image

Inhalt

Lasst sie raus!
Von Andreas Weber

Zusatzinfos

Naturerfahrung fördern – Tipps für Familien

Literaturtipps

Mehr eBooks von GEO

Lasst sie raus!

Kinder lieben die Natur; und sie brauchen sie. Dass sie kaum noch im Freien herumstrolchen, hält der Biologe und Naturphilosoph Andreas Weber für eine zivilisatorische Katastrophe. Hier sein Plädoyer für das »wilde Kind«

In den Osterferien vor zwei Jahren begann ich mit den Kindern unserer Berliner Straße ein Experiment. Das Wetter war blendend. Die Aprilsonne hatte die Buschwindröschen hervorgetrieben und den Ahorn am Rande der kleinen Wildnis hinter dem Haus seine Knospen öffnen lassen. Meine Tochter Emma, 6, und mein Sohn Max, 9, langweilten sich zu Tode. Sie stritten sich, sie prügelten sich, sie lungerten schlecht gelaunt in meinem Arbeitszimmer. Wenn ich die beiden fortschickte, zankten sie sich mit ihren Freunden darum, wer länger mit deren neuer Playstation spielen durfte. Es war sommerlich warm, es waren Ferien, und es war nicht auszuhalten.

Ich entsann mich solcher Urlaubsqualen aus meiner eigenen Kindheit. Aber ich glaubte mich zu erinnern, dass wir sie immer irgendwann bewältigt und dann die Zeit mit Unternehmungen gefüllt hatten, an die ich bis heute zurückdenke: Wir hatten ein Fort auf dem hohen Stumpf einer Weide gebaut. Wir hatten eine Raumstation aus Schnee-Iglus errichtet. Wir hatten Schneckenrennen organisiert. Wir hatten einen echten Gemüsegarten angelegt. Wir waren in eisiger Abendröte vom Schlittschuhteich zurückgekehrt.

Wir – das heißt ich und die Nachbarskinder, die ebenfalls gelangweilt auf dem Klettergerüst des Spielplatzes saßen. 30 Jahre später ging mir auf: Für Max und Emma gab es keinen solchen Sammelplatz. Ihre Freunde sind eigentlich überhaupt nicht mehr draußen. Ich schaute aus dem Fenster über die Straße und die Wiese dahinter. Leere.

Wer durch die Felder des ländlichen Berliner Bezirks wandert, in dem wir wohnen, begegnet nicht nur fast keinen Schmetterlingen mehr. Er trifft auch kaum ein Kind. Anders als noch in den 1970er Jahren scheinen Kinder, die Abenteuer unter freiem Himmel erleben, die sich schmutzig machen, sich Kratzer holen, eine aussterbende Spezies zu sein.

Eine Fülle von Studien bestätigt, was Stadtmenschen wissen, vielleicht ohne es sich bewusst zu machen: Der Aktionsradius der gegenwärtigen Kindergeneration verlagert sich zunehmend auf das Hausinnere. Das Gebiet, in dem sie auf eigene Faust umherstreifen dürfen, hat sich in drei Jahrzehnten so drastisch verkleinert, als lauerten Heckenschützen hinter jedem Müllcontainer. Vor allem kommen Kinder immer seltener in Kontakt mit der Natur. Eine schleichende Indoor-Krankheit scheint unseren Nachwuchs befallen zu haben, und sie steckt auch jene an, die wie Max und Emma hektarweise Freiraum zur Verfügung haben: Felder zum Drachensteigen. Gräben zum Fröschefangen. Seen zum Angeln. Bäume zum Klettern. Bombentrichter im Wald, kurz: eine Welt, wie sie Tom Sawyer erlebte.

Und der Abschied der Kinder von der Natur ist nicht folgenlos. Denn mit dem Schwinden des ungezügelten Spiels im Freien droht etwas Unersetzliches verloren zu gehen: die Möglichkeit, seelische, körperliche und geistige Potenziale so zu entfalten, dass Kinder zu erfüllten Menschen werden.