Cover

Inhaltsübersicht

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel «The Goblin's Gift: Tales of Fayt» bei David Fickling Books, Oxford.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Goblin's Gift: Tales of Fayt» Copyright © 2013 by Conrad Mason

Lektorat Sophie Härtling

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlag- und Innenillustrationen David Wyatt

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21659-6 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-53581-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-53581-7

Für Mark und Verity

PROLOG

Es ist nicht der Schmerz, den er genießt.

Es ist die Angst.

Mit Daumen und Zeigefinger rückt er seine Brille zurecht und betrachtet die sich windende Kreatur vor ihm auf dem Tisch. Sie ist auf einen Holzblock gespießt, die Flügel von Nadeln aus Azurmouth-Stahl durchbohrt, damit sie aus der verdunkelten Kajüte nicht entkommen kann.

Eine weibliche Fee. Daemonium volans. Dämonenbrut.

Es hat etwas grotesk Faszinierendes, wie sie sich wehrt und versucht, die Flügel zu bewegen, wie sie ihn anfleht, sie freizulassen. Fast unerträglich widerwärtig.

«Ich will Ihnen alles sagen», schreit sie. «Bitte. Ich verspreche es.»

«Alles? Du willst mir wirklich alles sagen?»

Ein Hoffnungsschimmer in ihren Augen belohnt ihn.

«Ja, Sir. Ich habe mein ganzes Leben in Port Fayt verbracht, Sir. Ich habe einiges gesehen, das kann ich Ihnen sagen. Geben Sie mir einfach eine Chance.»

Die Hand auf einen Briefbeschwerer aus grünem Marmor gelegt, beugt er sich über den Schreibtisch und mustert die Flügel des Wesens, die aus den in den schmutzigen Kleiderstoff geschnittenen Löchern ragen. Wie ekelhaft. Wie widernatürlich.

«Was weißt du schon, was mir helfen würde?»

«Ich habe ihre Flotte gesehen, Sir. Die Flotte von Fayt. Ich kann Ihnen von ihrer Besatzung und ihren Waffen berichten. Ihnen alles über Gouverneur Skelmerdale erzählen. Ich kann Ihnen sagen … ich kann …» Die Stimme der Fee verliert sich. Der Hoffnungsschimmer erlischt.

«Und wennschon. Welchen Unterschied würde das machen? Glaubst du wirklich, die Fayter hätten eine Chance gegen uns? Nein, meine Liebe. Ich fürchte, du bist mir nicht die geringste Hilfe.»

«Dann töten Sie mich. Ich habe keine Angst.»

Das Wesen hat aufgehört zu kämpfen, liegt da, die winzigen Arme verschränkt und starrt zornig zu ihm auf. Sein mattleuchtender Körper zeichnet sich gegen den Holzblock ab.

Er hebt die Augenbrauen. Damit hat er nicht gerechnet. Mut von einer so verachtenswerten Kreatur hätte er nicht für möglich gehalten. Und dieser Mut hat sämtliche Spuren von Angst vertrieben. Die Angst, die er so genießt.

«Ich bin beeindruckt», gibt er zu. «Höchst beeindruckt.»

Es klopft an der Tür.

«Herein.»

Die Morgensonne ergießt sich in die Kajüte, als ein weißberockter Seesoldat den Kopf hereinstreckt.

«Westlich der Flotte wurde ein Schiff gesichtet, Hoheit. Ein Klipper, der ohne Flagge fährt.»

Der Herzog von Garran überlegt einen Augenblick und nickt dann.

«Gut. Ich kümmere mich darum.»

Die Fee zuckt zusammen, als er mit Schwung seinen Hut vom Schreibtisch nimmt.

«Keine Sorge», sagt er zu ihr. «Du hast mir gezeigt, dass du mutig bist. Und du hast keine Angst mehr. Das ist gut. Sehr gut.»

Wieder blitzt in den Augen der Fee Hoffnung auf. Köstlich. Und mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung hebt der Herzog von Garran den Briefbeschwerer und lässt ihn niedersausen.

Einmal.

Zweimal.

Dreimal.

Nicht einmal ein Schrei ist zu hören.

Er wendet sich wieder dem Soldaten zu.

«Schicken Sie jemanden herein», sagt er, «der meinen Schreibtisch säubert.»

ERSTER TEIL •••
Armada

1. KAPITEL

Joseph Grubb klammerte sich an die Webleinen und packte die Seile so fest, dass ihm die Hände brannten.

«Worauf wartest du?», drang Tabithas Stimme von unten herauf.

Zähneknirschend kletterte er weiter und versuchte dabei, nur noch auf seine rhythmischen Bewegungen zu achten: linker Fuß, rechte Hand, rechter Fuß, linke Hand. Komm schon. Du schaffst das. Zu Hause in Fayt war er früher tagtäglich die Trittleiter zur Vorratskammer seines Onkels hinaufgestiegen. Vor zwei Wochen war er im Marlinspike-Viertel sogar auf Hausdächer gekraxelt, um eine Katze zu verfolgen. Und jetzt kletterte er ins Krähennest eines Klippers, schwankte mehr als dreißig Meter über dem Schiffsdeck an ein paar Seilstrippen, so hoch, dass die Leute unten aussahen wie bunte Käfer. So hoch, dass … Er schluckte.

Das bringt nichts.

Wieder legte er eine Verschnaufpause ein, der Schweiß kribbelte auf seinen Augenbrauen. Auf seinem ausgestreckten rechten Arm war eine frische Tätowierung in die rosa-gräuliche Mischlingshaut gestochen. Ein herumwirbelnder blauer Hai – das Zeichen der Wächter. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er nun einer von ihnen war. Aber der Beweis war da, direkt vor seinen Augen. Die Dämonenwache. Die Beschützer von Port Fayt. Der Schrecken aller Diebe, Schmuggler und Piraten.

Der Schrecken von Mrs. Bootles Pasteten trifft es eher.

Er musste lächeln bei dem Gedanken und kletterte weiter.

Jetzt war es nicht mehr weit bis zum Krähennest. Die Bewegung des Fernrohrs in seiner rechten Hosentasche glich das Auf und Ab des Säbels aus, der ihm bei jedem Schritt gegen die linke Hüfte schlug. Captain Newton hatte ihn Joseph an jenem Tag gegeben, an dem er seine Tätowierung erhalten hatte. Der Handschutz bestand aus massivem Messing, und der Griff war mit geöltem Leder umwickelt. In die Klinge war ein kleiner Hai eingraviert, und darunter stand in ordentlichen Buchstaben: GRUBB.

Es gab keinen Zweifel. Seine Tage als Schänkenjunge waren ein für alle Mal vorbei.

«He, Schänkenjunge», ertönte da ein Schrei von weit unten. Joseph riskierte einen Blick über die Schulter. Obwohl ihm von der Höhe ganz flau im Magen wurde, konnte er die Gestalt von Phineus Clagg ausmachen – dem Berufsschmuggler und Kapitän des Stachelhais. Er hatte die Hände um den Mund gelegt, und seine langen Haare und der schmutzige Mantel flatterten im Wind. «Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, weißt du.»

Unter ihm in den Webleinen wandte Tabitha den blauen Schopf und schrie hinab: «Wollen Sie lieber selbst raufklettern? Ach, Moment, ich habe ganz vergessen, dass Sie dafür zu fett sind.»

Joseph wartete die Erwiderung des Schmugglers nicht ab. Er schloss die Augen und kletterte weiter. Linker Fuß, rechte Hand; rechter Fuß, linke Hand. Je höher er kam, desto heftiger zerrten die Böen an ihm und zwangen ihn, die Seile noch fester zu umklammern. Aber umkehren konnte er jetzt nicht mehr. Das würde Tabitha ihn nie vergessen lassen.

Er machte die Augen wieder auf, die im Wind sofort zu tränen begannen. Eine letzte Anstrengung … Rechter Fuß, linke Hand … Dann war er da, zog sich durch die Öffnung und brach auf der Plattform des Krähennestes zusammen. Einen Moment lang lag er einfach da und rang um Atem, während sich Tabitha hinter ihm heraufzog.

«Was ist los?», fragte sie und klopfte ihm auf den Rücken. «Sag bloß, du hast Höhenangst?» Sie gab sich Mühe, locker zu klingen, aber das nahm ihr Joseph nicht eine Sekunde lang ab. Sie kauerte mit weit aufgerissenen Augen und leicht grün im Gesicht neben ihm auf der Plattform.

«Du musst zugeben, dass wir ziemlich weit oben sind.»

Tabitha machte den Mund auf, um ihm zu widersprechen, doch dann lächelte sie ihn an.

«Das kann man wohl sagen.»

Joseph grinste zurück. Tabitha gab sich gern hart, aber sie war auch nett. Meistens jedenfalls. Sie erkundigte sich oft nach seinem alten Leben, als er für seinen Onkel in der Beinlosen Nixe gearbeitet hatte, und der Zeit davor, als seine Eltern noch gelebt hatten. Von sich selbst erzählte sie nicht viel, aber aus irgendeinem Grund mochte sie Josephs Geschichten über sein Elternhaus mit der grünen Haustür. Und Joseph genoss es, jemanden zu haben, mit dem er seine Erinnerungen teilen konnte.

Tabitha wies mit dem Kopf aufs Meer hinaus. «Worauf wartest du noch?»

Joseph rappelte sich auf und packte das Geländer am vorderen Rand des Krähennests, wobei er sich bemühte, den gähnenden Abgrund an den anderen Seiten zu ignorieren. Die Aussicht, die sich ihm darbot, war nicht dazu angetan, seinen rebellierenden Magen zu beruhigen.

In der Ferne erhob sich Illon aus dem glitzernden Wasser des Elfenbeinmeeres, die östlichste der Mittleren Inseln – ein diesiger grüner Hügel wie der Rücken einer Seeschlange. In der größten Bucht drängten sich Schiffe, die mit eingeholten Segeln vor Anker lagen, weiße Banner flatterten an den Mastspitzen. Ganz außen befanden sich Klipper und Fregatten und dahinter, im Herzen der Flotte, die echten Kriegsschiffe, Galeonen und Schlachtschiffe.

Genau im Zentrum befand sich ein Schiff, das nur dem Herzog von Garran gehören konnte. Wie ein hölzernes Schloss ragte es über den anderen auf, und sein Banner war so groß, dass Joseph selbst aus dieser Entfernung die aufgestickte Goldene Sonne erkennen konnte. Es war das größte Schiff, das er je gesehen hatte. Allerdings war dies auch die größte Flotte, die er je gesehen hatte.

Er zog das Fernrohr aus der Tasche und hob es ans Auge. Auf einigen der am nächsten liegenden Schiffe konnte er Bewegungen ausmachen – Seesoldaten der Liga in ihren weißen Kampfanzügen und mit blitzenden Bajonetten. Allesamt Menschen, natürlich. Es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Die Liga des Lichts war nur aus einem einzigen Grund aus der Alten Welt hierhergekommen: um Port Fayt und alle, die darin lebten, zu vernichten – Elfen, Trolle, Feen … und Mischlinge natürlich. Dass er zur Hälfte ein Mensch war, würde Joseph nicht retten, weil er zur anderen Hälfte ein Kobold war.

Tabitha schnappte sich das Fernrohr.

«Lass mich mal sehen», sagte sie. «Wir sollen Informationen sammeln und nicht in der Gegend herumstieren. Darum geht es nämlich bei dieser Erkundungsfahrt, falls du dich noch daran erinnerst: herauszufinden, wie wir dieses Drecksgesindel schlagen können.»

Joseph musterte sie von der Seite, während sie durch das Fernrohr sah. Sie hatte die blauen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, damit der Wind sie ihr nicht ins Gesicht wehte. Und genau wie er trug sie die Jacke der Wächter, allerdings mit einem Gurt voller Wurfmesser über der Schulter. Sie war meistens nett. Auch wenn Joseph hin und wieder das Gefühl hatte, dass sie ihre Messer lieber hatte als jede lebende Person. Tabitha war das erste Mädchen, das er richtig kennengelernt hatte. Vielleicht waren sie einfach anders als Jungen.

«Nein», sagte Tabitha.

«Was?»

Sie ließ das Fernrohr sinken, blickte aber weiter aufs Meer hinaus. Ihr Gesicht war noch grünlicher geworden, und ihre Augen waren noch größer als zuvor. «Nein, nein, nein. Sieh nur!»

Joseph drehte sich wieder zur Armada der Liga um. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er es sah, doch dann gefror ihm das Blut in den Adern. Die drei Schiffe, die ihnen am nächsten waren, drehten gerade ab und nahmen Kurs auf den Stachelhai. Sie sahen aus wie Fregatten. Kampfschiffe. Und zwar äußerst schnelle.

«Sie haben uns entdeckt», sagte Tabitha. Sie beugte sich über den Rand des Krähennests und brüllte, so laut sie konnte: «Dreht um! Drei Fregatten der Liga kommen auf uns zu!»

Joseph schluckte. «Heißt das …?»

Tabitha seufzte lauter als nötig. «Ja, das heißt, wir klettern wieder runter. Du zuerst. Ich will nicht, dass du mich vollreiherst.»

 

Als sie unten ankamen, stand Phineus Clagg am Ruder. Joseph musste sich gegen die Krängung des Schiffes anstemmen, als der Stachelhai Fahrt aufnahm, schneller, als er es bei einem Schiff dieser Größe für möglich gehalten hätte. Er und Tabitha rannten zum Heck, wobei sie Schmugglern auswichen, die Taue anzogen und Anweisungen durch die Gegend brüllten. Hal und die Bootle-Zwillinge hatten sich bereits am Steuerruder eingefunden. Sämtliche Mitglieder der Dämonenwache waren an Bord, bis auf Newt und Old Jon, die in Port Fayt zurückgeblieben waren.

«Können wir ihnen entkommen?», fragte Hal, rückte seine Brille zurecht und spähte übers Wasser. Er sah besorgt aus. Doch das tat er häufig. Bevor er zur Dämonenwache gekommen war, hätte Joseph es nicht für möglich gehalten, dass ein Zauberer so schreckhaft sein könnte.

«Können wir ihnen entkommen?», äffte Clagg ihn nach. «Natürlich können wir das, Brillenschlange. Nur keine Sorge. Das hier ist der Stachelhai. Das schnellste …»

«… Schiff im Elfenbeinmeer», riefen Frank und Paddy, die Trollzwillinge, im Chor.

«Das wissen wir», sagte Paddy.

«Sie haben es schon mal beiläufig erwähnt», fügte Frank hinzu.

Tabitha hastete die Stufen zum Poopdeck hinauf und beobachtete die Ligaschiffe durch das Fernrohr.

«Sie holen auf», rief sie. «Diese Fregatten schießen durchs Wasser wie eine geölte Fee.»

«Nicht möglich», sagte Clagg. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche mit Feuerwasser und stopfte sich eine frische Prise Kautabak in den Mund, wobei sein linkes Schielauge nervös über das Deck huschte. Der Schmuggler hatte sich nicht gerade darum gerissen, den Wächtern zu helfen, aber ein paar Dukaten und ein drohender Blick von Newton hatten gereicht, um ihn zu überzeugen. Wahrscheinlich bereute er das gerade.

Joseph stieg die Stufen hinauf, um sich zu Tabitha zu gesellen. Fast hätte er vor Schreck laut aufgeschrien, denn die Fregatten waren viel näher, als er erwartet hatte, und bewegten sich so gleichmäßig, als hätten die Wellen keinerlei Auswirkung auf sie. Vor den Schiffen schimmerte die Luft wie bei einer Fata Morgana, dabei war das Meer so ruhig wie ein Glas Wasser.

«Magie», murmelte er. «Sie haben Zauberer an Bord.»

Zauberei war in Port Fayt verboten – es sei denn, man besaß eine Genehmigung wie Hal –, aber für die Liga spielte das keine Rolle.

Hal tauchte neben ihnen auf. Er nahm das Fernglas von Tabitha und sah sich die feindlichen Schiffe an.

«Ah ja», sagte er schließlich. «Ich fürchte, ihr habt recht. Es ist ein gemeiner Salzwasserzauber, aber wesentlich stärker als üblich. Sie beeinflussen die Wogen mit Willenskraft und verringern so die Wellenbewegungen, die die Schiffe normalerweise abbremsen würden. Außerdem haben sie wahrscheinlich eine Art äolische Manipulation verwendet, um die Windströmung in die Segel zu verstärken. Das ist wirklich außergewöhnlich. So etwas habe ich nicht mehr gesehen, seit –»

«Wirklich interessant», unterbrach ihn Tabitha, «aber vielleicht sollten wir irgendwas dagegen unternehmen?»

Joseph beugte sich über die Reling des Poopdecks. «Geht es noch ein bisschen schneller, Mr. Clagg?»

«Captain Clagg, wenn ich bitten darf, mein Freund», erwiderte der Schmuggler. Er schaute stirnrunzelnd auf das vor ihm liegende Meer und kaute seinen Tabak, während Haare und Mantel im Wind flatterten. «Und nein, nicht ohne besseren Wind.»

«Thalin sei Dank haben wir das schnellste Schiff im Elfenbeinmeer, was?», sagte Paddy und schlug dem Schmuggler mit seiner riesigen Hand auf den Rücken. «Jedenfalls wenn man von den drei Fregatten absieht.»

«Das ist doch geschummelt! Verdammte Zauberei … Verdirbt einem den ganzen Spaß, wenn ihr mich fragt.»

«Hal», sagte Tabitha. «Wenn die ihre Schiffe mit Hilfe von Zauberei schneller machen, warum können wir das nicht mit dem Stachelhai tun?»

Hal schüttelte den Kopf. «Ich fühle mich geschmeichelt, aber das ist ausgeschlossen. Für einen derartigen Zauber muss eine ganze Truppe gut ausgebildeter Magier zusammenarbeiten und sich gleichzeitig konzentrieren. Das schaffe ich allein nicht.»

Frank zückte seinen gewaltigen Säbel und ließ ihn versuchsweise durch die Luft sausen.

«Wie es aussieht», sagte er, «sollten wir uns lieber auf einen Kampf einstellen.»

2. KAPITEL

Ein Fernrohr brauchten sie jetzt nicht mehr. Die Fregatten waren so nah, dass Joseph die aus den Stückpforten ragenden Kanonen erkennen konnte. Vorn am Bug der Schiffe standen Gruppen von Zauberern in weißen Mänteln und beruhigten mit ausgestreckten Armen die vor ihnen liegenden Wellen. Dahinter wuselten Seesoldaten durcheinander, die sich darauf vorbereiteten, an Bord des Stachelhais zu gehen. Echte, kampferprobte Soldaten. Ligasoldaten, die über die Alte Welt hinweggefegt waren, die in kaum mehr als einem Monat die Herzogtümer der Ebenen eingenommen und binnen einer Woche die Trolle der Weinenden Berge geschlagen hatten. Soldaten, die, ohne nachzudenken, jeden töteten, der kein Mensch war. Schlächter wurden sie mitunter genannt – weil ihre weißen Uniformen im Kampf mit dem Blut ihrer Feinde getränkt waren.

Joseph zog den Säbel aus dem Gürtel, dessen Gewicht ihn ein wenig beruhigte. Frank und Paddy hatten ihm beigebracht, ihn zu benutzen, und um sich Mut zu machen, versuchte er ihre Lektionen in Gedanken zu wiederholen. Doch er brachte die Ratschläge immer wieder durcheinander und beschloss, an etwas anderes zu denken. Aber da waren nur die Fregatten, die auf sie zuhielten … Seine Finger umklammerten den ledernen Griff noch fester.

Jetzt konnte er am Kiel die Namen der feindlichen Schiffe lesen. Während er ihnen entgegensah, lösten sich die beiden Begleitschiffe, die Letzte Rettung und die Meteor, vom Weißen Ritter. Sie würden bald seitlich zum Stachelhai aufschließen. Joseph verstand nicht viel von Kriegsführung, doch selbst er erkannte, dass die Ligaschiffe genügend Kanonen an Bord hatten, um aus dem Klipper der Schmuggler Kleinholz zu machen.

Ein Knallen ertönte von der nahesten Fregatte, und Joseph duckte sich instinktiv. Adrenalin schoss durch seinen Körper.

«Kopf runter alle miteinander», brüllte Frank oder Paddy – in dem Durcheinander waren sie kaum auseinanderzuhalten. Wieder knallte es, und Musketenkugeln schwirrten durch die Luft.

«Scharfschützen», schrie Tabitha, als wäre das inzwischen nicht offensichtlich. Sie schnickte mit dem Handgelenk und schleuderte ein Messer hinüber auf das feindliche Schiff, ehe sie hinter der Bordwand in Deckung ging. Ihre Augen leuchteten, und sie hielt bereits das nächste Messer in der Hand. Verängstigt, wie er war, fand Joseph ihre Begeisterung erstaunlich. Als wäre das alles nur ein Spiel und kein tödliches Gefecht, das sie vielleicht nicht überleben würden.

«Zu mir!», schrie der andere Trollzwilling. Joseph, Tabitha und Hal huschten zum Rand des Poopdecks und sprangen auf das Oberdeck hinab.

Phineus Clagg kauerte hinter dem Steuerruder, sein pummeliges Gesicht war ganz blass. Er hatte aufgehört zu kauen.

«Das ist der Stachelhai», murmelte er, ohne jemanden direkt anzusprechen. «Das schnellste Schiff im Elfenbeinmeer …»

Ein paar Schmuggler erwiderten das Feuer mit Pistolen, Donnerbüchsen und Armbrüsten. Einer wurde von einer Musketenkugel im Arm getroffen und wirbelte jaulend vor Schmerz um die eigene Achse. Joseph eilte zum Großmast, wo sich die Wächter versammelt hatten, während Claggs Männer um sie herumschwirrten.

«Wir müssen die Schlächter davon abhalten, an Bord zu kommen», sagte Paddy.

«Wenn wir sie aufs Schiff lassen, ist es aus», fügte Frank hinzu.

«Also teilen wir uns auf und helfen den Schmugglern, sie abzuwehren. Joseph und Tabs, wir bleiben auf der Backbordseite. Frank und Hal – ihr übernehmt die Steuerbordseite.»

Allgemeines Kopfnicken, dann verteilten sich die Wächter an ihren Positionen. Joseph kannte die Trollzwillinge noch nicht lange, doch es war klar, dass sie sich keine großen Chancen ausrechneten. Er hob seinen Säbel und sagte sich, er sei zu allem bereit. Obwohl er es selbst nicht glaubte. Was sollte ein Schwert gegen Musketen und Kanonen ausrichten? Bei dem Gedanken wurde ihm ganz schwindelig. Er stolperte und hielt sich an der Reling fest.

Die Letzte Rettung kam immer näher.

«Keine Bange», sagte eine Stimme zu seiner Linken. Es war Tabitha, die ihn beobachtete und krampfhaft zu lächeln versuchte. «Wir schaffen das. Irgendwie werden wir –»

Der Stachelhai machte einen Satz, der sie beide aus dem Gleichgewicht brachte. Über sich hörten sie Klatschen und Schlagen, und als Joseph den Kopf hob, sah er, dass die Segel schlaff herabhingen, als habe der Wind ausgesetzt.

In dem Moment ertönte ein tiefes Knirschen, und das Deck unter seinen Füßen begann zu beben. Joseph packte das Schandeck noch fester.

Was, zum Seeteufel …?

«He, Captain Kugelfisch», schrie Frank. «Was ist los?» Aber Phineus Clagg war inzwischen so weiß wie die Segel über ihm. Sein Mund stand sperrangelweit offen, und der Kautabak tropfte aufs Deck.

Das Knirschen wurde lauter, und Joseph drehte sich fast der Magen um, als er begriff, was vor sich ging.

«Wir sinken!», schrie er. «Wir gehen unter!»

Er beugte sich über die Bordwand und sah, wie ihm das Wasser entgegensprudelte.

Auf der Letzten Rettung blitzten die Kanonen, und die Kugeln sausten von einer Sinfonie rollender Donnerschläge begleitet auf sie zu.

«Deckung!», brüllte Tabitha.

Joseph blieb keine Zeit, sich zu ducken. Doch der Stachelhai lag tiefer im Wasser als noch Sekunden zuvor, sodass die Kugeln lediglich die Segel durchschlugen und den Stoff zerfetzten.

Endlich fand Clagg die Sprache wieder. «Wir sinken nicht», schrie er durch das Chaos. «Dafür geht es zu schnell. Es ist als … als …»

«Als würden wir nach unten gezogen», beendete Frank den Satz für ihn.

Joseph spürte ein Kribbeln im Nacken. Unwillkürlich musste er an den Großen Rachen denken, den gewaltigen Meeresdämon, der sich vor weniger als zwei Wochen vor seinen Augen aus dem Ozean erhoben hatte. Er verfolgte Joseph immer noch in seinen Träumen. Wer konnte schon wissen, was in den Tiefen des Meeres sonst noch hauste?

«Wir müssen was tun», schrie Clagg, während seine Mannschaft wie ein kopfloser Hühnerhaufen in sämtliche Richtungen auseinanderstob. «Ihr seid doch die Dämonenwache, oder nicht? Also unternehmt etwas. Das hier ist mein Schiff, zum Donnerschlag! Mein liebes, gutes Schiff!»

«Zurück!», schrie Paddy. «Haltet euch von der Reling fern.»

Das ließ sich Joseph nicht zweimal sagen. Er mischte sich unter die Schmuggler und Wächter, die zum Großmast liefen. Bald drängte sich die gesamte Besatzung mit gezückten Waffen in der Mitte des Decks und wartete auf das, was kommen würde. Joseph stand eingezwängt zwischen Frank und Tabitha, die jetzt nicht mehr so gelassen aussah.

Auf der Meteor donnerten die Kanonen. Alle duckten sich, als die Segel abermals in Fetzen gingen und der Fockmast zersplitterte.

Das Schiff befand sich inzwischen praktisch auf Höhe der Wasserlinie, und Joseph war sich nicht mehr sicher, ob sie über oder unter den Wellen besser dran waren. Doch er hatte ohnehin keine Wahl.

«Bleibt zusammen», befahl Frank streng. «Egal, was passiert.»

Seewasser überspülte die Bordwände und lief über das Deck, es durchtränkte ihre Schuhe und stieg ihnen die Beine hinauf. Es war eiskalt. Joseph klemmte sich den Säbel wieder in den Gürtel und holte tief Luft, um so viel Sauerstoff wie möglich in seine Lunge zu pumpen. Das Deck glitt bebend in die Tiefe, und mit einem Mal trieben alle im Wasser. Joseph stockte der Atem, als das Wasser in seine Kleider drang wie eisige Finger, die nach ihm griffen.

«Pass auf!», schrie Tabitha. Joseph schwamm strampelnd beiseite, und schon kam die Rah herunter, knallte in einer riesigen Gischtfontäne aufs Wasser und verschwand in den Wellen. Innerhalb von Sekunden war das ganze Schiff verschwunden.

Rufe und Schreie zerrissen die Luft, als Schmuggler und Wächter im Wasser trieben. Einige hielten auf die Ligaschiffe zu, die rund um sie herum aufragten, gewaltig und unerbittlich. Doch was nutzte das? Sie würden dort keine Gnade finden. Joseph kannte die Geschichten. Die Schlächter des Herzogs von Garran würden sie alle umbringen, falls die Haie ihnen nicht zuvorkamen.

«Hilfe!», schrie er ohne Sinn und Zweck. «Hilfe, bitte! Hilfe –»

Jemand packte ihn an den Knöcheln. Was in Thalins Namen …? Er versuchte sich den Händen zu entwinden, doch sie waren stark und entschlossen und zogen ihn hinab.

«Nein! Halt! Lass mich –»

Dann war er unter Wasser.

3. KAPITEL

Ihr Messer fest umklammert, strampelte Tabitha im Wasser, als sich ihr auf einmal Hände um die Taille legten und sie in die Tiefe zogen. Sie hieb nach ihrem Angreifer, doch wer immer es war, wich dem Stich aus. Eine Hand griff nach ihrem Handgelenk und entwand ihr das Messer. Tabitha wehrte sich noch heftiger, doch es half nichts. Eine weitere Hand packte ihr anderes Handgelenk und drehte ihr die Arme auf den Rücken.

Als sich ihre Augen an das beißende Salzwasser gewöhnt hatten, sah sie rings um sie herum Gestalten. Was zum Seeteufel war das? Ein Trick der Liga? Unter ihren Beinen nahm sie eine von der Lichtbrechung verzerrte Silhouette wahr. Ein Fischschwanz von bizarrer Größe mit einer breiten, kräftigen Flosse.

Tabitha stockte der Atem, sie schluckte Salzwasser und wäre fast daran erstickt. Es gab nur eine Art Wesen im Elfenbeinmeer mit menschlichen Armen und Händen und dem Schwanz eines Fisches. Wasserleute. Sie reckte den Hals und erspähte für einen Moment das Gesicht einer Frau, lange Haare, die sich im Wasser ausbreiteten, eine Kette aus Muscheln … Dann legte die Wassernixe die Arme um Tabitha und zog sie fest an sich. Ihre Schwanzflosse machte eine peitschende Bewegung, und schon schossen sie davon.

Die Gestalten um sie herum verschwammen. Bläschen strömten Tabitha über das Gesicht, während sie dahinsausten, schneller, als irgendein Landbewohner hätte schwimmen können.

Tabitha wurde ganz schwindelig und übel vom Salzwasser. Sie hatte das Gefühl, Brust und Kopf würden gleich explodieren, und fragte sich, welches von beiden wohl als Erstes an der Reihe war. Sie musste atmen, sonst würde sie ohnmächtig werden. Verzweifelt warf sie sich hin und her, um der Umarmung der Nixe zu entkommen, doch es war hoffnungslos. Sie hatte weder die Energie noch die Kraft.

Plötzlich glitten sie hinauf. Das Wasser wurde klarer und heller, dann durchbrachen sie die Wasseroberfläche. Einen unglaublichen Moment lang beschrieben sie einen Bogen durch die Luft, und die kalte Brise fuhr Tabitha in die nassen Kleider, die ihr am Leib klebten. Sie sah die in alle Richtungen davonstrebenden Wellen, sah die Möwen über sich und unter Wasser andere Paare, jedes von ihnen offenbar eine Wassernixe mit einer weiteren Person in den Armen.

Tabitha vergaß fast zu atmen. Erst kurz bevor sie wieder ins Wasser eintauchten, holte sie verzweifelt Luft; dann schossen sie wieder in gedämpfter Stille vorwärts.

Tabitha war außer sich, doch gegen den festen Griff der Nixe kam sie nicht an. Und selbst wenn sie sich irgendwie hätte befreien können, was würde es ihr nützen? Sie wäre – weiß Thalin, wo – mutterseelenallein mitten im Elfenbeinmeer.

Jedes Mal, wenn ihre Lunge vor Sauerstoffmangel zu brennen begann, bäumte sie sich auf, und die Nixe verstand, schoss hinauf und sprang wie ein Delfin aus dem Wasser. Tabitha pumpte so viel Sauerstoff in sich hinein, wie sie nur konnte, und schon waren sie wieder in der Tiefe und schwammen weiter.

Wohin schwimmen wir?

Tabitha musste zugeben, dass die Wasserleute sie vor der Liga gerettet hatten. Dafür sollte sie ihnen dankbar sein. Doch sie empfand keine große Dankbarkeit. Wie lange waren sie schon unterwegs? Stunden? Es fühlte sich auf jeden Fall wie Stunden an. Über Wasser versuchte sie die anderen Wassernixen zu zählen. Hin und wieder sah sie auch welche springen, ihren Gefangenen fest an sich gedrückt.

Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an das Salzwasser, und sie begann unter Wasser andere Dinge wahrzunehmen. Einen Fisch, der davonschoss, wenn sie vorbeisausten. Eine Seeschlange, die sich vorwärtskatapultierte. Nichts davon gab ihr den kleinsten Anhaltspunkt, wohin die Wasserleute sie brachten.

Wieder durchbrachen sie die Wasseroberfläche. Doch dieses Mal erhielt Tabitha einen Stoß, der sie durch die Luft segeln und etwas Grauem, Hartem entgegenstürzen ließ. Etwas, was definitiv kein Wasser war. «Aaargh!», schrie sie und überschlug sich. Sie landete flach auf dem Rücken, starrte zum Himmel hinauf und versuchte, die sich drehende Welt zum Stillstand zu bringen. Hinter ihr verschwand ihre Entführerin mit einem Satz in den Wellen.

Tabitha setzte sich auf und rieb sich den Kopf. Sie befand sich an einem steinigen Strand, der, abgesehen von einem vor ihr ansteigenden Geröllhang und ein paar zerzausten Bäumen, leer und verlassen dalag.

Wieder hörte sie ein Platschen, dann fielen Wächter und Schmuggler wie Kanonenkugeln rund um Tabitha zu Boden und schrien vor Schmerz und Überraschung, wenn sie sich Ellbogen und Schienbeine aufschürften. Wenig später schob Hal seine Brille zurecht, die Trollzwillinge wrangen ihre tropfnassen Jacken aus, und Captain Clagg wühlte fieberhaft in seinen Taschen, um nachzusehen, ob seine Flasche Feuerwasser die Reise gut überstanden hatte. Als Letzter kam Joseph heruntergesaust. Wie ein Ball zusammengerollt und die Augen fest zugekniffen, prallte er an einigen Steinen ab und kam schließlich neben Tabitha zum Liegen. Er zitterte vor Kälte, und der neue Wächterrock klebte an seinem knochigen Körper.

Doch er konnte sich glücklich schätzen, fand Tabitha. Nicht alle Schmuggler hatten es geschafft.

Zornig schaute sie zu ihren Entführern hinaus, die draußen im tiefen Wasser in den Wellen schaukelten. Es waren zwischen zehn und zwanzig Wasserfrauen und -männer. Tabitha hatte schon viele von ihrer Art gesehen, in der Bucht von Fayt, wenn sie kamen, um Handel zu treiben, oder als Gefangene im Schiffsgefängnis. Aber diese hier waren anders. Wilder. Sie hatten ungebändigte, vom Salzwasser verklebte Mähnen und grimmige Gesichter. Und sie trugen Tuniken, die aus Algen und alten Seilstücken gewebt waren.

Tabitha wollte ihnen gerade die Meinung sagen, als sie die langen, hellen Stöcke bemerkte, die sie auf dem Rücken trugen. Sie hatte von diesen Dingern gehört. Knochenstäbe wurden sie genannt. Sie waren aus den Skeletten von Meereswesen gefertigt, die in solchen Tiefen hausten, dass kein Landbewohner sie jemals zu Gesicht bekam. Hal hatte ihr einmal erklärt, dass Knochenstäbe eigentlich nichts anderes seien als große, mächtige Zauberstäbe. Zu behaupten, die Wasserleute verstünden sich gut aufs Zaubern, sei eine glatte Untertreibung – so, als würde man sagen, Riesen seien nicht besonders klein.

Captain Clagg sprang auf.

«Ihr da!», schrie er und hielt inne, um Seetang auszuspucken. «Ihr salzgepökelten Frachtsäcke! Ihr schuppigen Wischmopps! Mein Schiff, was habt ihr mit meinem Schiff gemacht?» Tabitha hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Allerdings hatte er auch noch nie vorher den Stachelhai und die Hälfte seiner Mannschaft verloren. Er kramte in seiner Manteltasche und zog eine entsicherte Pistole heraus.

Das fehlte noch.

Wenn Phineus Clagg eine Nixe erschoss, würden diese Knochenstäbe in null Komma nichts in ihre Richtung zeigen.

Tabitha warf sich auf ihn und griff nach der Waffe. Doch sie rutschte mit dem Fuß auf einem mit Seetang bedeckten Stein aus und stürzte. Es klickte. Kein Schuss. Aus der Pistolenmündung des Schmugglers tropfte Wasser.

Die Wasserleute gaben seltsame Geräusche von sich, es klang wie eine Herde bellender Robben. Während sich Tabitha aufrappelte, begriff sie, dass die Wasserleute lachten. Über sie. Sie schauderte. Natürlich würde die Pistole nicht losgehen. Das Pulver war wahrscheinlich nasser als ein Fisch.

Phineus Clagg fluchte und schleuderte die Pistole mit aller Kraft in Richtung ihrer Peiniger. Ohne Schaden anzurichten, platschte sie ins Meer, gut drei Meter vom nächsten Wassermann entfernt. Das Robbengetöse wurde lauter.

«Was wollen die?», fragte Joseph. Er hatte sich aufgesetzt, rieb sich die aufgeschlagenen Arme und schien sich ziemlich leidzutun.

Paddy wrang seinen durchnässten Dreispitz aus und zuckte die Achseln. «Keine Ahnung. Aber ich bezweifle, dass sie sich mit einem Brocken Fisch und einem Dankeschön zufriedengeben werden.»

«Sie haben uns hier gefangen gesetzt», sagte Hal. «Also werden wir ihnen wohl zuhören müssen, egal, um was es geht.»

ZWISCHENSPIEL

Illon ist wunderschön.

Der Sand unter seinen Schuhen ist weich, umspült von den blauen Wogen des Elfenbeinmeeres, erstreckt er sich in goldenen Wellen in alle Himmelsrichtungen. Im Innern der Insel weichen die Strände einer üppigen grünen Pflanzenwelt aus hohen Gräsern und Palmen.

Er hebt die Pistole und schließt beim Zielen ein Auge. Ein satter Knall, und der Vogel fällt vom Baum, als sei er plötzlich aus Stein. Seine Flügel zucken auf dem Sand und funkeln leuchtend blau und gelb. Kurz darauf rührt er sich nicht mehr.

Wunderschön, aber unvorbereitet. Genau wie das Dorf, das seine Späher auf der anderen Seite der Insel entdeckt haben.

Heute Abend wird er seine Köche den Vogel rupfen und zum Abendessen braten lassen.

Und morgen, bei Tagesanbruch, werden sie die Fischer töten und ihre Häuser niederbrennen.

Zwei Gestalten nähern sich über den Sand. Die eine ist ganz in Weiß gekleidet und schreitet groß und elegant daher, ein schweres Breitschwert auf dem Rücken. Major Turnbulls Haare sind offen und flattern wie eine Fahne in der Meeresbrise. Die andere Gestalt stolpert vor sich hin, ihre Hände sind mit einem alten Seilstück gefesselt. Ein schmuddeliger alter Mensch mit schütterem Haar, Zahnlücken und großen verängstigten Augen. Ein Gefangener. Einer der wenigen, die ihnen bei dem Geplänkel mit dem Kundschafterschiff der Fayter in die Hände gefallen sind.

Wertlos.

Wahrscheinlich.

«Guten Tag», sagt der Herzog. «Ich glaube, Sie wissen, wer ich bin. Und Sie … Sie sind aus Port Fayt, nehme ich an?» Er füllt Pulver in den Lauf seiner Pistole.

«Nein, Sir. Bitte um Verzeihung, Sir. Ich bin bloß ein Schmugg–, ein Matrose, Sir. Aus Azurmouth. Der Alten Welt.» Die Augen des Mannes flitzen hin und her, als hofften sie auf eine Möglichkeit zur Flucht. Aber es gibt keine. Nur den glatten goldenen Sand, der sich vor ihnen erstreckt.

«Tatsächlich?» Der Herzog spannt den Hahn. «Aus Azurmouth. Und trotzdem segeln Sie auf einem Schiff mit der Dämonenwache.»

Der Schmuggler leckt sich die trockenen Lippen.

«Ich – wenn ich ehrlich sein soll, wollten wir Ihre Flotte ausspionieren. Die Liga. Newton hat uns geschickt. Hauptmann Newton von der Wache.»

«Ich habe von dem Mann gehört.»

Wieder schaut er über Kimme und Korn. Ein weiterer Vogel ist in den Ästen des Baums gelandet, diesmal sogar noch näher. Es ist fast zu leicht.

«Was ist mit den anderen? Ihren … Matrosenfreunden?»

Der Schmuggler schluckt.

«Wasserleute haben unser Schiff in die Tiefe gezogen, Sir. Sie haben Captain Clagg und den Großteil der Mannschaft mitgenommen. Und die Wächter. Ich weiß nicht, warum. Das müssen Sie mir glauben, Sir.»

Wasserleute.

Interessant.

«Nun dann. Das wäre alles.»

Er wirbelt herum und drückt dem Mann die Pistole auf die Stirn. Der Schmuggler fängt augenblicklich an zu weinen und zu flehen.

Er genießt es.

«Mein Freund», sagt er sanft, «Sie sind wohl kaum einen Schuss Pulver wert.»

Die Augen des Mannes weiten sich, als die Pistole fortgezogen wird. Als der Herzog den Hahn loslässt und zurücktritt. Sie sind voller Schrecken und Dankbarkeit. Hoffnung.

Köstlich.

Selbst als Major Turnbull das Schwert aus der Scheide zieht.

Selbst als es hoch oben im herrlichen Sonnenschein funkelt.

Selbst als es niedersaust.

4. KAPITEL

Die Wasserleute schienen sich in ihrer lautlosen Sprache zu unterhalten, sie gaben sich Zeichen, ihre Hände tanzten. Schließlich schwamm eine schlanke Nixe mit kurzen blonden Haaren, die ihr büschelweise vom Kopf abstanden, ins Flache. Sie trug einen Knochenstab auf dem Rücken und einen weiteren in der Hand.

«Fayter», sagte sie. Ihre Stimme klang angestrengt, als benutze sie sie zum ersten Mal. «Wer von euch ist der König?»

«Sie meint unseren Anführer», erklärte Hal. «Wer von uns ist der Anführer?»

Paddy schlug seinem Bruder auf die Schulter.

«Wir sind heute der König», sagte er. «Also sag uns, warum wir hier sind.»

Die Wassernixe stemmte sich hoch und ließ ihre Stimme erklingen wie ein städtischer Ausrufer.

«Also schön, Trollkönige. Wir haben euch heute vor dem sicheren Tod bewahrt.»

«Immer mit der Ruhe», sagte Frank. «‹Sicher› ist vielleicht ein bisschen dick aufgetragen, mein Fräulein. Ich denke, wir hatten dort draußen eine echte Chance.»

Die Nixe redete weiter, als habe er gar nichts gesagt. «Die weißen Männer sind gekommen. Ihr habt es selbst gesehen. Sie sind über das Meer gefahren und werden euch alle töten. Sie haben viele Schiffe und viele Männer.» Sie wies auf ihre Gefährten. «Wir sind hier, weil wir Wasserleute euch helfen können. Gemeinsam wird unser Volk die weißen Männer besiegen. Wir ziehen ihre Schiffe in die Tiefe. Wir zermalmen sie zu Staub. Wir bringen das Meer selbst gegen sie auf. Wir –»

«Super», platzte Tabitha heraus. Sie rappelte sich auf und stapfte mit vor Wut brennenden Wangen zum Saum des Wassers. «Das ist wirklich toll. Aber warum habt ihr uns durchs halbe Elfenbeinmeer geschleppt, um zu erklären, dass ihr uns helfen wollt?»

Hinter ihr war ein freudloses Lachen zu hören. Es war Clagg, der auf einem Felsbrocken hockte. «Die Sache hat einen Haken, nicht?», sagte er.

Die Wasserleute gerieten in Bewegung. Schultern spannten sich an, und Augen verengten sich.

Die Nixe, die gesprochen hatte, lächelte kühl und ausdruckslos.

«Einen Haken», wiederholte sie.

«Die Haifischbecken», sagte jemand. Tabitha drehte sich um und sah Joseph mit großen Augen da stehen. Er wurde verlegen, als er merkte, dass alle auf ihn schauten, fuhr aber fort. «Ich meine, hat es mit den Haifischbecken zu tun? Wollt ihr, dass wir sie abschaffen?»

Die Haifischbecken. Tabitha war selbst noch nie dort gewesen, aber alle wussten, dass sie überall in Port Fayt existierten. Räuberhöhlen, in denen übles Gesinde zusah, wie bösartige Menschenfresserhaie gegen Wasserleute kämpften. Bis zum Tod. Nur dass es meist kein großer Kampf war. Kein Wunder, dass das Meervolk darüber aufgebracht war.

«Der kleine graue Junge hat recht», sagte die Nixe. «Ihr holt unsere Leute wie Fische aus dem Meer für eure» – sie verzog ihr Gesicht – «Haifischbecken.»

«Die Besitzer der Haifischbecken sind Kriminelle. Das müssen Sie verstehen», sagte Paddy. «Wir versuchen ihnen das Handwerk zu legen, aber –»

«Schweig.» Die Nixe funkelte ihn böse an. «Jeder neue König von Fayt verspricht, die Haifischbecken abzuschaffen. Doch das ist nie geschehen. Und jetzt habt ihr die schönste Perle des Ozeans geraubt.» Sie holte aus und schleuderte den Knochenstab davon, den sie in der Hand gehalten hatte. Er flog im hohen Bogen durch die Luft und bohrte sich surrend in den Strand. Tabitha war wider Willen beeindruckt.

«Das ist der Knochenstab von Pallione.» Die Nixe verschränkte die Arme, als hätte sie damit alles erklärt. Die Fayter machten ratlose Gesichter. Ungeduldig schlug die Nixe mit der Schwanzflosse aufs Wasser, dass es nur so spritzte. «Pallione ist die Tochter des Königs.»

Diesmal setzte unter den Schmugglern Gemurmel ein. Hal und die Zwillinge sahen sich an. Tabitha hatte noch nie von Pallione gehört, vom König der Wasserleute dagegen schon. Von seinem Sitz im Süden herrschte er über sämtliche Wasserleute im Elfenbeinmeer. Es hieß, er sei älter als die See und fast ebenso mächtig.

Und jetzt hatte offensichtlich irgendein Idiot seine Tochter entführt.

«Was wollt ihr von uns?», fragte Frank.

«Dass ihr die Barbarei beendet. Dass die Haifischbecken geschlossen werden. Aber wir kämpfen erst, wenn ihr uns Pallione bringt. Ihr müsst sie finden. Ihre Haare sind so weiß wie die Wolken und ihre Augen so grün wie Seetang. Sie ist wunderschön.»

Die anderen Wasserleute nickten ernst.

Plötzlich ertönte schallendes Gelächter. Tabitha drehte sich neugierig um und sah, wie sich Phineus Clagg vor Lachen krümmte.

«Ihr Fischleute seid wirklich zum Schießen! Wie wollt ihr uns schon helfen, hm? Die Liga hat Kanonen, da braucht es schon mehr als ein paar Schwimmer mit weißen Stöcken –»

Im nächsten Moment hatte die Nixe ihren Knochenstab auf Clagg gerichtet. Die Luft verschwamm und schimmerte, und Clagg wurde von den Füßen gerissen, als habe ihn ein wütender Seraph hochgehoben.

«Warte, ich wollte doch nicht –»

Die Nixe ließ den Knochenstab kreisen, und schon wurde Clagg auf den Kopf gestellt. Seine Flasche mit Feuerwasser fiel klirrend auf den steinigen Strand.

«Also schön, ich hab meine Lektion gelernt! Ist doch kein Grund –»

Der Knochenstab fuhr nach rechts, und Phineus Clagg folgte ihm. Wie ein hässlicher Seevogel sauste er über das Wasser.

«Tut mir leid, tut mir leid, tut mir lei–»

Der Stab schlug hart auf die Wasseroberfläche. Clagg stürzte hinab wie ein Stein und landete klatschend im tiefen Wasser. Wieder stießen die Wasserleute ihr merkwürdig bellendes Robbengeheul aus. Aber diesmal stimmte Tabitha mit ein.

«Also gut», sagte Frank, als der Schmuggler wieder auftauchte und zum Ufer zurückstrampelte. «Ich schätze, ihr habt euren Standpunkt klargemacht. Wir kehren nach Fayt zurück und reden mit dem Gouverneur – dem König, meine ich.»

«Nein», sagte die Nixe. «Ihr bleibt hier auf der Insel, als unsere Gefangenen. Nur einer von euch kehrt zurück. Der Schwächste, Unbedeutendste und Wertloseste. Sie senkte ihren Knochenstab. «Der da. Der kleine graue Junge. Er wird gehen.»

«Ich?», sagte Joseph wie vor den Kopf geschlagen.

Tabitha spürte, wie sich ihr die Brust zusammenschnürte. Natürlich hatte die Nixe recht damit, dass Joseph der Schwächste war. Das war offensichtlich. Aber sie gehörte schon viel länger zur Wache als er und hatte noch nie etwas Spannendes tun dürfen. Und dann tauchte dieser Schänkenjunge auf, wurde von Newton nach kaum einem Tag zum Wächter gemacht, und jetzt durfte er nach Fayt zurück und die Botschaft der Wasserleute überbringen, während der Rest von ihnen auf diesem hundsverlassenen Felsen zurückblieb?

«Nein», sagte sie zu ihrer eigenen Überraschung.

An Land und im Wasser wandten sich alle zu ihr um.

«Ich finde nicht … äh … ich finde nicht, dass Joseph gehen sollte.»

«Verstehe», sagte einer der Wassermänner – ein großer Kerl mit langen, wilden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. «Das zornige Mädchen mit dem blauen Schopf mag den kleinen grauen Jungen.» Er grinste.

«Nein», fauchte Tabitha. «Das ist es nicht. Ich meine doch bloß … Wie soll er denn die Botschaft überbringen, ganz zu schweigen davon, hierher zurückkommen, so schwächlich, wie er ist?»

Sie bereute ihre Worte, sobald sie sie ausgesprochen hatte. Sie warf einen Blick zu Joseph, der halb verwirrt, halb verletzt aussah. Tabitha spürte, wie ihre Wangen brannten.

«Sie ist ganz rot!», rief der Wassermann. «Ich habe recht. Seht ihr? Ihr Gesicht ist rot!»

«Das reicht», sagte Paddy. «Joseph kann nicht allein gehen. Und Tabs auch nicht. Sie sind noch Kinder.»

«Na schön», sagte der große Wassermann und setzte eine ernste Miene auf. «Wenn das so ist, dann lasst sie zusammen gehen. Den kleinen grauen Jungen und den wütenden Blauschopf. Wie Mann und Frau.» Er warf den Kopf zurück und brach in brüllendes Gelächter aus, so heftig, dass Tabitha meinte, er würde sich gleich wehtun. Sie hoffte es förmlich.

«Schön», sagte sie und trat vor. Hauptsache, es brachte diesen Grützkopf zum Schweigen. «Also gehen wir zusammen.»

«Tabs», sagte Paddy, der ein wenig besorgt klang.

«Dann ist es beschlossen», sagte die Nixe mit den abstehenden Haarbüscheln. «Die beiden Kinder oder keiner.»

Paddy packte Tabitha an den Schultern, beugte sich zu ihr hinab und hielt sein großes, grünes Gesicht direkt vor ihres. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Frank es mit Joseph genauso machte. Der Schänkenjunge sah immer noch ein bisschen jammervoll drein. Warum begriff er nicht, dass sie diese Dinge nur sagte, um ihm zu helfen? Außerdem wusste er doch wohl, dass er ein Schwächling war, oder?

Warum fühlte sie sich dann so mies?

«Bist du dir ganz sicher, Tabs?», fragte Paddy.

«Ja, klar.»

Er seufzte. «Dann pass gut auf dich auf. Und nimm meinen Hut. Und meinen Säbel.»

Er drückte ihr beides in die Hände, und sie hätte fast augenblicklich wieder losgelassen. Der Säbel würde ihr unmöglich nützlich sein. Sie konnte kaum das Heft umklammern, geschweige denn mit der Waffe richtig ausholen.

«Ähmm, ich glaube nicht –»

«Nein, du hast recht. Entschuldige.» Er nahm beides wieder an sich und stand betreten da.