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1

 

Lilli war wieder einmal viel zu früh dran. Sie wickelte sich die Hundeleine fester ums Handgelenk und betrat mit Sneaker im Schlepptau das Kaufhaus. Leise Musik und die parfümierte Luft der Kosmetikabteilung empfingen sie. Erneut warf Lilli einen Blick auf die Uhr. Schon komisch, in die Schule schaffte sie es nur mit knapper Not rechtzeitig, aber wenn sie mit den Wilden Küken verabredet war, traf sie fast immer als Erste am Treffpunkt ein. Die Wilden Küken – das waren Lilli, Bob, Very und Enya. Die besten Freundinnen der Welt und eine Bande. Lilli war das Oberküken, aber in einer echten Bande spielte es keine Rolle, wer der Chef war. In einer echten Bande hielten alle zusammen und gingen miteinander durch dick und dünn.

Sneaker zerrte an der Leine und Lilli ließ sich von ihm zur Rolltreppe ziehen. Sie fasste ihren Hund am Halsband und betrachtete, während sie nach oben schwebten, abwechselnd die eleganten Frauen auf den großen Werbeplakaten und dann wieder sich selbst in den vorbeiziehenden Spiegelwänden. Würde Lilli als Erwachsene auch so aussehen? Schickes Kostüm, rot glänzende Lippen und hochgesteckte Haare? Sie drehte den Kopf und starrte ihr Spiegelbild an. Verwaschene Jeansjacke, ungeschminkte grüne Augen und wilde rotbraune Locken. Kurz berührte sie die Hühnerfeder, die an einem Lederband um ihren Hals hing, das Bandenzeichen der Wilden Küken. »Passwort: Topmodels undercover!«, murmelte Lilli. Normalerweise dachte sie sich die Passwörter, Decknamen oder Parolen für die Bandenaktionen aus, oft nervte sie ihre Freundinnen auch damit, aber diesmal verhielt es sich anders. Das Passwort Topmodels undercover war nicht Lillis Idee gewesen, sondern auf Verys Mist gewachsen. Lilli durfte gar nicht an den nächsten Abend denken, so peinlich war ihr die ganze Aktion jetzt schon. Aber gemeinsam durch dick und dünn zu gehen, galt auch für Oberküken. Sie straffte kurz ihr T-Shirt unter der Jeansjacke und kontrollierte möglichst unauffällig ihre Oberweite. Na ja, von Weite konnte da kaum die Rede sein. Die Lilli im Spiegel drückte den Rücken durch und riss plötzlich die Arme in die Luft. Um ein Haar wäre die echte Lilli beim Absprung von der Rolltreppe über Sneakers Leine gestolpert. Rasch sah sie sich um, aber niemand schien ihr kleines Missgeschick bemerkt zu haben. Ohne aufzublicken, wühlten sich Kundinnen durch die Angebote der Damenabteilung. Während eine Verkäuferin Waren nach Größen sortierte, reichte ihre Kollegin verschiedene bunt gemusterte Sommerkleider durch den Vorhang in eine der Umkleidekabinen. Nur die herumstehenden Schaufensterpuppen glotzten Lilli ausdruckslos an. Allesamt zu spitzbusigen Statuen erstarrte Models oder Managerinnen in den Farben der Saison. Lilli wollte entweder Tänzerin werden wie ihre leibliche Mutter Nadja oder Schreinerin. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich ein neues Schild über der Werkstatt ihres Vaters vor. Schreinerei Stefan und Lilli Holler. Und sich selbst in einem leimverschmierten Overall und mit Sägespänen in den Haaren. Auf keinen Fall wollte Lilli Holler Lehrerin werden wie Luisa. Luisa und Lillis Vater hatten vor fast zwei Jahren geheiratet, und inzwischen war Luisa viel mehr Lillis Mutter, als Nadja es jemals gewesen war. Nadja hatte die Familie sehr früh verlassen und war um die halbe Welt gereist – immer von Theater zu Theater. Inzwischen führte sie in Schweden ein Tanzstudio und kam viel zu selten zu Besuch.

Wie ziellos schlenderte Lilli an Kleiderständern vorbei und um Wühltische herum in die Wäscheabteilung. Scheinbar gelangweilt begutachtete sie verschiedene BHs in der kleinsten Größe.

»Kann ich dir helfen?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

Lilli fuhr so erschrocken herum, als wäre sie bei einer Straftat ertappt worden. »Nein, nein, ich …« Sie zuckte desinteressiert mit den Schultern. »Ich seh mich nur um!«

Die Verkäuferin nickte und steuerte auf eine dicke Kundin zu, die ratlos bei den Übergrößen stand.

Lilli schaute zu Sneaker, der seinen Kopf an ihrem Knie rieb. »Du hast recht«, sagte sie, als würde sie auf einen Vorschlag von ihm eingehen. »Ich probier jetzt einfach einen!«

Rasch nahm sie nicht nur einen BH, sondern gleich mehrere von der Kleiderstange. Die Wäschestücke in der einen Hand und Sneakers Leine in der andern, steuerte sie schnurstracks auf die nächste Umkleidekabine zu und verschwand hinter dem Vorhang. Wie ein Wachhund legte Sneaker sich zu ihren Füßen auf den Boden. Lilli hängte die Schlaufe der Hundeleine und ihr Bandenzeichen an den Kleiderhaken und zog hastig Jacke und T-Shirt aus. Wieder stand sie ihrem Spiegelbild gegenüber. Sie nahm den ersten BH vom Bügel, überlegte es sich aber sofort wieder anders. Mit dem Marienkäfer-Muster sah das Ding aus wie ein Bikini für Kindergartenkinder. Also schlüpfte sie in den schwarz gemusterten Bügel-BH, verrenkte sich, um die Ösen am Rücken zu schließen, und zupfte die Träger zurecht. Verzweifelt und wütend zugleich schaute ihr Spiegelbild sie an. Lose lagen die schwarzen Spitzenkörbchen in Falten über den Bügeln. Lilli nestelte sich das Ding vom Leib. Das konnte Very sich abschminken, dass sich die Wilden Küken heute gemeinsam ihren ersten BH kaufen würden. »Wofür denn?«, zischte Lilli ihr Spiegelbild an. »Topmodels undercover, pah!« Erschrocken, dass sie es laut gesagt hatte, vollendete sie ihren Gedanken stumm. Ich komm da auch ohne Busen rein! Lilli schnaufte durch und wollte sich schon wieder anziehen, als ihr Blick auf dem Etikett des dritten Wäschestücks hängen blieb. Maximizer, las Lilli, zögerte kurz und probierte schließlich den hellgrünen BH. Er war ganz leicht gepolstert und mit dunkelgrünen Ranken bestickt. Lilli drehte sich vor dem Spiegel um die eigene Achse und tapste versehentlich auf Sneakers Vorderpfote. Der Hund sprang jaulend auf, Lillis Knie knickten ein, ihre Arme ruderten durch die Luft. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre rücklings über ihren Hund gefallen, wenn ihre Hand nicht im letzten Moment den Vorhang der Umkleidekabine zu fassen bekommen hätte. Lilli konnte sich auf den Beinen halten, aber mit einem Scheppern löste sich die Vorhangstange aus der Halterung. Der Vorhang rauschte zu Boden, Lilli stand halb nackt in der Kabinenöffnung und starrte in das Gesicht eines fremden Jungen.

Mit geschmeidigen Schritten steuerte der Junge auf Lilli zu.

Plötzlich passierte alles gleichzeitig. Lilli hörte Sneaker neben sich bellen, sie sah den Jungen auf sich zueilen, sie fühlte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg, und ganz automatisch schlang sie schützend die Arme um sich. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte Lilli, der Junge würde sie packen wollen. Aber stattdessen ging er knapp vor ihr in die Hocke und griff nach der Vorhangstange.

Er murmelte irgendetwas, das Lilli in der Aufregung nicht verstand, und hängte die Stange geschickt in ihre Halterung zurück, sodass Lilli mit einem Mal wieder hinter dem geschlossenen Vorhang stand, als wäre nichts gewesen.

Lilli kniff die Augen zusammen und zählte die Sekunden. Lass ihn weg sein, dachte sie. Als sie durch den Vorhang lugte, war sie dann aber doch froh, dass er noch da war. Sie streckte den Kopf etwas weiter durch den Spalt. »Danke!«

»Nichts zu danken!«, sagte der Junge im österreichischen Tonfall. Er war nicht viel älter als Lilli, und doch wirkte er schon sehr erwachsen, was vielleicht an seiner Größe lag, vielleicht aber auch an dem dunklen Jackett, das er über einem weißen Hemd trug und in dem er ein wenig wie ein Kellner aussah.

Sneaker robbte ein Stück unterm Vorhang heraus.

»Braver Hund!« Der Junge tätschelte ihm den Kopf.

Hinter ihm winkte ein Mädchen mit einer Einkaufstüte. »Leo, ich hab jetzt alles!«

»Meine Zwillingsschwester«, erklärte Leo.

Lilli hielt den Vorhang unter ihrem Gesicht noch immer fest zusammen. Leos etwas kleinere und weniger schlaksige Schwester tänzelte Richtung Kasse.

»Grün steht dir!«, sagte Leo zu Lilli, als wäre der Vorhang für ihn unsichtbar. Er zog eine Braue hoch, schenkte Lilli zum Abschied einen verschmitzten Blick aus seinen samtbraunen Augen und folgte seiner Schwester.

Verwirrt zog Lilli sich wieder hinter den Vorhang der Umkleidekabine zurück. Zur Sicherheit überprüfte sie noch rasch den Sitz der Vorhangstange, dann entledigte sie sich mit einem verächtlichen Schnauben des grünen BHs und schlüpfte wieder in ihr T-Shirt. Leo, dachte sie. Also Löwe, genau wie mein Sternzeichen. Erst in diesem Moment registrierte sie, wie vorwurfsvoll Sneaker seine Pfote leckte. Sie streichelte ihn, bis sich sein beleidigtes Winseln in ein behagliches Knurren verwandelt hatte. Als sie den Vorhang beiseiteschob und die drei Bügel mit den anprobierten Wäschestücken zurück an die Kleiderstange hängte, standen ihr noch immer Schweißperlen auf der Stirn. Lilli schüttelte ihre Locken aus und versuchte, sich selbst ins Gesicht zu pusten. Zum Glück hatte niemand diesen peinlichen Zwischenfall bemerkt. Abgesehen von … Lilli blickte sich um. Von Leo und seiner Schwester keine Spur. Zum Glück. Erleichtert fuhr Lilli mit Sneaker die Rolltreppe hinunter.

Wieder stand sie vor dem Kaufhaus und schaute auf die Uhr. Im gleichen Moment ertönte eine Fahrradklingel. Enya brauste um die Ecke und bremste mit quietschenden Reifen. Neben ihr sprang Very von ihrem Edelfahrrad. Zuletzt tauchte Bob auf ihrem Flohmarktdrahtesel auf. Ihre kurzen Beine strampelten, während sie freihändig fuhr und wie eine Seiltänzerin balancierend die Arme zur Seite streckte.

»Passwort Topmodels undercover«, keuchte Very und kettete ihr Rad an den Fahrradständer.

»Passwort Topmodels undercover!«, wiederholten Bob und Enya.

»Menno, ihr immer mit euren Passwörtern, das nervt!«, beschwerte sich Lilli in übertrieben nörgeligem Tonfall, und sofort fingen alle vier Wilden Küken zu kichern an, denn normalerweise war Lilli diejenige, die mit Passwörtern um sich warf. Als hätte auch er den Witz verstanden, kläffte Sneaker fröhlich mit, bis sich die vier Freundinnen unterhakten und Lilli ihn schon zum zweiten Mal an diesem Tag mit ins Kaufhaus schleppte.

»Ich kauf mir jedenfalls keinen BH!«, sagte Lilli.

Very bekam ganz schmale Lippen, holte Luft und wollte Lilli wie schon am Vormittag in der Schule davon überzeugen, wie entscheidend die richtige Verkleidung für die nächste Bandenaktion sein würde, aber Bob kam ihr zuvor.

»Ich auch nicht!« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich leih mir einen von Giulia und spar mir das Geld!«

Verys Augen wanderten zu Enya. Die zuckte ebenfalls mit den Schultern und murmelte entschuldigend: »Auch in der Oberstufe gibt’s genug Mädchen, die noch keinen Busen haben. Oder so wenig, dass es …«

»Also echt, Leute!« Verys Nase wurde noch spitzer, als sie ohnehin schon war, und ihre blassblauen Augen wanderten verschwörerisch von Enya über Bob zurück zu Lilli. Und dann zitierte sie im Flüsterton das Bandenmotto der Wilden Küken: »Keine alleine, alle oder keine!«

Unwillkürlich berührten die Küken ihre Hühnerfedern, die alle als Bandenzeichen um den Hals trugen. Lilli überlegte, ob der Kauf von Unterwäsche wirklich als Bandenaktion durchging, da stiefelte Very ihren Freundinnen auch schon voraus in die Abteilung für junge Mode.

Eine Stunde später verließen die Wilden Küken mit vier unterschiedlich prall gefüllten Tüten das Kaufhaus. Very hatte sich von Kopf bis Fuß neu eingekleidet und als das Wilde Küken mit dem meisten Taschengeld zusätzlich noch ein ganzes Arsenal an Schminksachen für die Bande gekauft. Bobs eng anliegender Hosenanzug war ihr wie auf den Leib geschneidert und zum halben Preis ein echtes Schnäppchen gewesen. Enyas bordeauxrotes Cocktailkleid passte ganz wunderbar zu ihren pechschwarzen Haaren, und in Lillis Tüte steckten eine silbern glitzernde Bluse und der grüne BH, obwohl Very behauptete, dass Grün absolut out sei.

Sneaker hopste in den Fahrradanhänger und bellte auffordernd, während Lilli ihre Einkaufstasche im Gepäckkorb am Lenker verstaute.

Very schaute auf die Uhr und runzelte die Stirn. »In einer Viertelstunde muss ich bei Frau Häberle sein.« Sie pustete sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht und lächelte verzweifelt. »Das hab ich Opa zu verdanken!« Obwohl Verys schlechteste Note eine Drei war, bestand ihre Familie darauf, dass sie sich unbedingt verbessern müsste. Deshalb durfte sie neuerdings auch nicht mehr zum Cheerleader-Training und bekam stattdessen professionelle Nachhilfe.

Und weil Bob in die Klarinettenstunde musste und Enya ihrer Mutter versprochen hatte, beim Frühjahrsputz zu helfen, bevor noch ein Sommerputz daraus werden würde, blieb Lilli nichts anderes übrig, als alleine zum Bandenquartier zu fahren, um dort nach den Hühnern der Wilden Küken zu sehen. Die vier Freundinnen verabredeten sich für den nächsten Nachmittag bei Very, stimmten ihre Ausreden aufeinander ab und schwangen sich auf ihre Räder. Bis zum Stadtbrunnen radelten sie noch gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege.

2

 

Lilli gab Handzeichen, bog ab auf die Landstraße und beschleunigte. Sneaker saß im Anhänger hinter ihr und kläffte, als wollte er sie anfeuern. Die Frühlingssonne schien vom Himmel und die Welt roch schon ein bisschen nach Sommer. Wie immer, wenn Lilli sich dem Bandenquartier der Wilden Küken näherte, erfasste sie eine freudige Spannung. Sie verließ die Straße, fuhr auf den Feldweg und passierte das rostige Schild mit der Aufschrift Privatgrundstück. Die Weiherwiese mitsamt dem Weiher gehörte Verys Großvater mütterlicherseits. Peter Hinsgen war der Gründer von Hinsgen-Küchen, der Firma, in der Verys Vater Hartmut Graefe als Geschäftsführer
arbeitete.

Lilli bremste und schaute fast andächtig zum Weiher hinunter, dessen Wasser wie ein auf die Erde getropftes Stück Himmel zwischen den Binsen schimmerte. Die Mystery lag fest am Steg vertäut zwischen den weißen Wolkentupfen, die sich auf der Oberfläche des Weihers spiegelten. So oft schon war Lilli an Bord gewesen und hatte zusammen mit ihren Freundinnen die Kükenkajüte ausgemistet oder mit ihnen unter Deck geheime Bandenpläne geschmiedet – und doch war sie immer wieder erstaunt darüber, dass es die Mystery wirklich gab. Es war schon eine halbe Ewigkeit her, dass Lilli, Very und Bob das kleine Schiff von ihrem selbst verdienten Geld bei einem Schrotthändler unten am Fluss gekauft hatten. Dank der Hilfe ihrer Eltern war es ihnen damals gelungen, den maroden Kahn heil hierherzutransportieren und wieder auf Vordermann zu bringen. Im darauffolgenden Winter hatten die drei Enya kennengelernt und sie als viertes Mitglied in die Bande aufgenommen.

Besonders stolz war Lilli auf die Galionsfigur der Mystery. Das Huhn mit seinen ausgebreiteten Flügeln hatte sie ganz allein ausgesägt und geschnitzt, aber gemeinsam mit Bob und Very bemalt. Ein leiser Wind strich über Lilli hinweg und kräuselte das Wasser des Weihers. Das Galionshuhn, das sich darauf spiegelte, schien mit den Flügeln zu flattern, und gleichzeitig fingen die echten Hühner in der Kükenkajüte so laut zu gackern an, dass Lilli es hörte, obwohl sie noch ein ganzes Stück entfernt war. Sie ließ Sneaker aus dem Fahrradanhänger, sofort jagte er durchs hohe Gras der Weiherwiese. Mücken stoben auf, schwebende Löwenzahnsamen markierten seine Spur, er schnappte vergeblich nach einem Schmetterling und wetzte um den leeren Freilauf und die alte Weide herum. Unten am Ufer tapste er ein Stück durchs flache Wasser, sprang schließlich auf den Steg und kletterte die Leiter hinauf an Deck der Mystery. Dort wedelte er mit dem Schwanz und bellte Lilli auffordernd an. Er war jetzt viel lebendiger als vorhin im Kaufhaus. Das hier war seine Welt. Und genauso die von Lilli! Sie holte Schwung, trat kräftig in die Pedale und sauste ebenfalls die Wiese hinunter. Das hohe Gras peitschte gegen ihre Waden, die Fahrradkette schepperte im Kettenschutz und der leere Anhänger hüpfte über Maulwurfshügel.

Unten angekommen, lehnte Lilli das Rad gegen den vordersten Stegpfosten und kletterte an Bord des Schiffes, wo Sneaker gerade einen Satz auf die Deckelkiste machte und von da aus aufs Kajütendach sprang. Dort streckte er sich genüsslich aus und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Unter ihm zog Lilli den Riegel auf und öffnete die Tür der Kükenkajüte.

»Na, hast du mich vermisst, Flocke?« Lilli betrat die zum Hühnerstall umgebaute Kajüte und strich ihrem Huhn, das wie meistens auf dem Fensterbrett hockte, übers schneeweiße Gefieder. Verys Huhn Birdie saß auf seinem Nest und ruckte verächtlich mit dem Kopf. Enyas schwarze Ines pickte an den losen Fäden von Lillis zerschlissenen Leinenturnschuhen, während Bobs Huhn Bussi so wild hin und her flatterte, dass winzige Flaumfedern durch die Luft wirbelten.

Lilli brachte ein Huhn nach dem anderen hinunter auf die Weiherwiese und setzte es in den umzäunten Hühnergarten. Dann pflückte sie im vor ein paar Wochen neu angelegten Kräuterbeet der Wilden Küken ein Sträußchen aus Petersilie, Dill, Rucola und Schnittlauch. Gierig rupften ihr die Hühner das duftende Grünzeug aus der Hand. Lilli legte sorgfältig die Maschendrahtgitter, die den Hühnergarten vor Raubvögeln schützten, über den Freilauf und kehrte zurück an Bord ihres schwimmenden Bandenquartiers. Sie holte eine Flasche Wasser, Körnerfutter und eine leere Eierschachtel aus der Deckelkiste, füllte die Futternäpfe in der Kükenkajüte, erneuerte das Wasser in den Trinkflaschen und sammelte die gelegten Eier ein.

Über ihr auf dem Dach hob Sneaker den Kopf, spitzte die Ohren und knurrte. Lilli stellte die Eierschachtel beiseite und lauschte ebenfalls. Nun hörte auch sie ein fernes Rufen aus dem Keltenwald. Sie stieg zu Sneaker aufs Kajütendach und beschattete ihre Augen mit der flachen Hand. Der Keltenwald erstreckte sich von der Weiherwiese bis hinauf nach Gut Feldberg. Das Gut war ein Biobauernhof, auf dem Menschen mit Behinderung zusammen mit ihren Betreuern lebten und arbeiteten. Oles und Littles Mutter war auf Gut Feldberg als Sozialtherapeutin angestellt und wohnte dort mit ihren Söhnen. Ole und Little. Little hieß eigentlich Linus und war eine richtige Intelligenzbestie. Egal ob wichtig oder unwichtig, Little speicherte jede Information sofort für immer und ewig in seinem Computerhirn. Ole und Little waren zweieiige Zwillinge, sodass man sie gut unterscheiden konnte. Das Blau von Oles Augen war viel blauer und manchmal träumte Lilli davon. Aber
jetzt träumte sie nicht von Ole, sondern musste unwillkürlich an diesen Leo und seine Schwester denken. Ärgerlich wischte Lilli den Gedanken beiseite und spähte zum Waldsaum. Nichts
regte sich. Lilli horchte angestrengt. Die Stimme im Wald war eine fremde Männerstimme, die aber vom Tuckern eines Traktors übertönt wurde. Lilli entspannte sich wieder. Nirgends eine Spur von den Grottenolmen. Soweit Lilli wusste, hatte Ole an diesem Tag Basketballtraining. Und ohne ihren Boss würden die Grottenolme nie und nimmer einen Angriff auf die Wilden Küken starten. Allmählich entfernte sich das Motorengeräusch. Still und friedlich schwankten die Wipfel des Keltenwalds im lauen Frühlingswind. Die Grottenolme – das waren Ole, Little, Mitch und Erik. Diese vier Jungs waren genau wie Lilli, Bob, Very und Enya eine Bande. Ihr Bandenquartier, die Grottenolmgrotte, lag mitten im Keltenwald und bestand aus einer Höhle in einer Felswand, vor der die Olme eine kleine Hütte errichtet hatten. Dort hatten die Jungs schon so manchen Feldzug gegen die Mädchenbande ausgeheckt, aber die Grottenolmgrotte hatte auch schon einige raffinierte Überfälle seitens der Wilden Küken überstehen müssen.

Lilli warf einen letzten sichernden Blick Richtung Keltenwald und sprang vom Kajütendach. Wenig später holte sie die Hühner zurück an Bord und hockte sich auf einem umgedrehten Eimer zu ihnen in die Kükenkajüte. Flocke flatterte ihr auf den Schoß, versteckte ihren Kopf unter einem Flügel und gackerte leise. Mit einer Hand streichelte Lilli Flocke, mit der andern Bussi, Birdie und Ines, die gelangweilt mal nach links und mal nach rechts äugten und dabei immer wieder unter Lillis freier Streichelhand hindurchstaksten.

Eine halbe Stunde später schloss Lilli die Tür der Kükenkajüte
wieder und machte sich zusammen mit Sneaker auf den Heim-
weg.

Sie umrundete den Stadtbrunnen, überquerte die Nepomukbrücke, fuhr links in den Eichenweg und bog von dort aus in den Fußweg, der erst am sehr gepflegten Garten ihrer Nachbarn und dann an ihrem eigenen vorbeiführte.

Lilli stieg ab und schob ihr Rad samt Sneaker im Anhänger. Auf dem kurzen Stück Fußweg war Radfahren verboten, aber daran hielt Lilli sich nur, wenn Herr oder Frau Röhrich in Sichtweite waren. Und das waren sie. Zumindest Herr Röhrich. Mit einer großen Astschere in der Hand stand der Rentner gleich hinter seinem Zaun inmitten von Ästen, Blattgrün und einer Unzahl blauer Blüten.

Lilli überlegte gerade, ob sie ihn grüßen sollte, auch wenn er keine Notiz von ihr nahm, da stieß Frau Röhrich die Balkontür auf. »Hans-Dieter, was bist du nur für ein Unmensch!«

Sneaker bellte, Lilli grüßte, und anstatt auf seine Frau zu reagieren, zeigte Herr Röhrich mit der Astschere auf Lillis Hund. »Das Vieh hat schon wieder auf unser Grundstück gesch…« Er verschluckte das »issen« und kriegte gerade noch die Kurve. »… geschmutzt!« Empört wiederholte er es gleich noch einmal. »Auf unser Grundstück geschmutzt!«

Sneaker stellte die Ohren auf, und Lilli murmelte eine Entschuldigung, aber da stapfte Frau Röhrich auch schon aus dem Haus und steuerte so wutschnaubend auf ihren Mann zu, dass der sowohl Lilli als auch ihren schmutzenden Hund sofort vergaß.

»Die Hortensien …« Frau Röhrich deutete auf das Blütenmeer am Boden. »Das waren meine Lieblinge!«

Ihr Mann zog sich den karierten Hut, den er neuerdings immer auf dem kahlen Kopf trug, tiefer ins Gesicht. »Ingrid, beruhige dich, ich pflanze hier einen Johannisbeerstrauch!«

Früher hatte Lillis Nachbar immer ein Toupet getragen, das ihm aber so oft runtergefallen war, dass er es schließlich aufgegeben hatte, seine Glatze damit zu verstecken.

Frau Röhrich schnaubte. »Jetzt sieh dir diesen Garten an!« Sie wies um sich. »Dein Gemüsebeet, deine Beerenfrüchte, deine Obstbäume …! Das alles ist dein beschissener Garten!«

Für dieses »issen« war Sneaker jedenfalls nicht verantwortlich. Lilli schob ihr Rad langsam und leise davon.

»Die Magnolien hast du ausgerottet, den Sommerflieder, die Gladiolen, das Tränende Herz, sogar die Gänseblümchen und die …!« Lilli hörte nicht mehr alle Pflanzen, die ihre Nachbarin aufzählte, aber das Schlagen einer Tür im Nachbarhaus hörte sie noch.

Lilli schwang sich wieder in den Sattel, fuhr um die Ecke und durch das elektrische Schiebetor an der Werkstatt vorbei bis unters Vordach vom Holzlagerplatz.

Die Tür unter dem Schild mit der Aufschrift Schreinerei Stefan Holler stand offen. Im Innern der Werkstatt kreischte die Kreissäge. Staub wirbelte ins Freie.

Lilli ließ Sneaker aus dem Anhänger, schnappte sich verstohlen die Tüte mit ihren Einkäufen und lief ins Haus. Aus der Küche hörte sie das Quengeln ihrer Babyschwester Marie, Luisas Stimme, die beruhigend auf die Kleine einredete, und das Klappern von Geschirr.

Ohne sich bemerkbar zu machen, huschte Lilli an der angelehnten Küchentür vorbei und schlich sich in den Keller. Sie löste die Etiketten von Silberbluse und BH und steckte beides in die Waschmaschine. Rasch stopfte sie zur Tarnung noch weitere Wäschestücke dazu, kippte etwas Waschmittel ins Fach,
schloss die Tür der Maschine mit dem Knie und drehte den Schalter auf Feinwäsche.

»Lilli?«, ertönte von oben Luisas Stimme, während Sneaker fröhlich bellte.

Mit Marie auf dem Arm erschien Luisa auf der Kellertreppe. »Was machst du denn da?«

»Lilililili …!«, lallte Marie und wedelte lustig mit ihrem Händchen durch die Luft, als wollte sie nach Lillis Locken greifen.

Lilli lächelte ein wenig blöd und stellte möglichst unauffällig den leeren Wäschekorb auf die verräterisch am Boden liegende Kaufhaustüte.

»Wäsche waschen!«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

»Freiwillig?« Luisa übergab Lilli Marie. Sie nahm dem Baby das mit Früchtebrei bekleckerte Lätzchen ab und wollte es eben
in den Wäschekorb werfen, da entdeckte sie die Kaufhaustüte darunter.

Sie hob die Tüte auf und musterte Lilli mit einem feinsinnigen Lächeln. »Was hast du dir denn Schönes gekauft?«

»Nur eine Bluse«, schwindelte Lilli möglichst beiläufig, während Marie sie mit beiden Händchen an den Locken ziepte.

»Aha! Eine Bluse?«, wiederholte Luisa mit neugierigem Gesichtsausdruck. Aber bevor sie Lilli weiter ausfragen konnte, erschien Lillis Vater Stefan auf der Kellertreppe. »Was macht ihr denn alle hier unten?«

»Wir drei führen Frauengespräche!« Luisa lachte und fügte hinzu: »Und Lilli will mehr Taschengeld!«

»Das hab ich gar nicht gesagt!«, beschwerte sich Lilli.

Stefan nahm zwei Flaschen Mineralwasser aus dem Getränkekasten und verabschiedete sich wieder in die Werkstatt. Luisa wollte noch Brot, Salat und Käse fürs Abendessen besorgen und bat Lilli, auf Marie aufzupassen.

Lilli breitete im Garten die große Picknickdecke aus, setzte ihre kleine Schwester darauf, spannte den Sonnenschirm auf und holte die Kiste mit den Babyspielsachen aus dem Wohnzimmer. Egal, ob sie mit Marie spielte, Sneakers Napf mit Hundefutter füllte oder den Tisch fürs Abendessen deckte, die ganze Zeit horchte Lilli auf das Betriebsgeräusch der Waschmaschine. Aber ausgerechnet als alle beim Abendessen um den Küchentisch saßen, drang aus dem Keller das leise Wummern des Schleudergangs, auf das Lilli gewartet hatte. Wie auf Kohlen saß sie auf ihrem Platz, stopfte Salat in sich rein und sah ihrem Vater dabei zu, wie er Marie mit Babybrei fütterte und bei jedem Löffel, den er der Kleinen verabreichte, selbst den Mund weit aufmachte, um dann synchron mit Marie zu schmatzen. Gerade als Luisa und Lilli das Geschirr abräumten, ertönte das Piepsen der Waschmaschine. Luisa wischte sich mit einem Küchentuch die Hände ab und wollte schon los, aber Lilli war schneller.

»Ich mach das schon!« Sie drückte Luisa einen Tellerstapel in die Hand und verschwand Richtung Keller.

»Seit wann haben wir denn eine so hilfsbereite Tochter?«, fragte ihr Vater.

Lilli öffnete die Kellertür und hörte gerade noch Luisas Antwort: »Lilli wird eben allmählich erwachsen!«, und dann hörte sie Luisa rufen: »Nur die Babysachen in den Trockner, den Rest hängen wir an die Leine!«

Lilli sprang die letzten Stufen hinunter, schaltete die Wasch-
maschine aus und zerrte die Wäsche aus der Trommel in einen leeren Korb. Dann stopfte sie Maries Strampelanzüge in den Wäschetrockner und stutzte. Hatte es gerade an der Haustür geklingelt?

Egal. Unbeirrt sortierte Lilli weiter die Wäsche. Sie nahm ihre feuchte Bluse hoch und studierte das Wäschezeichen. Die durfte nicht in den Trockner. Und der BH? Lilli wollte ihn weder draußen an die Leine hängen noch in den Trockner stecken, den am Ende dann doch Luisa oder Stefan ausleeren würden. Am besten würde sie ihn einfach oben in ihrem Zimmer hinter dem Vorhang an den Fensterknauf hängen. Da könnte er bei gekipptem Fenster genauso gut trocknen wie an der Leine und niemand würde ihn entdecken.

»Lilli!«

Erschrocken fuhr Lilli zusammen. Im gleichen Moment, in dem ihr Vater den Waschkeller betrat, stopfte sie sich ihren nassen BH unters T-Shirt, schlug die Tür des Wäschetrockners zu und drückte auf Start.

»Da ist Besuch für dich!«

»Besuch für mich?«, wiederholte Lilli sinnloserweise.

Stefan bückte sich nach dem Wäschekorb. »Lauf schon los, ich mach das!«

Eine Hand aufs T-Shirt gedrückt, rannte Lilli die Stufen hinauf. Eigentlich wollte sie noch schnell hoch in ihr Zimmer, aber Luisa fing sie im Flur ab und drehte sie an den Schultern Richtung Küche. »Ole sitzt auf der Terrasse!«

Ole? Was wollte denn der Boss der Grottenolme jetzt von ihr? Lilli durchquerte Küche und Wohnzimmer und trat durch die Terrassentür ins Freie.

Ole saß zusammen mit Marie auf der inzwischen auf der Terrasse ausgebreiteten Picknickdecke. Das heißt, die beiden saßen nicht, sondern krabbelten auf allen vieren. Immer kurz bevor es zu einer Karambolage der beiden Vierfüßler kam, ließ Ole sich zur Seite plumpsen und gab dabei ein rollendes »Rrrrrrrrrums!« von sich. Marie quiekte bei jedem Rrrrrrrrrums vor Vergnügen.

Unwillkürlich musste auch Lilli über Oles Spiel lachen. Er und Marie sahen sich zwar nur, wenn die Grottenolme und die Wilden Küken ausnahmsweise mal etwas zusammen unternahmen und Lilli auf ihre Schwester aufpassen musste, aber Ole war immer sofort wie ein großer Bruder für Marie. Anders als Mitch oder Erik, genierte er sich auch nicht, den Kinderwagen zu schieben. Wahrscheinlich hatte er das Brudersein einfach lange genug mit Little geübt. Auch wenn die beiden ja gleich alt waren und obwohl Little Ole um einen Fingerbreit überragte, war es immer Ole, der seinen Bruder in Schutz nahm und verteidigte. Deshalb wagte es auch schon lange keiner mehr, Little laut einen Streber zu nennen, obwohl er in allen Lernfächern Klassenbester war. Ole hatte in Sport eine Eins, aber sonst ließen seine Noten eher zu wünschen übrig.

»Rrrrrrrrrums!«, machte Ole schon wieder, und Marie kicherte, bis aus dem Kichern ein Schluckauf wurde. Ole zog sie zu sich auf den Schoß, streichelte Marie sanft über den Bauch und schaute zu Lilli.

Lilli wich seinem dunkelblauen Blick aus und sah sich um. Normalerweise tauchte der Boss der Grottenolme nicht einfach so bei ihr auf und schon gar nicht ohne den Rest seiner Bande. Aber weder hinter den Birken noch in der Einfahrt konnte Lilli Little, Mitch oder Erik entdecken.

Ole räusperte sich. »Hi, übrigens!«

»Hi!«, antwortete Lilli und fügte etwas barscher als beabsichtigt hinzu: »Was willst du?«

Ole suchte nach Worten und holte Luft. Aber gerade als er zu reden anfangen wollte, kam Luisa mit der nassen Wäsche aus dem Haus und begrüßte Ole auf Englisch. Bis Luisa wegen Marie Elternzeit genommen hatte, war sie die Englischlehrerin von Lillis und Oles Klasse gewesen.

Ole verzog das Gesicht und antwortete im gleichen Leierton wie in der Schule: »Good morning, Mrs Holler!«

»Eigentlich good evening!«, korrigierte ihn Luisa.

Lilli verdrehte die Augen, und Ole lächelte so Ole-mäßig zurück, dass Lilli fast laut losgeprustet hätte.

Jetzt kam auch noch Lillis Vater aus dem Haus. Er schleppte den Wäschekorb für Luisa zur Leine und fing zusammen mit ihr an, die nassen Sachen aufzuhängen.

Abwartend blickte Lilli Ole an.

»Also, weil ich dich was fragen wollte … So von Olmboss zu Oberküken.«

Lilli wartete.

»Also, was würdest du tun, wenn … Wenn, sagen wir, wenn zum Beispiel die Mystery sinken würde, also für immer auf den Grund des Weihers. Ein Wrack?«

»Spinnst du!« Lillis Stimme überschlug sich fast. »Du und deine Bande, also, wenn ihr irgendetwas gegen die Mystery im Schilde führt, dann …!« Lilli fiel nicht sofort eine passende Drohung ein, so schlimm war der Gedanke, die Grottenolme könnten das Bandenquartier der Wilden Küken versenken. »Dann machen wir eure Grottenolmgrotte dem Erdboden gleich!« Lilli sprach leise, aber ihre Stimme bebte.

»Vergiss es!« Ole machte eine ärgerliche Handbewegung.

Kurz sagte niemand was, nur Marie hickste.

Lilli sah Ole von der Seite an. »Was ist denn los mit dir?«

Ole biss sich auf die Lippen.

Unten an der Wäscheleine schüttelte Luisa gerade Lillis Bluse aus. Mit Blick zu Lilli hielt sie sich das Kleidungsstück vor den Leib und reckte dann anerkennend den Daumen hoch.

Lilli lächelte Luisa kurz zu und wandte sich dann wieder an Ole. »Probleme zu Hause?«

»Nee, alles bestens! Also, dann pack ich’s mal wieder.« Ole hob Marie hoch und setzte sie auf Lillis Schoß. »Lust auf Kino morgen Abend? Romantic Comedy? Soll ganz witzig sein.«

Lilli hatte Mühe, sich die Überraschung über seine Einladung nicht anmerken zu lassen. »Morgen geht nicht«, sagte sie möglichst beiläufig und kramte die gleiche Ausrede hervor, die sie auch schon bei ihren Eltern gebraucht hatte. »Bob, Very, Enya und ich machen morgen Lerngruppe und übernachten dann bei Very!«

Marie zupfte quengelnd an Lillis T-Shirt herum und versuchte vergeblich, sich den Saum in den Mund zu stecken.

»Okay, dann ein andermal!« Ole lächelte erst ziemlich cool, dann aber runzelte er die Stirn. »Du bist da ganz nass und da hängt was raus!« Noch während er es sagte, erwischte Marie das grüne Band, das unter Lillis T-Shirt hervorlugte. Das Baby-
händchen riss daran, im nächsten Augenblick schnellte der grüne BH durch die Luft und – landete auf Ole.

»Rrrrrrrrrums«, machte Marie und quiekte.

»Äääh!« Ole riss sich das grüne Teil von der Schulter und hielt es so erschrocken von sich, als hätte er eine hochgiftige Mamba in den Händen.