Artemis Gounaki

Wenn jede Diät versagt

Wie ich 70 Kilo abgenommen habe

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1. Auflage 2010

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Redaktion: Mareike Fallwickl, Rif bei Hallein

Umschlaggestaltung: Melanie Madeddu, München

Umschlagfotos: Sandro Bross/Photoscouts

Satz: Jürgen Echter, Landsberg am Lech

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-86882-164-2

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Warum ich mir das Ding habe einbauen lassen? Warum ich mich hab aufschneiden und mir das Ding habe implantieren lassen? Ganz einfach. Weil ich keine Lust mehr hatte. Keine Lust mehr auf mich, wie ich war, auf euch, wie ihr mich saht – und auf den ganzen mich wirklich nervenden Rest.

Dies ist meine Geschichte. Wie ich es schaffte, 70 Kilogramm abzunehmen.

VORHER

2006 – 2007

1. Täglich grüßt das Murmeltier (November 2006)

Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist die Schönste im ganzen Land? In einer Boutique mit wundervoll geschwungenen roten Lettern habe ich ihn gesehen. Ich musste ein paarmal an ihm vorbeigehen, bevor ich erkannte, wie zauberhaft er mich zurückstrahlen ließ. So schmal. Fast schlank. Um die Hüfte leicht geschwungen. Wenn ich es mir verkniff, mich seitlich sehen zu wollen, sah mein Bauch fast flach aus. Von vorne gesehen eben. Frontansicht also. Nur nicht drehen. Er war schon was ganz Besonderes. Er konnte mich schlagartig etliche Pfunde schlanker erscheinen lassen. Ich wirkte in die Länge gezogen und alles, was an mir formlos runterhing, was meine Rundungen aufquellen ließ, alles, was an mir drückte und klemmte, wurde mit einem Mal passend und schien geradezu exklusiv auf meinen Körper zugeschneidert. Vielleicht war er gekrümmt. Wie einer dieser Spiegel im Spiegelkabinett vieler Jahrmärkte. Gruselig und zugleich erfreulich, wenn man sieht, wie verschieden man dargestellt werden kann. Wie unterschiedlich man aussehen kann. Aus Klein mach Groß, aus Dick mach Dünn. Die Nase lang. Das Kinn noch länger. Die Augen groß und größer. Wer weiß? Ich weiß nur, ich konnte nicht anders, damals, als auf Knien bittend und bettelnd dieses »Must have« dem Geschäftsführer abzukaufen. Eine horrend überhöhte Summe verlangte er, aber das war es mir wert. Ich musste ihn haben! Und nun steht er hier bei mir, mein mich schlank machender, magischer Spiegel.

Mein Wecker klingelt. Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, deren Tage etwas später beginnen als die meiner Mitmenschen. Ich bin, vielleicht aus genau diesem Grund, gar kein Morgenmuffel. Ich öffne meine Augen, erschlage wie gewöhnlich dieses schrill kreischende Ding und bin umgehend wach. Fit. Ansprechbar. Einfach da. Mental da. Kann denken und entscheiden. Kann den Tag planen und durchorganisieren. Ich kann nur nicht umsetzen, was mein Geist mir befiehlt. Denn mein Körper – nun ja. Ein Stich da. Ein Ziehen dort. Ich versuche, diesen Betonklotz zu bewegen. Aua! Jede Faser meines Körpers schmerzt. Ich bleibe einfach liegen. Versuche mich zu konzentrieren. Versuche zu lokalisieren, woher der Schmerz kommt, was unmöglich scheint. Irgendwie tut alles weh. Früher hatte ich das nicht. Nein. Aber seit jetzt nunmehr drei Jahren werde ich immer unbeweglicher. Immer steifer. Immer – oh Gott – fetter! Jeden Tag etwas größer, fülliger, breiter, massiger – eben fetter.

Früher, ja, da war noch alles anders. Ich bin aufgesprungen, nein, geradezu aus meinem Bett gehechtet. Voller Power und Tatendrang. Ich war imstande, meine Tage immer mit einem Lächeln zu beginnen. Mein Wetter war immer sonnig. Ich bin durch die Wohnung geflitzt, im Wissen, dass ich nur 24 Stunden zur Verfügung habe. Gefrühstückt habe ich im Stehen. Unter anderem auch im Gehen. In einer Hand ein Brötchen, in der anderen die Zeitung. In regelmäßigen Abständen habe ich Zeitung und Brötchen gegen Kaffeepott, Orangensaft, Apfel und allerlei Gesundes und Ungesundes ausgetauscht. Ich hätte drei bis fünf Hände benötigt, um alles gut und zeitsparend im Griff zu haben. Jede Minute war verplant. Jeder Moment durchorganisiert. Bereits am Morgen lief ich so viel durch die Wohnung, wie eine andere in acht Stunden läuft. Ich war unentwegt auf Achse. Hyperaktiv. Ein Termin jagte den nächsten. 11 Uhr Managementbesprechung. 13.30 Uhr Studiojob, Werbejingle einsingen. 16 Uhr Chorprobe, Songs vorbereiten. 18 Uhr Bandprobe, Songs einspielen. 20 Uhr Meeting Nachtcafé München. 21.30 Uhr Bayerischer Hof, Gig. Dazwischen rennen, rennen, rennen, dreimal die Woche hundert Bahnen schwimmen und Taxi. Viel Taxi. Sonst hätte ich meine zahlreichen Termine gar nicht alle schaffen können. Essen? Hab ich vergessen. Wann auch. Der Tag wurde eigentlich immer ohne Pausen geplant. Die hätten zu viel Zeit gekostet. Irgendwann, wenn mir der Magen durch lautes Knurren, Zwicken und Kneifen anzeigte, dass er auf Minimalgröße geschrumpft war und in Begriff war, alle umliegenden Innereien zu verspeisen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen – essen! Schnelle Abhilfe brachten der Bäcker von nebenan, Mc Donald’s, Pizza vom Stand an der Münchner Freiheit und diese lecker in Remoulade ertränkten Backfischbrötchen. Getrunken hab ich dazu Cola. In Übermengen. Hallo, ich bin Sängerin. Ich muss viel trinken. Wasser? Aber nein. Das schmeckt doch nicht. Cola Light? Ich bitte dich – das ist doch ungesund.

Ich fühlte mich frei, unabhängig, schön. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Mein Leben war ungezwungen. Ich hatte es mir genau so gewünscht. Genau so ausgewählt. Genau so vorgestellt. Ich lebte meinen Traum und das war genau so, wie ich es mir immer ersehnt hatte!

Heute liege ich im Bett. Morgens. Es dauert geschlagene 23 Minuten, bis meine Knochen auf Bewegung eingestellt sind. Bis ich sie so weit vorbereitet habe, dass ich aufstehen kann. Bis ich meine armen überstrapazierten Knochen mit tausend kleinen Leckerlis überzeugt habe, einen Schritt vor den anderen zu tun. Das dauert zu lange? Ja. Aber heute muss ich mir die Zeit geben, bis ich bewegungsfähig bin. Bis ich endlich funktioniere, wie ich sollte. Bis ich es aus der Waagerechten in die Senkrechte schaffe.

Heutzutage gehe ich brunchen und in feine Restaurants und lasse mir das Essen am liebsten nach Hause bringen, weil es doch so viel Auswahl gibt und ich mir daheim, so ganz unter Ausschluss der Öffentlichkeit, noch viel besser den Magen vollschlagen kann. Die TV-Produktionen, für die ich arbeite, bieten üppiges und reichhaltiges Catering an. Da wird man doch satt. Da hat man doch alles, was man braucht. Ich bin unterwegs mit Bands. Bin auf Tour durch die ganze Welt. Als Tourcoach arbeite ich an ihren Stimmen. Und das Tourleben macht fett. Pancakes zum Frühstück machen fett. Amerika macht fett. Japan nicht. Asien an sich auch nicht. Aber England macht umso fetter. Nach jeder Tour bringe ich aus jeder Stadt, aus jedem Land wieder ein paar Kilogramm mehr mit nach Hause. Abgenommen habe ich noch nie auf Tour. Nur zugenommen. Und ab und an mal, aber sehr selten, zeigt die Waage danach das Gleiche an wie Wochen davor, als ich noch zu Hause in meinem trauten Heim war und mich auf das Weggehen vorbereitete. Ich bin viel auf Tour. Sehr viel!

Mein Spiegel hat inzwischen seinen festen Platz in meiner Wohnung erhalten. Es war anfangs nicht leicht, das perfekte Licht zu finden, doch nun krönt er meinen langen, die Wohnung durchziehenden Flur und dient, umringt von einem leider nicht wachsen wollenden Ficus und einem bombastischen Kerzenleuchter, als Verbindungsstück zwischen Schlafzimmer und Bad. Und so komme ich auf meinem Weg in die Dusche vorbei an meinem Spiegel. Natürlich achte ich darauf, dass ich mich frontal zum Spiegel vorbeibewege. Das habe ich mir nun beigebracht. Es gibt mir ein gutes Gefühl, gerade morgens. Dieses erste Bild von mir begleitet mich durch den ganzen Tag. Ich achte also darauf, dass dieses erste Bild ein verdammt schönes ist. Ein schönes Bild von mir? Und das schon vor dem Duschen? Ungeschminkt? Mit Haaren, die sich wie Antennen in alle Himmelsrichtungen ausrichten? Nun gut, okay. Ich gebe zu, ich versuche beim allerersten Vorbeiwabbeln meinem Spiegelbild komplett auszuweichen. Was ziemlich schwierig ist, da sich meine Ausmaße seit einiger Zeit doch sichtlich vergrößert haben.

Ich habe mir abgewöhnt, mein morgendliches Waschritual in meiner Dusche abzuhalten. Viel zu eng. Ich komm ja kaum noch durch die Glastür. Und das Bücken entwickelt sich zu einem mittelschweren Desaster, wenn man bedenkt, dass ich mir beim Versuch, etwaige tiefer liegende Körperregionen zu erreichen, regelmäßig den Kopf anschlage. Die Knie müssen also gehoben werden, um Füße und Zehen einer gründlichen Reinigung zu unterziehen, was wiederum ein desolates Ende nehmen würde, da mein Gleichgewichtssinn seit der Eroberung und langfristigen Einnahme eines Körpergewichts jenseits der 130 Kilogramm schrecklich nachgelassen hat. Also dusche ich in der Badewanne. Da hat man doch Platz, kann sich ausbreiten, im wahrsten Sinne des Wortes. Am liebsten sitze ich ganz gemütlich auf dem Badewannenrand. Ich dusche mich quasi sitzend ab. Da erreiche ich jede Körperpartie, ohne mich großartig anzustrengen. Seit Längerem ist es mir in erster Linie wichtig, mein Ziel mit möglichst wenig körperlichem Einsatz zu erreichen. So habe ich nun auch beim Duschen die Redewendung »Sport ist Mord« eigens für mich kultiviert und zelebriere sie jeden Morgen in Perfektion.

Ich steige aus der Wanne und rein interessehalber auf meine immer bereitstehende Waage. Es ist eine von diesen digitalen, mit großer Glasfläche. Ich frage mich jedes Mal, ab welchem Gewicht Glasplatten zerbersten. Ob sie wohl in tausend kleine Scherben zerbrechen wird und ich blutend und bewegungslos auf dem Boden liege? Vielleicht bilden sich auch nur einzelne tiefe Risse im Glas und zeigen mir den dringenden Kauf einer neuen, stabileren Waage an. Na, so weit ist es Gott sei sehr, sehr, sehr gedankt noch nicht. Und in der Hoffnung, dass ich es niemals so weit kommen lassen werde, stelle ich mich drauf. Ich warte. Rote digitale Doppelpunkte erscheinen und wandern wild auf dem Display hin und her. Von rechts nach links und von oben nach unten. Hat auch was Spannendes. Das Warten. Das eigene Gewicht. Jetzt kommt’s. Da steht’s. OH MEIN GOTT.

Ich, Artemis, bringe heute sage und schreibe 139 Kilogramm auf diese formvollendete Waage. Ja! Formvollendet bin ich auch! Die Form ist vollendet. Aus, Schluss vorbei! Fertig, das gute Stück. 139 Kilo. Das bedeutet, dass ich am Abend, nachdem ich den ganzen Tag über gegessen habe, locker auf 141 Kilogramm komme. Das bedeutet, dass ich kurz davor bin, meine Besinnung zu verlieren. Das bedeutet: ganz, ganz großer Mist.

Ich renne zum Telefon. Nein, ich schleppe meine 139 Kilo zum Telefon. Vorbei an meinem grandiosen Spiegel, vorbei an meinem gemütlichen Schlafzimmer, vorbei an meiner Küche, Feindraum Nummer eins, rein ins Büro. Ich bin außer mir. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Mir ist heiß, ich schwitze. Und ich bin sauer. Ich bin stocksauer. Ich bin stocksauer auf mich und die Welt. 139 Kilo, was für ein Gewicht, was für eine Masse. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Ich mache mir Gedanken über die Glasplatte an meiner Waage? Was ist mit mir? Wann werde ich unter meinem Gewicht zerbrechen? In tausend Teile zerfallen? Zusammenklappen? Wann wird mein Körper unter meinem Gewicht kraftlos zu Boden sinken und aufgeben? Was ist nur los mit mir? Bin ich nicht eine Frau, die Wert auf Schönheit legt und immer schon gelegt hat? Der es gefällt, schöne Dinge zu besitzen, die ein Auge für Kunst hat, Mode, Musik, Design? Warum gebe ich nicht meinem ursprünglichen, sehr attraktiven Äußeren den passenden Rahmen? Ich liebe doch Menschen, die leichtfüßig sind. Und zart. Die inneren Glanz ausstrahlen und sympathisch wirken. Warum habe ich mich nur so gehen lassen? Ist es denn so schwierig, nur ein Brötchen zu frühstücken statt drei? Und statt Brötchen lieber doch eine Vollkornschnitte? Brauche ich denn tatsächlich Zwischenmahlzeiten, wenn ich esse wie ein Scheunendrescher? Futterneider! Und nehmen wir an, eine Zwischenmahlzeit sei vonnöten, kann es dann nicht Obst sein statt einer Leberkässemmel? Statt Schokolade? Statt Currywurst? Statt Chips?

Mein Bauch wächst und wächst und wächst. Schwanger? Nein, bin ich nicht. Aber das könnte man denken. Obwohl mein Umfang den einer im neunten Monat schwangeren Frau bei Weitem übersteigt. Bei Weitem! Neulich erst im Warteraum meines Arztes wurde mir ein Platz angeboten. Von einem kleinen Jungen, dessen Mutter ihn heimlich an der Schulter antippte und ihn wortlos aufforderte, doch seinen Stuhl der armen schwangeren Frau zu überlassen. Ich habe ihn natürlich angenommen. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich wäre am liebsten sofort in Wehen ausgebrochen. Aber ich habe ihn dankend angenommen und dem kleinen Jungen zärtlich über sein Haar gestrichen. Armer Kerl. Aber was hätte ich nur tun sollen? Der Bauch war groß, er ist es noch. Und er wächst stetig.

Ich sollte meine Taille messen. Da ist diese Kugel. In meiner Körpermitte. Die sich auf Höhe meines Zwerchfells eingenistet hat. Die ich, wie mir schon vor ein paar Tagen aufgefallen war, während der letzten Wochen und Monaten weiter gepflegt und gehegt und liebevoll modelliert und in stundenlangen Essorgien gemeißelt hatte. Diese feste, pralle, sich nach allen Seiten erstreckende Riesenkugel ist doch ebenfalls vergrößert? Oh Schreck. Sicher. Also schleppe ich mich zurück ins Bad und setze mich auf den Badewannenrand, der noch nass ist von meiner morgendlichen Duschorgie.

Erst mal durchatmen. Nur die Ruhe. Bereits vor Wochen hatte ich mich mit meinem Arzt zusammengesetzt und über mein extremes Übergewicht – er nannte es Adipositas – gesprochen. Schon damals wurde ich gewogen und genau abgemessen. Seitdem war ich gar nicht stolzer Eigentümer weiterer sieben Kilo geworden. Dabei hatte ich doch auf mein Gewicht geachtet? Dachte ich wohl. Hatte ich wohl nicht! Ich hatte auf jeden Fall mehr Obst zu Hause. Das weiß ich doch noch genau. Aber hatte ich es denn auch gegessen statt ... Leberkässemmeln? Ich kann mich nicht mehr dran erinnern.

Ich lege das Maßband um meine Taille und ja, oh Schock, 143 Zentimeter. Wie traurig und lustig zugleich. Schenkelklopfer. Ha! Ich könnte mir den zehnjährigen Sohn meiner Nachbarin einmal komplett um meinen Bauch wickeln. Er ist so groß, wie ich rund bin. Was für ein Bild. Was für eine Vorstellung. Allerdings wird und soll er nun mal wachsen jeder wird ihm stolz auf die Schultern klopfen: »Mensch, Junge, du bist ja gewachsen, du wirst uns noch alle überholen!«, »Das wird mal ein richtiger Kerl, groß und kräftig! Da kommt so schnell keiner gegen ihn an«, ich dagegen sollte lieber versuchen, nachhaltig und außergewöhnlich stark zu schrumpfen: »Du bist so eine schöne Frau, wenn da nicht ...!«, »Denk doch mal an deine Gesundheit! In ein paar Jahren werden sich all diese Kilos rächen.« Kotz! Würg!

Na, das weiß ich doch auch, ihr Lieben und Guten. Ihr Freunde, Verwandte und Bekannte. Aber, wie soll ich es denn machen? Ich bin doch offen für alles. Alles, was schlank machen soll. Habe ich nicht wochenlang Eier gegessen, bis ich sie fast wieder aus mir rauswürgen musste, nur weil die Mayo-Diät genau dies für gut befand und vorschrieb? Gesund kann das ja wohl nicht gewesen sein. Von der Ananasdiät bekam ich Ausschlag im ganzen Gesicht. Wegen der Enzyme, hieß es. Meine Visagistin war mit ihrem Latein am Ende. Es half nur noch abdecken, abdecken, abdecken. Es wurden die neuesten Produkte angeschafft und an mir ausprobiert. Das Resultat war dann ein neuer Ausschlag, diesmal nicht von der Ananas. Das war’s dann auch damit. Und tschüss, Ananas!

Und die Kohlenhydratdiät? Die war ratsam und hätte, wie ich später erfuhr, auch funktioniert und mich sicherlich schlank gemacht – mit viel Sport als Begleitung. Sport? Stimmt, da war doch noch was. Ja, Sportler brauchen Energie, brauchen Kohlenhydrate, verbrauchen Energie, verbrauchen Kohlenhydrate. Artemis dagegen bleibt auf ihren Kohlenhydraten sitzen. Nach jedem Versuch, abzunehmen, waren immer höhere Zahlen auf dem Display meiner vollkommenen Glaswaage zu erkennen. Ich wollte etwas an meiner Figur verändern? Habe ich. Auf jeden Fall. Nur – in die falsche Richtung eben. Mist!

Ich muss wie ein Häufchen Elend gewaltigen Ausmaßes aussehen. So allein auf dem Rand meiner Badewanne sitzend. Meine Augen sind rot. Sie sind feucht, aber ich weine nicht. Jede Träne wäre eine Träne voller Selbstmitleid. Die habe ich nun schon zu oft geweint. Und ich habe keine Lust mehr. Wenn ich jetzt nichts unternehme, wird es morgen zu spät sein. Ich habe mir etwas angewöhnt, was ich mir nicht abgewöhnen kann. Es ist also höchste Zeit, mein körperliches Wohlbefinden, meine Gesundheit, meine körperliche Zukunft zu überdenken. Tränen trocknen. Auch von allein. Aber meine inneren und äußerlichen Schmerzen werden so schnell nicht vergehen, wenn ich nicht jetzt sofort etwas dagegen unternehme. Ich habe mich entschieden. Ich weiß, welchen Schritt ich nun zu gehen habe. Es wird Zeit. Langsam stemme ich mich auf. Meine Knie knacksen laut.

Zurück an meinem Schreibtisch, ergreife ich den Hörer meines Telefons, fläze mich in meinen, wie ich immer dachte, eigentlich sehr bequemen Sessel und wähle die Nummer meines Leibarztes. Den hab ich schon seit Ewigkeiten. Er kennt meinen ganzen Leidensweg und hat immer mal wieder neue kleine Tipps für mich. Er findet mich wohl auch ein wenig flippig und so ganz anders als seine anderen Patientinnen. So lebenslustig. Positiv. Mit viel Power. Wenn der wüsste, wie unendlich verloren ich mich gerade fühle. Mein Lächeln ist einer ernsten Miene gewichen. Eine Stimme meldet sich: »Praxis Dr. Abenhardt, guten Tag, Sie sprechen mit Frau Bär.« Ja, so fühle ich mich auch gerade, wie ein zotteliger Bär, der mit seinem mächtigen Hinterteil in seinem viel zu engen violetten Sessel klemmt. War nicht immer so. Nein. Noch vor zwei Jahren passte ich perfekt auf die Sitzfläche. Gut, ich füllte ihn aus, so ganz, eben komplett, meinen Sessel, aber eingeklemmt war ich nicht. Jetzt klemme ich fest. Meine Hüfte ist gefangen zwischen den Armlehnen. Wie die starken Hände eines Mannes bedrängen sie mich. Quetschen mich. Halten mich fest. Sie lassen mich nicht los. Eine Bewegung? Unmöglich. Die Masse, die sich, von Haut überzogen, um meine Schenkel legt, auch Fett genannt, schrumpelt seitlich nach oben. Wie ekelhaft das aussieht. Wenn ich angezogen bin, sieht das ja niemand. Aber ich klemme hier fest und bin nur mit einem Höschen bekleidet. Sieht aus wie Orangenhaut. Ist das Orangenhaut? Ich glaube schon. Unebenheiten bilden sich auf der Haut, fast wie Kerben. Wenn ich locker stehe, sieht man davon nichts. Aber kaum sitze ich, quillt es widerlich die Lehnen nach oben. Eigentlich sitze ich gar nicht richtig. Gehalten werde ich nur von den Seiten. Mein enormes Gesäß schwebt leicht über der Sitzfläche. Ich sitze also nicht. Ich schwebe. Nein. Ich klemme schwebend.

Das passiert mir auch manchmal im Flugzeug. Eigentlich immer. Ich fliege oft. Und da klemme ich dann in meinem Sitz, neben mir die jungen, schlanken und schmalen Sängerinnen, mit denen ich auf Tour bin. Die können sogar bei einer Beinfreiheit von null locker ihre Beine übereinanderschlagen. Wie machen die das nur? Ich dagegen sitze fest. Und tue so, als ob nichts wäre. Lässig.

Ich versuche auch kurz, mal mein rechtes über mein linkes Bein zu schlagen. Versuche nachzuahmen, was diese jungen Dinger dabei empfinden, wenn sie so locker Teile ihres Körpers geschmeidig zwirbeln und winden und ineinander verdrehen. Hass! Bei mir geht das nicht! Das ist doch wohl gar nicht möglich?! Ich hebe mich inklusive Sessel! Oh Gott, wie peinlich. Wir halten uns gegenseitig fest. Der Sessel mich und ich ihn. Wir lassen uns nie wieder los. Wir sind zwei Kletten, die sich gefunden haben. Zwei, die nicht mehr voneinander lassen können. Zwei, die sich angenähert haben. Yin & Yang. Der eine schließt mit den Rundungen der anderen in Perfektion ab. Gegensätze, die sich ergänzten und eins wurden. Aber ich habe jetzt keine Lust mehr auf ihn. Schluss mit dieser Beziehung. Sie ist nicht gut für mich. Wir hatten uns gefunden. Einst. Es war eine schöne, intensive Liebe. Voller Höhen und Tiefen. Wir hatten einen Moment lang Stress. Aber wir haben uns zusammengerauft. Wurden eins. Jetzt passt es nicht mehr. Wir passen nicht mehr. Er nicht zu mir und ich nicht zu ihm. Ich muss mich trennen. Ich löse mich aus meinem Sessel, indem ich mich an den Armlehnen haltend nach oben abstoße und gleichzeitig die Lehnen nach unten drücke. Geschafft. Im Stehen telefoniert es sich sowieso besser. Lüge! Egal. Ich höre die Dame im Hörer nachfragen. Ja, ja, ich bin noch da. Ich erkläre ihr mein Anliegen und werde auch prompt verbunden. Eine wie immer vollkommen verplant wirkende männliche Stimme meldet sich: »Frau Gounaki, guten Tag, wie geht es Ihnen, wie kann ich Ihnen helfen?« Helfen? Ja. Was für eine tolle Idee. Hilfe ist immer gut. »Hallo, Herr Dr. Abenhardt. Sie hatten mir von einem Medikament erzählt. Ich weiß nicht mehr, wie es heißt. Es ist wohl ein Appetitzügler. Ich hab schon wieder zugenommen.« Betretenes Schweigen. Er ist sicher geschockt. Kann es kaum fassen, dass seine Patientin so gar keine Kontrolle über ihre Ernährung hat. »Sie meinen sicher Reductil, Frau Gounaki! Ich mache Ihnen das Rezept fertig. Sie können es dann abholen kommen!« Ja, gut. Das werde ich. Sehr gerne sogar. »Aber, Frau Gounaki ...«, er schweigt, dann ein leises Schmatzen: »... wenn das nicht funktioniert, sollten wir uns mal zusammensetzen und eine andere Möglichkeit suchen. Eine, die Ihnen tatsächlich hilft.« Eine, die mir hilft? Welche? Ich bin dabei. »Um was handelt es sich denn?« Das wäre ja perfekt. Etwas, das wirklich nützt. Nie wieder dick. »Jetzt probieren Sie erst einmal Reductil aus. Und falls das nichts bringt, schauen wir weiter.« Das hasse ich ja. Erst anlocken und dann nicht sagen wollen. Wieso muss man den anderen denn immer quälen? Hallo?! Was ist denn das für ein Wundermittelchen? Was Neues? Endlich entdeckt? Was Altes? Neu aufgelegt? Wahrscheinlich ist es unendlich teuer. Niemand kann es sich leisten. Aber es ist hilfreich. Das Einzige, was hilft. »Nehmen Sie Reductil und kommen Sie in zwei Wochen zu mir in die Praxis. Und bitte, Frau Gounaki, achten Sie auf Ihr Gewicht.« Bitte? Aber Herr Dr. Abenhardt. Ich achte doch drauf. Jeden verdammten Tag achte ich darauf. Und ich kann Ihnen sagen – es geht immer weiter rauf.

2. Wenn man doch auch schneiden kann (Dezember 2006)

Vor längerer Zeit nahm ich Xenical, das war was ganz Widerliches. Vor allem war es eins – widerlich teuer. Drei Stück nahm ich am Tag. Das kostete mich 138 Euro im Monat. Monat für Monat. Und was tat es? Bei mir? Nichts. Xenical sollte nichts anderes tun, als die Fettaufnahme zu hemmen, nur ein Teil der aufgenommenen Fettmenge würde verdaut. Der Rest würde meinen Körper unverdaut verlassen. Im Beipackzettel wurde ausdrücklich betont, dass Xenical nur in Verbindung mit einer fettreduzierten Ernährung eingesetzt werden solle. Ja. Schwierig. Da war, glaube ich, bei mir so gar nichts fettreduziert. Und da meine Diät nicht sonderlich fettarm war, kam auch gleich die Strafe. In meiner Toilette konnte ich unschwer fettigen und flüssigen Stuhl erkennen. Ich hatte öfter als sonst Blähungen und Magen-Darm-Beschwerden, die mein Umfeld wiederum unschwer bemerken konnte. Und warum das alles? Wegen der hohen Menge an unverdautem Fett. Lecker, nicht? Ich hab dann aufgehört. War einfach nicht meins.

Jetzt also Reductil. Das ist neu. Ich muss es googeln. Es ist wohl teurer als Xenical, sogar viel teurer, aber ich muss nicht so viel davon nehmen. Eine Tablette pro Tag sollte vorerst genügen, meinte mein Arzt.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch und starte meinen Computer. Und los geht’s. Was mich immer schon unfassbar am Internet gestört hat, ist, dass man so wahnsinnig viele Artikel über ein einziges Thema finden kann. Das ist natürlich für viele perfekt, weil man auch viel erfahren kann und noch in den dunkelsten Ecken des Netzes einen Artikel erspäht, der noch etwas Neues, etwas bislang Ungehörtes und Ungesehenes hinzufügt. Gerade das will ich aber so gar nicht. Ich möchte nur schnell und einfach und vor allem in einem einzigen Beitrag komplett über das Medikament aufgeklärt werden. Man weiß ja gar nicht, wo man zuerst klicken soll. Ich lese, dass Reductil ein Appetitzügler ist. Das weiß ich schon. Also weiter. Ach du Schreck. Hier schreibt jemand, die Pille würde dem Herz schaden. Das ist nicht gut. Schnell weg von der Seite. Das hier ist schon viel netter. Da gibt es eine Aktion, oh, wie lustig, sie nennt sich Aktion Fett weg. Sehr einfallsreich. So einfallsreich wie Schlafen Sie sich schlank. Blödsinn! Auf der zweiten Seite finde ich dann endlich das Richtige. Reductil genauer unter die Lupe genommen. So, was steht denn nun da? Reductil als Antidepressivum in den Achtzigerjahren vorgesehen ... wegen zu geringer antidepressiver Effektivität dann doch nicht auf den Markt gebracht ... bei klinischen Studien fielen jedoch die gewichtreduzierenden Eigenschaften auf ... Bitte was? Was soll denn das nun heißen? Soll ich etwa mit Möchtegern-Antidepressiva abnehmen? Für immer glücklich dick? Wollen die mich auf den Arm nehmen? Das Zeug nehme ich nicht! Weiter steht unter Nebenwirkungen: Es kann zu Anorexie, Verstopfung, Übelkeit, Mundtrockenheit, Schlaflosigkeit, Schwindel und Schweißausbrüchen kommen. Die Adipositas-Ambulanz der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf äußerte sich in der Zeitschrift der Stiftung Warentest zur Langzeitverträglichkeit wie folgt: Die Daten reichen noch nicht aus, um Lungenhochdruck als lebensgefährliche Begleiterscheinung auszuschließen. Das werde ich mir auf gar keinen Fall antun. Gut. Ich bin dick. Nein. Mehr als nur dick. Aber auf gar keinen Fall nehme ich Tabletten, die als Antidepressiva vorgesehen waren und lebensgefährliche Begleiterscheinungen mit sich tragen können. Das werde ich nicht zulassen. Was denken die sich alle? Dass man alles dafür tun würde, um dem Schönheitsideal in den Köpfen der Menschen zu entsprechen? Hallo, Frau Gounaki, Sie werden nicht an Fettleibigkeit zugrunde gehen, sondern nun an Lungenhochdruck. Ohne mich. Das kann mein Arzt vergessen. Wie kann er mir überhaupt zu so einem Medikament raten? Unglaublich. Ich muss schleunigst mit ihm sprechen. Und ich muss wissen, welche andere Möglichkeit er für mich vorgesehen hat. Reductil hat ja nun wirklich nicht geklappt. Nicht etwa, weil ich es probiert habe, sondern schlicht, weil ich es niemals nehmen werde. Niemals in meinem ganzen Leben. Schrott.

Am Tag drauf, zwei Tage vor Weihnachten, rufe ich meinen Arzt frühmorgens erneut an. Ich bin ziemlich sauer, weil ich es nicht fassen kann, wie er mir dieses Gift verschrieben hat. Er entschuldigt sich, dann bringt er seine Erklärung vor. Er hat tausend Gegenargumente und aus seiner Position, als Arzt, möglicherweise recht, aber letztendlich ist es meine Entscheidung. Und dieser fügt er sich sofort. Man kann mich ja nicht zwingen, etwas einzunehmen, das ich nicht will und als schlecht für mich einstufe. Ich will ihn gerade nach der anderen Möglichkeiten fragen, als er mich unterbricht: »Dann ist sicherlich die andere Geschichte auch nichts für Sie, Frau Gounaki.« Wie kann er denn das wissen? »Doch, ich bin nach wie vor offen für alles. Ich will nur nicht mit Präparaten dieser Art vollgestopft we ...«, ich hatte noch nicht ausgesprochen, als er mich erneut unterbricht: »Nein, nein, das ist was ganz anderes. Wären Sie offen für das Thema Adipositas-Chirurgie?« In meinem Kopf kreuzen mehrere Fragezeichen auf. Was meint er denn damit schon wieder? »Nun, ich habe mich informiert in Ihrem speziellen Fall. Ich habe Rücksprache gehalten mit einem Spezialisten, der hier in München praktiziert, und für Sie käme, wenn Sie dies wünschen, problemlos ein Magenband infrage.« Was ist ein Magenband? Ist es etwa dieses Ding, das den Magen verkleinert und dazu führt, dass man weniger essen kann und schlussendlich abnimmt? Und zwar ziemlich viel. Vereinfacht gesagt, ist es ein Band, ein Gürtel, das operativ den Magen enger schnallt. Das um den Magen gelegt wird und angezogen wird, bis es den Magen in zwei Parts teilt – einen kleinen Vormagen und den Hauptmagen, der ab dem Moment der Operation nichts mehr zu lachen hat, weil er von diesem Moment an nichts Festes mehr bekommt. »Und so kann man abnehmen. Und ich meine viel abnehmen. Wir reden von etwa 40 bis 50 Kilogramm Gewichtsverlust. Möglicherweise noch mehr.« Das waren die genauen Worte meines Arztes. 40 bis 50 Kilogramm Gewichtsverlust. Ich solle es mir genau überlegen und bei Interesse zu ihm kommen. Wir würden uns dann mit dem Spezialisten zusammensetzen und das Thema besprechen.

Das ist sie also. Die andere Möglichkeit. Die andere Idee. Um mich für immer von meinem Übergewicht zu befreien. Eine Operation. Adipositas-Chirurgie. Eine »Ich mach dir den Magen so klein, dass du nichts mehr runterkriegst«-Chirurgie. Das ist also seine Idee.

Mich durchzieht ein wohliges Gefühl der Erleichterung. Als hätte ich endlich gefunden, was ich in den letzten Jahren suchte. Ist das mein Weg, den ich zu gehen habe? Ist das die Antwort auf meine Fragen? Die Lösung meiner Probleme? Mein Glücksbringer? Mein ganz persönliches Ei des Kolumbus? Ist es das, wonach ich immer gesucht habe und von dem ich nie wusste, dass es schon lange für mich bereitsteht?

Es ist so beruhigend, dieses Gefühl. So leicht. So einfach. Ich möchte es tun. Ich möchte so gern. Wenn das die große, mir versprochene Änderung bringt, dann will ich es gerne tun. Ich bin bereit.