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Michael Scheible: „Im Jahr 1961 wurde ich in Stuttgart-Bad Cannstatt geboren. Nach erfolgreichem Schulabschluss und Ausbildung in der Finanzverwaltung bin ich seit 1981 als Finanzwirt in der Steuerberatung tätig. 1984 heiratete ich meine Frau Elke. Drei Jahre später kam unser Sohn Heiko zur Welt. Zwei Jahre danach wurde unsere Tochter Sonja und 1998 unser Jüngster, Hannes, geboren. Heiko kam 1996 bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Seine Schwester Sonja überlebte den Unfall mit lebensgefährlichen Verletzungen. Nach Wochen erwachte sie aus dem Koma und wurde uns dadurch ein zweites Mal geschenkt. Ich möchte allen danken, die uns in der größten Ausnahmesituation des Lebens begleitet haben. Ich wünsche den Menschen Mut für tröstende Worte und die Kraft, Begegnungen mit Trauernden nicht auszuweichen.“

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Michael Scheible

Herbstlaub im Frühling

Ein Vater trauert um sein Kind

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E-Book-Ausgabe der 1. Auflage 2003

ISBN 3-935452-43-8

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Für meine liebe Frau,

für Sonja,

für alle,

die lernen müssen,

mit dem Verlust eines

lieben Menschen zu leben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Meine Familie

Der schlimmste Tag

Der Tod drängt ins Bewusstsein

Das eigene Kind beerdigen

Brennender Schmerz

Unser Kind liegt im Koma

Quälende Unsicherheit

Das Wunder

Wieder eine Familie

Trauer

Weiterleben mit den Wunden

Warum?

Freunde

Das Chaos ordnet sich

Carpe diem – Nütze den Tag

Epilog

Prolog

Der Friedhof schließt, wenn die Sonne untergeht. Im Winter kann ich deshalb nach Feierabend nicht mehr zu Heiko gehen. Immer stärker wurde das Bedürfnis in der dunklen Zeit, auf dem Heimweg anzuhalten und einzukehren in diesen Ort der Stille. Mich auf mein Leben besinnen, mich an sein Leben erinnern.

Endlich Frühling. Ich stelle mein Auto ab. Gehe den Weg zum Grab meines Kindes. Vertraut ist mir jeder Schritt. Wieviel hundert Mal schon gegangen in den letzten Jahren?

Der Wind jagt die Wolken. Sie verschmelzen und trennen sich wieder. Neue Formationen quellen auf und werden zerrissen. Wie Schemen tauchen sie auf und vergehen.

Das Schreien, Locken und Turteln der Vögel begleitet mich. Sie verteidigen ihren Nistplatz, paaren sich. An Hecken und Sträuchern platzen die Knospen auf. Der warme Regen wischt frisches Grün über die Zweige. Am Ort der Toten. Hier ist unser Kind begraben.

Oft wollte ich fliehen, wenn ich mich diesen Weg entlangschleppte. Heute bin ich zum ersten Mal gerne hier. Mein Kind hat mich mit leiser Stimme gerufen. Ganz tief in mir drin. Ich bin der Stimme gefolgt und setze mich auf eine Bank.

Meine Familie

Freitagabend. Arbeitsschluss. Greifbar nahes Wochenende. Nach anstrengenden Tagen eine kleine Pause. Ich fahre nach Hause, rangiere mein Fahrzeug in die schmale Zufahrt zu unserem Haus. Bestimmt werde ich schon erwartet. Halt! Ich bremse und muss lächeln: Heikos Fahrrad liegt mir einmal wieder im Weg. Er hat es zu seinem neunten Geburtstag bekommen. In den Ferien ist er damit viel unterwegs. Ich steige aus und stelle es zur Seite. Mein kleiner Entdecker hatte es mal wieder sehr eilig. Auf dem Gepäckständer ist noch sein kleines Plastikaquarium festgeschnallt. Es ist leer. Ständig ist dieser Behälter im Einsatz. Heiko sammelt darin Insekten und Pflanzen. Er beobachtet darin Tiere, versorgt sie mit Gras und Luft und lässt sie nach einiger Zeit wieder frei. Alles Mögliche hatte er schon in diesem Behältnis. Maikäfer haben darin auf ihre Freiheit gewartet und eine Nacht auf Heikos Nachttisch verbracht. Ameisen mit ihren Larven, Hummeln, Raupen, Käfer und Bienen wurden gesammelt und erforscht. Das genaue Aussehen der Schmetterlinge hätte er zu gerne darin untersucht, aber sie taten ihm immer Leid. Weil sie dann vielleicht verletzt würden und nicht mehr hätten fliegen können.

In der letzten Woche hat er auf den Feldern mit seinem Schulfreund Grillen gesammelt. Sie wurden in unserem großen Garten ausgesetzt und geben abends hemmungslos Konzerte. Unsere Nachbarn wundern sich über die Musik.

Meine Spannung steigt. Was haben Heiko und Sonja heute wohl wieder erforscht? Ich schließe das Auto ab und gehe um das Haus herum in den Garten. Vorbei an dem schwarzen Strich, den mein Sohn an der neu gestrichenen Hauswand gezogen hat. Aus Versehen mit dem Lenker seines Fahrrads. „Hallo, Kinder, jetzt bin ich ein Wochenende bei Euch, es ist Freitag!“ „Papa, komm schnell und sieh mal, was wir gefunden haben.“ Heiko und Sonja rennen mir auf dem Gartenweg entgegen. Beide formen mit ihren Händen kleine Höhlen. Durch wessen Hände soll ich zuerst in die dunkle Höhle blicken? Vor jedem Auge habe ich ein Paar Höhlenhände. Vorsichtig öffnen sich die mir entgegengestreckten Finger. Große Marienkäfer krabbeln in den Händen. Die Kinder schließen ihre Höhlen schnell wieder, damit die Käfer nicht wegfliegen.

Der Sommertag hat Spuren hinterlassen: Die Fingernägel der Kinder sind mit dunklen Rändern untermalt. Mit leuchtenden Augen erzählen die beiden, was sie heute alles getan haben: Über die umgedrehten Gartenstühle und Liegen haben sie Decken ausgebreitet und ein kleines Lager gebaut. Die Himbeeren und Tomaten sind reif und wurden heute ausgiebig genascht.

Die Kinder waren mit den Fahrrädern unterwegs. Heiko hat sein kleines Blumenbeet schon gegossen und das Unkraut herausgezupft. Wir freuen uns, dass wir jetzt wieder beisammen sind. Ich sehe die strahlenden Augen und die Freude in den Gesichtern. Sonja ist sechs Jahre alt. Sie und ihr Bruder sind unzertrennlich. Beide haben dieselben blonden Haare und blauen Augen. Heiko ist der Forscher, seine Schwester die einzige, wissbegierige Assistentin.

Den Abend verbringen wir im Freien. Im großen Kamingrill brennen bald die Holzkohlen. Wir grillen und essen im Garten. Die Sonne geht unter. Heiko und Sonja stecken dünne Aststücke in die Reste der Glut. Sie tragen die rauchenden Hölzchen durch den Garten. Dann spielen sie unter Büschen und Bäumen „Verstecken“. Das Lachen der Kinder ist weit zu hören, wenn sie sich in der Dämmerung nach der Suche wieder gefunden haben. Ich sitze mit meiner Frau auf der Terrasse. Wir hören den Vögeln zu. Ein Amselhahn sitzt auf dem Dachfirst und flötet im Fortissimo sein Abendlied. Eine kleine Haselmaus, die hinter der Steinmauer wohnt, kommt neugierig aus ihrem Versteck. Sie knabbert an den Resten der großen Sonnenblume. Die Kinder hatten vor einigen Tagen die volle, körnerschwere Blüte abgeschnitten und in Sichtweite abgelegt, damit sie das Tier abends beobachten können. Jeden Abend huscht die Maus aus ihrem Versteck und holt sich ihre Abendmahlzeit. Heiko erinnert mich daran, dass ich unbedingt ein Bild von der niedlichen Maus machen muss. Ich warte mit der Kamera. Schussbereit. Jetzt ist der beste Moment. Das Tierchen erstarrt kurz unter dem Blitzlicht. Schnell huscht es in Sicherheit. Hinter die Ritzen der groben Natursteine, die ich erst im Frühjahr mit Heiko bepflanzt habe. Vorsichtig hat er immer wieder die zarten Pflänzchen gegossen, damit die frische Erde nicht ausge waschen wurde.

Am Sonntag sind wir bei unseren Freunden eingeladen. Sie wohnen in der Nähe. In ihrem Garten am Haus sind viele Früchte reif. Die Kinder essen begeistert. Sonjas blonde Haare tauchen immer wieder zwischen den Sträuchern auf. Sie sucht mit Heiko zusammen Beeren. Erst am späten Nachmittag lässt die Kraft der Sonne etwas nach. Jetzt wird es nach der großen Hitze des Tages richtig gemütlich. Wir sitzen im Schatten und reden zusammen über alle möglichen Dinge. Heiko und Sonja spielen im Garten. Der Besuch wird für sie noch interessanter, als sie hören, dass ein Igel im Garten unserer Freunde wohnt. Er kommt immer abends aus seinem Versteck an der Garage. Wir lachen und erzählen.

Ein Thema beschäftigt uns an diesem Abend: Nur noch eine Woche bis zum Urlaub! Weil Heiko schon seit Jahren an Asthma leidet, hoffen wir, dass ihm die Meeresluft an der Nordsee hilft. Schon vor einem Jahr haben wir uns angemeldet. Jetzt wird die Vorfreude auf den nahen Urlaub immer größer. Wir überlegen, wie wohl die erste große Fahrt unserer Kinder zu einem so weit entfernten Ziel verlaufen wird. So lange waren wir noch nie gemeinsam unterwegs. Bald wird es dunkel, im Schein der Schwimm kerzen sind die Blicke der Kinder nur auf den Punkt gerichtet, an dem der Igel erscheinen soll. Aber er kommt leider nicht. Spätabends gehen wir heim. Zu Fuß etwa zehn Minuten. Sonja ist müde, ich setze sie mir auf die Schultern, Heiko geht neben uns. Plötzlich entdecken wir die vielen Sterne am klaren Abendhimmel.

„Papa, wie weit sind die Sterne von uns entfernt? Wie sieht es dort aus? Scheint dort auch die Sonne? Ist es dort warm? Wer passt auf, dass sie nicht zusammenstoßen?“

„Heiko, sie sind Tausende von Kilometern auseinander. Es sieht nur von der Erde so aus, als würden sie zusammenstoßen. Mach dir keine Sorgen. Alles ist so ausgerichtet, dass nichts passiert. Die Sterne am Himmel gehen den für sie bestimmten Weg. Seit sehr langen Zeiten. Nur auf dem Mond sind schon Menschen gewesen. Als der erste Mensch den Mond betreten hat, war ich ungefähr so alt wie du. Wir konnten damals im Fernsehen zuschauen, wie die Rakete gestartet ist, wie die Raumkapsel sanft auf dem Mond aufgesetzt hat und wie schließlich die Astronauten wieder zur Erde zurückkehrten. Sie landeten im Meer.“

Morgen will meine Frau mit den Kindern ihre Schwester besuchen. Sie wohnt mit ihrer Familie 60 Kilometer von uns entfernt. Die beiden möchten sich noch einmal vor dem Urlaub sehen. Für mich beginnt morgen die letzte Arbeitswoche.

Der schlimmste Tag

Ich schrecke schweißnass auf. Es ist noch dunkel. Mein Herz rast und stampft. Ich spüre mein Blut durch die Adern pulsen, schlage verstört die Bettdecke zurück. Der Schlafanzug klebt an mir. Ein Blick auf den Wecker: Fünf Uhr. Im Traum war ich bei einer Beerdigung. Ich weiß nicht, wo sie stattgefunden hat. Auch hat mir niemand gesagt, wer gestorben war. Der Schlaf ist verloren. Gedankenfetzen jagen durch den Kopf und beschäftigen mich. Warum das Hirngespinst einer Beerdigung? Ich liege auf dem Bett, spüre die Kühle des Morgens auf der Haut. Die Zeit bis zum Aufstehen wird lang, ich wälze mich ruhelos herum und hänge meinen Gedanken nach. Allmählich verblassen die Eindrücke des Traums, die Schemen weichen. Endlich Zeit, das Bett zu verlassen. Montag, der 12. August 1996! Ferien für die Kinder und bald auch Urlaub für mich! Gerne gönne ich meiner Familie den Schlaf. Sie haben ja Ferien. Am Vortag waren wir wegen des Besuchs bei den Freunden alle spät schlafen gegangen. Der Regen trommelt gegen das Fenster. Ich stehe auf.

Am Arbeitsplatz kommt der Albtraum zurück. Nichts läuft von der Hand. Überall Hektik. Die hohe Luftfeuchtigkeit lähmt mich und macht meinem Kreislauf zu schaffen. Ich komme mit der Arbeit nicht voran. Um 9.30 Uhr ruft mich meine Frau an. „Ich fahre jetzt doch noch zu meiner Schwester, eigentlich habe ich keine Lust. Ich hätte noch so viel zu tun vor dem Urlaub. Aber sie möchte uns noch einmal sehen, jetzt gehen wir eben. Und die Kinder freuen sich auf die Hasen, die sie heute sehen dürfen.“ In mir schreit es: „Fahre nicht!“ Ich würge die innere Stimme ab. Warum soll ich sie zurückhalten? Es spricht nichts gegen diese Fahrt – außer meinem unguten Gefühl. Ich kann es mir nicht verkneifen, sie zu ermahnen: „Pass bitte auf im Verkehr, es regnet. Kommt alle wieder gut heim, bis heute Abend.“

Selten habe ich meine Frau so erlebt. Sie macht auf mich einen niedergeschlagenen Eindruck. Liegt das am Wetter? Stehen wir heute alle neben uns? Warum geht es uns beiden gleich? Meine Gedanken quälen mich und führen mich immer wieder weg von der Arbeit. Ich kann mich nicht konzentrieren.

Kurz nach zwölf Uhr läutet mein Telefon.

„Guten Tag, sind Sie Herr Michael Scheible?“

„Ja, warum? Mit wem spreche ich?“

„Ich bin Stationsarzt im Kreiskrankenhaus. Ihre Frau ist bei mir. Sie hatte einen Unfall. Es ist ihr nichts Schlimmes passiert. Ich werde sie noch einige Zeit zur Beobachtung hier behalten. Morgen kann sie wieder nach Hause.“ Ich atme tief durch. Das kann doch nicht sein. Karussell der Gedanken. Zwinge mich, zuzuhören. Die Stimme am anderen Ende scheint auf einmal weiter weg zu sein.

„Warum, ich verstehe nicht, ist sie verletzt?“ Um Gottes Willen, hoffentlich nicht!

„Kann ich mit ihr reden? Warum ruft sie nicht selbst an?“

„Nein, das geht jetzt nicht. Sie ist im selben Raum und hört das Gespräch mit. Sie hat nur leichte Verletzungen und Prellungen. Bitte kommen Sie, wenn es möglich ist, bald hierher. Wissen Sie, wo das Krankenhaus ist?“ Die Klinik ist auf der halben Strecke, die meine Frau zu fahren hatte. Ich denke: Mensch, meine Kinder! Der sagt nichts. Mein Herz rast wie verrückt.

„Bitte sagen Sie mir, was ist mit den Kindern, die im Auto meiner Frau mitgefahren sind?“ „Sie sind gut aufgehoben und wurden in die Universitätsklinik gebracht. Das Krankenhaus wird sich bei Ihnen melden.“

„In Ordnung, ich nehme mir frei und komme bald. Bis später, grüßen Sie bitte meine Frau.“ Ich lege den Hörer auf. Eine wahnsinnige Unruhe befällt mich. Was ist mit meinen Kindern, was kann ich nur tun? Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie in der anderen Klinik gut versorgt sind. Vielleicht war in dem Krankenhaus, welches meine Frau aufgenommen hat, kein Platz für alle und sie sind deshalb getrennt? Komisch. Ich grüble. Bin allein mit mir. Neuer Gedanke: Telefonauskunft. Frage nach der Nummer der Universitätsklinik. Ich war noch nie in jener Stadt, habe keine Ahnung, dass es dort zig Krankenhäuser gibt. Jetzt weiß ich es. Werde über die Zentrale mit vielen angeschlossenen Häusern verbunden. Frage nach meinen Kindern. Nenne ihre Namen. Beschreibe ihr Aussehen. Ihr Alter. Rufe hilflos ins Telefon, dass sie nach einem Unfall in irgendein Krankenhaus eingeliefert worden sein müssten. Mehr weiß ich ja nicht. Meine Gesprächspartner wissen es auch nicht. Ich frage mich durch viele Stationen des Klinikums.

Endlich ein Treffer. „Ja, da ist ein Kind, wie Sie es beschreiben. Es wird gerade operiert, am besten, Sie kommen bald.“

Wieder Wegbeschreibung. Zitternde Hände. Angst. Warum nur ein Kind? Und das andere? Zum zweiten Mal lege ich auf. Meine Hände und Beine sind ganz kalt. Ich atme kurz. In meinem Kopf hämmert es. Alles dreht sich, mir ist schwindlig. Gut, dass ich sitze. Jetzt nur nicht aufstehen. Oh Gott, was ist da passiert? Hilf doch, dass meiner Familie nichts Schlimmes zugestoßen ist und alles wieder gut wird!

Inzwischen ist Mittagspause und meine Kolleginnen werden aufmerksam, weil ich so lange telefoniere.

Das bruchstückhafte Wissen befriedigt mich nicht, macht meine Angst noch größer. Ich versuche, bei der Polizei mehr über den Unfall zu erfahren.

Das Polizeirevier, in dessen Zuständigkeitsbereich ich den Unfallort vermute, gibt mir die Auskunft: Die Unfallaufnahme wird von der Polizeidirektion übergenommen. Ich erfrage die Telefonnummer. Wenn sogar die Direktion dafür zuständig ist – da ist Furchtbares passiert!

Ich versuche, den zuständigen Beamten zu erreichen. Wieder eine Odyssee am Telefon, niemand will mir Auskunft geben. Drei Mal werde ich weitergereicht. Endlich jemand, der mit mir redet. Sehr vorsichtig.

„Es war ein sehr schwerer Verkehrsunfall.“

„Was ist mit meinen Kindern?“

Stille.

„Es waren zwei Kinder im Wagen. Ich weiß, dass eines in der Uni-Klinik ist. Was ist mit dem anderen Kind? Warum sagt mir niemand, was los ist?“

Ich schreie es in den Hörer. Meine Stimme klingt so anders. Ich meine, nur noch aus einem dröhnenden Kopf zu bestehen. Spüre nichts mehr.

„Das darf ich Ihnen nicht am Telefon sagen.“

„Sie dürfen mir alles sagen, ich halte mich für stark genug, alles ertragen zu können, was Sie mir sagen. Aber jetzt bitte die ganze Wahrheit.“

„Leider ist ein Kind bei dem Unfall gestorben. Eines ist schwer verletzt.“

„Welches Kind lebt noch?“

„Ich weiß es nicht.“ Meine Seele friert ein. Mir stockt der Atem. Die schlimmste Ahnung hat sich bestätigt. Wie ein Roboter lege ich den Hörer auf. Nach der dritten Hiobsbotschaft heute.

Kurz darauf klingelt das Telefon. Es ist der Polizist, mit dem ich eben gesprochen hatte.

„Wenn Sie sich auf den Weg zu Ihrer Frau machen, fahren Sie bitte nicht selbst. Haben Sie jemand, der Sie dort hinbringt? Das wäre gut.“

Ich lege auf.

Meine Gedanken und Gefühle drehen sich im Kreis. Ich bin wie gelähmt, orientierungslos in der neuen Situation. Kann mich nicht zurechtfinden.

Meine Zimmertüre ist nur angelehnt. Ich schreie: „Ich habe eben ein Kind verloren. Ich weiß nicht, ob es Heiko oder Sonja ist.“

Es bricht aus mir heraus, ich muss es allen sagen, die herbeistürzen und jetzt um meinem Schreibtisch herumstehen: „Heute Morgen bin ich aufgewacht, bevor der Wecker läutete. Ich war im Traum bei einer Beer digung. Als hätte ich es geahnt.“

Die Mitarbeiterinnen können es nicht glauben. Es ist so unglaublich hart, so gnadenlos traurig. Ich kann nicht weinen, bin wie in Trance. Funktioniere mit bebendem Inneren. Leere. Flucht. Nichts wie weg. Zweifle an mir selbst. Stimmt das eigentlich, was dir da eben gesagt wurde oder spielt dein Verstand verrückt?

Mein Chef ist inzwischen von der Mittagspause zurückgekommen. Er ist sehr betroffen, die Kolleginnen weinen. Dankbar nehme ich das Angebot meines Arbeitgebers an, mich zu meiner Frau zu fahren.

Der Weg ins Krankenhaus. Tausend Gedanken wirbeln mir während der nicht enden wollenden Fahrt durch den Kopf. Nicht auszudrücken. Angst: Wie wird dieser Tag weitergehen? Wie geht das Leben weiter? Was werde ich antreffen? Mit welchem Kind werden wir das Leben teilen, welches ist tot? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. In ihrem kurzen Leben waren sie unzertrennlich. Jetzt soll alles vorbei sein? Ich will glauben, es sei alles ein Traum und der grausame Spuk gleich wieder vorbei. Meine Nerven schützen mich, stellen die Realität in Frage.

Im Auto rede ich endlos über die neue Situation. Mein Chef fährt. Er weint mit mir. Ich belaste ihn unendlich. Aber darauf kommt es eigentlich nicht mehr an.

Im Krankenhaus angekommen, fragen wir uns durch zu der Station, auf der meine Frau liegt. Wie geht es ihr wohl? Was weiß sie von dem Unglück? Wie wird sie mich empfangen? Kann sie sprechen? Was soll ich sagen? Stimmt es wirklich, was ich gehört habe? Bin ich zu aufgeregt gewesen und habe nicht alles richtig verstanden? Ich bin ein Fragezeichen nach innen und außen. Mein Chef begleitet mich durch die langen Flure der Klinik. Ich gehe schnell, habe nur ein Ziel: Das Zimmer meiner Frau.

Auf der Krankenstation erwarten mich zwei Polizeibeamte, ein Mann und eine Frau. Beide sind einige Jahre jünger als ich.

Ich gehe auf den Uniformierten zu. „Guten Tag, ich bin Herr Scheible. Ich wurde vom Stationsarzt benachrichtigt, dass meine Frau hier ist.“ Der Polizist gibt mir die Hand.

„Wissen Sie schon, was passiert ist?“

„Ja, aber niemand sagt mir, welches Kind wir verloren haben. Können Sie mir Auskunft geben – ist es der Junge oder das Mädchen?“

In ihm arbeitet es. Er schaut mich lange an, dann sagt er ganz langsam:

„Ja, es ist der Junge.“

Ich versuche es zu begreifen. In Sekunden läuft ein Film vor mir ab, der nur aus Gefühlen besteht. Alles, was neun Jahre füllen kann. Mein lieber Bub, auf den ich so stolz bin, der niemand ein böses Wort gibt und immer gut aufgelegt ist. Ein fröhliches Kind, das sich für seine Welt interessiert und immer darauf bedacht ist, sinnvolle Dinge zu tun. Ich stehe da und starre auf den grauen Boden. Alles leer, keine Träne hat Platz. Schocktrauer.

Ich reiße mich aus den Gedanken.

„Weiß meine Frau, wie es um die Kinder steht?“

„Nein, sie ist im Zimmer neben uns. Sagen Sie es ihr bitte.“

In mir wird es noch ein Stück kälter. Alles krampft sich zusammen. Mir wird sterbenselend.

Wie werde ich wohl meine Frau antreffen? Selbst ihr hat man die Wahrheit noch vorenthalten. Jetzt muss ich alle Kraft zusammennehmen. Entschlossen drücke ich die Klinke der Krankenzimmertüre herunter. Betrete vorsichtig das Zimmer.

Sie liegt im Krankenbett. Wir fallen uns in die Arme. Ein rascher Blick überzeugt mich: Keine äußerlich sichtbaren Verletzungen. Man hat mir die Wahrheit gesagt. Mir fehlen die Worte, ihr das Entsetzliche zu sagen.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe das Fahrzeug an der Ampel angehalten, weil sie auf Rot umgeschaltet hat. Den Kindern habe ich noch gesagt: ‚Schade, es wird rot.‘ Dann wurde es dunkel um mich. Als ich wieder zu mir kam, habe ich hinter mich geblickt. Ich sah die Kinder auf dem Rücksitz. Sonja hat geblutet. Immer wieder kam ein Schwall Blut aus ihrem Mund. Dann kam jemand und hat den Sicherheitsgurt durchgeschnitten. Sie wurde aus dem Auto gehoben. Heiko hatte die Augen geschlossen. Aber er hat nicht geblutet. Ich konnte im Auto nicht mehr aufrecht sitzen, lag auf dem Lenkrad. Über mir war das Dach eingedrückt.

Ich hatte ganz schlimme Kopfschmerzen, konnte mich alleine nicht aufrichten. Jemand hat mir aus dem Fahrzeug geholfen. Dann haben mich die Leute weggeführt. Ich war etwas benommen. Sie legten mich auf den Boden in einer Garage. Ich hörte das Geräusch eines Hubschraubers. Nach einiger Zeit wurde ich in einen Krankenwagen geschoben und hierher gebracht. Ich sagte: ‚Lassen Sie mich bitte bei meinen Kindern.‘ Aber niemand hat mich zu ihnen gebracht. Weißt Du, wo sie sind? Da muss etwas ganz Schlimmes passiert sein.“

Ich sehe ihr lange in die Augen.

Im Hals steckt ein dicker Kloß. Er drückt.

Wir kennen uns schon 14 Jahre.

Verstehen uns ohne Worte.

Ich kämpfe mit den Tränen.

„Weißt Du, was war?“

„Ja, Schatz, wir müssen jetzt ganz stark sein.“

„Ist es schlimm?“

„Ja. Leider ganz arg schlimm.“

„Ist ein Kind gestorben?“

„Ja.“

„Welches?“

„Heiko.“

„Er hat so friedlich ausgesehen. Sonja hat ganz schlimm aus der Nase und dem Mund geblutet … Mein lieber Junge. Das darf nicht wahr sein.“

Wir weinen. Es tut gut, endlich das Unfassbare zu teilen. Sie hat diese wunderbaren Kinder zur Welt gebracht.

„Wie geht es dir?“

„Ich habe ganz starke Kopfschmerzen, mir tut alles weh. Das rechte Bein ist geschwollen und blau. Blutergüsse. Ich darf nicht aufstehen.“

Im Zimmer liegt auch eine alte Patientin. Sie hört schlecht. Immer wieder schaut sie zu uns herüber. Sie merkt, dass hier etwas Trauriges passiert sein muss. Ich erlöse sie von ihrer Ungewissheit, gehe zu ihr und sage ihr laut ins Ohr:

„Unser Bub ist bei einem Unfall gestorben.“

„Ach Gott“, sagt sie und weint mit uns.

Nach zehn Minuten kommt eine Krankenschwester und bittet mich hinaus. Ich erfahre, dass die Polizisten bald Schichtwechsel haben. Die Beamten warten auf mich.

„Wir müssen zusammen noch etwas erledigen. Bitte begleiten Sie uns.“

Ich denke, sie gehen mit mir auf das Polizeirevier.

Mein Chef blickt mich an: „Sie haben noch einen weiteren schweren Gang vor sich.“

Er hat in der Zwischenzeit mit den Polizisten gesprochen. Ich ahne jetzt, dass die Fahrt nicht zum Polizeirevier, sondern zum Friedhof geht.

Ich muss mich von meiner Frau verabschieden, sie allein lassen mit ihrem Schmerz und Leid. Sie hat in der Zwischenzeit ein Telefon bekommen. Ich schreibe die Nummer auf einen Fetzen Papier und verspreche, sie ganz bald anzurufen. Ich will auch noch zu Sonja und nach ihr sehen. Wie geht es ihr und wie schwer ist sie verletzt?

So viel wollte ich meiner Frau jetzt sagen, mit ihr reden und schweigen. Man lässt uns keine Zeit dazu. Angst kriecht ins Herz. Der nächste Schlag an diesem furchtbaren Tag saust auf mich herab.

Auf dem Flur sehe ich an mir hinunter: Heute Morgen habe ich eine schwarze Hose und ein weißes Hemd angezogen. Unbewusst. Wie passend. Wir gehen zum Parkplatz. Der Streifenwagen steht schon an der Ausfahrt. Mein Chef holt das Auto und wir fahren hinterher. Zum Friedhof, fünf Kilometer. Eine Ewigkeit. Ich schweige, weil die Angst immer schlimmer wird.

Ich habe noch nie ein totes Kind gesehen. „Sei stark!“, hämmert es in meinem Kopf. Ich bin auf dem Tiefpunkt, als wir am Friedhof ankommen. Der Regen hat nachgelassen. Die Schwüle drückt. Kaum Luft zum Atmen. Mir ist schwindlig.

Die Beamten begleiten uns.

Sie schweigen.

Das schmiedeeiserne Tor, ein leicht ansteigender Weg zum Leichenhaus. Der furchtbare Weg, von großen Bäumen überspannt. Die Erde dampft.

Zwei Frauen stehen am Wegrand und reden miteinander. Als wir an ihnen vorbeigehen, schauen sie uns nach. Wir sind ein seltsames Quartett auf dem Dorffriedhof.

Dann durchbreche ich das Schweigen und frage den Uniformierten:

„Können Sie sich in meine Situation versetzen? Wir haben dieses Kind geliebt. Erst vor einigen Wochen habe ich sein gutes Zeugnis unterschrieben. Er war einmalig. Es war so schön, ein solches Kind haben zu dürfen. Er und seine Schwester, sie waren immer zusammen.“

Er nickt mir schweigend zu. Seine Kollegin schaut mich nur an, sagt nichts.

Wir sind am Friedhofsgebäude angekommen. Unter der Tür muss ich stehen bleiben. Ich glaube, meine Füße versagen jetzt den Dienst. So flau war mir noch nie. Das Herz schlägt so laut, dass alle um mich herum es hören müssen. Der Motor in meiner Brust stampft und hüpft, ich atme nervös. Wieder dieses Kribbeln in den Armen und Beinen. Wie vor Stunden, als ich schrittweise von der Tragik des Unfalls erfahren habe. Ich stehe still und bete leise mit ineinander gepressten Händen. Gott möge mir ganz besonders viel Kraft geben für das Schlimmste, das jetzt kommt. Es ist mir egal, ob und wie mich jetzt die anderen Menschen sehen. Ich brauche das jetzt.

Inzwischen ist der Schlüssel für die Tür zur Leichenhalle geholt worden. Ich reiße mich zusammen und trete ein. In dem Raum ist es dunkel. Meine Begleiter schalten das kalte Neonlicht an. Am Ende des Raums sehe ich auf dem Boden einen grauen Notsarg stehen. Ich schlucke, kneife die Augen zusammen.

Jetzt!

Die beiden Polizisten öffnen den Deckel des grauen Notsargs. Ich halte den Atem an, sehe nur die behelfsmäßig übergeworfenen Decken, mit denen die Sanitäter wohl am Unfallort Heikos Leiche zugedeckt haben.

Die Polizisten schlagen die Decken zurück.

Ich bin überrascht.

Heiko sieht so friedlich aus! An ihm sind keine Anzeichen von Verletzungen sichtbar. Wenn er in einem Bett liegen würde, könnte man meinen, er schlafe nur. Die beiden Uniformierten treten zur Seite. Der Mann fordert mich auf, näher zu kommen und Heiko zu identifizieren.

„Das sehe ich schon von hier aus. Leider ist es mein liebes Kind. Ich kenne jeden Zentimeter an ihm, ich habe seine Entwicklung verfolgt, seit es ihn gibt. Das sind seine neuen Turnschuhe, die wir für den Urlaub gekauft hatten. Das schöne gelbe Hemd mit den kurzen Ärmeln hat er heute zum ersten Mal an. Mein lieber Junge.“

Ich betrachte ihn ganz genau. Seine Augen sind nur einen ganz kleinen Spalt geöffnet.

Das darf doch alles nicht wahr sein!

Ich bleibe stehen, bis sie den Sarg wieder geschlossen haben. Verlasse mein Kind, mit dem ich gestern Abend zum letzten Mal gesprochen habe. Werde ihm nie mehr mit der Hand über die Haare streichen können, ihn nie mehr in die Arme nehmen dürfen. Spüre nie mehr seine feste Hand, mit der er so gerne kräftig zudrückte.

Wir gehen aus der Leichenhalle und warten, bis der Schlüssel wieder zurückgegeben ist. Jetzt muss ich Heiko allein lassen und mich Sonja zuwenden, die ja noch lebt.

Am Ausgang des Geländes besprechen wir Formalitäten, tauschen Telefonnummern aus, verabschieden uns und fahren los.

Plötzlich überholt uns der Streifenwagen und fährt vor uns an den Fahrbahnrand. Wir halten an. Die Polizisten haben in der Aufregung vergessen, meinen Ausweis anzusehen. Auch sie sind Menschen und in dieser Ausnahmesituation unwahrscheinlich belastet. Ich weise nach, dass ich Heikos Vater bin.

Wir fahren weiter, in die Unfallklinik, wo mein letztes Kind mit dem Tod ringt. Wir stehen im Stau, sind beide fix und fertig. Einmal weint der Chef, dann ich. Aber ich werde heute noch gebraucht, der Tag ist noch lange nicht zu Ende.

Der Weg in die Klinik wurde mir am Telefon beschrieben. Den Zettel mit meinen hastig gekritzelten Worten habe ich dabei. Wir verfahren uns mehrmals in der fremden Stadt. Dann haben wir nicht mehr die Kraft, weiterzusuchen.

Wir halten an einem Postamt und fragen nach dem Weg. Ich will meine Frau anrufen, wähle immer wieder die falsche Nummer. Bin so schrecklich nervös. Mir geht das Kleingeld aus, ich muss wechseln gehen. Endlich habe ich die richtige Verbindung. Ich berichte meiner Frau von unserer zweiten Etappe an diesem Tag. Wir sind beide traurig. Jetzt würden wir unsere Nähe so sehr brauchen. Wenn nur jetzt dieser Tag zu Ende wäre. Ich sehne mich nach Ruhe. Wir machen uns gegenseitig Mut. Mein Chauffeur wartet auf mich. Nachdem wir zunächst in einem falschen Krankenhaus gelandet waren, haben wir endlich den richtigen Weg gefunden. Vor dem großen Klinikum ist ein Informationsstand. Ich steige aus und berichte dem Pförtner, weshalb ich hier bin. Dann bitte ich ihn, mir weiterzuhelfen. Ich weiß nicht, wie viele Fragen er heute schon beantworten musste, aber meine scheint ihn nicht besonders zu interessieren. Unschlüssig meint er, ich solle nochmals am Eingang des großen Gebäudes nachfragen. Ich bin müde und abgespannt. Langsam liegen meine Nerven blank. Ich fahre ihn an: