Cover
Martina Wildner
Six
Mit Bildern von Martina Wildner
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www.gulliver-welten.de
Gulliver 1203
© 2008, 2010 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg
Einbandgestaltung: Cornelia Niere mit Roland Werner, München unter Verwendung einer Illustration von Martina Wildner
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74319-0
Ich danke ganz besonders
Birgit Griesecke. M.W.

1
Handschuh

Der Rasen ist Luzies Job. Sie trägt Papas alten blauen Overall und hat Ärmel und Hosenbeine hochgekrempelt. Es ist ein sonniger, warmer Septembertag.
Luzie mäht die große Wiese hinter dem Internat. Hier ist das Mähen unkompliziert, man muss nicht denken. Einfach fünfzig Meter hin und fünfzig Meter zurück, dreißigmal, wenn nicht öfter.
Ein leichter Wind kommt auf, der Himmel ist fast so blau wie der Arbeitsanzug. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, das ist eigentlich das Schönste am Mähen. Luzie ist jetzt mit der großen Fläche fertig und lenkt den kleinen grünen Traktor zu der Rasenfläche direkt am Mädchentrakt des Internats. Dort ist das Mähen schwieriger, man muss wegen der unzähligen Büsche oft die Richtung wechseln, rangieren und aufpassen, dass nicht irgendwelcher Müll, den die Schülerinnen aus dem Fenster geworfen haben, ins Mähwerk gerät. Die letzten Male hat Luzie die lästigen Ecken ausgelassen, dafür muss sie jetzt büßen. Jetzt ist das Gras viel zu hoch gewachsen und der kleine Traktor hat seine liebe Mühe. Doch heute gibt es keine Ausrede, heute muss alles tipptopp sein, denn heute kommen die Schüler. Luzie gibt Gas.
Stopp!
Beinahe wäre sie über den roten Fetzen gefahren, der vor ihr im Gras liegt.
Luzie hält den Traktor an, springt vom Sitz und bückt sich. Es ist nicht der Rest einer Plastiktüte, wie sie vermutet hat, es ist nicht einmal ein Fetzen, sondern ein seidig schimmernder Handschuh mit langem Schaft. Luzie hebt ihn mit spitzen Fingern auf und lässt ihn baumeln. So etwas hat sie hier noch nie gefunden, normalerweise liegen hier leere Kekspackungen, Plastikflaschen oder Kippen. Die größte Sensation war einmal ein Kondom, das in den Zweigen der Haselnusssträucher hängengeblieben war. Aber ein Handschuh? Und noch dazu so ein Handschuh? Wie kommt er hierher? Wer hat ihn hier verloren? Doch nicht Schüler aus dem Internat! Die waren jetzt sechs Wochen zu Hause; außerdem war er beim letzten Mähen noch nicht da gewesen. Aber halt, ganz sicher ist sich Luzie da nicht. Hier hat sie doch das letzte Mal gar nicht gemäht ...
Sie streicht über das glatte Material. Der Handschuh ist so gut wie neu, er hat keine Löcher und keine Flecken. Das Einzige, was fehlt, ist der zweite. Wann trägt man so etwas? Doch nur im Fasching!
Luzie wischt sich ihre Finger ab, dann sieht sie sich um, so als könnte sie jemand beobachten. Schließlich schlüpft sie mit der rechten Hand in den Handschuh und sucht für jeden Finger das passende Loch. Der Handschuh ist eng, Luzie muss ihn ziemlich dehnen, doch endlich ist sie drin.
Sie stutzt. Irgendetwas stimmt nicht. Einer der Stofffinger baumelt immer noch herum. Luzie tastet ihre Hand ab. Alles in Ordnung. Jeder Finger hat seinen Platz. Trotzdem bleibt ein Stofffinger übrig.
Luzie zählt nach. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ... nein, noch mal. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Sechs. Der Handschuh hat sechs Finger.
Luzie beginnt zu schwitzen. Der überflüssige Finger baumelt sinnlos herum. Sie reißt den Handschuh herunter und wirft ihn ins Gras. »Nein!«, sagt sie leise. »Das kann doch nicht sein!« Sie betrachtet ihre beiden Hände. Meine Hände, denkt sie, und meine Finger.
Dann zählt sie: Eins, zwei, drei, vier, fünf Finger an der rechten Hand – und eins, zwei, drei, vier Finger an der linken. Warum muss gerade ich einen solchen Handschuh finden?, fragt sie sich und streicht über ihre linke Hand, die wulstige Narbe am Ringfinger und den Stumpf des kleinen Fingers. Wer in aller Welt hat sechs Finger? Ich hab ja nicht mal fünf!
Luzie zieht die Schultern hoch. Ihr ist jetzt plötzlich kalt. Nein, ein Traum ist das nicht. Das Gras ist echt, der Traktor ist echt, der Himmel ist echt und der Handschuh ist echt. Fast angeekelt schiebt sie den Handschuh unter einen Haselnussstrauch, dann steigt sie wieder auf den Traktor.
Von da an lenkt Luzie den Rasenmäher unkonzentriert durch das Gelände und ist froh, als sie endlich mit dem Mähen fertig ist. Sie fährt den Traktor in die Garage, säubert das Mähwerk und will dann zum Haus zurückkehren. Doch sie zögert. Ihr merkwürdiger Fund lässt ihr keine Ruhe. Nein, denkt sie, ich kann ihn nicht dort liegen lassen. Ich muss ihn holen.

2
Müll

Luzie geht zurück zu den Haselnusssträuchern, hebt den Handschuh auf, stopft ihn in die große Seitentasche ihres Arbeitsanzugs und kehrt in die Garage zurück. Sie überlegt kurz, und weil ihr nichts Besseres einfällt, legt sie den Handschuh in die alte Blechkiste mit Deckel, die sie in der hintersten Ecke des Werkzeugschranks versteckt hat. Dort bewahrt sie alles auf, was nicht jeder gleich sehen soll. Dann prüft sie noch mal das Mähwerk des Traktors und fegt die Grasreste hinaus. Schließlich verlässt sie die Garage, geht die wenigen Meter über den asphaltierten Weg bis zum Haus und öffnet die Wohnungstür.
Im Flur ist es dunkel. Einen Augenblick lang kann Luzie gar nichts erkennen und stolpert beinahe über einen Karton, der mitten im Flur steht. »He, was soll das?«, schimpft sie und gibt der Kiste einen Tritt. Schon wieder so eine Umzugskiste, Almut war offensichtlich hier. Luzie schiebt den Karton unwillig zur Seite. Er wiegt mindestens zwanzig Kilo. Was Almut da wohl wieder abgeladen hat?
Eigentlich interessiert sich Luzie nicht für den Kram ihrer Schwester. Trotzdem ist sie ein wenig neugierig. Immerhin war Almut fast ein halbes Jahr in Berlin. Vor zwei Wochen ist sie zur Überraschung aller zurückgekommen und hat sich im Ort eine Wohnung gesucht.
Luzie öffnet den Deckel ein Stück. Gleich oben liegen Unmengen von CDs, kreuz und quer durcheinander, manche mit, manche ohne Hülle, manche der Hüllen sind nur mit schwarzem Filzstift beschriftet, manche haben ein richtiges Cover. Luzie zieht eine der CDs heraus, betrachtet sie kurz. Kenn ich nicht, denkt sie, aber wer kennt schon Almuts merkwürdige Bands?
Sie legt die CD wieder zurück und wühlt ein wenig in der Kiste herum. Plötzlich zieht sie zwischen den ganzen CDs ein Buch heraus.
Die Buchstaben flimmern auf dem grellen Cover.

SIX

Sechs, schon wieder sechs, denkt Luzie und schaut sich das Cover genauer an. Eine Frau ist drauf. Oder ein Mädchen? Die Augen jedenfalls riesig groß. Das Haar leuchtend rot und ein wenig struppig wie ein Wischmob, das Gesicht eher wie das einer Märchenprinzessin, süß, aber nicht eigentlich schön, Schwanenhals, Matrosenbluse, die über dem Busen ein wenig spannt. Blauer, sehr, sehr kurzer Rock. Die Beine, natürlich unendlich lang, enden doch irgendwann: in weißen Kniestrümpfen, dann in dunkelblauen Collegeschuhen. Das Mädchen hält in der einen Hand eine Schultasche, in der anderen eine Waffe. Die Mündung ist ein schwarzer Schlund.
Na ja, denkt Luzie, irgendein Schwachsinnscomic. Luzie schlägt das Buch trotzdem auf.
Sutoppu! Achtung! Dieser Comic ist ein Manga und wird wie in Japan von hinten nach vorn gelesen! Also fangt einfach auf der anderen Seite des Buches an.
Ein Manga! Meine Güte, auch das noch. Das ist doch etwas für Tussis oder irgendwelche anderen hirnlosen Gestalten! Luzie schüttelt verächtlich den Kopf. Lauter Mädchen mit doofen Gesichtern. Mit zu langen Beinen, zu großem Busen und zu vielen Haaren ... Und dann soll man auch noch alles rückwärts lesen! Luzie blättert das Buch von vorn bis hinten durch, dann von hinten nach vorn und stutzt. Halt. Wo ist eigentlich vorn? Hinten?
Irgendetwas ist merkwürdig an dem Buch. Sie blättert es noch einmal durch, dann weiß sie es: Das Buch ist selbstgemacht. Es ist nicht gedruckt, sondern kopiert und es wird mit einer schlechten Klebebindung zusammengehalten.
Sechs, denkt Luzie, als sie das Buch schließt. Noch einmal betrachtet sie das Cover. Nein, das kann nicht sein! Sie zählt die Finger des Mädchens. Es sind sechs, ja sechs, nicht wie bei Donald in Entenhausen, wo alle nur vier Finger haben, auch nicht fünf, sondern sechs. Luzie richtet sich auf und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
»Luzie!« Mama kommt zur Haustür herein. »Ich kann deine Spur bis hierher verfolgen. Die Diele ist voller Gras. Ich hab dir doch schon so oft gesagt, dass du nach dem Mähen ...«
»Jaha«, unterbricht Luzie sie. »Kannst du vielleicht mal zur Abwechslung mit Almut schimpfen? Sie hat ihren ganzen Schrott aus Berlin hier abgeladen.«
»Almut hat in der neuen Wohnung nicht so viel Platz.«
»Ach. Und hier ist Platz?«
»Das ist doch nur vorübergehend. Sie räumt die Kiste morgen weg. Was hast du denn da?« Mama zeigt auf das Buch.
»Ach, nichts.« Luzie legt das Buch zurück zu den CDs.
Mama sieht Luzie an. »Was ist mit dir? Du bist ja ganz blass.«
»Nichts ist mit mir«, sagt Luzie. »Gar nichts.«
»Dann ist es ja gut. Du kannst die Kiste ja in dein altes Zimmer stellen«, schlägt Mama vor und verschwindet in der Küche.
Luzie hebt das Buch wieder auf. »Ich frage mich nur, wieso Almut nicht auf diese Idee gekommen ist«, ruft sie Mama hinterher. Doch die antwortet nicht.
Luzie zieht ihre vom vielen Mähen grün gefärbten Turnschuhe aus, klopft sie über dem Fußabstreifer ab und fegt die Grasreste in der Diele zusammen. Dann geht sie in ihr Zimmer.
Nein! Das kann doch nicht wahr sein!, denkt Luzie. Mitten im Raum stehen vier weitere Umzugskisten. Sie rennt aus dem Zimmer in die Küche. »Das ist doch der Gipfel!«, ruft sie. »Almut hat mein ganzes Zimmer zugemüllt ...«
Doch niemand ist da, die Küche ist leer. Luzie stampft zurück in ihr Zimmer und starrt ein paar Sekunden wütend auf die Kisten. Dann nimmt sie aus ihrem Regal den fast vollen Kübel Holzleim und kippt den weißen, zähen Leim über den Inhalt einer Kiste. Es sind lauter Kleider drin, alle schwarz. Luzie sieht zu, wie der Leim zwischen den einzelnen Kleidungsstücken hindurchfließt und in die Poren des Stoffs dringt, und murmelt: »Blöde Grufti-Klamotten.«
Eine Weile steht Luzie tatenlos vor den Kisten und guckt zu, wie der Leim versinkt. Sie massiert die Narben an ihrer linken Hand. Die Klamotten kann man wegschmeißen. Nein, das mit dem Leim war keine gute Idee. Außerdem stinkt der Leim. Also packt Luzie die Kisten und trägt jede einzelne hinüber in ihr altes Zimmer, in dem zurzeit nur Gerümpel gelagert wird. Gerümpel von Almut natürlich. Man erstickt in ihrem Müll, denkt Luzie. Aber das mit dem Leim bereut sie inzwischen, denn klar, Almut wird die Kisten früher oder später öffnen. Und dann gibt’s Ärger.
Nachdem Luzie die Kisten in dem kleinen Raum gestapelt hat – die mit dem Leim als unterste und hinterste –, kehrt sie in ihr Zimmer zurück und lässt sich völlig entkräftet aufs Bett fallen. Dort bleibt sie liegen und versucht, sich einzureden, dass Almut den Leim vielleicht doch nicht bemerken wird, dass Almut außerdem nichts anderes verdient hat und dass Almut so viele Klamotten hat, dass es auf ein paar schwarze T-Shirts mehr oder weniger nicht ankommt.
Trotzdem regt sich Luzie auf. Was ist bloß los in letzter Zeit? Warum bin ich so gereizt? Warum bin ich so schlecht gelaunt? Warum geht mir alles auf die Nerven? Eigentlich weiß sie die Antwort: Weil der Sommer schrecklich war, weil sie die ganze Zeit allein war, weil ihr ein Finger fehlt ... nein, an das will Luzie lieber gar nicht denken.
Zur Beruhigung stellt sie das Radio ein, hört ein paar Lieder, dann nervt sie das Geplapper von dem Sprecher und sie macht den Kasten aus. Jetzt ist es ganz ruhig im Zimmer, und Luzie liegt in ihrem blauen Arbeitsanzug auf dem Bett, denkt über den Leim und den Handschuh nach und beobachtet eine kleine Spinne, die regungslos an der Decke sitzt. Wenn sie sich bewegt, denkt Luzie, muss ich aufstehen.
Nach einer Weile wird ihr die Spinne langweilig. Sie nimmt den Manga und blättert darin herum. Komisches Zeug, denkt sie, beginnt dann aber doch, darin zu lesen. Es fällt ihr schwer, denn sie liest normalerweise keine Comics. Außerdem weiß sie nicht recht, ob sie erst die Sprechblasen oder erst die erklärenden Texte lesen soll. Und mit der Reihenfolge der Sprechblasen kommt sie auch durcheinander, denn von hinten nach vorne heißt auch von rechts nach links. Daran muss man sich erst mal gewöhnen.
Luzie betrachtet das erste Bild. Aha, ein anderer Planet. Klar, das gehört bei so einem Manga wohl dazu.
Der Planet Roku:
Sechs Billionen Lichtjahre von der Erde entfernt.
Zzzzzzzzzasch.
Zoom.
Ein Krankenhaus.
Abteilung für terrestrische Medizin.
Schläuche, Bildschirm, Tropf.
Im Bett ein Mädchen, neben dem Bett eine Ärztin mit kurzem, weißem Kittel.
»Die Operation ist gelungen, Nana.«
Ein langhaariges Mädchen betrachtet seine Hände.
»Fünf Finger – wie auf der Erde.«
»Jetzt müssen nur noch die Haare ab, dann ist die Verwandlung perfekt und du kannst deine Reise antreten.«
Eine Schere blitzt.
Die Ärztin ist weg, Nana ist allein.
Nana denkt an früher:
Vor einem kleinen Mädchen steht ein Mann, man sieht nur seinen kahlen Hinterkopf.
»Deine Mutter ist im Kampf gegen die Shiroi gestorben. Das ist die höchste Ehre, die einem Atai widerfahren kann, denn du weißt, die Shiroi werden immer unsere Feinde sein. Sie sind böse, sehr böse, aber auch stark. Du bist meine einzige Tochter, Nana, und du bist wie deine Mutter auch sehr, sehr stark.«
Papa reißt die Tür auf.
»Kannst du nicht anklopfen?«, fragt Luzie.
Papa geht nicht darauf ein. Auch er trägt einen Blaumann, für ihn ist heute ungefähr der wichtigste Tag des Jahres: Anreisetag.
Seit einer Woche arbeitet er fast ununterbrochen, bespricht mit den Erziehern den Belegungsplan, mit dem Küchenpersonal den Zustand des Kühlraums, wechselt hier ein Schloss, streicht da eine Schranktür, überprüft die Armaturen in den Waschräumen, die Steckdosen in den Zimmern und die Heizungen in den Studiersälen. »Du hast das Rasenstück hinter der Sporthalle vergessen«, sagt er.
Luzie richtet sich auf, schiebt den Comic weg. Stimmt, sie hat den Rasen hinter der Sporthalle vergessen. »Kann ich das später machen?«, fragt sie.
»Später gibt’s nicht. In einer halben Stunde kommen die ersten Schüler.«
»Ist es schon so spät?«, fragt Luzie irritiert. Wie lange hat sie fürs Rasenmähen gebraucht? Wie lange hat sie hier gelegen und geträumt?
»Es ist halb fünf.«
Luzie springt auf. »Ja, ja«, sagt sie. »Ich geh schon.«
»Ja, ja will ich nicht hören«, sagt Papa.
Ja, ja, denkt Luzie. Ja, ja heißt: du Arschloch. Behauptet jedenfalls Papa. Manchmal wundert sie sich nicht, dass Almut vor fünf Monaten völlig überstürzt ausgezogen ist. Und gleich nach Berlin! Erstaunlicher ist da schon, dass sie so schnell zurückgekehrt ist.
Luzie sieht ihrem Vater nach, wie er mit seinen schweren Stiefeln im Türrahmen steht. Er ist von Beruf Klempner und arbeitet seit fünfunddreißig Jahren als Hausmeister im Internat.
Vor fünfunddreißig Jahren, sagt er, war alles besser. Er ist ein alter Vater, viel älter als Mama, und wenn nicht von einem anderen Planeten, dann aus einer ganz anderen Zeit.

3
Kreuzschlitzschraubenzieher

In der Garage steht der Rasenmäher so, wie Luzie ihn verlassen hat. Er braucht Benzin; sie ist vorhin schon auf Reserve gefahren. Luzie geht zum Regal, wo Papa den Kanister aufbewahrt. Sie hebt ihn herunter, stellt ihn auf den Boden und öffnet den Tank. Vorsichtig füllt sie das Benzin ein. Ihre Hände zittern, sodass sie mehrmals absetzen muss. Warum zittere ich so?
Ich zittere aus zwei Gründen, denkt Luzie: Erstens, weil ich eigentlich kein Benzin hier in der Garage einfüllen soll, denn das stinkt und macht Flecken auf dem Beton. Zweitens zittere ich wegen der Sechs. Nein, nicht wegen der Sechs an sich, was kann die Sechs dafür? Ich zittere wegen der sechs Finger.
Luzie setzt den Kanister erneut an. Ein Teil geht daneben. Sie flucht, sucht nach einem Lappen, doch sie weiß, es ist schon zu spät. Verschüttet ist verschüttet und Papa wird schimpfen. Trotzdem kniet sie am Boden und drückt den Lappen auf die Lache. Sie mag den Geruch von Benzin, doch jetzt steigt er hoch in die Nase bis in die Stirnhöhlen und sticht. Sie richtet sich auf, sucht nach frischer Luft.
Plötzlich hört sie einen Motor, ein tiefes Brummen. Sind das etwa schon die ersten Schüler? Luzie steht auf und geht zu dem kleinen Fenster an der Rückwand der Garage. Von dort hat sie, wenn sie sich auf die Werkbank kniet, einen guten Blick auf die Einfahrt vom Internat. Ein silberner Mercedes kommt hereingerollt. Konrad, denkt Luzie. Wer sonst? Der kommt immer zu früh.
Konrad geht in die Achte, aber eigentlich erst in die Siebte, er hat ein Jahr übersprungen. Und genauso infantil ist er auch, außerdem irgendwie hinter Luzie her. Erst hat sie gedacht, er sei vielleicht verliebt, aber das ist es nicht. Er benimmt sich nicht verliebt. Er wirkt nicht verschämt, nicht aufgeregt, er wird nicht rot, nein, er steht bloß immer mal wieder plötzlich neben ihr und erzählt Geschichten. Alles Mögliche, nur Unfug, oft von Aliens, von Schlachten aus dem Ersten Weltkrieg, vom Diamanthandel in Südafrika, von Seekühen und ihrem Speisezettel, aber auch von den Abhörmethoden des CIA, von den verbrecherischen Machenschaften der Pharmaindustrie oder von irgendwelchen Internetforen. Gern spricht er auch über Bands, deren Namen sich Luzie nicht merken kann, oder von Filmen, deren Handlung Luzie nicht versteht. Was er eigentlich will, weiß Luzie nicht. Vielleicht ist er ja doch verliebt. Oder er ist von einem anderen Stern und sucht Freunde. Aber das ist natürlich alles Quatsch. In Wahrheit ist Konrad einfach nur eine Nerven säge.
Luzie lugt zum Fenster hinaus. Hoffentlich sieht er mich nicht, denkt sie und widmet sich wieder dem Benzin. Aber bestimmt wird er mich sehen, dieser Irre vom anderen Stern, nämlich gleich, wenn ich das vergessene Stück Rasen mähe. Luzie seufzt und überlegt, wie sie das vermeiden kann. Doch das wird kaum möglich sein. Konrad sieht und weiß alles.
Jetzt ist Konrad ausgestiegen. Luzie äugt durchs Fenster. Heute ist nur sein Vater dabei, er trägt Konrads Koffer zur großen Glastür, stellt sie ab und will die Tür aufdrücken. Ohne Erfolg, ganz klar, es ist viel zu früh. Luzie schaut auf den alten Radiowecker in der Garage. 16.36 Uhr. Papa sperrt um Punkt fünf auf, keine Minute früher. Jetzt muss ich vierundzwanzig Minuten hier in der Garage hocken, denkt Luzie und zieht sicherheitshalber das Garagentor so leise wie möglich zu.
Dann guckt sie wieder durch das Fenster. Konrad und sein Vater stehen ein wenig unschlüssig im Hof, dann sprechen sie miteinander, verabschieden sich. Aber was ist das? Der Vater gibt Konrad nur die Hand! Keine Umarmung, nichts. Und Konrad steht auch bloß da und guckt dumm aus der Wäsche. Dann steigt der Vater ins Auto, wendet umständlich und fährt langsam davon. Keiner der beiden winkt. Wo ist überhaupt Konrads Mutter, die sonst immer ewig an Konrad herumzupft und den Abschied immer noch weiter hinaus zögert?
Zu spät bemerkt Luzie, dass Konrad zu ihr herüberschaut. Das Fenster ist zwar nur klein und in der Garage kein Licht an, doch Luzie ist sich sicher: Er hat sie gesehen. Sie zieht den Kopf ein und denkt, bitte nicht, doch schon hört sie Konrads Stimme. »Luzie, bist du’s?«
Luzie antwortet nicht. Ich habe heute kein Glück, denkt sie. Kein Wunder, bei so vielen Fingern.
»Luzie, du bist da drin, oder?«
Luzie antwortet nicht. Sie hat jetzt schon wieder genug, denn Konrad hat es in den letzten Wochen des vergangenen Schuljahres wirklich zu weit getrieben. Eines Tages hockte er nämlich in ihrer Küche und unterhielt sich mit Mama. Luzie hatte an diesem Nachmittag nichtsahnend die Küche betreten, und Konrad saß da, dick und fett – obwohl das nicht möglich ist, denn Konrad ist spindeldürr –, und sprach von Feuchtbiotopen. Konrad kann sich wirklich über alles unterhalten und interessanterweise findet er immer sehr schnell heraus, welches Thema seine Gesprächspartner besonders lieben. Und Mama liebt Feuchtbiotope. Sie möchte unbedingt eines im Internatsgarten anlegen. Das ist natürlich Unfug, denn die Schüler würden auch ins Feuchtbiotop ihre Kaugummis und Kondome schmeißen, sagt Papa und Luzie denkt das auch. Wie auch immer, Konrad hatte in der Küche gesessen und auf Mama eingeredet. Sie hatte ihm sogar einen Kakao gekocht. Sein Mund hatte einen dunkelbraunen Kakaorand, und er sah Luzie, als sie die Küche betrat, mit seinen riesigen, moorseefarbenen Kulleraugen an.
»Ich bespreche gerade mit deiner Mutter, wie man die Idee eines Feuchtbiotops im Internatsgarten verwirklichen könnte«, erklärte er. »Man könnte dieses Biotop dann auch für den Biologieunterricht nutzen und dort Tiere züchten. Fische, Frösche, Lurche, Salamander. Oder vielleicht auch Alligatoren.«
»So ein Quatsch«, antwortete Luzie. »Ist doch viel zu kalt hier für Krokodile.«
»Ich spreche auch nicht von Krokodilen, sondern von Alligatoren. Außerdem vergisst du die Klimaerwärmung.«
»Du hast doch ’nen Vogel, Konrad.« Luzie hatte sich angewöhnt, Konrad so oft wie möglich zu beleidigen. Aber auch das half nichts. Konrad war wie eine Klette.
Mama sagte: »Wieso denn? Das sagt Herr Seume doch auch.«
»Was sagt der?«, fragte Luzie.
»Das mit der Klimaveränderung.«
Der Seume! Dieser durchgeknallte Biologielehrer, der bereits gebackenes Brot noch einmal in den heißen Ofen schiebt, bis es steinhart ist. Dann erst sei es gesund, behauptet er. Und Mama glaubt ihm das. Mama glaubt alles, was der Seume sagt, sodass Papa Mama bereits verboten hat, in seiner Gegenwart den Seume und seine Theorien zu erwähnen. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Seume und Konrad sind Nerven sägen, und jetzt steht Konrad vor der Garage und sagt schon wieder: »Luzie, du bist doch da drin!«
Luzie gibt keine Antwort, doch sie hört, wie Konrad um die Garage herumgeht. Er rüttelt am Tor. Luzie wischt sich den Schweiß von der Stirn. Warum stelle ich mich so an? Konrad ist doch nur ein armes Würstchen. Er ist einsam, weil er zu schlau ist. Das ist doch traurig! Man müsste sich um ihn kümmern!
Doch Luzie hockt bewegungslos am Boden und starrt auf den Benzinfleck. Ein Tropfen Benzin verunreinigt eine Million Liter Wasser, denkt sie. Auch so eine Weisheit von dem Seume. Endlich hört Konrad auf zu rütteln. Luzie will schon aufatmen, da sieht sie plötzlich Konrads Finger an den Gitterstäben des Fensters.
»Luzie!«, ruft er.
»Nein!«, schreit Luzie. »Ich bin nicht da!«
»Hähä«, macht Konrad. Er hat sich schon ziemlich weit hochgezogen und lugt durch die Stäbe. »Jetzt hast du dich verraten.«
Luzie atmet tief ein, dann geht sie hin, nimmt den nächstbesten Gegenstand, den sie auf der Werkbank findet – einen Kreuzschlitzschraubenzieher –, und wirft ihn wie einen Dartpfeil mit der Spitze voraus Richtung Fenster. Volltreffer, denkt Luzie, direkt auf den Handrücken. Doch Konrads Finger halten immer noch den rostigen Gitterstab umklammert. Der Schraubenzieher ist längst klirrend zu Boden gefallen und über den Betonboden der Garage unter den Traktor gerollt. Wieso lässt er nicht los, denkt Luzie, ich hab ihn doch getroffen, das muss doch wehgetan haben. Sie klettert auf die Werkbank, doch in diesem Augenblick hört sie einen Plumps, gleich darauf raschelt es im Gestrüpp, das vor dem Fenster wächst. Konrad hat endlich losgelassen. Luzie beißt sich auf die Lippen. Ich wollte doch gar nicht treffen. Lüge, denkt sie dann, ich wollte natürlich. Und ich wusste, dass ich treffe. Luzie schlägt Papa längst beim Dartspielen.
Sie späht hinaus. Unter dem Fenster steht Konrad, er reibt seine Hand. Er blickt kurz hoch zu Luzie, sagt aber nichts, dreht sich um und geht zu seinen Koffern, die einsam im Hof stehen. Er setzt sich auf den größeren der beiden, ohne noch einmal zur Garage hinüberzusehen.
»Verdammt«, sagt Luzie und fischt den Kreuzschlitzschraubenzieher unter dem Traktor heraus. »Bin ich völlig verrückt geworden?«
Ein paar Minuten sitzt sie da. Sie will nachdenken. Warum muss Papa eigentlich alles vergittern? Wenn er das Fenster nicht vergittert hätte, hätte sich Konrad nicht an den Stäben hochgezogen und Luzie hätte nicht ... Nein, solche Gedanken sind sinnlos.
Als Luzie das nächste Mal durch die Gitterstäbe schaut, steht drüben vor der Glastür eine weitere Person, ein Mädchen. Ein sehr dünnes Mädchen.
Die kann nicht echt sein, denkt Luzie, die ist eine Erscheinung! Leuchtend rote Haare, gefärbt wahrscheinlich, denn solche roten Haare hat auf der ganzen Welt niemand. Weiße Bluse, kurzer, dunkler Rock, Luzie überlegt eine Weile, ob er wohl eher schwarz oder dunkelblau ist, und entscheidet sich schließlich für schwarz. Wer trägt schon dunkelblaue Röcke? Sie schätzt das Mädchen auf siebte, achte Klasse, denn sie ist kaum größer als Konrad. Neben dem Mädchen stehen eine Reihe dunkelroter Koffer, der Größe nach geordnet. Wie sind die Koffer dahin gekommen? Es war doch gar kein Auto zu hören – und sie wird die sieben dunkelroten Koffer doch wohl kaum allein vom Bahnhof bis hinauf zum Internat getragen haben! Luzie schüttelt den Kopf. Und zu dem kurzen Rock trägt das Mädchen schwarze, kniehohe Stiefel. Ist ja albern, denkt Luzie, Stiefel im Sommer – na ja, Spätsommer.
Nun wendet das Mädchen Luzie das erste Mal das Gesicht zu, doch Luzie sieht davon kaum etwas, denn das Mädchen trägt eine Riesensonnenbrille, die das halbe Gesicht verdeckt. Schaut sie mich an?, fragt sich Luzie und zieht ihren Kopf ein.
Nach einer Weile, die Luzie wie eine Ewigkeit erscheint, kommt Papa und sperrt die große Glastür auf. Es ist 17.01 Uhr.

4
Thusnelda

Durch die orangeroten Vorhänge scheint die orangerote Morgensonne. Luzie blinzelt. Offenbar hat sie doch geschlafen, obwohl sie noch lange wach gelegen hatte. Luzie streckt sich. Unter der Bettdecke ist es warm.
Ihr Blick fällt auf den Boden, dort liegt der Manga. Sie hat am Abend noch ein wenig darin herumgeblättert. Unkonzentriert, denn die Sache mit Konrad ist ihr nicht aus dem Kopf gegangen. So etwas ist ihr noch nie passiert! Aber was heißt passiert? Es ist nicht passiert, sie hat etwas getan. Sie. Sie hat nach Konrad mit dem Kreuzschlitzschraubenzieher geworfen. Sie hätte auch sein Auge treffen können. Nein, hätte ich nicht, denkt Luzie, ich kann ja Dart spielen. Aber warum musste ich gleich mit etwas werfen? Bloß, weil er eine Nervensäge ist? Bloß weil ich einen sechsfingrigen Handschuh fand und selber nur vier Finger habe, Konrad aber fünf? Ist es das? Oder bin ich ganz einfach nur eine fiese Zicke? So, wie das Almut immer behauptet?
Luzies Laune ist nun wieder so schlecht wie am Abend zuvor, dabei ist doch erster Schultag, ein Tag, den sie eigentlich mag, denn in den Ferien ist ihr meist langweilig oder sie muss helfen: beim Rasenmähen, Unkrautjäten, Abflussreinigen, beim Streichen, Häckseln, Sägen oder beim Heckenschneiden. In den Sommerferien ist bei Papa Hochsaison.
Dieser Sommer war besonders schlimm. Nicht so sehr wegen Papa und der ganzen Arbeit – sie musste dieses Jahr gar nicht so viel helfen –, auch nicht wegen der Hitze, die wirklich phänomenal war, sondern wegen der Finger.
Nach dem Unfall im März hatte es eigentlich ganz gut ausgesehen. Beide Finger konnten wieder angenäht werden, doch nach einer Weile entzündete sich der kleine Finger so, dass man ihn wieder abnehmen musste. Der Ringfinger wuchs zwar ganz gut an, doch es stellte sich heraus, dass die Sehnen verklebten und der Finger steif zu werden drohte. Deswegen musste nach Pfingsten noch einmal operiert werden.
In den darauffolgenden Wochen ist Luzie jeden zweiten Tag mit dem Zug von Eschenberg zur Krankengymnastik in die nächste größere Stadt gefahren. Die Angelegenheit dauerte den ganzen Nachmittag: eine Stunde hin, eine zurück und dazwischen Fingerübungen. Die ganzen Wochen über war es unglaublich heiß, und Luzie schien es jeden Tag von Neuem, als verschmelze sie mit den Plastikstühlen im stickigen Wartezimmer der Physiotherapeutin. Die Fahrten und das Warten waren ermüdend, die Gymnastik schmerzhaft und wenig erfolgreich.
Die Finger waren ihr zu diesem Zeitpunkt schon fast egal. Wozu der ganze Aufwand? Fehlte ja ohnehin schon einer und wofür in aller Welt braucht man einen Ringfinger? Doch allenfalls zum Heiraten, und das will Luzie gar nicht. Gitarrespielen ist auch nicht mehr drin, und jeder guckt die Hand an mit einer Mischung aus Ekel, Sensationslust und Mitleid. Baden war sie den ganzen Sommer lang trotz der Hitze kein einziges Mal. Es gab nur Langeweile, Hitze, Schmerzen und wieder Langeweile. Den Traktor, Gras, Gestrüpp, verstopfte Klos und heruntergerissene Vorhangstangen.
Ja, Luzie hat schlechte Laune. Und dann ist da noch dieser Manga, in dem sich jemand freiwillig einen Finger wegoperieren lässt! Was ist das überhaupt für eine bescheuerte Geschichte? Da gibt es den Planeten Roku, dort hat man sechs Finger. Außerdem gibt es zwei Parteien, die Akai und die Shiroi. Die Akai sind die Guten, die Shiroi die Bösen. Oder ist es umgekehrt? Nein, schon richtig ... und schließlich gibt es Nana, die Hauptperson. Sie hat den Auftrag, auf der Erde undercover nach RoXane, der Tochter eines gewissen TeroX, zu suchen ... eines Mannes, der irgendwie Chef der Shiroi zu sein scheint ...
Mama reißt die Tür auf. »Ach, du bist schon wach.«
»Sieht man doch, oder?« Auch Mama kann nicht anklopfen. Luzie schiebt den Manga unters Kopfkissen, dann steht sie auf und geht ins Bad.
Im Spiegel sieht sie ihr Gesicht. Bin ich schön?, fragt sie sich wie jeden Tag, doch wie jeden Tag weiß sie darauf keine rechte Antwort. Eher nein als ja, das sowieso, aber wie viel mehr nein als ja, das hängt von Luzies aktueller Stimmung ab.
Luzie putzt Zähne und lauscht den Stimmen in der Küche. Papa ist schon auf. Vielleicht geht er bald, denkt sie, denn das Rasenstück hinter der Turnhalle hat sie gestern nicht mehr gemäht. Luzie putzt länger als gewöhnlich, doch noch immer hört sie Papas Stimme. Es hat keinen Sinn, denkt Luzie, dann erwischt er mich eben heute Mittag. Sie spuckt aus und geht in die Küche.
Papa trägt bereits seinen Blaumann. Auch für ihn – wie in dem Manga – besteht die ganze Welt immer nur aus zwei Parteien: den Internatsschülern und den Externen, den Lehrern, das heißt Schwätzern, und Handwerkern, das heißt rechtschaffenen Arbeitern, aus Christen und Islamisten, aus Bayern und Preußen. Für ihn ist es immer ganz klar, wer die Guten und wer die Bösen sind.
»Morgen«, sagt Luzie.
»Morgen«, sagt Mama. Auch Papa nuschelt einen Gruß. Luzie setzt sich, nimmt sich Brot und Marmelade.
Papa blättert in der Zeitung. »Schlechteste Getreideernte seit neunundvierzig Jahren«, liest er vor. »Früher wären nach so einem Sommer alle verhungert.«
»Es ist aber nicht früher«, sagt Mama.
Zum Glück, denkt Luzie. Früher wäre ich wahrscheinlich vor einem halben Jahr verblutet, obwohl Papa ja behauptet, früher wäre man wegen so einer Verletzung nicht mal zum Arzt. Klar, denkt Luzie, weil man ja vorher verblutet wäre. Papa raschelt mit der Zeitung. Früher hätte vielen Bauern und Handwerkern ein Finger gefehlt, oder sogar mehrere, das sei ganz normal gewesen, sagt er. Im Moment scheint er zum Glück in seine Zeitung vertieft. Luzie nimmt sich vor, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten.
»Und woher weißt du das überhaupt?«, fragt Mama und meint damit den Hunger, früher. »Du willst doch nicht behaupten, dass vor fünfzig Jahren in Europa noch jemand verhungert wäre.«
Luzie schielt zu Papa. Gut, dass sich Mama jetzt mit ihm anlegt, da lässt er mich in Ruhe. Aber was hat sie? Warum hat Mama an allem, was er sagt, etwas auszusetzen? Das ist schon seit Tagen so. Nein, seit Wochen.
»Das weiß ich eben«, sagt Papa. »Außerdem sind vor fünfzig Jahren natürlich noch Leute verhungert. Nach dem Krieg.«
»Das ist aber über sechzig Jahre her.«
»Sabine! Ob fünfzig oder sechzig Jahre, ist mir doch vollkommen wurscht! Mir geht’s ums ...« Prinzip, ja, ja, denkt Luzie.
Aber Mama lässt ihn nicht ausreden. »Du hast doch damit angefangen.«
»Also, ich geh dann mal«, sagt Luzie. »Tschüss.«
Papa sieht auf. »Du hast das letzte Rasenstück nicht mehr gemäht. Das machst du heute
»Ja ...« Luzie verkneift sich ein zweites Ja und verlässt die Küche.
In ihrem Zimmer fällt ihr Blick wieder auf den Manga. Sie schlägt ihn auf, blättert, bis sie die Stelle findet, an der sie gestern aufgehört hat.
Nana allein in ihrem Zimmer. Die Wände zieren Poster mit putzigen Hunden.
Nana packt ihre Reisetasche, macht ein unglückliches Gesicht. Sie nimmt ein Stofftier vom Bett, einen weißen Hund mit schwarzen Öhrchen.
»Ach, Hachiko, am liebsten würde ich hierbleiben. Ich kann die Erwartungen von Vater nicht erfüllen, du weißt doch, was für eine miserable Kämpferin ich bin! Warum schickt Vater nicht jemand anderes an meiner Stelle? Ich werde das gute Ansehen meiner Mutter und der ganzen Familie zerstören!« Schluchz.
Der Stoffhund zwinkert ihr zu.
Nana lächelt. »Du bist wirklich ein Schatz, Hachiko, selbst in der schlimmsten Situation machst du mir Mut.«
Nana sitzt auf dem Bett, hält einen Brief in der Hand.
Liebe Nana,
pass gut auf Dich auf. Ich weiß, dass Du Angst hast, Deine Mission ist nicht leicht. Aber wir werden stets Kontakt haben, denn Dein Vater hat mich mit dieser Aufgabe betraut. Das wird auch mir den Abschied von Dir leichter machen. Es ist ja nur für kurze Zeit! Denk daran, Du wirst es schaffen, auch wenn Du Deinen Fähigkeiten immer misstraust. Du bist Nana und Du hast mehr Kraft als alle anderen zusammen,
in Liebe, Dein Ryo.
Nana steckt den Brief in ihre Reisetasche.
Düsterer Büroraum. Bildschirme flimmern.
Nana trägt dunklen Rock und weiße Bluse.
Die Haare sind schwarz gefärbt.
Neben ihr die Reisetasche.
Ihr Vater lehnt im Sessel.
»In einer halben Stunde geht es los. Hier hast du noch
etwas Informationsmaterial zu Japan und zu Tokyo im
Besonderen ... Ach ja, du heißt von nun an Naoko. Aber das wird man dir sicher längst gesagt haben.«
Der Vater beugt sich vor, hält Naoko ein Gerät hin.
»Hier. Und das ist dein Comprender. Damit kannst du zur Zentrale Kontakt halten.«
Dzzzzz dzzzzzzzzz.
»So, und jetzt müsstest du außerdem fließend Japanisch sprechen. Also, wie heißt du?«
»Watashi wa Naoko to moshimashu.«
Luzie klappt das Buch zu und steckt es in ihre Umhängetasche. Sie will nicht, dass Mama den Comic sieht. Mama fürchtet sich vor Comics, denn sie denkt, wer Comics liest, schafft die Schule nicht. Siehe Almut.
Dabei sind Comics vielleicht doch gar nicht ganz so blöd. Jedenfalls kann man da Wörter erfinden.
Sie schließt die Schnalle ihrer Umhängetasche: Zlipp. Sie zieht den Reißverschluss ihrer Jacke hoch: Zeff. Und lässt die Wohnungstür ins Schloss fallen: Boff.
Trotzdem sind Comics nur was für Knalltüten.
Der erste Schultag ist immer so rein. Alle Hefte strahlen weiß und nirgends steht eine schlechte Note. Sogar das Schulgebäude sieht sauberer aus als vor den Ferien. Das kann aber auch am September liegen: Da ist die Luft oft so schön klar.
Luzie geht die knapp hundert Meter hinüber zur Schule. Das ist einer der wenigen Vorteile davon, Tochter des Hausmeisters einer Schule mit angeschlossenem Internat zu sein: Für den Schulweg benötigt man höchstens zwei Minuten. Sonst gibt es fast nur Nachteile, was vor allem daran liegt, dass ihr Vater bei den Schülern nicht besonders beliebt ist, denn er ist penibel, streng, unberechenbar, allgegenwärtig und oft schlecht gelaunt. Wer mag ihn überhaupt?, fragt sich Luzie. Almut ist mit Papa spinnefeind, auch die Lehrer gehen ihm aus dem Weg und die Erzieher sowieso. Nur das Küchen- und Reinigungspersonal scheint ihm wohlgesonnen – und Mama, aber seit einiger Zeit auch nicht mehr so richtig, jedenfalls streiten sie andauernd. Bleibe nur noch ich, denkt Luzie, ich bin ja schon immer das Papakind gewesen.
Luzie kneift die Augen zusammen und betrachtet das Schulgebäude. Seit ihrer Geburt wohnt sie hier, immer sieht sie die Schule, sie kennt jeden Winkel und Räume, die kein Schüler jemals betreten hat. Auch im Internat hat sie jeden Heizkörper schon einmal gestrichen, jede Tür schon mal geölt und jedes Beet im Garten schon einmal umgegraben.
Seit fünf Jahren besucht sie nun selber das Gymnasium. Sie kennt alle Lehrer, die Putzfrauen und früher hat sie der Köchin beim Kochen geholfen. Seit sie auf der Welt ist, ist sie die Tochter vom Hausmeister Lindlach und ihr ganzes Leben besteht aus dieser Schule.
Luzie betritt das Gebäude und sucht ihr neues Klassenzimmer. Mit Schrecken stellt sie fest, dass der Raum von Konrads Klasse genau nebenan liegt. Konrad hockt auf dem Fensterbrett, natürlich ist er wieder zu früh. Luzie verschwindet rasch in ihrem Raum. Er hat mich nicht gesehen, denkt sie, aber sie weiß, dass das nicht stimmt. Natürlich hat er Luzie gesehen.
Auch Luzie ist eine der Ersten und hat freie Platzwahl. Sie sucht sich eine Bank am Fenster aus, hinten. Langsam füllt sich das Klassenzimmer. Luzie legt auf den Stuhl neben sich ihren Rucksack. Für Thea, doch Thea kommt nicht, dafür alle anderen.
Luzie sitzt schweigsam auf ihrem Platz und beobachtet das Treiben. Ihre Laune hebt sich nur minimal. Alle sehen tausendmal besser aus als sie. Alle haben schickere Kleider, buntere Hefte, glitzerndere Stifte, bessere Handys und mehr Finger.