Predigtstudien

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Volker Drehsen (†),

Wilfried Engemann, Klaus Eulenberger,

Dietrich Rössler, Roman Roessler und

Birgit Weyel

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände.

Predigtstudien

für das Kirchenjahr 2014/2015

Perikopenreihe I – Erster Halbband

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Volker Drehsen (†),

Wilfried Engemann, Klaus Eulenberger,

Dietrich Rössler, Roman Roessler und

Birgit Weyel

Redaktion: Martin Kumlehn

Kreuz
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Impressum

© Kreuz Verlag

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bergmoser + Höller Agentur, Aachen

Satz: Rund ums Buch --- Rudi Kern, Kirchheim / Teck

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISSN 0079-4961

ISBN (Buch) 978-3-451-61270-1

ISBN (E-Book) 978-3-451-80248-5

INHALT

Homiletischer Essay


Wilhelm Gräb

Warum predigen?

30.11.14 1. Sonntag im Advent


Matthäus 21,1–9:

Hoffnung im Angesicht zugemauerter Tore

Christof Landmesser/Stephan Schaede

07.12.14 2. Sonntag im Advent


Lukas 21,25–33:

Was kommt, verändert uns

Friedrich Brandi/Kathrin Oxen

14.12.14 3. Sonntag im Advent


Matthäus 11,2–6(7–10):

Bist du es?

Christine Schlund/Dirk Schulz

21.12.14 4. Sonntag im Advent


Lukas 1,(39–45)46–55(56):

In freudiger Erwartung

Christoph Levin/Christopher Zarnow

24.12.14 Heiligabend (Christvesper)


Lukas 2,1–14(15–20):

Das Wunder dieser Nacht

Thorsten Moos/Wilhelm Gräb

24.12.14 Heiligabend (Christnacht)


Matthäus 1,(1–17)18–21(22–25):

Seelengeschichte – Familiengeschichte – Heilsgeschichte

Hans Martin Dober/Jan Hermelink

25.12.14 1. Weihnachtstag


Lukas 2,(1–14)15–20:

Die Weihnachtserzählung als Schlüsselgeschichte des Lebens

Frank M. Lütze/Wilfried Engemann

26.12.14 2. Weihnachtstag


Johannes 1,1–5(6–8)9–14:

Das Licht scheint in der Finsternis

Martin Rößler/Helge Martens

28.12.14 1. Sonntag nach dem Christfest


Lukas 2,(22–24)25–38(39–40):

Zwischen den Jahren

Bettina Naumann/Michael Böhme

31.12.14 Silvester


Lukas 12,35–40:

Worauf warten wir?

Christof Jaeger/Barbara Schiffer

01.01.15 Neujahr


Lukas 4,16–21:

»Heute ist die Schrift erfüllt«

Astrid Kleist/Marcus A. Friedrich

04.01.15 2. Sonntag nach dem Christfest


Lukas 2,41–52:

Eure Kinder sind nicht eure Kinder

Friedhelm Hartenstein/Hajo Petsch

06.01.15 Epiphanias


Matthäus 2,1–12:

»Nimm mein Herze zu Geschenke«

Jörg Schneider/Birgit Weyel

11.01.15 1. Sonntag nach Epiphanias


Matthäus 3,13–17:

»Lass es jetzt geschehen!«

Stefanie Brauer-Noss/Martin Kumlehn

18.01.15 2. Sonntag nach Epiphanias


Johannes 2,1–11:

»Das Bild soll mich begleiten«

Matthias Lemme/Christian Nottmeier

25.01.15 Letzter Sonntag nach Epiphanias


Matthäus 17,1–9:

Verklärung? Wozu?

Christoph Vogel/Alexander Höner

01.02.15 Septuagesimae (3. Sonntag vor der Passionszeit)


Matthäus 20,1–16a:

Gottes Lohn

Wibke Janssen/Henning Theurich

08.02.15 Sexagesimae (2. Sonntag vor der Passionszeit)


Lukas 8,4–8(9–15):

Eines Tages werden wir uns fragen, was uns gelungen ist …

Paul Streidl/Christoph Burger

15.02.15 Estomihi (Sonntag vor der Passionszeit)


Markus 8,31–38:

Leiden um des Lebens willen

Albrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger

22.02.15 Invokavit (1. Sonntag der Passionszeit)


Matthäus 4,1–11:

Auf die Probe gestellt

Matthias Lobe/Bernhard Dressler

01.03.15 Reminiszere (2. Sonntag der Passionszeit)


Markus 12,1–12:

Eine böse Geschichte: Time to say goodbye?

Andreas Klodt/Barbara Hauck

08.03.15 Okuli (3. Sonntag der Passionszeit)


Lukas 9,57–62:

Radikal

Traugott Roser/Carsten Claußen

15.03.15 Lätare (4. Sonntag der Passionszeit)


Johannes 12,20–26:

Durchkreuzte Erwartungen

Antje Eddelbüttel/Holger Treutmann

22.03.15 Judika (5. Sonntag der Passionszeit)


Markus 10,35–45:

Immer geht es um Macht. Wirklich?

Christian Butt/Klaus Eulenberger

29.03.15 Palmarum (6. Sonntag der Passionszeit)


Johannes 12,12–19:

Rückwärts verstehen – vorwärts leben

Jörg Herrmann/Ernst Michael Dörrfuß

02.04.15 Gründonnerstag


Johannes 13,1–15(34–35):

Fuß fassen im Glauben

Susanne Wolf/Martin Vetter

03.04.15 Karfreitag


Johannes 19,16–30:

»Mission accomplished!«

Ralph Kunz/Thomas Schlag

04/05.04.15 Osternacht


Matthäus 28,1–10:

Wachsam sein!

Charlotte Scheller/Amélie Gräfin zu Dohna

05.04.15 Ostersonntag


Markus 16,1–8:

Es wird in aller Frühe sein, wie einst

Peter Schaal-Ahlers/Peter Martins

06.04.15 Ostermontag


Lukas 24,13–35:

Erzählen, was auf dem Weg geschieht

Doris Hiller/Wiebke Bähnk

12.04.15 Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern)


Johannes 20,19–29:

Zweifeln erlaubt

Cornelia Richter/Andrea Morgenstern

19.04.15 Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern)


Johannes 10,11–16(27–30):

Ein Zeichen in die Luft

Ulrike Wagner-Rau/Klaus Eulenberger

26.04.15 Jubilate (3. Sonntag nach Ostern)


Johannes 15,1–8:

Ich in euch – ihr in mir

Friedrich W. Horn/Sebastian Feydt

03.05.15 Kantate (4. Sonntag nach Ostern)


Matthäus 11,25–30:

Kommt alle!

Christian Stäblein/Ralf Meister

10.05.15 Rogate (5. Sonntag nach Ostern)


Johannes 16,23b–28(29–32)33:

Ein Netzwerk gegen die Angst

Wiebke Köhler/Cornelia Coenen-Marx

14.05.15 Christi Himmelfahrt


Lukas 24,(44–49)50–53:

Der Segen des Abschieds

Andreas Kubik/Martin Zerrath

17.05.15 Exaudi (6. Sonntag nach Ostern)


Johannes 15,26–16,4:

Du hast Dinge in die Welt gesetzt

Jan Roßmanek/Matthias Liberman

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Homiletischer Essay

Wilhelm Gräb

Warum predigen?

»Auf den Pfarrer kommt es an«, titelte der Leitartikel von Reinhard Bingener in der Karfreitagsausgabe der FAZ. Dabei ging es um die Frage, was gegen den von der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsstudie konstatierten Attraktivitätsschwund der Kirche getan werden könne (unter dem Titel »Engagement und Indifferenz« im März 2014 veröffentlicht). Bingener traf den entscheidenden Punkt, indem er feststellte:

»Es sind nicht politische Positionspapiere oder gewinnende Auftritte von Bischöfen, die Bindung erzeugen, sondern es ist der Kontakt mit den Pfarrern, vor allem den Gemeindepfarrern. Solche Bindung wird bereits dann gefestigt, wenn der Pfarrer auf dem Straßenfest ein Grußwort spricht. Vor allem aber entsteht solche Bindung, wenn die Pfarrerin in den Gottesdiensten an Festtagen oder bei Anlässen wie einer Taufe, einer Konfirmation, einer Trauung oder einer Bestattung die richtigen Worte findet. Hier hätte die Theologie ihren vornehmsten Platz. Denn die Fähigkeit, den christlichen Glauben in verschiedenen Situationen prägnant auf den Begriff zu bringen – das ist die Kernkompetenz eines Pfarrers. Sie erfordert ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, an Sprachgewandtheit, an geistiger Selbstständigkeit.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.4.2014)

Die Bindung an die Kirche basiert auf der persönlichen Beziehung zum Pfarrer, zur Pfarrerin. Diese persönliche Beziehung wiederum entsteht dort, wo es Pfarrern und Pfarrerinnen gelingt, den christlichen Glauben situationsbezogen zur Sprache zu bringen.

Darum Predigt! An sie richtet sich die große Erwartung, dass sie die richtigen Worte findet, bei den Kasualien, in jedem Gottesdienst. Freilich, in genau der Weise, wie sie Bingener beschrieben hat. Nicht weil sie das »Wort Gottes« verkündigt, nicht weil sie die biblische Offenbarungswahrheit theatral inszeniert. Es kommt darauf an, dass es den Predigenden gelingt, den christlichen Glauben in seiner elementaren Zugehörigkeit zum Leben sichtbar zu machen.

Dennoch, so von der Predigt zu reden, löst heute Verwunderung aus. Auch im Herausgeberkreis der »Predigtstudien« meinten wir an den Neubeginn der Perikopenreihe die Frage setzen zu müssen: Warum predigen? Trotz hoher Erwartungen – viel wird der Predigt nicht mehr zugetraut. Sie passt nicht mehr zu den interaktiven Kommunikationsverhältnissen in der Mediengesellschaft. Ihr inhaltlicher Anspruch scheint maßlos übertrieben.

An Vorschlägen zur Predigtreform fehlt es selbstverständlich nicht. Merkwürdigerweise gehen diese der Frage, wozu es die Predigt überhaupt braucht, so gut wie gar nicht nach. Zu sehr bleibt der (EKD-)Reformdiskurs der binnenkirchlichen Selbstverständlichkeit des biblischen Auftrags der Predigt verhaftet. Auch wenn man statt der »Verkündigung des Wortes Gottes« jetzt von der »Kommunikation des Evangeliums« oder dessen »Inszenierung« redet und statt der Hermeneutik der biblischen Texte deren »dramaturgische« Aufführung bevorzugt. Wozu es die Predigt braucht, aus der Perspektive der Menschen, die sie hören oder – aus oft nachvollziehbaren Gründen – nicht hören, wird nicht diskutiert. Weithin vergessen ist das entscheidende homiletische Bekenntnis Ernst Langes, mit dem für ihn die Formel von der »Kommunikation des Evangeliums« allererst praktisch wurde. Ich meine seine Bestimmung der Predigtaufgabe, die er auf den Satz brachte: »Ich rede mit dem Hörer über sein Leben.« (Lange, 58)

Doch dann erst, wenn das Predigen ein freies Gespräch über das Leben wird, ist klar, dass das Evangelium nicht eine abstrakte biblische Gottesgeschichte oder eine abgehobene dogmatische Wahrheit meint, sondern ein in die Freiheit führendes Sich-Selbst-Verstehen des Menschen. Dann erst sehen Predigende ihre Aufgabe darin, den lebensdienlichen Sinn des Evangeliums zu kommunizieren. Darum predigen! Weil da Menschen sind, die ihr Leben unter vorgegebenen Bedingungen als ein nicht vorgegebenes zu führen haben! Weil unser bewusstes Leben uns immer wieder vor letzte Sinnfragen stellt, vor existenziell angehende Fragen, auf die es keine fertigen Antworten gibt. Auch das Evangelium gibt sie nicht. Das Evangelium kann uns jedoch von dem Druck entlasten, dass es allein auf uns ankommt, allein auf das, was wir selbst aus unserem Leben machen. Es führt uns über uns selbst hinaus. Wer sich in dem Gott Jesu versteht, kann eine andere Einstellung zum Leben gewinnen, wird gelassener und frei. Wo es der Predigt gelingt, zu einem selbstbestimmten Leben zu ermutigen, dort erschließt sie das Christentum in seiner Lebensdienlichkeit.

Nötiger denn je wird die Predigt heute gebraucht. Vielleicht jedoch ist die Rede vom »Predigen« nicht mehr richtig, weil sie unausrottbar die Assoziation von etwas Doktrinärem mit sich führt: »Predigt« klingt nach Proklamation, lässt steile, aber unbegründete Behauptungen erwarten. Vermutlich müssen wir uns angewöhnen, von religiöser Rede zu sprechen, von Unterredungen in den existenziellen Dingen des Lebens. Wer andere religiös anspricht, erzählt von den Erfahrungen des Lebens, so wie es die Literatur, der Film, die bildende Kunst, die Musik auch tun. Er macht die subjektive Erlebnisperspektive nachvollziehbar, fühlt sich in andere Menschen ein, konkretisiert das Erleben des Lebens, regt Perspektivenverschiebungen in der Selbstdeutung an, motiviert einen anderen, neuen, ungewohnten Blick auf die Welt.

Wer religiös redet, also von Religion, der eigenen Religion redet und von der, die zu einem jeden menschlichen Leben gehört, spricht von dem, was uns unbedingt angeht, wohin wir uns zugehörig fühlen, was unser Leben mit Inhalt füllt. Er spricht von unseren Ängsten und unseren Hoffnungen, von unserem Glück, unserem Scheitern und unserer Not. Er erzählt davon, wie Menschen, oft auf erschütternde Weise, in Erfahrungen hineingeraten sind, in denen sich im trotzigen Dennoch der Gottesrede neue Wege ins Offene zeigten. Wer Menschen religiös anspricht, zieht sie in ein Gespräch, in dem sie für sich selbst in ihrem Menschsein zum Vorschein kommen.[1]

Darum predigen! Weil wir Menschen das Gespräch über unser Leben brauchen, ein Gespräch, in dem es nicht um die verschiedenen Anforderungen geht, vor die das Leben einen jeden und eine jede stellt, nicht um die Dinge, die wir tun müssen und die es zu wissen gilt. Die religiöse Rede gibt keine Informationen über die Welt. Sie belehrt nicht über das richtige Handeln. Sie stärkt uns vielmehr in unserer Individualität, ermutigt uns zu einem souveränen Lebensglauben. Sie hilft dazu, dass jeder und jede auf die existenziell-religiösen Lebensfragen selbst die passenden Antworten finden kann: Wie verstehe ich mich und mein Leben? Was ist mir wichtig? Worauf richte ich mich aus? Worin liegt für mich so etwas wie die Erfüllung meines Lebens? Wann merke ich, dass ich das Leben genießen kann? Was hindert mich daran, mich auf den Genuss des Lebens einzulassen, unbeschwert und frei?

Und die biblischen Texte? In ihnen sucht die religiöse Rede nach Teilhabe an Erfahrungen, die solche Fragen bearbeiten. In der Bibel sucht die religiöse Rede nach Erzählungen von Menschen, die zum Ausdruck bringen, wie sie ihr Leben erlebt haben, welche Selbstsicht sie entwickelten und welche Bedeutung die Gotteserfahrung wann, wo und wie für sie gewonnen hat.

Darum predigen! Weil ständig so vieles passiert, was Menschen dazu bringt, existenziell-religiöse Sinnfragen zu stellen, es gibt so viel Schreckliches, das an Gott und der Welt gleichermaßen verzweifeln lässt. Wer religiös redet, hat freilich keine Doktrin, keine Lehre, auch keine Botschaft, die er bloß zu proklamieren bräuchte. Die Botschaft hört er wohl, die die christliche ist. Darin jedoch, diese Botschaft nur immer lauter zu wiederholen, sieht er nicht seine Aufgabe. Nein, religiös Redende wollen mit denen, die ihnen zuhören, in ein Gespräch darüber kommen, wie wir, religiös grundiert, der Wirklichkeit begegnen, zu den Erfahrungen des Lebens noch einmal anders uns verhalten können, zum Schönen und Wunderbaren ebenso wie zum Schrecklichen und Absurden. In welches Licht rückt der biblische Text bzw. die Sinnperspektive, die ich ihm abgewinne, solche Erfahrungen? Möglicherweise kann ich mich mit dem, wovon da erzählt wird, identifizieren, sodass sich mir mein eigenes Leben wieder anders anfühlt?

Darum predigen! Weil die christliche Botschaft durch die religiös ansprechende Rede zu einem Angebot an unsere Selbstdeutung werden kann. Doch dann sind die Hörenden nicht Adressaten der im Glauben anzunehmenden biblischen (Heils)Botschaft, sondern souveräne Subjekte ihres Lebensglaubens. Sie spüren, dass sie als Menschen angeredet werden, die sich hier und jetzt über sich selbst und die religiöse Tiefendimension ihres Lebens klarer werden können.

Aber ist nicht auch die religiöse Rede immer noch ein höchst einseitiger Vorgang? Es besteht doch die formale Asymmetrie, dass die Redenden gegenüber den Hörenden monologisch dominieren. Das ist so. Aber nun unterschätze man bitte nicht die dialogische Aktivität, die im Hören stattfindet. Sie passiert umso mehr, je deutlicher religiös Redende die Hörenden eben auf ihren souveränen Glauben ansprechen. Dann machen sie ihre Rede zu einem impliziten Dialog. Dann versetzen sie sich an die Stelle der Hörenden, fühlen sich in sie ein, übernehmen die je subjektive Binnensicht auf die Dinge des Lebens, versuchen die religiösen Kommunikationsbedürfnisse und -kompetenzen der Hörenden interpretativ zu erfassen.

Ernst Lange sprach von der Hörersituation als der »homiletischen Situation«. Damit meinte er bereits die in ihrer religiösen Tiefendimension markierte Lebenserfahrung. Die »homiletische Situation« ist die religiös gedeutete Hörersituation, gedeutet in den Motiven, die dazu drängen, angesprochen und mit der Textauslegung verknüpft zu werden. Die religiöse Wahrnehmung der »homiletischen Situation« lässt erkennen, warum es das religiöse Gespräch braucht. Sie rückt die religiös relevanten Erfahrungen und Phänomene, Fragen und Themen der Zeitgenossen in den Blick und macht auf deren mögliche Anschlüsse an die Textauslegung oder den Kasus des Sonntags aufmerksam. Als religiös gedeutete bzw. religiös deutungsfähige homiletische Situation stellt die Hörersituation immer eine durch die Redenden hergestellte bzw. definierte Situation dar. Mit ihr tritt den Redenden vor Augen, was die Hörenden (zu denen natürlich auch die Predigenden selbst zu zählen sind) existenziell betrifft. Dabei darf aber nicht der Eindruck entstehen, als sei die Hörersituation zum Zweck eines möglichst reibungslosen Textanschlusses konstruiert. Eine homiletische Konzeption, die darauf insistiert, dass die Hermeneutik gegenwärtiger Erfahrung eigenen Rechts ist und nicht nur zum Zweck der Applikation des biblischen Textes unternommen wird, kann zur Vermeidung dieser unernsten Textanwendung entschieden beitragen.

Es geht gerade nicht darum, den biblischen Text auf die Hörersituation anzuwenden. Umgekehrt ist zu verfahren: Durch die religiöse Interpretation der Hörersituation können diejenigen Veranlassungen religiöser Kommunikation gefunden werden, die sich mit dem Predigttext aufnehmen, bearbeiten und kritisch diskutieren lassen. Wird die Hörersituation durch ihre religiöse Interpretation zur »homiletischen Situation«, dann liefert sie gleichsam den hermeneutischen Schlüssel auch noch für die Textauslegung. Dann gewinnen diejenigen Erfahrungen und Themen, die die Hörenden so oder so bewegen, diese Dringlichkeit, die evident macht, weshalb hier und jetzt religiös geredet werden muss.[2]

Literatur: Ernst Lange, Zur Aufgabe christlicher Rede (1968), in: Ders., Predigen als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, hg. von Rüdiger Schloz, München 21987, 52–67.


A

1. Sonntag im Advent

Matthäus 21,1–9:

Hoffnung im Angesicht zugemauerter Tore


Christof Landmesser

I Vielfalt der Hoffnung

Als eine Anfangsgeschichte sollte Jesu Einzug nach Jerusalem gelesen werden. Das zumindest legt der an diesem Sonntag gefeierte erste Advent nahe, beginnt doch jetzt ein neues Kirchenjahr. Aber der eigentliche Anfang wird liturgisch erst gut drei Wochen später mit dem Fest der Geburt Jesu bedacht. Das Kirchenjahr beginnt also noch vor dem Anfang. Darin liegt eine besondere Spannung der Adventszeit. Es soll mit unserer Geschichte zudem ein Geschehen bedacht werden, das uns weit in die Jesusgeschichte hineinversetzt, fast an deren Ende. Jesus geht auf besondere Weise nach Jerusalem und danach in den Tempel. Und mit der Geschichte ist zugleich ein narrativer Ausblick verbunden, werden doch mit dem königlichen Einzug Jesu in Jerusalem die kommenden Ereignisse der Passion, also sein Leiden und Sterben, kontrastiert. Damit sind die traditionellen Sinnpotenziale unserer Geschichte noch gar nicht ausgeschöpft. Der erste Advent folgt auf den letzten Sonntag im Kirchenjahr, also auf den Ewigkeitssonntag. Mit dem Beginn des Kirchenjahres wird auch die Hoffnung auf die Erfüllung intoniert, die unter den Bedingungen unserer endlichen Existenz hervorgerufen werden soll. Der erste Advent und unsere Geschichte bieten also eine Menge an Aspekten, die nicht alle gleichermaßen in einer Predigt entfaltet werden können. Aber doch sollte bewusst sein, dass die Jesusgeschichte und was daraus wurde eine große und unsere Enge überschreitende Geschichte ist, in die wir uns mit dem Gottesdienst und mit der Predigt einfinden können.

II Begründete Hoffnung

Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Das ist in der Jesusgeschichte kein gewöhnlicher Gang, endet dieser doch mit dem Tod Jesu vor den Mauern dieser Stadt. Die merkwürdige und auch etwas anstößige Erzählung, nach der Jesus zwei Jünger auffordert, ihm eine Eselin zu bringen, die ihm gar nicht gehört, deutet die Besonderheit des folgenden Geschehens schon an. Die Absonderlichkeit des Vorhabens bringt Jesus gleich selbst zur Sprache, und er hat auch eine Antwort darauf. Wenn die Jünger angesprochen werden, sollen sie nur sagen, ›der Herr bedarf ihrer‹, wie Luther so schön mit Blick auf die Eselin übersetzt. Es folgt wie so oft im Matthäusevangelium ein Erfüllungszitat, hier mit einem Hinweis auf Sach 9,9, auch ein Anklang an Jes 62,11 lässt sich entnehmen. Mit dem Aufruf des alttestamentlichen Textes verbindet sich zunächst die wichtige Vorstellung, dass die Jesusgeschichte in die Geschichte Gottes mit seinen Menschen überhaupt gehört. Der Inhalt des Erfüllungszitates könnte aber aufregender kaum sein. Wer da einzieht, soll der im Anschluss an Sach 9 erwartete endzeitliche Heilskönig sein. Und bedenkt man zusätzlich noch Jes 62,11, dann wird hier angedeutet, dass Gott selbst mit seinem endzeitlichen Heil zu den Menschen kommt. Frieden soll der in Jerusalem Einziehende schaffen, gerecht soll er sein und ein Helfer für das Leben. Und dieser erwartete König soll auch arm sein, demütig auf einem Esel reitend. Arm war Jesus sicher, aber für seine Zeitgenossen wohl kaum eine Heilsgestalt, zumindest nicht für diejenigen, die in Jerusalem über sein Schicksal entscheiden sollten. Für andere schon, etwa für diejenigen, die er geheilt hat wie die zwei Blinden, von denen in der direkt vorausgehenden Geschichte die Rede war. Und königliche Würde wird ihm zeichenhaft zugesprochen, wenn die Jünger Kleider auf die Eselin legen und die große Volksmenge mit ihren Gewändern und mit Zweigen den Boden bedeckt. Und Jesus selbst beansprucht nach dieser Erzählung, genau dieser König zu sein, heilvoll, friedfertig und zugleich demütig und bescheiden. Bedenkt man den Fortgang der Geschichte in Jerusalem, dann werden all diese Jesus euphorisch zugesprochenen königlichen und heilvollen Attribute fragil, sie kommen im weiteren Geschehen geradezu zum Verschwinden und werden in ihr Gegenteil verkehrt.

Einfach macht es uns der Erzähler im Matthäusevangelium nicht. Er stellt aber mit seiner Geschichte die für die frühen an Christus Glaubenden entscheidende Frage, die er den durch die Ereignisse aufgeregten Menschen in Jerusalem in den Mund legt: ›Wer ist dieser?‹ Zu dieser Frage sollte sich die Predigt vorarbeiten, denn an der Antwort auf sie entscheidet sich, wie es mit der Qualität der Hoffnung steht, die mit dieser Messiasgestalt verbunden ist.

Mit dem Motiv der Hoffnung ist in dieser alten Geschichte spätestens unsere Gegenwart erreicht. Die Sehnsucht nach Lebenserfüllung im Alltäglichen wie in unserer Lebensperspektive überhaupt ist uns allen gemeinsam. Und es betrifft alle Lebensbereiche, Persönliches, Politisches und Religiöses. Das Leben ist immer so konkret, dass wir den Mangel einerseits, aber auch die Vision, die Vorstellung von einer Erfüllung ausmalen und beschreiben können, auch wenn wir wissen, dass damit nicht Letztes gesagt sein wird. Nun verbindet sich in unserer Geschichte aber die Hoffnung mit dem, der auf der Eselin nach Jerusalem hineinreitet. Eine recht nebensächliche Begebenheit im großen Weltgeschehen, und wahrscheinlich haben sie auch nur wenige Menschen im festlich gestimmten und wegen der Pilger zum Passahfest übervollen Jerusalem wahrgenommen. Ein kleines Detail weiß der Erzähler noch zu berichten: Die ganze Stadt wurde erschüttert wie bei einem Erdbeben. Das ist die in den eigenen Grundfesten irritierte Reaktion, wenn Gott selber auftritt. Die Frage, wer dieser Jesus, der in Jerusalem einzieht, ist, spitzt sich zu.

Der Verfasser des Matthäusevangeliums hat eine klare Antwort auf die Frage, die von der Volksmenge wohl mit einem Hinweis auf einen endzeitlichen Propheten erwidert wird, womit aber kaum erreicht wird, was für die frühen Christusglaubenden zu sagen wäre. Die Antwort auf die Frage, wer denn der Hoffnungsträger ist, muss auch als tatsächlich entscheidend wahrgenommen werden. Es ist immer die Frage, ob eine Messiasgestalt das einlösen kann, was mit der Hoffnung auf sie verbunden ist. Falsche Hoffnungsträger gibt es viele, kritische Unterscheidung ist da wesentlich.

Mit der Erzählung von der Namensgebung Jesu jedoch erschließt sich, wie Jesus als Heilskönig wahrgenommen werden kann. Er, Jesus, ist der, der seinem Volk seine Sünden vergibt (Mt 1,21) und er ist zugleich der Immanuel, der ›Gott mit uns‹ (Mt 1,23). Mit dem nach Jerusalem einreitenden Jesus, der dann zum Tempel gehen wird, um dort den Zugang zu Gott wieder zu eröffnen, kommt Gott selbst unter seine Menschen. Deshalb die Erschütterung, aber auch deshalb die berechtigte und lebendige Hoffnung. Das Gottesverhältnis seiner Menschen bringt dieser Jesus wieder in die vom Schöpfer gedachte Ordnung, wodurch das Leben erst möglich wird. In genau dieser Hoffnung gründet der Christusglaube.

Es gibt unendlich viele Lebensfelder, auf denen wir nach Hoffnung suchen und den heilvollen Helfer herbeisehnen. Wenn ich die Geschichte aus dem 21. Kapitel des Matthäusevangeliums lese, dann drängt sich mir eine offene Wunde auf, die unser aller Leben mehr oder weniger direkt betrifft. Jesus zieht nach Jerusalem ein. Wer schon einmal in dieser Heiligen Stadt war, der weiß von den ortsansässigen Guides ganz genau, wo Jesus auf dem Esel nach Jerusalem hineingeritten kam. Es ist das heutige Goldene Tor an der Ostseite der Stadt, dem Ölberg zugewandt. Steht man auf demselben und schaut über das Kidrontal auf diese wunderschöne Stadt, dann erscheint das Goldene Tor an der Ostseite des Haram zugemauert, verschlossen, undurchdringbar. Es hat keine Funktion mehr oder allenfalls die, eine Erwartung zu symbolisieren, vielleicht eine Hoffnung auf einen Durchbruch. Alle drei Weltreligionen, die in Jerusalem eine besondere, eben eine Heilige Stadt wahrnehmen, haben an diesem verschlossenen Goldenen Tor einen Hoffnungsort. Die von den Guides beanspruchte Tradition, dass Jesus durch dieses Tor geritten kam, entstand in byzantinischer Zeit. Der Messias, der Retter, eben der ›Gott mit uns‹ ist jetzt da, in Jerusalem, im Tempel, Gott begegnet seinen Menschen. Wahrscheinlich wurde das Goldene Tor in seiner heute sichtbaren Gestalt etwa im 8. Jahrhundert aufgebaut, im 10. Jahrhundert wurde es erwähnt. Im frühen Islam bekam es die Namen ›Tor des Erbarmens‹ und ›Tor der Umkehr‹, mit diesem Tor verband sich die Hoffnung auf die Abkehr von den Sünden. Und es gibt jüdische Traditionen, die erwarten, dass Gottes Herrlichkeit durch dieses Tor wieder in den Tempel zurückkehren wird (vgl. Küchler, 159–162). Drei Religionen kommen mit ihren Traditionen an diesem Tor, durch das Jesus eingezogen sein soll, in Kontakt. Angesichts der Unversöhnlichkeit zwischen den Glaubenden dieser Religionen drängt sich der Bedarf an Hoffnung schmerzlich auf.

III Hoffnung in der Lebenswelt

Es gibt keine glatte Hoffnung. Die Adventszeit war in Wahrheit auch noch nie idyllisch. Unser menschliches Leben in der Endlichkeit steht dem entgegen. Schon die vielen möglichen Assoziationen, die sich aus der Kombination der Station im Kirchenjahr und dem Predigttext ergeben, lassen Vielfalt, Optionen, aber auch Kompliziertheit der Hoffnungssituation der Glaubenden wahrnehmen (vgl. unter I). Die Predigt tut sicher gut daran, sich auf einen der Aspekte zu konzentrieren. Wo bedürfen wir der Hoffnung? Was ist unsere Hoffnung? Worauf hoffen wir als Christusglaubende? Die Frage, wer dieser Jesus ist, mit dem wir unsere Heilserwartung verbinden, drängt sich immer wieder als entscheidend in unsere Gottesdienste. Denn er ist es ja, der als Immanuel, als ›Gott mit uns‹ seine Jüngerschaft begleitet, wie der Verfasser des Matthäusevangeliums am Ende der Jesusgeschichte notiert (Mt 28,20). So kann in der Predigt Mut gemacht werden zu einem tätigen Christenleben, trotz der manchmal sich uns als undurchschaubar darstellenden Lebenswirklichkeit.

Werkstück Gottesdienst (Tagesgebet)

Herr, unser Gott,

Du bist mit uns und allen Völkern.

Du bist die Hoffnung, auf die wir warten.

Wir bitten Dich, hilf unserem Mangel ab,

sei bei uns in all’ unseren Sehnsüchten.

Durch Deinen Sohn, Immanuel,

der unser Leben erfüllt und begleitet in Ewigkeit. Amen

Literatur: Max Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt. Mit einem Beitrag von Klaus Bieberstein (Orte und Landschaften der Bibel IV/2), Göttingen 22014; Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus. 3. Teilband: Mt 18–25 (EKK I/3), Zürich/Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 1997.

B

Stephan Schaede

IV Verdorbene Vorfreude

Ich liebe das Lied Nr. 1 im Evangelischen Gesangbuch: »Macht hoch, die Tür, die Tor macht weit!« Mich durchströmt auf Weihnachten hinfiebernde Vorfreude, wenn das viele gemeinsam singen am ersten Adventssonntag in der Kirche. Gott soll mit sperrangelweit geöffneten Türen willkommen geheißen werden. Das scheint direkt zum Predigttext zu führen mit dem weit geöffneten Tor der Hosiannarufe im Zentrum, durch das Jesus von Nazareth nach Jerusalem hineinreitet. Nur: Dieser Text stört gewaltig, denn er verdirbt die Vorfreude auf Stall und Krippe. Darf denn die erste Kerze auf dem Adventskranz nicht einmal uneingeschränkt Vorbote seliger Gefühle sein, die sich an der Szene eines in Windeln gewickelten Kindes freuen? Stattdessen wird der Predigthörer mit einer Palmsonntagserzählung als Predigttext konfrontiert, ganz so, wie A ausführt. Da wird zwar gejubelt, hoffnungstrunken vor Freude sogar, aber bald nicht mehr. Den Jubelnden bleibt ihr Hosianna im Halse stecken. Denn der Herr, der da kommt im Namen des Herrn, kommt ans Kreuz. Vom Eselsrücken an den Kreuzesbalken ist es nicht weit. Was meint da A mit der Vielfalt von Hoffnungen, was heißt da Hoffnung auf Erfüllung, die A intoniert sieht? – Umso stärker wirkt auf mich das von A zuletzt aufgerufene Motiv vom zugemauerten Tor. Der Gott, mit dem ich, wie der Psalm sagt, über Mauern springen kann, ist der Heiland, mit dem ich im Winter 2014 gegen die Mauer laufen muss. Beim Wort genommen zwingt diese Geschichte ihre Hörer zu einer anderen Art Vorfreude. Was ist das für ein Gott, der so in die Welt kommt: »Wer ist dieser?«

V Zugemauerte Tore mitten im Advent

Zugemauerte Tore wird es auch während der Adventszeit 2014 geben. Nicht in jedem Fall ist das offensichtlich. Viele zugemauerten Tore verdecken eine um diese Zeit mit unterschiedlichsten Mitteln geschürte Sehnsucht und Ansprechbarkeit von Menschen für Hoffnungsschimmer unterschiedlichster Art. Die Weihnachtsmärkte quellen über; kaum ein Fenster, das nicht mit Kerzenbögen, Sternen und dergleichen mehr verschönert wird. Ungebrochen sind das Interesse und die Bereitschaft für eine Vorweihnachtsseligkeit. Darunter verborgen sind Tore vermauert.

1. Sehr unmittelbar im persönlichen Umfeld für Predigthörer kann das in Gestalt von Gesprächsabbrüchen quer durch Familien und Freundschaften der Fall sein, die unter einem Dach nebeneinander her leben. Schweigerunden im Angesicht des Adventskranzes und gefüllter Lebkuchenteller sind auszuhalten. Ein matter Hoffnungsschimmer winkt am Abend mit der Flucht in den abendlichen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt. – Da sind zugemauerte Tore, die auf den Namen der Einsamkeit hören. Zugänge sind mit der Zeit verstellt, durch die andere, durch die Gott in das eigene Leben einziehen kann.

2. Zugemauerte Tore auf dem politischen Feld verstören. Vom Goldenen Tor in Jerusalem sprach A. – Von einem der unbarmherzigsten zugemauerten Tore, von dem zwischen Nord- und Südkorea war auf der ökumenischen Vollversammlung in Busan im Jahr 2013 die Rede. Familienmitglieder, die der böse Zufall während der Errichtung der eisernen Grenze auf der Süd- und Nordseite sein ließ, haben sich nie wieder gesehen. Tore in Syrien sind zugemauert quer durch Ortschaften hindurch, die auf so verheißungsvolle Namen wie Aleppo hören. – Zugemauerte Tore im Frühjahr 2014 gibt es in Gestalt von Ausgangssperren in der Ukraine. Dort ist aber auch das schreckliche Gegenteil zugemauerter Tore zu verfolgen. Mit Hammer und Meißel verschaffen sich prorussische Separatisten Zugang zu öffentlichen Gebäuden, nehmen Geiseln, setzen Volksbürgermeister ein.

3. Es gibt auch spezifisch religiöse Formen vermauerter Tore. Die Adventshoffnung vernebeln ein Meer aus Liedern und kitschigen Texten, die von Tannenbäumen, Schneeflocken und Weihnachtsmännern berichten. Aber auch umgekehrt vermauert auf ganz eigene Weise die moralistische Variante der Puristen, die Mandelduft, Kerzenschein und Rentierschlitten als geschmacklose Verirrung missbilligen, mögliche Tore in Menschen, die auf das Kommen Jesu Christi ansprechbar sind. – In der unter III in den Blick kommenden interreligiösen Auseinandersetzung werden an überraschender Stelle Tore zugemauert. So berichten Angehörige religiöser Minderheiten mancherorts von Schwierigkeiten, in gut eingespielte sogenannte »Trialoge« zwischen christlichen, jüdischen und islamischen Religionen integriert zu werden. Sie stören dort als fremder, unbekannter Faktor. Schließlich sind die vermauerten Tore religiöser Gleichgültigkeit zu nennen, die den Weihnachtsbaum gelten lässt, der aber die Frage nach Gottes Kommen in die Welt vollständig abhandengekommen ist.

›Gegen die Wand‹, heißt ein Film des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin; er erzählt eine Geschichte von einem sich öffnenden Tor am Rande der Selbstzerstörung. Cahit, ein 40-jähriger Deutsch-Türke aus Hamburg ist lebensmüde, alkoholisiert sich und fährt ungebremst gegen die Wand, findet sich im Krankenhaus wieder, lernt dort Sibel kennen. Auch sie wurde dort wegen eines Suizidversuches eingeliefert, Folge einer vergeblichen Rebellion gegen ihr Elternhaus. Er geht auf ihren Wunsch hin eine Scheinehe mit ihr ein, damit sie sich von ihrer Familie emanzipieren und unerfüllte exzessive Träume ausleben kann. In mehreren Zügen erzählt der Film, wie die Scheinehe für beide selbstzerstörerisch wird und wie unterschiedliche Formen sukzessiver Selbstzerstörung als Rebellion gegen und Ausbruch aus der vorgegebenen Identität gelesen werden können. So ermordet Cahit, der seine Liebe für Sibel entdeckt hat, einen ihrer zahlreichen Liebhaber, der Cahit gedemütigt hat, und geht ins Gefängnis. Sibel, die unterdessen auch ihre Zuneigung zu ihm entdeckt hat, verspricht, auf ihn zu warten. Die Zertrümmerung der Wand, die der Film für Cahit, nicht für Sibel anbietet, die dort den Höhepunkt ihrer Selbstzerstörung durchleidet, ist die Rückkehr in die Türkei. Die Verabredung an einem türkischen Busbahnhof platzt. Cahit reist, anders als verabredet, nicht mit Sibel, sondern alleine nach Mersin, seinem Geburtsort. (vgl. www.bpb.de/system/files/pdf/CDVFQZ.pdf, abgerufen am 30. Mai 2014)

Es stellt sich die Frage: Wie lässt sich der Adventsgedanke, dass Jesus von Nazareth als Hoffnungsträger vom Rande der Weltgeschichte in unsere Lebenskontexte so aktualisieren, dass Predigthörerinnen und -hörer fragen: »Wer ist dieser?« Es ist viel erreicht, wenn die Predigt die Hörenden animiert, sich diese Frage im Sinne einer produktiven Irritation eigener gängiger Adventserwartungen zu stellen und nach zugemauerten »goldenen« Toren in ihrem Lebensumfeld forschen. Die von A dringend geforderte Antwort auf diese Frage markieren für mich drei Aspekte:

(a) Der sich in Jesus von Nazareth zeigende Gott ist einer, der durch die Tore meiner und der Lebensumstände dieser Welt hindurchzudringen vermag. Sehr gut präpariert, gewiss, dass alles zur Verfügung steht, wessen er bedarf, wie die Geschichte erzählt, und ebenso entschieden macht er sich auf den Weg und kommt auf uns zu in eselhafter, fast sturer Geduld – ohne Werkzeuge, die mit Gewalt an die Mauern Hand anlegen. Dabei ist er einer, der auch lebensgefährliche Tordurchschreitungen riskiert. Wie damals in Jerusalem geschehen, reitet er sehenden Auges in eine prekäre Lage hinein, gibt das eigene Leben dran, damit all die mehr oder weniger sichtbaren Tore dieser Welt nicht endgültig vermauert bleiben.

(b) Gott ist bereits in Jesus von Nazareth in diese Welt gekommen. Das Goldene Tor in Jerusalem ist ein starkes Bild dafür, dass Gott schon durch die Tore dieser Welt »hindurchgeritten« ist, längst bevor Menschen sie zugemauert haben. Damit verbindet sich die kühne theologische These, nicht darauf zu warten, dass Gott einmal durch diese Mauern hindurch bei mir oder anderen ankommen wird. Vielmehr geht es um die Hoffnung auf einen Gott, der sich diesseits, nicht jenseits meiner Mauern zeigen kann.

(c) Mit meinem Gott kann ich gegen zugemauerte Tore anrennen. Das geht nicht ohne eigene Verletzungen einher. Denn diese Mauern fallen deshalb nicht sogleich in sich zusammen und geben Tore frei. Aber es gibt keine zugemauerten Tore in dieser Welt, die auf ewig geschlossen bleiben müssen. Advent ist eine Zeit, sich auf Adventserlebnisse einzulassen, also der Hoffnung Raum zu geben und für Tore aufmerksam zu werden, die sich unverhofft öffnen. Für eine solche Öffnung ist das Brandenburger Tor und seine Geschichte mit dem Mauerfall vor 25 Jahren ein klassisches Bild. Es ist ein Bild auch für kleinere Toröffnungen: für eine gesprächsoffene Großzügigkeit, die Austausch zulässt, der nicht möglich erschien. Es müssen ja nicht gleich Hosiannajubel sein, aber wenn Menschen wieder Gedanken und Personen einziehen lassen, die sie aussperrten, ist eine entscheidende Manifestation der Adventshoffnung gesetzt.

VI Mit meinem Gott kann ich gegen Mauern rennen

Erster Predigtvorschlag für einen Filmgottesdienst am ersten Advent: Unter der Überschrift »Wer ist dieser?« kontrastiert die Predigt den Predigttext mit dem Film »Gegen die Wand« (vgl. V). Nur einige Motive seien genannt: Das vermauerte Goldene Tor in Jerusalem, durch das einer ritt, und die Wand, gegen die einer fährt; der mit der Selbstzerstörung arbeitende und der mit dem Ritt nach Jerusalem einsetzende Versuch, das Leben durch Todeserfahrungen hindurch für sich oder aber für andere zu gewinnen; die Fahrt Cahits in seine Heimatstadt – Jesu Auferstehung von den Toten. Leitfrage der Predigt ist: Wie kann angesichts eigener vermauerter goldener Tore die von A entwickelte Adventshoffnung Gestalt gewinnen?

Zweiter Predigtvorschlag: Lesung des Predigttextes – Einstieg: »In Jerusalem steht ein Tor. Es hört auf den schönen Namen »Goldenes Tor«. Man sagt, dieses sei das Tor, durch das Jesus hindurchgeritten sei. Dieses Tor ist vermauert.« Es folgt eine kurze Entfaltung der Hintergründe mit dem Material von II. – 1. Teil: Auch in unserem Leben gibt es vermauerte Tore. Hier kann das Panorama vermauerter Tore (V 1–3) aufgerufen werden, um dann einen der Aspekte gründlicher zu entfalten. – 2. Teil: Was soll die Rede von vermauerten Toren, von dem Ritt eines erwachsenen Jesus von Nazareth durch ein Tor nach Jerusalem im Advent? Hier kann die in IV notierte Irritation aufgenommen werden. – 3. Teil: Die Geschichte provoziert, durch die womöglich recht diffusen Adventshoffnungen hindurch sich die Frage genauer zu stellen: Wer ist dieser? – 4. Die Predigt schließt mit der Aufforderung, sich nach einer Antwort auf diese Frage auf die Suche zu machen. Orientierung geben III und V (a)–(c).

Werkstück Gottesdienst (Fürbittengebet)

Gott, am Anfang des Advents fragen wir Dich:

Wer bist Du, dass Du uns in Jesus Christus Hoffnung machst,

uns Hoffnung machst, in unsere Welt zu kommen

und mit Deiner Geduld Mauern einzureißen,

mit denen wir die Tore unseres Lebens verschließen?

Wir bitten Dich, auf dem Weg in diesen Tag und diese Woche:

Lass uns wachsam werden für Deine Antworten auf unsere Frage,

für Deine Weise, mit uns zu sein und vermauerte Tore zu öffnen.

Wir bitten Dich für die Regierenden dieser Welt.

Verleihe Ihnen Augenmaß und Verstand, für eine Politik kluger Türöffnungen zu streiten, um so dem Frieden der Welt innerhalb und außerhalb der Grenzen ihrer Länder zu dienen.

Verleihe allen, die in Kirche Verantwortung tragen, die Klugheit,

geistliche Mauern einzureißen, die verhindern, Dich zu vernehmen.

Wir bitten Dich für das Zusammenleben in den Häusern unseres Ortes:

Gib dort, wo Schweigen eingezogen ist, Menschen die Courage und Kraft, vom Gesprächsabbruch durch das Tor des Blickwechsels zum aufmerksamen Austausch hindurch zu gehen.

Wir bitten Dich für die Einsamen,

gib ihnen Kraft, durch Tore, die zu anderen führen,

beherzt hindurch zu schreiten.

Die Lebenshungrigen, mach Du sie satt.

Die Lebenssatten, mach Du sie hungrig.

Verleihe den Kranken Deine Beharrlichkeit.

Den Sterbenden Deine Zuversicht.

Uns allen aber Deine Zukunft.

Amen

Lieder: EG 1 »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit«; EG 13 »Tochter Zion«; EG 14 »Dein König kommt in niedern Hüllen«, um einen selten gesungenen Text von Friedrich Rückert zum Recht zu verhelfen; überraschend, aber passend, wenn zuvor deutlich wurde, dass der Geist, der vor zugemauerten Toren nicht kapituliert, sondern einzieht, der Geist Jesu Christi ist: EG 133 »Zieh ein zu meinen Toren«.


A

2. Sonntag im Advent

Lukas 21,25–33:

Was kommt, verändert uns


Friedrich Brandi

I Ganz so heimelig ist der Advent nun auch wieder nicht

Der zweite Sonntag im Advent hat es nicht leicht. In der Regel wurde die Gemeinde, ja die ganze Gesellschaft, noch vor einer Woche in die besinnliche Adventsstimmung hineinkatapultiert – nun backt man Plätzchen oder kauft sie heutzutage wohl eher und eilt von einer (meistens sogar schon Weihnachts-)Feier zur nächsten oder zur adventlichen Aufführung der Kinder in die Schule. Und dann kommt am Sonntag darauf der Stimmungskiller bzw. der ganz große Wurf: Gerichtsrede. Buße. Endzeit. Natürlich schon mit der Vorahnung weihnachtlicher Hoffnung, aber dennoch: Der zweite Advent hat einen sehr eigenen Charakter, der eher nachdenklich und überhaupt nicht heimelig daherkommt.

Doch es kann viel Freude und Lust bereiten, sich mitten in dieser adventlichen Stimmung gerade den Themen zu widmen, die etwas tiefer reichen als die Frage, ob rote oder gelbe Kerzen den Kranz schmücken sollen. Ist gespanntes Warten – und damit meine ich nicht nur den Advent – denn tatsächlich immer nur beschaulich und froh, oder hat nicht jede Zeit des Wartens auf eine Ankunft immer auch etwas Bedrohliches und Beängstigendes, weil Vertrautes ins Wanken geraten kann und Unhinterfragtes neu bedacht werden muss? Der zweite Advent mit diesem großartigen Text lädt ein zu grundsätzlichen theologischen Gedanken, denen sich eine treue Gottesdienstgemeinde hin und wieder auch einmal gerne stellt – und eine säkularisierte Gesellschaft sich öfter mal stellen sollte. Was also hat die Endzeitrede Jesu, wie sie Lukas interpretierend niederschreibt, dazu beizutragen?

II »Er stößt die Gewaltigen vom Thron«

Die Kommentare sind sich einig: Lk 21,25–36 hat Mk 13 übernommen und erheblich umgestaltet (vgl. Klein, 634). Lukas hat zwar den Grundgedanken von Markus übernommen, auch beschreibt er – wie Markus – das Ende der Welt und erzählt von der Naherwartung der Wiederkunft Christi. Beide Evangelisten haben eine hinreichend genaue Vorstellung vom Zeitpunkt dieses Ereignisses: »Wahrlich, ich sage euch, dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bevor dieses alles geschieht.« Also noch zu Lebzeiten dieser Generation wird die Wiederkunft Christi erwartet. Aber in dem, was geschehen wird, unterscheiden sich die beiden Autoren dann doch signifikant. Die Schwerpunktsetzung im lukanischen Text wird besonders anschaulich im Vergleich mit Mk. Da die Bearbeitung von Mk über das hinausgeht, was sonst zu beobachten ist, frage ich mich, was Lukas dabei wohl bewegt haben könnte und von welchem Gedanken er sich hat leiten lassen.

Im älteren Evangelium läutet ein kosmisches Geschehen das Ende der Welt ein. Hier ist die Rede von einer Sonnen- und Mondfinsternis, die Sterne werden vom Himmel fallen und alle Kräfte des Himmels ins Wanken geraten. Lukas hingegen verzichtet auf die Beschreibung eines kosmischen Szenarios, er bleibt hier eher im Ungefähren und spricht von Zeichen, die geschehen werden. Diese verknüpft er mit der aus der jüdischen Apokalyptik vertrauten politischen Dimension vom Ende der Weltherrschaft (vgl. Dan 7). Zudem übernimmt er auch nicht die Engel aus Mk, womit er das Geschehen aus der kosmischen Sphäre auf die Erde holt und den Gedanken der »politischen« Apokalyptik noch unterstreicht. Vermutlich weil er – im Unterschied zu Markus – auch von der Eroberung Jerusalems weiß (von der Tempelzerstörung wohl eher nichts) und als aufmerksamer Geist seiner Zeit sich denken kann, was geschehen wird. Und was dann geschieht, ist, so Klaus Berger, ja auch keine Sonderheit der jüdischen Apokalyptik oder der Zeit am Anfang des 1. Jahrhunderts, vielmehr handelt es sich um ein Phänomen, das die Menschheitsgeschichte durchzieht und bis heute andauert: Könige und Herrscher erobern ein Territorium und werden abgelöst von anderen. Neu entstehende Großreiche werden niedergerungen, und immer wieder keimt die Hoffnung, dass gerade die kleinen Reiche die scheinbar übermächtigen zu Fall bringen (vgl. Berger, 295f.): Davon weiß die Hebräische Bibel ja nun wahrlich zu erzählen. Bei Lukas klingt das dann so: »… auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde …« (V. 25f.)

Es geht Lukas um die Vision eines die irdische Welt bewegenden, ja umstürzenden Ereignisses. Noch einmal Klaus Berger: »Jesus redet vom Reich Gottes, das klein wie ein Senfkorn schon begonnen hat zu wachsen.« (Berger, 296) Hier wird die Disproportionalität von großem Reich (der Römer) und (noch) kleinem Reich (Gottes) auf die Spitze getrieben, und sicherlich ist es auch kein Zufall, dass Lukas ausgerechnet das »Scherflein der Witwe« an den Anfang des Kapitels 21 gestellt hat.

Als Prediger lese und interpretiere ich die Bibel häufig kleinteilig. Darum lese ich den Text jetzt einmal im Konzept der Gesamtkomposition des Lukasevangeliums. Schon die ersten beiden Kapitel stellen das Wirken Gottes als ein sehr irdisches, ja sogar ausgesprochen politisches Geschehen dar. Da sind zunächst die wundersamen Begleitumstände der Geburt Johannes des Täufers und vor allem der Lobgesang der Maria, in dem die Umwertung der Werte besungen wird. Sodann folgt die Erzählung von Jesu Geburt, in die Lukas alles hineingelegt hat, was dem Autor vom erwachsenen Jesus berichtet wurde. Wenig später wird erzählt, wie Johannes die Menschen zur Umkehr bewegt und Jesus getauft hat. Vor diesem Hintergrund liest sich der Text noch einmal pointierter. Wie am Anfang des Evangeliums geht es auch hier um eine Vision, durch die die Menschen aufgerüttelt werden. »Die Völker werden bange«, und »die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen werden«, liest sich mit der Erinnerung an Lk 1 sehr viel konkreter: »Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen« und »die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.« Welcher Reiche und Mächtige sollte sich da nicht fürchten und welchem Volk sollte da nicht bang werden?

Es bedarf (zunächst) nur einer kleinen Geste, mit der die Mächte der Welt gestürzt werden können: »… seht auf und erhebt Eure Häupter, weil sich Eure Erlösung naht.« (V. 28) Vielleicht ließe sich die Erzählung von den Emmausjüngern sogar als ein Versuch verstehen, Jesu Botschaft in die konkrete Geschichte zu verweben. Hier erheben sie zwar nicht ihre Häupter, aber sie werden zu Sehenden. Darum scheint es Lukas und erst recht Lk 21,25–33 zu gehen.

III Der Not des anderen gerecht werden

Es liegt natürlich nahe, dem anschaulichen Gleichnis vom Feigenbaum eine zentrale Stellung in der Predigt einzuräumen, zumal damit das nahende Weihnachtsfest auch schon in den Blick genommen werden kann. Doch ich möchte ermutigen, die »Zwischenzeit« zum Thema zu machen. Natürlich ist das nicht gerade leicht, weil wir heute kaum noch mit der unmittelbaren Wiederkunft Christi rechnen. Dennoch ist uns der Gedanke vom »Nichtmehr« und »Nochnicht« durchaus vertraut.

Angesichts einer gesellschaftspolitischen Entwicklung, in der fast alles nur noch aus dem Blickwinkel der materiellen Verwertbarkeit betrachtet wird, legt sich auch mir der Gedanke nahe: Wie lange soll das denn noch gut gehen? In den Tagen der Abfassung dieses Textes erleben wir eine nach 1990 überwunden geglaubte neue territoriale Auseinandersetzung um die Ukraine, und viele fürchten eine Art zweiten Kalten Krieg, wenn nicht sogar mehr. Ganz zu schweigen von dem dauernden Streit um die Territorien in Palästina oder Afrika. Gerade die Afrikaner haben ihre Hoffnung auf die Hilfe von anderen Staaten dieser Erde oder internationaler Organisationen nahezu vollständig verloren; sie setzen auf die Religion, meistens leider fundamentalistischer Couleur. »Was die Welt zu erlösen vermag, ist nicht ein noch starreres System der Rechthaberei, sondern einzig und allein eine ›Umkehrung‹ der Perspektive auf die menschliche Lage: Nicht welche Rechte gegenüber dem anderen sich einfordern oder einklagen lassen, bleibt zu überlegen, vielmehr, was zu tun ist, um der Not des anderen ›gerecht‹ zu werden.« (Drewermann, 712)

Die bittere Erkenntnis unseres Predigttextes ist wohl die: Einen Neuanfang wird es kaum geben ohne den beängstigenden Untergang des Alten. Warum also nicht einmal ein Donnerwort von der Kanzel, eine Klage über das Streben nach Macht und Reichtum. Doch dann bitte keine unverbindliche (und meistens geschwafelte) Anklage, sondern das Übel konkret benennen – je nachdem, was gerade oben auf liegt. Mit »Wie lange noch?!« könnte die Predigt beginnen.