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www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2014 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung

GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: Lisa Nicola, Meerbusch

Karten: Eckehard Radehose, Schliersee

eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7766-8193-2

Inhalt

Vom Danken und Staunen

Kindheit und Jugend (1940–1959)

Vom Loslassen und Verlieben

Ordensschwester und Ärztin sein (1959–1980)

Physikum und endlose Flitterwochen (1959–1963)

Aus Ursula wird Raphaela (1963–1969)

Endlich Afrika! (1969)

Ewige Profess (1970)

Angesteckt – ein Traum ist in Gefahr (1971–1978)

Fachärztin werden – trotz aller Hindernisse (1978–1980)

Tansania (1980–1994)

Gesundheit für alle

St. Walburg’s wächst

Unterm Sternenhimmel

Eine schlimme Diagnose: Unheilbar

Hoffnung und eine neue Freundin

Neue Ärzte in Nyangao

Auf Reisen mit Lisa Nicola

Aids – Der Anfang der Pandemie

Lebensmüde

Sabbatjahr und innere Stärkung

Namibia (1996–2005)

Ein anderes Afrika entdecken

Stellung gegen Abtreibung beziehen

Verbündete finden und von Sambia lernen

Dr. Lucy Steinitz und die ABCD-Methode

Auf Betteltour

Workshops für Ordensleute

Catholic Aids Action wird groß

Die Devise heißt: Fit bleiben

Internationaler Druck

Kürzertreten wollen

Reisen und Abschied nehmen

Tansania (2005–2013)

Eine neue Aufgabe: Priorin

Ein Herz für Kinder

Spirituelle Erneuerung und eine Prozession

Ins deutsche Fernsehen

UZIMA – Gemeinsam gegen HIV/Aids

Mama Priori und die jungen Schwestern

Bildung für viele

Am Sterbebett

Das Prioratskapitel tagt

Wer ist George Clooney?

Eine verrückte Idee

Auf Regen warten

Der Papst und »Ein Herz für mich«

Frohe Weihnachten – Heri ya Noeli

Wiedersehen mit Subira Alto

Ausgelassen ins neue Jahr tanzen

Eine neue Priorin

Goodbye am Ozean

Nachwort

Hilfreiche Informationen

Karten

Namibia

Tansania

Vom Danken und Staunen

Als ich die Tür öffne, weht das Moskitonetz über meinem Bett im sanften Luftzug, der durchs Fenster strömt. Es ist ein heißer Tag, wie alle Tage im Süden Tansanias. Ich atme tief ein. Afrika! Der Geruch dieses Kontinents, die Geräusche, die Landschaften und das Licht sind mir vertrauter geworden als manche Erinnerung an meine westfälische Heimat. Ich liebe den afrikanischen Himmel und den warmen Indischen Ozean an der Ostküste, wie auch den eisigen Atlantik an Namibias Westküste, wo ich viele Jahre gelebt habe.

Ich schaue aus dem Fenster und genieße die Aussicht, die über Jahre hinweg allmorgendlich das Erste war, was ich sah. Neben den Mangobäumen steht Theklas Hütte. Dort hat die erste benediktinische Ärztin, Schwester Dr. Thekla Stinnesbeck, ab 1927 ihre Patienten empfangen, vor allem Inder, die damals noch in großer Anzahl hier lebten und Vertrauen in die deutsche Ärztin setzten. Von weither kamen die Patienten den beschwerlichen Weg nach Ndanda angereist. Sr. Thekla war eine Visionärin und Pionierin und in vieler Hinsicht ein Vorbild für mich. Wenn Zweifel, Kummer und Einsamkeit mich heimsuchten, habe ich an sie und an andere starke und weise Ordensfrauen gedacht und mir gesagt: Wenn diese Frauen es geschafft haben, dann schaffe ich es auch. Es war nicht immer einfach, aber schließlich habe auch ich – in meinem Hospital in Afrika – unzählige Patienten behandeln und Leben retten dürfen. In der Nähe von Theklas Hütte, einem offenen Pavillon, wiegt sich mein geliebter Bambus im Wind. Das sanfte Schwingen des mächtigen Gewächses, begleitet von changierenden Grüntönen, wird mir fehlen, genauso wie der blühende Jacarandabaum im Hof. Im Garten reihen sich Beete mit farbenfrohen Blumen aneinander, aus denen die Schwestern blühende Sträuße für die Kapelle und unseren Speiseraum – das Refektorium – binden. Zum Namenstag findet jede Schwester ein Sträußchen an ihrem Platz. Ich schaue hinauf auf das Makonde-Plateau. Etwas entfernt schlängelt sich ein roter Lehmweg durch die satte Landschaft des Südens. Wenn es ausreichend regnet, haben die Menschen genug zum Essen, so wie in diesem Jahr.

Viele Straßenkilometer in dieser Region sind noch nicht asphaltiert und machen das Reisen beschwerlich. Am Ndanda-Bach haben Mönche vor Jahrzehnten ein kleines Wasserkraftwerk gebaut, das ausreichend Strom für unser Krankenhaus und einige Klostergebäude liefert. Weiter oben, in den Bergen, gibt es eine Quelle mit einem See, wo das sauberste Wasser des südlichen Afrikas sprudelt. Dorthin fahre ich gern, um zu schwimmen, oder an den Indischen Ozean bei Mtwara, wo ich meine wenigen Ferientage am liebsten verbringe. Im kristallklaren Wasser zeigen sich dort bei Ebbe wunderbare Korallenriffe, bunte Pflanzen und Fische und laden zum Schnorcheln ein. Dabei habe ich mir schon manchen Sonnenbrand eingefangen.

In den kleinen Dörfern, die zu Ndanda zählen, wird Landwirtschaft betrieben. Etwa 25 000 Menschen leben hier durch den Anbau von Mais, Reis, Casava und den wenigen Fruchtsorten, die auf diesen Böden gedeihen. Die Hitze Afrikas hat mir oft schwer zugesetzt, und auch nach über vier Jahrzehnten auf diesem Kontinent fehlen mir manchmal die vier Jahreszeiten, wie wir sie aus Europa kennen.

In einem Interview für eine Filmproduktion habe ich kürzlich gesagt: »Ich lebe hier, weil es hier Aufgaben für mich gibt, die ich tagtäglich vor Augen habe. Und nach dem Willen Gottes ist es gut, dort zu sein, wo Hilfe gebraucht wird. Und das ist für mich seit vielen Jahren Afrika.« Das klingt wenig romantisch, aber meine Zuneigung zu Afrika und seinen Menschen ist vielfältig, und es braucht mehr als nur einige Worte, um dies zu beschreiben.

Andere Aufgaben an anderen Orten warten nun auf mich, aber ich habe die Hoffnung, dass mein Wirken hier nach dem Willen Gottes noch lange Früchte tragen wird. Manchmal werde ich gefragt, ob ich ein Rezept für den Erfolg meiner Projekte habe. Dann gebe ich gern eine typische Raphaela-Antwort: »Eine Vision haben, etwas wagen, Hilfe suchen und die Idee umsetzen! So einfach ist das!«

Natürlich kenne ich die Schwierigkeiten, vor denen manch eine Helferin oder ein Helfer zurückschrecken mag. Und mein Rezept ist sicher nicht frei von Nebenwirkungen. Auch mich hat die Arbeit mit meinen Schützlingen jeden Tag neu herausgefordert, und ich muss mir heute immer wieder dieselbe Frage stellen: Was ist der Wille Gottes? Im Lauschen auf mein Herz und auf die Menschen um mich versuche ich es herauszufinden.

Der Heilige Benedikt beginnt seine Regel mit dem Wort: »Höre!« So steht es auch im Mutterhaus von uns Missions-Benediktinerinnen in Tutzing an einem der bunten Kirchenfenster geschrieben: Höre. Es bedeutet das Horchen auf Gottes Wille mitsamt der vollen Bereitschaft des Ge-horchens. Dieses Hören ist grundlegend für meine Spiritualität.

Noch einmal schaue ich mich in meinem Zimmer um, schiebe das Moskitonetz zur Seite und stelle meine Tasche aufs Bett. Ordensfrauen leben in Bescheidenheit und reisen zumeist mit leichtem Gepäck, zumindest wenn es sich um die persönlichen Dinge und weniger um die bei den Adressaten beliebten Kurierdienste handelt. Aus Richtung Deutschland kommend, war mein Gepäck immer schwer von Medikamenten, Schokolade, Käse, Seife, Teelichtern für unsere Kapelle und anderen Besonderheiten, die es in Tansania nicht gibt. Doch nun bleibt mir nicht viel zum Packen. Mein persönliches Hab und Gut ist überschaubar und auch die Kleiderfrage stellt sich nur begrenzt. Mir genügen zwei schlichte graue Kleider für den täglichen Gebrauch und ein weißes für die Gottesdienste in Afrika sowie ein schwarzes Kleid für Deutschland. Heute gebe ich mein Zimmer auf, das ich weitgehend so verlasse, wie ich es vor acht Jahren vorgefunden habe. Im Kloster Tutzing werde ich dort schlafen, wohin man mich führt. Es gibt keine Wohnung, nicht mal einen Schrank von mir, sondern nur einen Koffer, der im Klosterkeller in Tutzing abgestellt ist. Ich bin weitgehend ohne Besitz, übrigens auch eine Regel Benedikts: Der Mönch darf kein Privateigentum besitzen. Außer einigen Erinnerungsstücken und Souvenirs für Familie und Freunde in Deutschland habe ich nur meinen Laptop, ein paar CDs und Bücher. Beim Ablegen meiner Gelübde vor 50 Jahren habe ich mich für ein Leben in Armut entschieden. Gleichzeitig sind Millionenbeträge durch meine Hände geflossen, so viel, dass ich aus dem Stegreif nicht sagen könnte, um welche Summen es sich im Einzelnen handelte und in welche Medizin- und Bildungsmaßnahmen für die Armen sie geflossen sind. Ich besitze zwei Paar Schuhe, eines davon steht in unserem Mutterhaus, weil ich es in Afrika nicht benötige, warme Winterschuhe, die ich mir 1994 in England kaufen musste. Aber Sandalen sind mir sowieso viel lieber.

Ich habe mich nie als arm empfunden, aber Armut war in meiner Umgebung stets präsent. Bittere Armut, Hunger, Krankheiten, Epidemien, gar Pandemien und allergrößte Not.

Während ich die letzten Gegenstände vom Nachttisch nehme, höre ich Geräusche von Stühle- und Tischerücken und Lachen aus dem Versammlungssaal, wo die Abschiedsfeier für mich und die Willkommensfeier für die neue Priorin, Sr. Terese, vorbereitet wird.

Seit Jahrzehnten lebe ich in Afrika und kann heute nur staunen, was aus meinen Träumen geworden ist. Schon als junges Mädchen wollte ich Ärztin für Afrika werden und den Notleidenden helfen. Damals war Albert Schweitzer mein großes Vorbild. Alle Berichte über sein Hospital und das Lepradorf im heutigen Gabun habe ich begierig aufgesogen. Was der charismatische Mann mit dem üppigen Schnurrbart nicht alles für die Kranken in Lambaréné, in Westafrika, getan hatte! Ich war Teenager, als er den Friedensnobelpreis bekam und sein Bild in allen Zeitungen war. Albert Schweitzer wollte ich nacheifern und Missionsärztin werden! Aber wie? Wenig ermutigend nannte meine Mutter zwei triftige Gründe, warum ich keinesfalls geeignet wäre, Ärztin zu werden: »Ursula, erstens kannst du noch nicht einmal ein Huhn ausnehmen, und zweitens bist du viel zu schüchtern. Du kannst nicht mit den Leuten reden.«

Ich erinnere mich noch gut an ihre Worte aus den späten Fünfzigerjahren, also müssen sie mich – damals hieß ich noch Ursula Händler – nachhaltig beeindruckt haben. Heute kann ich frei von jedem Bedauern sagen: Meine Mutter hatte vollkommen recht! Zum Teil, denn ein Huhn habe ich bis heute nicht ausgenommen, Ärztin für Afrika bin ich aber trotzdem geworden. Und mein einst zurückhaltendes Wesen wandelte sich Schritt für Schritt. Bis zum Ende meines Noviziats und der Ablegung meiner Ordensgelübde traute ich mir bereits einiges zu. An der Seite von Jesus Christus habe ich die notwendige Sicherheit gefunden. Im Kloster war ich meiner Berufung nachgegangen und durfte mein eigenes Charisma in der Gemeinschaft der Schwestern entdecken und erfahren, ganz so, wie es der Heilige Benedikt vorgesehen hat. Damals bekamen Frauen, die Ordensschwestern werden wollten, bei der sogenannten Einkleidung, wenn sie ins Noviziat aufgenommen wurden, einen neuen Namen. Für mich hatte meine Novizenmeisterin den aus dem Hebräischen stammenden Namen »Raphaela« gewählt, was nichts anderes heißt als Rapha-el, Gott heilt (Altes Testament, Buch Tobit). Aus Ursula Händler war Schwester Raphaela geworden.

Wenn ich auf mein reiches Leben zurückschaue, dann wundere ich mich in Dankbarkeit und Staunen, wie viel – durch mich – im Leben von anderen geschehen konnte. Dabei bin ich selber doch so einfach und nicht mal besonders talentiert, schon gar nicht als Führernatur aufgewachsen. Im Gegenteil, ich war ein stilles Mädchen, das sich stets untergeordnet hat. Wie konnte all das geschehen? Wie konnte ich die Geschicke so vieler Menschen lenken? Manchmal finde ich Antworten in der Spiritualität, und manchmal ist es nur ein kurzer Satz, dessen Bedeutung in meinem Innern widerhallt: Der Samen keimt und wächst, und der Bauer weiß nicht wie. Diese Worte stammen aus dem Evangelium von Markus (Mk 4,27) und sollen wohl sagen: Gott hat das gemacht! Er hat mein Herz und meine Hand gebrauchen wollen.

Als ich zum ersten Mal hinausgeschickt worden war, um als junge Ärztin in einem heillos überfüllten Buschkrankenhaus zu praktizieren, hätte Schüchternheit mir nicht geholfen. Und erst recht nicht, als ich Jahre später Chefärztin wurde und ein wunderbares Team um mich hatte. Wir arbeiteten Tag und Nacht im Hospital und taten gleichzeitig einen entscheidenden Schritt hinaus zu den Kranken in entlegene Ansiedlungen. Das war eine Herzensangelegenheit von mir und das schönste Projekt meines Lebens. Es hatte sogar einen Namen: Ein Hospital geht in die Dörfer. Wir haben die Sterblichkeit der Mütter und die der Säuglinge erheblich reduzieren können und viele Leben gerettet.

Schüchternheit ist heute vermutlich eine der letzten Charaktereigenschaften, die man mit mir in Verbindung bringt. Ein Millionenpublikum hat in den letzten Jahren meine Fernsehauftritte an der Seite von bekannten nationalen und internationalen Filmstars erlebt. Viele Zuschauer fanden mich angeblich cool, souverän und überzeugend. Beim Anblick des nervösen Treibens hinter der Bühne, bei dem sogar Showgrößen wie aufgescheuchte Hühner herumliefen, hatte ich zu mir selbst gesagt: »Na ja, ich brauche nicht nervös zu sein, ich tue das hier für Jesus und für die Kinder. Wir alle sind ja Kinder Gottes, und darin sind wir alle gleich.« Auf roten Teppichen, hinter der Bühne und bei den After-Show-Partys habe ich einige Stars näher kennengelernt. George Clooney und Sharon Stone waren mir vorher kein Begriff gewesen, nicht einmal Thomas Gottschalk kannte ich.

Meine Auftritte in der Spendengala Ein Herz für Kinder haben umfangreiche Beträge in die Kassen gespült und sind ein wichtiges Standbein für die Menschen in Ndanda, Mtwara und anderen Orten. Kindern und Jugendlichen in unserem Einflussgebiet ist nun der Zugang zu Bildung möglich, was in Tansania, einem der ärmsten Länder Afrikas, keine Selbstverständlichkeit ist. Bildung ist der Schlüssel für alle positiven Entwicklungen. Auch das habe ich als Medizinerin erst lernen müssen. Andere Spenden fließen in die Aufklärung zum Schutz vor HIV-Infektionen. Durch die Unterstützung aus Deutschland ist das Leben vieler Aidskranker und das Schicksal von Aids-Waisen nun nicht mehr hoffnungslos. Und nicht zuletzt können wir mit den Spenden zur Zukunft unseres Ordens beitragen und junge afrikanische Schwestern ausbilden, die unser Wirken fortsetzen.

Ich atme tief ein, voller Dankbarkeit und Staunen. Als es an meine Tür klopft, sind es Sr. Terese und Sr. Regina.

»Es ist Zeit zum Feiern«, sagt unsere deutsche Mitschwester Sr. Regina auf Swahili. Für uns drei ist es eine Fremdsprache, die wir gern sprechen. Sr. Terese, meine Nachfolgerin aus Uganda, musste sie, genau wie wir, erst lernen, bevor sie nach Tansania kam. Als ich mir beim Hinausgehen noch einmal die bunten Stoffe vor meiner Klosterzelle anschaue, möchte ich mich nur ungern von hier verabschieden. Während der Nacht haben die Schwestern den Türrahmen mit Tüchern und Blumen behängt. Diese Gesten ihrer Wertschätzung, Anerkennung und Liebe berühren mich. Vor der Treppe erwarten uns weitere Schwestern und jubeln und lachen. Von unten klingt lauter Gesang herauf, begleitet von Trommeln, Tamburin und Zimbeln. Die Schwestern führen Sr. Terese und mich an unsere Plätze. Der geschmückte Kapitelsaal ist voller Frauen, die aufgeregt durcheinanderplappern, manche in ihren Ordenskleidern, manche in afrikanischen Kleidern und andere in Kostümen, die sie offenbar für eine Aufführung tragen. Kaum haben wir uns gesetzt, beginnen sie mit ihrem Programm.

In Versen und Gesängen drücken die Schwestern ihre Gefühle und ihren Dank aus. Sie beherrschen das Kunststück, mich mit Wehmut zu verabschieden und im nächsten Moment ihre neue Priorin herzlich willkommen zu heißen. Tanzend und singend bringen sie ein Geschenk nach dem anderen. »Pokea! Pokea!«, schallt es. Nimm an! Nimm an! Ich stehe auf, tanze mit ihnen, nehme ihre Geschenke in die Hände, tanze damit weiter und halte sie hoch über alle Köpfe. »Fungua! Fungua!«, singen sie nun. Öffne es! Ihre Präsente sind nach der neuesten Mode aufwendig verpackt und mit Schleifen und Bändern verziert. Ich überlege, ob ich sie wirklich gleich auswickeln soll, denn in Tansania ist es traditionell üblich, ein Geschenk erst nach dem Fest zu betrachten. »Je, nifungue kweli?« Soll ich wirklich? Welch eine Frage! Die Schwestern möchten jetzt auf der Stelle meine Reaktion erleben. Und so wickle ich bunte Tücher, Holzschnitzereien und Bilder aus, halte sie hoch und zeige sie herum. Der Jubel wird immer größer. Man hängt mir bunte Ketten um den Hals und animiert mich zum Weitertanzen.

Im nächsten Moment gehen einige Schwestern an die Stirnseite des Saals, wo Platz freigehalten wurde, und nehmen ihre Positionen für eine Aufführung ein. Sie haben Rollenspiele eingeübt, mit denen sie zurückblicken auf unsere gemeinsame achtjährige Vergangenheit. Aufmerksam lausche ich ihren Worten und bin überrascht, als sie in ihrem Spiel auf das große internationale Treffen unserer Kongregation anspielen, bei dem wir vor fünf Jahren Gastgeber waren. So etwas hatte es in unserem kleinen Ndanda – 160 Kilometer von der Küstenstadt Mtwara entfernt im tiefen Busch – bis dahin nicht gegeben. Schon kurz nach meiner Installation als Priorin musste ich 2006 zum Generalkapitel nach Rom reisen und hatte dort für das nächste Treffen der Priorinnen aus aller Welt nach Tansania eingeladen. Die Schauspieler und das Publikum lachen laut auf, als sie in ihrem Sketch an das große Einkaufen im 550 Kilometer entfernten Dar-es-Salam anspielen, wo es einen modernen Supermarkt mit internationalen Nahrungsmitteln gibt. Ein derartiges Warenangebot kannten die wenigsten. Dort haben wir Einkaufswagen durch die Gänge geschoben und Vorräte angeschafft, die auch Europäerinnen, Asiatinnen und Nord- und Südamerikanerinnen schmecken. Noch immer gibt es bei uns im Süden Tansanias keine großen Geschäfte, was ich ausdrücklich begrüße. Wir im Süden sind noch immer das Armenhaus eines armen Landes und die Modernisierung schreitet nur langsam voran. Die vermeintlichen Verlockungen der Städte kennen hier viele nur vom Hörensagen. Das Leben dreht sich nach wie vor um Familie, Kinder, Wetter, Ernte, Gesundheit und den Tod.

Ich staune über alle Maßen über die vielen Details, an die unsere Schwestern sich erinnern, und freue mich über die Erwähnung einer Wallfahrt zu den historischen Stätten unserer benediktinischen Vorreiterinnen in Tansania. Nur wenigen Ordensfrauen aus den Anfängen der Mission war ein langes Leben gegönnt, manche starben gar eines gewaltsamen Todes, die meisten waren von Tropenkrankheiten heimgesucht worden. Inzwischen ist diese Wallfahrt fester Bestandteil unseres Ordens und sie hält die Historie, einschließlich der unrühmlichen Aspekte seitens der kaiserlichen Kolonialpolitik, weit über die Schwesternschaft hinaus wach.

Und dann präsentieren sie einen Sketch, der auf meine fortwährende Anregung anspielt, sich doch bitte schön umfassend aus den Medien zu informieren. Dafür habe ich vor Jahren eigens einen Fernseher angeschafft und diverse Zeitungen abonniert. Mir ist es wichtig, dass die Schwestern erfahren, was außerhalb des Klosters vor sich geht, denn wir stehen ja vor Gott für die Anliegen der ganzen Welt. Insgeheim hoffte ich in all den Jahren, diese Informationsquellen würden unseren Gesprächsstoff erweitern, der sich für meinen Geschmack viel zu oft im Kreis bewegt.

Zum Schluss bedanken sich die tansanischen Schwestern überschwänglich für ihre Ausbildung in Beruf und Studium, die nur durch den Orden möglich war.

Als eine letzte Zeremonie werden Sr. Terese und ich zum kata-keki gebeten, zum cut-a-cake, dem beliebten Kuchenanschneiden. Die Schwestern mögen dieses Ritual, mit dem viele Feste zu einem Abschluss kommen. Ich setze das Messer an und versuche, möglichst gleichförmige Stücke abzuschneiden, aber wie so oft sind Fertigkeiten aus dem Haushaltsbereich nicht meine große Stärke. Hier war ich immer eine kleine Drückebergerin und habe mich nur gefügt, wenn es keine Alternative gab. Während meiner Ausbildung als Novizin in den Sechzigerjahren hatte ich zwar schon mein Physikum in der Tasche, musste aber, nichtsdestotrotz, genau wie alle anderen Schwestern, im Haushalt und auch auf dem Feld arbeiten. Ich kann bis heute weder Kochen noch Handarbeiten. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich die verschiedenen Nahttechniken zum Vernähen von Wunden problemlos beherrsche. Gewebevereinigungen bei Patienten fielen mir nie schwer, bei Textilien hingegen sehr.

Die Zeit vergeht viel zu schnell, bald schaut eine der Schwestern aus Mtwara auf die Uhr. Die Straßenverhältnisse und die meisten Autos sind schlecht und Unfälle an der Tagesordnung. Gern möchten sie vor Einbruch der Nacht in ihrem Konvent sein. Schon verstauen einige Schwestern Kanister mit sauberem Trinkwasser aus der Ndanda-Quelle im Wagen. In Mtwara ist das Stadtwasser kaum genießbar und muss abgekocht werden.

»Bevor du gehst, noch ein Wort der Weisheit«, lautet die Bitte der Schwestern. Noch einmal schaue ich in die Runde. Manche Gesichter sind mir seit Jahrzehnten vertraut. Sr. Andrea steht neben mir. Mit unserer amerikanischen Schwester habe ich schon in den Siebzigerjahren zusammengearbeitet.

Ich schaue Sr. Regina an, die auf mich zukommt und mich umarmt. Sie hat Tränen in den Augen, und auch ich muss schlucken. Sr. Regina kam als Chirurgin aus Deutschland hierher und hat einige Jahre im St. Benedict’s Hospital praktiziert. So manches Mal hat sie mich an mich selbst und meine eigene Arbeit in meinem Krankenhaus erinnert, im 45 Kilometer entfernten Nyangao. Nach langen Gesprächen und gemeinsamen Überlegungen habe ich Sr. Regina eine große Verantwortung im Kloster übertragen, die sie freudestrahlend angenommen hat, auch wenn sie fernab ihrer medizinischen Ausbildung liegt. Sie ist unsere neue Novizenmeisterin.

Geduldig warten die Schwestern auf ein Wort von mir.

»Liebe Schwestern, was kann ich anderes sagen als Danke! Mit euch zusammen danke ich immer wieder Gott, für all das, was Er mit uns getan hat in den letzten acht Jahren, seitdem ich bei euch bin. Erinnert ihr euch, dass ich kaum Hoffnung auf das Überleben unseres Klosters in Ndanda hatte? Und jetzt gibt es so viel blühendes Leben und Vitalität, wohin wir auch schauen. Nie hätte ich das aus mir heraus gekonnt, es war nur möglich durch die Kraft Gottes. Und auch das ging nur, weil wir alle zusammen einem Ideal folgten. Vor meiner Ankunft 2005 schrieb ich euch einen Brief – erinnert ihr euch?: Together we can make it! Nur zusammen wird es weitergehen. Gott hat noch viel mit uns und durch uns vor. Er möchte unsere Herzen und unsere Hände gebrauchen, um zu den Menschen zu gelangen, die unsere Hilfe brauchen. Ich danke euch für all eure Mitarbeit. Und ich bitte euch um Verzeihung für alles, was ich falsch gemacht habe und womit ich Schwestern verletzt habe. Meine große Bitte an euch lautet: Seid jetzt ganz offen für alles Neue, das da kommen mag und begrüßt es zusammen mit Sr. Terese. Es wird gut weitergehen.«

Bevor es noch später wird, gehen wir gemeinsam an die hintere Außentreppe, um ein letztes Erinnerungsfoto aufzunehmen, 30 Schwestern, die Aspirantinnen und Postulantinnen nicht eingerechnet, eine Mut machende Anzahl. Das Ablichten unserer Schwestern ist immer wieder eine fototechnische Herausforderung, weil die sehr dunklen und sehr hellen Gesichter sich schwerlich klar und deutlich zusammen auf einem Bild einfangen lassen. Unsere weiße Kleidung bringt die automatische Belichtungsmessung der Kamera zusätzlich an ihre Grenzen. Die Gesichtszüge mancher Afrikanerinnen lassen sich häufig auf den Fotos kaum noch erkennen und bleiben im Dunkeln, während die Europäerinnen extrem blass und überbelichtet wirken. Nichtsdestotrotz versuchen wir es immer wieder und stellen uns auch heute in Position.

Nun wird es aber höchste Zeit zur Abfahrt. Die Schwestern aus Mtwara stehen bereits vor unserem Minibus. Seitdem wir stolze Besitzer dieses Fahrzeugs sind, das für unsere Sekundarschule gebraucht wird, sind Lehrkräfte und Schüler endlich mobil, ohne teure Fahrzeuge anzumieten. Eine Spende von Ein Herz für Kinder.

Am liebsten möchte ich sofort losfahren, denn langes Hinauszögern erschwert uns den Abschied umso mehr. Wenn Gott will – Mungu akipendaInschallah, komme ich ja wieder.

Das Gepäck ist verstaut. Während die einen sich ans Einsteigen machen, singen die anderen noch ein Lied für uns. Als Ruhe eintritt, bete ich ein letztes Mal vor und bitte um den Segen, baraka, für alle. Schließlich stimmen wir gemeinsam das Baba Yetu, das Vaterunser an.

Baba yetu – uliye mbinguni,

jina lako litukuzwe.

Ufalme wako ufike.

Utakalo lifanyike, duniani kama mbinguni.

Utupe leo mkate wetu wa kila siku.

Utusamehe makosa yetu,

kama tunavyowasamehe na sisi waliotukosea.

Usitutie katika kishawishi:

Lakini utuopoe maovuni. Amina.

*

Wir schweigen, als der Minibus Fahrt aufnimmt, jede von uns in ihre eigenen Gedanken vertieft. Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir geht mir Psalm 63,2 durch den Kopf. Er gehört zu den Psalmen, die mich – mein gesamtes religiöses Leben lang – immer wieder beschäftigt haben und mir Kraft und Verständnis geben. Ja, so ist es, denn für mich ist Gott kein lebloses Objekt oder etwas Fernes und Unerreichbares, nein, er ist mein Gott, mein Du, meine Sehnsucht. Aber ich besitze ihn nicht und ich sehe ihn auch nicht. Wo ist dieser Gott? Meine Suche beginnt immer wieder aufs Neue. Meine Seele, mein Herz dürstet nach Gott wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser. Wie oft habe ich solch ausgedörrte Böden in den Tropen gesehen, Land, das nichts hervorbringen kann ohne Wasser. So ergeht es mir ohne Gott. Dieses Gefühl stellt die Mitte meiner klösterlichen Berufung dar – diese Anziehung durch Gott. Gott suchen – ganz so, wie es unser Ordensvater St. Benedikt und die Mönchsliteratur beschreiben. Dieses Suchen wird immer im Zentrum meines Lebens stehen. Aber das Suchen nach Gott führt mich nicht in eine Kontemplation, weder ins beschauliche Betrachten noch in eine ständige Meditation, die nichts mehr zu tun haben will mit der Welt außerhalb der Gedanken. Nein, es ist ganz anders: Gott ist uns sichtbar geworden in Jesus Christus, Gott hat ein menschliches Gesicht. Mein Jesus Christus identifiziert sich mit den Menschen, besonders mit allen Schwachen, den Armen, Kindern und Kranken. Was ihr ihnen getan habt, habt ihr mir getan, sagt er bei Matthäus (Mt 25,40). Und so gehören für mich und für alle Missions-Benediktinerinnen Gebet und Taten der Liebe und des Dienstes unbedingt zusammen. Ora et Labora.

Der Minibus rumpelt über die Straße. Am Ende der langen Strecke, in Mtwara, werden wir vom nächtlichen Schein des Indischen Ozeans begrüßt. Silbern schimmert das Meer, der Himmel voller Sterne. Die Grillen zirpen.