlich ausgerichtete der Soziologie? Sie werden sich Ihre Meinung bilden.

Und schließen Sie dabei die kulturelle Relativität von angeblich objektiven Größen wie dem menschlichen Alter in Ihre Überlegungen ein (Images Kap. 4, Poser und Poser). Hier wird es, wie wir finden, noch einmal richtig spannend – und verunsichernd zugleich. Was hat es zu bedeuten, wenn wir zu dem Ergebnis kämen, dass unterschiedliche Kulturen das menschliche Altern, die Gesetze des Lebensablaufs, ja, auch das Ende des Lebens völlig unterschiedlich interpretieren?

1          Lebenslaufforschung – ein altes und neues interdisziplinäres Forschungsthema

Andreas Kruse und Hans-Werner Wahl

Zusammenfassung

In diesem Einführungskapitel, das in einem gewissen Sinne als Fundament für das gesamte Buch dient, gehen wir zunächst auf bedeutsame historische Entwicklungslinien der Lebenslaufforschung ein. Dabei zeigt sich, dass die Lebenslaufforschung auf einer reichhaltigen Ideengeschichte zu Vorstellungen menschlicher Entwicklung bzw. zu den Möglichkeiten und Grenzen von Leben und Altern aufbaut. Anschließend untersuchen wir grundlegende Annahmen der Lebenslaufforschung und setzen uns mit drei zentralen Fragen der Lebenslaufforschung auseinander: (1) Wie lässt sich das Wesen menschlicher Entwicklung angemessen beschreiben? (2) Woher rührt Entwicklung? (3) Erfolgt Entwicklung bzw. operieren die Einflüsse auf Entwicklung über den Lebenslauf hinweg in ähnlicher oder in völlig unterschiedlicher Weise? Im Weiteren gehen wir auf die Lebenslaufforschungstraditionen in unterschiedlichen Disziplinen bzw. entsprechenden Unterströmungen ein und kommen dabei zu insgesamt 18 Spielarten wie folgt (vgl. Images Tab. 1.1): Primär Psychologie: (1) Psychodynamische Sichtweisen und die Idee des Primats des frühen Lebens für alles nachfolgende Leben; (2) Stufen- und Phasenmodelle des Lebens; (3) Biografischer Zugang zum Lebenslauf; (4) Lebensspannenpsychologie; (5) Psychologische Theorien zu lebenslanger Entwicklung und Adaptation. Primär Soziologie: (6) Untersuchung von Minoritäten, sozialen Problemlagen und Devianz; (7) Veränderungen in Disengagement und Aktivität bzw. Kontinuität als Lebenslaufmodelle; (8) Standardisierung und Institutionalisierung des Lebenslaufs; (9) Lebenslange Entwicklung als Zusammenwirken von sozialen, kulturellen und historischen Einflüssen; (10) Primär quantitative Lebensverlaufs- und Lebensübergangsforschung. Primär Biologie, Medizin und Epidemiologie: (11) Lebenslange Entwicklung als fortschreitender Wandel der lebenden Substanz; (12) Lebenslaufbezogene Akkumulation von Schutz- und Risikofaktoren. Primär Bildungswissenschaft: (13) Lebenslauf als lebenslange Bildungssozialisation; (14) Idee des lebenslangen Lernens und von lebenslanger Bildung. Primär Demografie: (15) Lebenslauf als markiert von Geburts- und Mortalitätsdynamiken. Primär Philosophie und Theologie: (16) Lebenslange Entwicklung und Altern als Gnade oder Fluch; (17) Lebenslange Glaubensgeschichte als Ressource. Primär Ethnologie/Anthropologie: (18) Kulturen und Ethnien vergleichende Lebenslauf- und Alternsforschung.

1.1       Einführung

Das Bestreben, menschliches Leben als sinnhafte Ablaufcharakteristik verstehen zu wollen, gehört wahrscheinlich zu den ältesten Anliegen der Menschheit überhaupt. Und bis heute hat die Lebenslaufperspektive in den unterschiedlichsten Disziplinen nichts an Bedeutung und Forschungsimpetus verloren. Gleichzeitig geht die Lebenslaufforschung mit Ambitionen einher, die –theoretisch, methodisch und empirisch – hohe Anforderungen stellen. Dieses Kapitel und dieses Buch möchten sich diesen Fragen und Problemen, den Potenzialen und Grenzen des Lebenslaufansatzes mit dezidierter Beachtung der Sichtweisen unterschiedlicher Disziplinen stellen. In diesem Einführungskapitel wird dazu zunächst die Bedeutung der Lebenslaufforschung, historisch und systematisch, herausgearbeitet, und es werden die wichtigsten Strömungen der Lebenslaufforschung identifiziert und einander gegenübergestellt.

1.2       Zur historischen Entwicklung und Bedeutung der Lebenslaufperspektive in den Verhaltens-, Sozial-, Geistes- und Lebenswissenschaften: Historische und systematische Anmerkungen

Zur historischen Entwicklung der Lebenslaufforschung1

Das Verstehen des Rätsels vom Werden und Vergehen in der unbelebten und belebten Natur, in dem hier vor allem interessierenden Humanbereich, hat Menschen, als Teil ihrer »naiven« Alltagskultur, als Thema wissenschaftlicher und künstlerischer Auseinandersetzung und als wichtiger Aspekt unterschiedlichster Beratungsformen (z. B. Philosophie, Theologie, Medizin) von jeher fasziniert. Wie finden wir »richtig« ins Leben? Was sind die dabei auftretenden Risiken? Wie können wir die früh im Leben angesammelten Lernerfahrungen im mittleren Lebensabschnitt optimal nutzen? Wie kann Leben insgesamt, von der Wiege bis zur Bahre, etwas »Gutes« besitzen? Vor allem Groffmann (1970) und Nühlen-Graab (1990) haben in ihren Analysen die vielfältigen Spielarten des intellektuellen und künstlerischen Umgangs mit derartigen Fragen in Bezug auf den Lebenslauf aufgezeigt. Bedeutsam in der neueren Philosophie war dann vor allem Tetens (1736–1807) im Jahre 1777 erschienene »Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung«, in denen ganz ausdrücklich argumentiert wurde, dass menschliche Entwicklung über den gesamten Lebenslauf hinweg stattfindet. Der belgische Mathematiker und an demografischen Verteilungen interessierte Quetelet (1796–1874) schließlich inaugurierte die Suche nach den »Gesetzen« des Lebenslaufs im Sinne eines regelrechten Forschungsprogramms, bereits mit Bezügen auf körperliche, kognitive und emotionale Entwicklung bis hin zur Suche nach lebensphasenbezogenen Unterschieden in Delinquenz- und Selbstmordraten.

Sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie hat die Lebenslaufforschung eine lange Tradition. Dabei steht die psychologische Lebenslaufforschung primär unter der Zielsetzung, menschliches Erleben und Verhalten – nicht zuletzt auch in seiner Individualität – zu erklären, während die soziologische Lebenslaufforschung primär auf eine Analyse der für »soziale Wirklichkeit« konstitutiven Strukturen und Lebenswelten zielt.

In den Frühphasen der »Entwicklung der Entwicklungspsychologie « wurde Entwicklung im Allgemeinen nicht mit dem gesamten Lebenslauf, sondern nur mit der Kindheits- und Jugendphase des menschlichen Lebens in Verbindung gebracht. Diese Konzentration erklärt sich vor dem Hintergrund eines in deutlichem Gegensatz zu »modernen« Entwicklungsbegriffen stehenden, traditionellen Verständnisses, demzufolge Veränderungen nur dann als Entwicklung zu beschreiben sind (bzw. Gegenstand entwicklungspsychologischen Interesses werden sollten), wenn sie irreversibel, im Sinne einer »Entwicklungslogik « zwangsläufig, universell, invariant und durch einen qualitativ höherwertigen Endzustand begrenzt sind.

Jedoch findet sich schon früh ein Interesse an Entwicklungsprozessen in späteren Lebensphasen, etwa in den 1880er Jahren bei Preyer und Galton, in den 1910er Jahren bei Stern, in den 1920er Jahren bei Giese, Hall, Hollingsworth und Thorndike, in den 1930er Jahren bei Bühler, Jones und Pressey/Kuhlen. Vor allem das bereits kurz nach seinem Erscheinen intensiv rezipierte und ausstrahlungsreiche Werk von Charlotte Bühler (1933) »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem« kann als Wiege der modernen Lebenslaufforschung nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Parallel wurde die Lebenslaufperspektive vor allem in einer klinischen Sicht auch durch psychodynamische Ansätze wie jene von Alfred Adler und Carl Gustav Jung stark unterstützt.

Seit den 1950er Jahren ist die psychologische Lebenslaufforschung in Deutschland vor allem durch Hans Thomae (z. B. 1983, 1998) und Ursula Lehr (z. B. 1995) befördert worden. International propagierten in dieser Zeit vor allem James Birren, Erik Homburger Erikson, Robert Havighurst und Bernice Neugarten eine Lebenslaufsicht auf Entwicklung, dies nicht nur als Kritik an einer ausschließlich an Kindheit und Jugend interessierten Entwicklungspsychologie, sondern auch an einer nur auf die Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsprozessen im Alter interessierten Gerontologie. Seit den 1970er Jahren hat Paul Baltes im Zuge seines Wirkens in den USA ein regelrechtes Programm einer »Lifespan Developmental Psychology «, flankiert von Unterstützern auch aus nicht-psychologischen Bereichen (z. B. Elder, Featherman, Fries, Lerner) und Kontrahenten und Kritikern seiner Sichtweise (z. B. Dannefer, Lehr), auf den Weg gebracht.

Am Beginn der Entwicklung soziologischer Lebenslaufforschung steht die 1918 von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki veröffentliche Studie »The Polish Peasant in Europe and America«, in der umfangreiches biografisches Material über einen polnischen Immigranten für die Analyse von mit Migration einhergehenden Prozessen sozialer Desintegration und Individualisierung genutzt und insbesondere eine methodologische Position entwickelt wurde, der zufolge die Bedeutung sozialer Strukturen nur auf der Grundlage der Berücksichtigung objektiver und subjektiver Wirkfaktoren verstanden werden kann und biografische Daten entsprechend »den perfekten Typ soziologischen Materials« darstellen (vgl. hierzu und im Folgenden auch Fuchs-Heinritz, 1998). Ausgehend von dieser Arbeit etablierte sich in Polen bereits in den 20er Jahren eine qualitative Biografieforschung, in den Vereinigten Staaten bildete die später als Thomas-Theorem bekannt gewordene Position (»If men define situations as real, they are real in their consequences«, Thomas & Thomas, 1928) eine Grundlage für die Entwicklung der Chicagoer Schule und später des symbolischen Interaktionismus. Das Interesse an der Nutzung individueller Biografien für die Analyse soziologischer Fragestellungen ging in den Vereinigten Staaten ab den 30er Jahren angesichts einer sich rapide entwickelnden quantitativen Sozialforschung deutlich zurück, in Deutschland blieben die Entwicklungen in der amerikanischen und polnischen Soziologie infolge methodischer Vorbehalte ohnehin weitgehend wirkungslos. Bis in die 60er Jahre konkretisiert sich soziologische Lebenslaufforschung vor allem in Form eines rollentheoretischen Ansatzes; die Sequenzierung von Rollen über die Lebensspanne und Rollenübergänge werden hier im Kontext eines Lebenszyklusmodells unabhängig von Unterschieden in der Art und zeitlichen Taktung von Lebensereignissen, unabhängig von sozialen Beziehungen und unabhängig von Prozessen sozialen Wandels betrachtet (vgl. Elder, 1995). Wesentlich für die weitere Entwicklung der soziologischen Lebenslaufforschung waren die von Norman Ryder (1965) im American Sociological Review veröffentlichte Arbeit »The Cohort As a Concept in the Study of Social Change«, die, aufbauend auf der von Mannheim (1928) vorgelegten Analyse zur Bedeutung der Generationenfolge für sozialen Wandel, in einem »life stage principle« das Konzept der Kohorte für die Analyse der Interaktion zwischen individueller Entwicklung und sozialem Wandel nutzt. Mit Kohorte ist die Zugehörigkeit zu bestimmten Geburtsjahrgängen oder Gruppen von Geburtsjahrgängen gemeint, die sich durch spezifische Erfahrungen auszeichnen (z. B. Bildungswege, historische Ereignisse). Bedeutsam war auch die von Riley, Johnson und Foner erstmals 1972 in Ageing & Society publizierte Altersschichtungstheorie, deren Aussagen zur wechselseitigen Abhängigkeit von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung als eine mögliche Integration unterschiedlicher Perspektiven lebenslaufbezogenen Denkens angesehen werden (vgl. Alwin, 2012). Die Arbeiten von Glen Elder zu den Folgen der großen Depression (Elder, 1974) und der Rekrutierung im Zweiten Weltkrieg (Elder, Shanahan & Clipp, 1994) können als eine weitere Kontextualisierung von Lebensläufen angesehen werden, insofern sie die soziale Einbindung (»interdependent lives«) und die Bedeutung des Zeitpunktes, zu dem Menschen mit Lebensereignissen konfrontiert werden (»age distinction«), für die Verortung von Menschen im Kontext von historischen Entwicklungen und Kohorten verdeutlichen.

Mit den hier skizzierten psychologischen und soziologischen Ansätzen sind wesentliche konzeptuelle Grundlagen auch der heutigen Lebenslaufforschung geschaffen worden. Empirisch kam – neben der Weiterführung von Studien, die ursprünglich Fragen der Entwicklung im Kindes- und Jugendalter fokussierten – die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg stark angestiegene Zahl an Längsschnittstudien – vermehrt auch zu Fragen der Entwicklung im mittleren, höheren und hohen Erwachsenenalter – hinzu. Die heute verfügbaren Längsschnittstudien umfassen teilweise Beobachtungszeiträume von mehr als 60 Jahren. Aber auch andere Disziplinen haben Bedeutsames zur Lebenslaufforschung beizutragen, worauf weiter unten dezidiert eingegangen wird.

Bedeutung der Lebenslaufforschung: Fundamentale Annahmen, Potenziale und Herausforderungen

Lebenslaufforschung und »Lebenslaufdenken« (»Life Course Thinking «, Alwin, 2012, S. 206) gehen vor allem davon aus, dass alle Phasen des menschlichen Lebens gleichwertig sind, deshalb auch der gleichwertigen Aufmerksamkeit durch Wissenschaften bedürfen, und diese Prämisse nur eingelöst werden kann, wenn bestimmte, jeweils fokussierte Lebensphasen stets im Kontext anderer Phasen bzw. des gesamten »restlichen« Lebens betrachtet werden. Die Erhaltung des Entwicklungszusammenhangs über das gesamte Leben hinweg ist gewissermaßen die sine qua non jeglicher Lebenslaufforschung. Eine methodisch interessante Implikation eines solchen Verständnisses besteht übrigens darin, dass nicht jede Lebenslaufforschung den gesamten Lebenslauf, eventuell sogar längsschnittlich, untersuchen muss, sondern es vielmehr darauf ankommt, den Konnex zwischen fokussierten Lebensphasen und anderen Lebensperioden explizit im Auge zu behalten bzw. theoretisch und empirisch zu fassen. Dies kann anhand von Längsschnittdaten über längere Zeiträume und mehrere Lebensphasen hinweg empirisch geschehen (muss aber dennoch auch theoretisch verstanden werden), aber auch durch Konzentration auf eine Lebensphase unter expliziter theoretischer Argumentation im Hinblick auf den Lebensgesamtzusammenhang (was natürlich idealerweise zu einem späteren Zeitpunkt auch empirisch untermauert werden sollte). In einer radikalen Anwendung stellt diese Meta-Idee alle ausschließlich lebensphasenspezifisch operierenden Forschungsprogramme in Frage, die sich bisweilen zwar lebenslaufbezogen geben, jedoch einen solchen Anspruch, wie eben beschrieben, letztlich nicht einlösen.

Weitere allgemein akzeptierte Meta-Ideen oder Prinzipien der Lebenslaufforschung (siehe dazu vor allem Settersten, 2003) sind vor allem die Vorstellung der Multisphärizität (manchmal auch Multidimensionalität genannt) und der Multidirektionalität lebenslanger Entwicklung. Hiermit gemeint ist die Notwendigkeit, Entwicklung über das gesamte Leben hinweg stets auf mehreren Dimensionen (etwa der biologischen, der physisch-funktionalen, der sozialen, der kognitiven, der persönlichkeitsbezogenen, der historisch-gesellschaftlichen) zu betrachten und dabei auch zu berücksichtigen, dass auf diesen Dimensionen potenziell unterschiedliche »Rhythmen« des Werdens und Vergehens oder, allgemeiner, ihres Einflusses auf Leben ganz generell sichtbar werden. Die Analyse von Entwicklung auf einzelnen Dimensionen steht dabei unter der grundlegenderen Zielsetzung, den »Gesamt-Rhythmus« des Lebenslaufs zu rekonstruieren, das eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Analysen geht weit über ein Verständnis von bereichsspezifischen Entwicklungen hinaus. Lebenslaufforschung zielt wesentlich auf die Identifikation von für den Lebenslauf in seiner Gesamtheit charakteristischen Stabilitäten und Veränderungen, die Differenzierung von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Veränderungen, auf das Verständnis der für den Verlauf weiterer Entwicklung relevanten Übergänge (»Transitions«; »Turning points«). Unabhängig davon, ob sich die Analyse stärker an normativen Ereignissen, die für alle Menschen eines bestimmten Alters bedeutsam sind, oder stärker an der »Innensicht«, subjektiven Repräsentationen von Entwicklung im Lebenslauf, orientiert, zielt Lebenslaufforschung nicht zuletzt auf die Erklärung von Heterogenität, von Unterschieden zwischen Individuen, sozialen Gruppen und Kohorten. Ein wesentliches Merkmal der Lebenslaufforschung ist schließlich, gleich ob biologisch, psychologisch oder soziologisch angelegt, die Vorstellung, dass Lebensläufen etwas Plastisches innewohnt. Featherman und Lerner (1985) sprechen in diesem Zusammenhang von einer Diskrepanz zwischen der jeweils zu beobachtenden Performanz (in einem weiten Sinne verstanden) und den jeweils gegebenen, aber noch nicht genutzten latenten Reserven und Potenzialen, die möglicherweise erst in Zukunft, durch medizinische Fortschritte, andere Werthaltungen, neue politische Prozesse und Institutionenbildungen genutzt werden können und auf diese Weise die Charakteristik einzelner Lebensphasen wie auch Lebenslaufgestalten verändern können. Ein in diesem Zusammenhang häufig zu findendes Argument ist beispielsweise die Feststellung von Baltes (1997), das hohe Alter sei noch (historisch) jung und deshalb sein Möglichkeitsraum noch kaum bekannt, geschweige denn genutzt und ausgestaltet. Des Weiteren wird die Grundannahme der Plastizität von Lebensläufen in Untersuchungen deutlich, die sich primär um eine Identifikation von Risiko-oder Vulnerabilitätsfaktoren und deren Wirkmechanismen bemühen. Verwiesen sei an dieser Stelle auf Arbeiten aus der Entwicklungspsychopathologie des Kindes- und Jugendalters (Rutter, 1990; Werner & Smith, 1992), der Psychotraumatologie (Solomon & Ginzburg, 1999) oder der Soziologie devianten Verhaltens (Girtler, 1987; Shaw, 1966). Eng verbunden mit der Idee der Plastizität ist das Interesse an der Heterogenität von Entwicklungsprozessen und dem auf diesem gründenden Bemühen, weniger allgemeine Altersnormen als vielmehr charakteristische Alternsformen zu identifizieren (vgl. Thomae, 1983, 1998).

1.3       Grundlegende Fragen der Lebenslaufforschung

Auch wenn, wie wir gleich sehen werden, die Ansätze bzw. Strömungen innerhalb der Lebenslaufforschung vielfältig, vielschichtig und z. T. nicht immer kommensurabel sind, so sind die grundlegenden, übergeordneten Forschungsfragen dennoch ähnlich (Featherman & Lerner, 1985; Settersten, 2003; Baltes et al., 2006). Die vielleicht grundlegendste Frage lautet: Wie lässt sich das Wesen menschlicher Entwicklung angemessen beschreiben? Erwartungsgemäß finden sich hier sehr unterschiedliche Antworten, nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der verschiedenen Disziplinen (Featherman & Lerner, 1985). Aus der Perspektive der Psychologie finden sich so unterschiedliche Antworten wie: als eine geordnete Reihe von dauerhaften Veränderungen zu jedem Zeitpunkt des Lebens, als das Erreichen eines höheren Funktions- und Erlebensniveaus, als das Wechselspiel von Gewinnen und Verlusten, als die erfolgreiche Bewahrung von Kompetenzen und erfolgreicher Umgang mit Verlusten, als Persönlichkeitswachstum. Aus der Perspektive der Soziologie liegen Antworten nahe wie: als Durchlaufen einer Sequenz von sozialen Rollen, als Partizipation an einem bestimmten Ausschnitt gesellschaftlicher Entwicklung oder als Entscheidung unter alternativen Verlaufsoptionen. Dagegen könnte aus der Perspektive der Biologie auf die Entfaltung und Weitergabe des genetischen Potenzials verwiesen werden.

Die nächste grundlegende Frage schließt sich unmittelbar an: Woher rührt Entwicklung? Aus Gegebenheiten der Person, aus ihrer Umwelt, aus einer Wechselwirkung zwischen beiden? Auch hier halten die verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Antworten bereit. Aus der psychologischer Perspektive sind hier etwa zu nennen: die frühkindliche Entwicklung, über die gesamte Lebensspanne hin wirksame Selbstregulationsmechanismen oder Persönlichkeitsfaktoren, aus soziologischer Perspektive sozialstrukturelle Merkmale und Stratifizierung der Gesellschaft, gesellschaftliche Opportunitätsstrukturen, Kohortenzugehörigkeit und Generationenlagerung, aus biologischer Perspektive genetische Programme oder das unterschiedliche Altern von biologischen Systemen (Zelle, Organ, Funktionssystem), was wiederum genetisch mitbestimmt sein kann.

Eine dritte grundlegende Frage ergibt sich aus den beiden genannten nahezu zwingend: Erfolgt Entwicklung, operieren die Einflüsse auf Entwicklung über den Lebenslauf hinweg in ähnlicher oder in völlig unterschiedlicher Weise? Ist beispielsweise der Einfluss der sozialen Umwelt auf Entwicklung in der Kindheit größer als im Alter? Wirkt Armut in jeder Lebensphase gleichförmig? Geht der Einfluss der genetischen Ausstattung im Laufe der Lebensspanne eher zurück oder wird er gar noch stärker? Gibt es diesbezüglich Unterschiede je nach dem betrachteten Funktionsbereich (z. B. Kognition, Affektivität, Sozialverhalten). In der dritten übergeordneten Frage sind weitere fundamentale Fragen der Lebenslaufforschung enthalten: Verläuft Entwicklung über den Lebenslauf kontinuierlich oder diskontinuierlich, und was sind die zentralen Rahmenbedingungen/Einflussfaktoren für beide Dynamiken bzw. für den Wechsel von kontinuierlicher Entwicklung und diskontinuierlichen »Brüchen«? Kann man Entwicklung mit quantifizierenden Modellen oder nur mit qualitativen Kategorien adäquat erfassen bzw. verstehen? Es braucht wohl kaum betont zu werden, dass der Versuch einer angemessenen Antwort auf diese Fragen immense theoretische, methodische und empirische Voraussetzungen und Anforderungen beinhaltet.

1.4       Zentrale Strömungen der aktuellen Lebenslaufforschung

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, einen Überblick über wesentliche Strömungen bzw. Ansätze zum Verständnis lebenslanger Entwicklung zu geben. Dies unter der Zielstellung, die Vielfalt und Pluralität von Zugängen zum Verständnis von Lebensläufen, die Komplementarität verschiedener Disziplinen und damit letztlich auch die Notwendigkeit einer interdisziplinären Lebenslaufforschung aufzuzeigen (Images Tab. 1.1). Wenn wir im Folgenden diese Strömungen näher beschreiben, dann kann dies aus Platzgründen nur sehr summarisch geschehen; die Grundidee und die Grundannahmen des jeweiligen Ansatzes sollen deutlich werden, nicht deren oft recht komplexe Details und Binnendifferenzierungen, Überlappungen mit anderen Zugängen oder gar entsprechende empirische Befunde. Dabei erheben wir nicht den Anspruch, die einzelne Ansätze oder gar die für eine spezifische Disziplin relevanten Zugänge erschöpfend darzustellen; an dieser Stelle soll lediglich auf einige zentrale Varianten eingegangen werden.

Psychologie

Die Bedeutung psychodynamischer Sichtweisen, oft in ihrer Mutterdisziplin, der Psychologie, kritisch betrachtet, hat bis heute nichts an Kraft verloren, wenn man vor allem ihre klinische und kulturelle Wirkung, weniger ihre wissenschaftliche Heuristik in den Blick nimmt. Vor allem die Freudsche Grundidee der notwendigen Fokussierung und Offenlegung »verdrängter« frühkindlicher Traumata, um Entwicklungen, vor allem psychopathologische Entwicklungen im Erwachsenenleben,

Primär Psychologie:

Tab. 1.1: Überblick über zentrale Strömungen der Lebenslaufforschung

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verstehen und verändern (therapieren) zu können, ist in ihrem klinischen Impetus als psychoanalytische Behandlungsmethode bis heute weltweit wirkmächtig geblieben. Seit etwa den 1970er Jahren sind zudem psychotherapeutische Behandlungen auf der Grundlage unterschiedlicher psychoanalytischer Ansätze (z. B. Freud, Adler, Jung, Hartmann) auch auf ältere Menschen ausgedehnt worden, womit gewissermaßen auch die klinische Anwendung der Psychoanalyse (traditionell auf das frühe und mittlere Erwachsenenalter begrenzt) einen Lebenslaufduktus erfahren hat. Aber auch die über klinische Perspektiven hinausgehende Nutzung psychoanalytischer Annahmen zur Deutung der unterschiedlichsten und nicht selten beunruhigenden und verstörenden Trends und Ereignissen im gesellschaftlichen Alltag (Beispiele: Deutungsversuche bei Amokläufern, Sexualstraftätern, Rasern im Straßenverkehr, »Raffgier«, Umgang mit früh im Leben gemachten Erfahrungen im Alter, etwa als früher »Täter« in Nazideutschland) ist weiterhin vielfach zu beobachten. Insgesamt bieten psychodynamische Sichtweisen ein gutes Beispiel für Strömungen der Lebenslaufforschung, die bereits seit vielen Jahrzehnten zwischen hoch akzeptiert und hoch umstritten oszillieren, und vielleicht liegt gerade darin ein Schlüssel für ihre ungebrochene Prominenz und Anwendung. Wir werden gleich sehen, dass dies auch für andere Strömungen der Lebenslaufforschung gilt.

Stufen- und Lebensphasenmodelle der Lebenslaufforschung (siehe auch die sehr anschauliche Dar- und Gegenüberstellung in Faltermaier, Mayring, Saup & Strehmel, 2002 sowie auch Flammer, 1988) sind traditionell bzw. strukturell in der Kinder- und Jugendentwicklungspsychologie beheimatet (z. B. Freud, Piaget, Werner), besitzen jedoch eben eine lebenslange Ausdehnung. Sie zeichnen sich durch eine festgelegte Abfolge von definierten Stufen aus, deren hauptsächliches Definitionsmerkmal wiederum darin besteht, dass in jeder Phase unterschiedliche Entwicklungsthemen dominant werden bzw. unterschiedliche psychische Prozesse zutage treten oder gefordert sind. Die bekanntesten bzw. am intensivsten rezipierten Vertreterinnen und Vertreter dieses Ansatzes sind in chronologischer Reihe ihrer Hauptwerke Bühler (1933: Expansion und Restriktion lebenslanger Entwicklung bis zur Vorbereitung auf das Ende; vor allem anhand von herausragenden künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, aber auch »Laienbiografien« illustriert), Havighurst (1948: Idee der lebensphasenspezifischen Entwicklungsaufgaben, die aus dem Zusammenwirken von biologischen Gegebenheiten, personalen Ansprüchen und Zielen und gesellschaftlichen Erwartungen resultieren), Erikson (1950: acht Lebensphasen in Gestalt von psychosozialen Krisen zwischen Erfolg und Scheitern; von »Vertrauen versus Misstrauen« im Säuglingsalter« bis zu »Integrität versus Verzweiflung« im späten Erwachsenenalter), Gould (1979: vor allem von klinischer Arbeit abgeleitete Transformationen im Erwachsenenalter im Sinne einer Evolution des Erwachsenenbewusstseins im mittleren Erwachsenenalter, das dann auch in das verbleibende Leben trägt) und Levinson (1979: auffallend an seinen Entwicklungsstufen des Erwachsenenalters ist eine in keinem anderen Ansatz zu findende Feingliederung des jungen und mittleren Erwachsenenalters nach dem chronologischen Alter; vgl. Faltermaier et al., 2002, S. 61). Eine wesentliche Ähnlichkeit dieser (und verwandter und hier nicht genannter) Ansätze besteht darin, dass eine Zielhaftigkeit im Durchlaufen der postulierten Stufen angenommen wird – Bühler etwa sprach von »Lebensbestimmung«, die nur in einer Gesamtsicht des Lebensdeutlich wird; Erikson legte etwas formaler seinem Ansatz ein epigenetisches Prinzip zu Grunde. Die Kritik an derartigen Modellen wie starke Normativität und überzogene Festlegung der Abfolge »guter Entwicklung« ist altbekannt. Dennoch fällt auch auf, dass diese Kritik bislang die Zitationsintensität von bzw. den Rekurs vor allem auf Erikson und Havighurst nicht ernsthaft beeinträchtigen konnte.

Der biografische Zugang zum Lebenslauf geht nicht zuletzt auf Dilthey und Herder zurück und hat dann vor allem in der Psychologie starke Resonanz gefunden (Bühler, Spranger, Stern, Wundt), die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem im Werk von Thomae und Lehr niederschlug, aber auch in andere Disziplinen wie beispielsweise der Soziologie (z. B. Weber), der Gerontologie (z. B. Birren), der Ethnologie (z. B. Paul), der Geschichtswissenschaft (z. B. von Plato) oder der Entwicklungspsychopathologie (Rutter) Eingang fand (Jüttemann & Thomae, 1998; Kruse, 2005). Dreh- und Angelpunkt der biografischen Perspektive ist die Annahme des Einzigartigkeitscharakters des menschlichen Lebensverlaufs bzw. das Primat der Innen- gegenüber der Außensicht und die Forderung der Rekonstruktion der subjektiven bzw. emischen Perspektive, der rigorosen Berücksichtigung des »Subjective frame of reference «. Menschen werden in dieser Sichtweise als Expertinnen und Experten ihrer eigenen Entwicklung betrachtet, von denen Forschung lernen kann (und lernen muss!). Im Interesse der als notwendig angesehenen Berücksichtigung subjektiver Deutungen und Bezugssysteme wird ein Verzicht standardisierter Frage- und Antwortformate zugunsten offener oder halbstrukturierter Explorationen und Interviews gefordert. Eine wichtige Grundannahme des biografischen Ansatzes ist darin zu sehen, dass menschliches Leben am besten – vor dem Hintergrund zentraler individueller Themen und Zielsetzungen – ausgehend von den letztlich erreichten Entwicklungszuständen her zu rekonstruieren und zu verstehen ist. Vor allem die Einzigartigkeitsannahme und die sich daraus ergebenden methodischen Implikationen haben immer wieder zu Konfrontationen mit dem in der Psychologie wie in der Soziologie größtenteils vorherrschenden quantitativen Forschungsprogramm geführt (Stichwort Idiografik versus Nomothetik) und auch die internationale Rezeption erschwert bis verhindert. Affinitäten zum biografischen Ansatz besitzen schließlich auch Forschungsprogramme, welche (ähnlich wie bereits Bühler) unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche »Outputs« an künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen zuordnen (Lehman, Simonton).

Das Programm der Lebensspannenpsychologie ist seit Ende der 1970er Jahre vor allem von Paul B. Baltes, einem deutschen Entwicklungspsychologen, der zum damaligen Zeitpunkt in den USA arbeitete, entfaltet worden (Baltes, 1997; Baltes et al., 2006). Auffallend an diesem Programm war das Bestreben nach einem Ansatz ohne deutlichen Rekurs auf zeitlich proximale Personen des deutschsprachigen Raums wie Bühler und Thomae, sondern eher auf zeitlich distale (Quetelet; Tetens) bzw. Vorläufer in den USA (Hall, Hollingsworth, Pressey, Janney & Kuhlen), ein von Anfang an sehr großes Interesse an der Weiterentwicklung einer lebenslaufbezogenen (quantitativen) Methodologie (z. B. Trennung von Alter, Kohorte und Messzeitpunkt; faktorielle Invarianz von Konstrukten über die Lebensspanne) sowie eine starke Ausrichtung an der Entwicklung der kognitiven Leistungen. Dabei ging es allerdings von Beginn an auch um die Entwicklung eines »Meta«-Systems von Prinzipien, das eine Integration unterschiedlicher theoretischer Zugänge kleinerer Reichweite bzw. inhaltlich stärker fokussierter Fragestellungen erlaubt. Zu den von Baltes vorgeschlagenen Prinzipien bzw. Leitideen zählen etwa die bereits erwähnten Annahmen der Multidimensionalität und Multidirektionalität lebenslanger Entwicklung, ihrer Plastizität, die Vorstellung ungenutzter Reservekapazität, ein Entwicklungsbegriff, der der Gleichzeitigkeit von Gewinnen und Verlusten Rechnung trägt, sowie ein Entwicklungskontextualismus, der Veränderungen über die Lebensspanne als Ergebnis des Zusammenwirkens von altersgradierten, historischen und non-normativen Einflussfaktoren begreift. In seinen späteren Arbeiten ging es Baltes vor allem um Veränderungen im Zusammenwirken von Biologie und Kultur und die sich daraus ergebenden Grenzen von Kompensation und Optimierung im sogenannten vierten Lebensalter (Unvollendetheit der Humanontogenese).

Schließlich sind in der Psychologie Theorien zu lebenslanger Entwicklung und Adaptation zunehmend prominent geworden. Der wesentliche Unterschied zur Lebensspannenpsychologie, auf die sich allerdings viele dieser Theorien als Meta-Idee berufen, besteht darin, dass die hier angesprochenen Theorien vor dem Hintergrund eines handlungstheoretischen Menschenbildes von komplementären Selbstregulationsprozessen (»Changing the world or changing the self«, Rothbaum et al., 1982) ausgehen und deren Zusammenspiel im Kontext einer lebenslaufbezogenen Ablauf- und Veränderungsdynamik deuten. Beispielsweise geht Brandtstädter (2007) davon aus, dass das Wechselspiel zwischen assimilativen und akkommodativen Strategien zu den Grundmodalitäten menschlicher Entwicklung gehört, um Ist-Soll-Diskrepanzen im Selbstsystem handelnder Personen zu reduzieren. Assimilative Strategien zielen dabei auf die intentionale Veränderung des Ist-Zustandes (in der Regel der Umwelt), während akkommodative Strategien als subintentionale Veränderungen von Soll-Zuständen (und damit von Aspekten des Selbst) charakterisiert werden können, etwa im Sinne einer Veränderung oder gar Aufgabe von Lebenszielen. Brandtstädter geht nun davon aus, dass – infolge einer Zunahme irreversibler Verluste und zunehmend knapper werdender Handlungsressourcen – der »akkomodative Modus« gegenüber dem »assimilativen Modus« an Bedeutung gewinnt. Gerade im Alter ist hier die akkomodative Bewältigung von Diskrepanzerlebnissen als adaptiv anzusehen, Entwicklungsprozesse im späteren Leben beruhen nach Brandtstädter wesentlich auf Akkomodation, werden durch diese zum Teil überhaupt erst möglich. Nach Carstensen, Isaacowitz und Charles (1999) ist eine zunehmend begrenzte Zukunftsperspektive als entscheidend für sozioemotionale Entwicklungsprozesse (emotionale Ziele gewinnen gegenüber instrumentellen oder identitätsbezogenen Zielen an Bedeutung) wie Veränderungen in der Informationsverarbeitung (zunehmende Bevorzugung von positiver gegenüber negativer Information) im Alter anzusehen. Labouvie-Vief (1982) hat vorgeschlagen, die Piaget’schen Stufen durch eine post-operationale Phase zu erweitern, was erklären soll, dass mit zunehmendem Alter Denkvorgänge und emotionales Erleben zunehmend komplexer, vielschichtiger und »tiefschürfender« werden. Wahl und Lang (2006) gehen davon aus, dass mit zunehmendem Alter hinsichtlich des Person-Umwelt-Austausches zunehmend kognitiv-emotionale Bindungen an Orte und Menschen in den Vordergrund rücken, »Agency«-Aspekte wie etwa die aktive Veränderung des Wohnens hingegen eher in den Hintergrund treten.

Soziologie

Auch in der Soziologie sind es unterschiedliche Strömungen, die bislang zur Lebenslaufforschung beigetragen haben. Chronologisch wäre hier zunächst die mit der Chicagoer Schule in den 1930er-Jahren beginnende Erforschung von Minoritäten, sozialen Problemlagen und Devianz zu nennen, Randbereichen der Gesellschaft, zu denen Forscher im Allgemeinen nur schwer Zugang haben und von denen angenommen werden kann, dass die für Entwicklung relevanten Einflussfaktoren bzw. deren subjektive Repräsentation aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft nicht ohne Weiteres rekonstruiert und verstanden werden können. Diese Variante von Lebenslaufforschung hat in der Soziologie eine lange Tradition, wobei festgestellt werden kann, dass sich das zugehörige Themenspektrum in den letzten Jahrzehnten erheblich erweitert hat (vgl. Girtler, 1987; Fuchs-Heinritz, 1998).

Historisch wäre weiterhin die in einer strukturfunktionalistischen Theorieperspektive (vor allem Parsons) entstandene Disengagement-Theorie (Cumming & Henry, 1961) zu nennen, die argumentierte, dass steigendes Disengagement mit zunehmendem Alter, speziell nach der Pensionierung, adaptiv für Individuen und die Gesellschaft sei, und die in der Gerontologie über Jahrzehnte intensiv diskutiert wurde. In einer ge-rontologiegeschichtlich bedeutsamen Gegenbewegung wurde allerdings von Anfang an auch argumentiert, dass nicht Disengagement, sondern die Wahrung von Aktivität bzw. die Wahrung der inneren und äußeren Kontinuität zwischen dem mittleren und höheren Lebensalter adaptiv für Lebensvollzüge spät in der Lebensspanne sei (Atchley, 1989).

Kohli (1985) hat die historische Herausbildung eines relativ standardisierten Lebenslaufs herausgearbeitet, in dem die Bildungs-, Arbeits- und »Freizeit«-Phase deutlich voneinander getrennt sind und altersgebundene Übergänge wie Eintritt in die Schule, in das Erwerbsleben und in die nachberufliche Phase relativ stark institutionalisiert sind. Laslett (1995) argumentiert in seiner historisch-soziologischen Sichtweise, dass sich die »Landkarte« des Lebens in neuerer Zeit vor allem durch die Herausbildung eines »Dritten Alters«, einer relativ langen Lebensphase nach dem Beruf in relativer Gesundheit und mit beginnenden neuen Rollen bzw. Inhalten (etwa »Universitäten des Dritten Alters«), deutlich verändert habe. Untersuchungen von »Idealtypen« (z. B. Gerhardt, 2001), »wahrscheinlichsten Pfaden« (Kohli, 1985) oder »Lebenslaufregimes« (Leisering, 1992) konzeptualisieren Lebensläufe als Bündel paralleler Verlaufsoptionen, die unterschiedliche Phasensequenzen ermöglichen. Nach diesen Konzepten werden Individuen als ein rational handelnde Subjekte konzipiert, die unter gesellschaftlich zur Verfügung gestellten Handlungsoptionen wählen. Dabei wird davon ausgegangen, dass schicht-, lebenslagen- und rollenspezifische Unterschiede sowohl die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen als auch die individuelle Präferenzbildung beeinflussen.

Weitere zentrale Elemente einer soziologischen Annäherung an den Lebenslauf sind die Fokussierung auf die Rolle sozial-struktureller und historischer Einflüsse