Anselm Grün
mit Hsin-Ju Wu

Vom spirituellen Umgang mit Träumen

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© KREUZ VERLAG 2014

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau

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Autorenfoto Anselm Grün: Sarah Hornschuh © Verlag Herder

Autorenfoto Hsin-Ju Wu: privat

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80130-3

ISBN (Buch) 978-3-451-61281-7

Inhalt

1. Einführung

Begegnung mit der geistigen Welt des Tao

Geistliche Deutung und Bedeutung

»Gottes vergessene Sprache«

Erkenntnis in Bildern – Kraft der Träume

2. Wahrheit, Weisung, Verheißung: Der Traum in der Bibel

Der Traum im Alten Testament

Träume im Neuen Testament

Dreifache Bedeutung

3. Gotteserfahrung und Selbstbegegung: Der Traum in der geistlichen Tradition

Die Kirchenväter: Inspiration und Kraft durch Träume

Das Traumbuch des Synesios

Evagrius Pontikus: Träume auf dem kontemplativen Weg

Visionen und Erscheinungen

Traum – Wirklichkeit und Wirkung

4. Das Verständnis des Traums in der Psychologie

Verdrängte Triebimpulse: Traumanalyse bei S. Freud

Reichtum der Seele: Traumdeutung bei C. G. Jung

Grundsätze des Traumverstehens

Objektstufe und Subjektstufe

5. Sprache der Träume – Bedeutung der Bilder

Hausträume · Autoträume · Fallträume · Ausscheidungen · Sexuelle oder erotische Träume · Verfolgungsträume · Krieg und Gefangenschaft · Tierträume · Kinder-Träume · Hochzeitsträume · Nacktheit · Zu spät kommen · Vor verschlossenen Türen · Wegträume · Prüfungssituationen · Zahlenträume · Wortträume · Träume vom Fliegen · Farbträume · Entscheidungsträume · Wasserträume · Träume in Übergangsphasen · Tod und Begrabenwerden · Träume, die die Zukunft voraussehen · Numinose oder spirituelle Träume

6. Regeln für den geistlichen Umgang mit Träumen

Der spirituelle Weg und das Unbewusste

Sieben Schritte, um spirituell mit unseren Träumen umzugehen

Exkurs: Aktive Imagination nach C. G. Jung

Gespräch über Träume in der geistlichen Begleitung

Vier Regeln für geistliche Begleiter

7. Schluss

Literatur

1. Einführung

Begegnung mit der geistigen Welt des Tao

Träume haben etwas Geheimnisvolles. Sie sagen in ihren Bildern etwas über Aspekte unserer Seele aus, die uns im Tagesbewusstsein nicht so vertraut sind. Sie stehen aber auch in Beziehung zu unserem Leben, das wir in unserem Alltag meist bewusst wahrnehmen. Deshalb haben sie auch etwas Faszinierendes für uns. Wenn ich bei Vorträgen etwas über Träume sage, erlebe ich immer eine sehr wache Reaktion. Viele erzählen dann konkrete Träume und wollen von mir wissen, was der Traum bedeuten könnte. Besonders aktiv war die Reaktion, als ich in Taiwan vor Buddhisten und Christen Vorträge über Trauer und Trauerbewältigung hielt und dabei auch über die Träume sprach, in denen uns Verstorbene erscheinen oder in denen wir vom eigenen Tod oder vom Tod eines nahen Menschen träumen. Da war ganz offensichtlich zu spüren, wie groß das Bedürfnis ist, über Träume besser Bescheid zu wissen. Es gibt schon viele von Psychologen geschriebene Bücher über Träume und Traumdeutung. Aber ich habe gespürt, dass gerade Christen ein großes Interesse haben, mehr über die Träume zu erfahren. Sie wollen nicht nur wissen, ob die Träume nur Ausdruck des Unbewussten ist, ob wir im Traum nur unsere alltäglichen Probleme verarbeiten; im Hintergrund steht immer auch die Frage, ob die Träume eine tiefere Bedeutung haben, die für unser Leben wichtig ist. Und Christen fragen in diesem Zusammenhang vor allem immer wieder danach, ob es möglich ist, dass Gott selbst zu uns im Traum spricht, wie es uns die Bibel immer wieder beschreibt.

So hat mich die Begegnung mit den Menschen in Taiwan und die Gespräche, die ich mit meiner taiwanesischen Verlegerin, der evangelischen Theologin Hsin-Ju Wu, geführt habe, angeregt, das Thema der Träume neu zu bedenken. Ich habe im Lauf der letzten Jahrzehnte zahlreiche Traumseminare gehalten und vor 25 Jahren auch schon einmal eine Kleinschrift mit dem Titel Träume auf dem geistlichen Weg geschrieben. Doch ich habe gespürt, dass es einer ausführlicheren Behandlung dieses Themas bedarf. Für diese neue Beschäftigung mit den Träumen haben mir die Gespräche mit Frau Wu wertvolle Anregungen gegeben. Sie hat mich vertraut gemacht mit einer Deutung von Träumen, wie sie in der chinesischen Tradition üblich ist. Ich wurde in diesem Dialog nicht nur mit einer ganz neuen Sichtweise der Träume konfrontiert, sondern bekam auch Lust, die Weisheit der Träume in der abendländischen und in der asiatischen Tradition neu zu bedenken. Träume sind ja ein Thema, das Menschen aller Kulturen und Völker berührt und über das alle Religionen nachdenken. Gerade im Zeitalter der Globalisierung, die auch die verschiedenen kulturell geprägten Mentalitäten und Traditionen einander näherbringt, und nicht zuletzt auch wegen des wachsenden Interesses, das die Kultur Asiens in Europa findet, ist es eine spannende Aufgabe, sich diesem Thema im Dialog zwischen Ost und West zu widmen.

Die chinesische Kultur hat die Träume immer hochgeschätzt. Gerade die taoistische Philosophie hat sich darüber viele Gedanken gemacht. Bereits C. G. Jung hat in seinen Schriften immer wieder auf die chinesische Philosophie hingewiesen und betont, wie sehr sie unser westliches Denken bereichern könnte. Als er von einer englischen Verlegerin die Übersetzung einer chinesischen Legende erhielt, lobte er die profunde »Psychologie, die ganz natürlich aus der Erde hervorwächst. Es ist direkt wunderbar zu sehen, dass die Chinesen ihre Seele betreut haben wie ihren Blumengarten« (Jung, Briefe II, 65). Wie C. G. Jung sich vom chinesischen Denken inspirieren ließ, so habe ich mich im Gespräch mit Frau Wu anregen lassen, neu über die Träume nachzudenken und darüber zu schreiben. Ich habe den Text allein geschrieben, aber ihre Anregungen sind in dieses Buch eingeflossen, nicht nur dort, wo ich ausdrücklich chinesische Texte zitiere. Wir haben alle Bereiche miteinander diskutiert: die Träume in der Bibel und in der geistlichen Tradition, aber auch die Deutung von konkreten Träumen. Im Gespräch hat sich unser Blick geweitet, und wir konnten auf neue Weise, mit neuen Augen auf die Träume schauen.

Es gibt ein berühmtes chinesisches Traumbuch, geschrieben vom Fürsten Zhou vor über 2000 Jahren. Für viele Chinesen ist dieses Traumbuch wie eine Art Bibel. Dort werden wesentliche Einsichten des Taoismus dargestellt. So lassen wir uns in diesem Buch von der chinesischen Weisheit über die Träume befruchten.

Der Taoismus ist die Philosophie, die – neben dem eher praktisch ausgerichteten Konfuzianismus – das chinesische Denken am meisten geprägt hat. Wie sehr gerade für diese Denkrichtung Träume eine Rolle spielen, sei daher kurz erläutert. Der Ausdruck »Tao« hat verschiedene Bedeutungen. Zum einen ist es der Weg, den ich gehen soll. Dann aber meint Tao auch die Verhaltensweise, die meinem Wesen entspricht. Und es ist auch die kosmische Ordnung, die allem Sein innewohnt. Tao ist also der Grund von allem. Es meint den richtigen Weg, der uns zum Leben führt, und die Lebensweisheit, die uns unsere innere Wahrheit aufdeckt. Daher sind bei der Traumdeutung für den Taoisten die beiden Begriffe »Weg« und »Wahrheit« wichtig. Der Taoismus vertraut darauf, dass der Mensch im Traum das Tao erkennen kann, die Wahrheit, den Weg zum Leben. Dieses Verständnis hat Berührungspunkte mit dem Johannesprolog im Neuen Testament. Chinesische Übersetzungen von Joh 1,1 schreiben auch: »Im Anfang war das Tao.« Tao meint in diesem Sinn letztlich das Wort Gottes. Wenn der Traum uns das Tao aufdeckt, dann können wir das in christlicher Sprache so sehen: Im Traum spricht Gott sein Wort zu uns. Und von diesem Wort gilt: »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen« (Joh 1,4). Auch in einem christlichen Verständnis lässt sich also sagen: Das Wort Gottes im Traum zeigt uns die eigentliche Wirklichkeit unseres Lebens.

Für den Taoismus wird das deutlich in dem berühmten Traum, den uns der taoistische Traumerzähler Zhunangzi erzählt. Er träumte, er sei ein Schmetterling. Im Traum fliegt er im Garten hin und her und ist ganz glücklich dabei. Als er aufwacht, kann er nicht mehr unterscheiden, ob er nun ein Mensch ist, der träumt, er sei ein Schmetterling – oder ob er ein Schmetterling ist, der davon träumt, dass er ein Mensch sei. Wir können den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit oft nicht genau unterscheiden.

Dieser Traum zeigt etwas Wesentliches vom Menschen: Der Mensch ist seiner Natur nach wie ein Schmetterling. Er spiegelt Gottes Schönheit und Leichtigkeit wieder. Er kann sich in seiner Seele über das Schwere seines Lebens erheben.

Wenn die Taoisten Träume deuten, dann tun sie das anders als wir im Westen. Wir fragen uns immer, was der Traum bedeutet, was uns die Symbole im Traum für unser Handeln sagen möchten oder was sie über unsere psychischen Probleme enthüllen können. Für die Taoisten sind die Träume dagegen eine Botschaft, die uns unser wahres Wesen aufdecken, die uns die Wahrheit über uns aufzeigen. Im Traum, so eine Grundbotschaft des Taoismus, wird das Wesen des Menschen aufgedeckt.

Es hat mir große Freude bereitet, tiefer in diese taoistische Philosophie und ihre Traumdeutung hineinzukommen. Ich wurde nicht nur in eine neue Welt hineingeführt, sondern entdeckte zugleich, dass viele Aussagen des Taoismus mit christlichen Aussagen übereinstimmen. Gerade die Leichtigkeit der Seele, die Bereitschaft, das Kind in sich zu entdecken – wie die Kinder zu werden, um es in der Sprache Jesu zu sagen –, haben mir viele Ähnlichkeiten zwischen der taoistischen Philosophie und der christlichen Theologie aufgezeigt.

Ich denke, ein Dialog zwischen diesen beiden Lebensweisheiten könnte auch uns Christen im Westen heute befruchten. Ein Gespräch mit unserem früheren Abt Fidelis Ruppert hat mich in dieser Auffassung bestätigt: Er meinte, der Taoismus sei dem Christentum näher als der Buddhismus, die andere geistige Tradition Chinas, die im Westen derzeit mehr »Zulauf« hat. Der Dialog zwischen Christentum und Taoismus könne der christlichen Theologie neue Einsichten bescheren. Mir selbst sind in der Tat manche Bibelstellen durch den Dialog mit der taoistischen Denkweise neu aufgegangen. Ein Beispiel dafür ist etwa das anstößige Wort Jesu am Ende des Gleichnisses vom unnützen Sklaven. Wir sollen uns – so fordert uns Jesus auf – immer sagen: »Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan« (Lk 17,10). Spiritualität bedeutet: zu tun, was wir schuldig sind, was wir Gott oder uns selber schuldig sind, was wir dem Augenblick schulden. Tao – so sagt uns Laotse, der Begründer dieser chinesischen Tradition – ist das Gewöhnliche. Die Weisheit der taoistischen Philosophie besteht darin, das ganz Gewöhnliche zu tun, sich nicht als etwas Besonderes zu fühlen. Ob wir offen sind für das Tao – für den Weg Gottes, für den Geist Gottes –, das zeigt sich konkret in unserem alltäglichen Tun.

Im Gespräch mit Frau Wu berührten wir noch andere Gründe, warum wir uns gerade das Thema des Traumes für einen Dialog zwischen chinesischer und europäischer Denkweise ausgesucht haben. In Taiwan haben viele Christen offensichtlich Angst, sich mit den Träumen zu beschäftigen. Als ich vor allem im Zusammenhang mit dem Thema »Trauer und Trauerbegleitung« über die Träume sprach, in denen Verstorbene eine Rolle spielen, war schnell zu merken: Viele haben Angst, dass die Verstorbenen uns im Traum als Gespenster erscheinen. Wichtig sind im Volksglauben die ersten sieben Tage nach dem Tod. In der siebten Nacht – so glaubt man – erscheint der Verstorbene und gibt uns eine Botschaft. Er möchte uns auf etwas festlegen und uns Aufträge geben, die wir unbedingt erfüllen müssen. Sonst würde es für uns Unheil bedeuten und uns schaden. Die Christen in Taiwan wollen nichts mit Träumen zu tun haben, weil sie befürchten, auf diesem Weg dann die Angst erzeugenden Vorstellungen des Volksglaubens zu übernehmen. Aber natürlich haben auch die taiwanesischen Christen Träume. Und so brauchen sie eine Hilfe, mit ihren Träumen umzugehen.

In unserem Kulturkreis gibt es übrigens ähnliche Ängste. Da haben manche Angst, sich mit Träumen zu beschäftigen, weil sie mit ihnen allerhand Vorstellungen von kommendem Unglück verbinden. So traut man sich nicht, seine Träume anzuschauen. Um solche Ängste zu überwinden, ist es sinnvoll, vernünftig und sachgemäß über dieses Thema zu schreiben, sowohl aus der geistlichen Tradition heraus als auch von den Erkenntnissen heutiger Psychologie her.

In den Pfingstkirchen in Taiwan gibt es auch Pastoren, die die Träume der Gläubigen autoritär auslegen. Sie nehmen für sich in Anspruch, dass sie allein die Träume auslegen können, weil sie vom Heiligen Geist dafür begabt worden seien. Auch dann haben Christen Angst, ihre Träume zu erzählen. Die Angst ist: Der Pastor könnte mich kontrollieren. Er könnte bestimmen, was für mich gut ist – wenn er allein weiß, was meine Träume bedeuten und was Gott mir damit sagen will. Doch das ist eigentlich spiritueller Missbrauch. Man missbraucht seine spirituelle Autorität, um andere von sich abhängig zu machen und sie durch Angst an sich zu binden.

Solchen Ängsten bin ich auch hierzulande begegnet. Allerdings hat man hier weniger Angst vor der Auslegung durch Priester. Hier sind die Psychologen in einer Rolle, die manche befürchten lässt: Die könnten mich durchschauen und meine verdrängten sexuellen Phantasien aufdecken oder mich psychologisch beurteilen und als krank oder wenigstens als verklemmt einstufen.

Geistliche Deutung und Bedeutung

Gegenüber diesen Ängsten, die Menschen in Deutschland wie in Taiwan haben, möchten wir die heilsame und hilfreiche Bedeutung der Träume aufzeigen. Wir beziehen uns dabei auf verschiedene Quellen. Die Bibel spricht von Träumen, und auch die geistliche Tradition nimmt die Träume ernst. So möchten wir im Hören auf die Bibel, auf die spirituellen Lehrer und auf die Einsichten der Psychologie mit Träumen so umgehen, dass wir darin eine Wegweisung für unser Leben erkennen können. Und wir möchten in den Lesern und Leserinnen das Vertrauen stärken, dass Gott selbst im Traum zu ihnen spricht, dass Gott ihnen im Traum einen Weg weisen möchte, wie das Leben gelingt und wie sie das Potenzial, das in ihrer Seele steckt, entfalten können.

Wenn ich in unserem Gästehaus einen Traumkurs gebe, dann sind es immer spannende Kurse, bei denen auch viel gelacht wird. Denn die Träume richten sich nicht nach den Naturgesetzen und auch nicht nach unseren moralischen Maßstäben. Sie sind oft bunt, sie verwirren uns, und sie amüsieren uns. Sie können aber auch sehr ernst sein. Manche achten nur dann auf ihre Träume, wenn sie Alpträume haben. Sie haben ein Bedürfnis, die Alpträume zu erzählen, weil sie Angst vor ihnen haben und oft genug nichts mit ihnen anfangen können. Doch Alpträume sind keine schlechten Träume. Sie zwingen uns nur, den Traum anzuschauen und uns mit ihm zu beschäftigen. An Alpträumen können wir nicht vorbeigehen. Sie melden sich so deutlich zu Wort, dass wir sie beachten müssen.

Die Teilnehmer an diesen Seminaren sprechen freilich nicht nur über Alpträume, sondern auch über Tagträume. Solche Tagträume kommen uns oft in den Sinn, wenn wir beim Lesen etwas einnicken und dösen. Oder sie tauchen in uns auf, wenn wir im Zug fahren und die Landschaft betrachten. Auf einmal läuft vor unserem Geist ein Film ab. Auch solche Tagträume sind Äußerungen des Unbewussten. Und auch in ihnen kann uns Gott etwas sagen. Und manche erzählen von Klarträumen, in denen sie alles ganz klar gesehen haben. Es waren oft wichtige Erfahrungen, die sie in den Klarträumen gemacht haben. Da hatten sie den Eindruck, dass sie durchblicken, dass ihnen alles klar ist. Als sie aufgewacht waren, war diese Klarheit dann wieder weg. Aber der Traum zeigte ihnen, dass in ihrer Seele ein Punkt ist, an dem sie alles klar sehen.

Nicht alles, was wir in der Nacht träumen, hat eine tiefere Bedeutung. Es gibt auch viele Träume, die in der Tat einfach das, was wir tagsüber erlebt haben, »verdauen«. Aber die Traumforschung sagt, dass auch diese verdauenden Träume eine heilsame Wirkung auf uns Menschen haben. Wenn wir am Träumen gehindert werden, dann staut sich alles Erlebte in uns auf. Die Träume verdauen das Erlebte und machen uns am nächsten Tag wieder offen für das Neue, das auf uns einströmt.

Zu den Träumen gehören auch die Aktionen, die manche Schlafwandler vollziehen. Das Schlafwandeln könnte man als Ausagieren von unbewussten Themen verstehen. Eine Frau erzählte mir, dass sie morgens erschrocken war, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie hatte in der Nacht ihre langen Haare abgeschnitten. Und sie hatte Angst, sie würde im Traum noch lauter andere verrückte Dinge tun. Doch auch das Abschneiden der Haare ist symbolisch zu deuten. Und es wäre wichtig, dieses Tun wie einen Traum zu betrachten. Dann könnte diese Frau darüber nachdenken, was die Haare für sie bedeuten und was es heißt, sich die Haare abzuschneiden, sich in der eigenen Schönheit zu beschneiden oder die innere Kraft zu schwächen.

Ein anderes Thema ist das Verhältnis von Traum und Vision. Manche können nicht unterscheiden, ob sie einen intensiven Traum hatten oder eine Vision. Man muss das auch gar nicht unterscheiden. Die Vision ist wie ein Traum zu deuten. Sie malt etwas aus, was in der Psyche vor sich geht. Aber wie der Traum hat auch die Vision durchaus eine Bedeutung, nicht nur für den, der sie hat, sondern oft auch für andere Menschen. Aber Visionen sind nie objektive Erscheinungen, die man mit der Kamera festhalten könnte. Sondern es handelt sich immer um innerpsychische Bilder, die aber oft so klar erscheinen, dass man meint, man habe in der Realität etwas Außergewöhnliches gesehen.

Viele suchen in psychologischen Traumbüchern nach einer Deutung ihrer Träume. Das ist sicher hilfreich. Denn die Psychologie mit ihren ganz unterschiedlichen Schulen und Deutungsansätzen hat viel dazu beigetragen, unsere Träume zu deuten und zu verstehen. Doch vor aller Psychologie ist es die Bibel, die uns von Träumen erzählt. Und die geistliche Tradition hat die Träume immer beachtet. Sie waren eine wichtige Sprache Gottes für den, der sich auf den geistlichen Weg machte. So war es üblich, in der geistlichen Begleitung – etwa bei den Wüstenvätern – auch die Träume anzuschauen und miteinander zu besprechen.

Wenn wir die Träume auf dem spirituellen Weg betrachten, dann beschränken wir uns nicht auf religiöse Träume. Auch die Träume, die sehr irdisch sind und manchmal chaotisch, sind wichtig für den geistlichen Weg, insofern sie uns aufdecken, wie es um uns steht. Auf dem spirituellen Weg zu sein heißt für uns, dass wir unsere ganze Wahrheit Gott hinhalten, damit Gottes Geist alles, was wir ihm hinhalten, erhellen möge. Gott möge auch das Dunkel und Chaos unseres Unbewussten erhellen. Unter einem geistlichen Weg verstehen wir nicht nur ein geistliches Programm, das wir uns aufstellen und dann abarbeiten, sondern einen Prozess der Verwandlung. Und zu dieser Verwandlung gehört auch, dass alles in uns – auch die Tiefen unseres Unbewussten – von Gottes Geist durchdrungen wird. Die Träume laden uns ein, auch die Bilder unseres Unbewussten Gott hinzuhalten, damit die Verwandlung durch Gottes Geist in der Tiefe unserer Seele geschehen kann. Wir brauchen dann vor nichts in uns Angst zu haben. Auch wenn die Träume uns noch so viel Chaotisches oder Grausames aufdecken, sie vermitteln uns zugleich die tröstende Botschaft: Alles in dir kann verwandelt werden. Nichts in dir ist wirklich gefährlich, wenn du es Gott hinhältst. Denn Gottes Geist möchte in die Tiefe deiner Seele dringen, damit alles in dir vom Licht Gottes erhellt wird.

Wenn wir auf unserem spirituellen Weg auch die Träume beachten, gibt uns das auch innere Freiheit. Denn es befreit uns von der Vorherrschaft des Willens, der meint, er müsse uns mit Gewalt fromm machen. Wenn Gottes Geist auch die Tiefen unseres Unbewussten durchdringt, dann wird der Glaube nicht nur etwas rein Willensmäßiges. Er entspricht vielmehr unserem innersten Wesen. Wir müssen uns dann nicht mit unserem Willen zwingen, zu glauben, sondern wir glauben aus der Tiefe unserer Seele heraus. Der Glaube entspricht unserem Wesen.

Für uns haben die Träume vier Bedeutungen, die im Folgenden kurz skizziert werden. Und alle vier sind für den geistlichen Weg von Bedeutung:

  1. Träume geben an, wie es um mich steht. Oft fragen wir einander: Wie geht es dir? Meistens antworten wir dann recht oberflächlich: Es geht mir gut. Die Gesundheit ist in Ordnung. Und beruflich läuft alles gut. Doch der Traum antwortet auf diese Frage in Bildern. Da träumen wir z. B. von einem chaotischen Zimmer oder von einem Auto, das die Straße nicht findet, die weiterführt. Der Traum sagt: Nach außen hin ist alles in Ordnung. Aber in dir ist Unordnung. Und du bist nicht auf dem richtigen Weg. Du hast dich irgendwie verirrt. Solche Antworten, die der Traum uns gibt, wollen wir nicht so gerne hören. Aber es täte uns gut, uns vom Traum bzw. von Gott die Antwort auf die Frage nach unserem Befinden geben zu lassen. Sie wäre ehrlicher als die Antworten, die wir oft geben.
  2. Die Träume zeigen, welche Schritte ich tun soll. Sie sind oft eine Mahnung, bewusster und achtsamer zu leben, die Augen aufzumachen. Wir legen uns ja oft selber ein geistliches Programm als bestimmtes Konzept zurecht. Das ist bei näherem Hinsehen nicht immer das, was wir wirklich brauchen. Doch der Traum sagt uns, was wir eigentlich beachten sollten. Ich habe eine Schwester vor ihrer ewigen Profess in Exerzitien begleitet. Auf die Frage, was sie anschauen möchte, meinte sie: Die Gemeinschaft. Da gebe es Probleme. Doch in der ersten Nacht der Exerzitien träumte sie: Sie ging von ihrer Arbeitsstelle über eine Wiese zum Kloster. Auf einmal kam eine Schlange und schlang sich um sie. Als sie mir den Traum erzählte, musste ich schmunzeln. Ich sagte ihr: »Du hast gedacht, dass die Gemeinschaft dein Problem ist. Doch der Traum zeigt dir, dass du ein anderes Thema anschauen solltest, bevor du dich für immer an die Gemeinschaft bindest. Du musst dich mit der Schlange aussöhnen. Du kannst nicht ohne Schlange ins Kloster gehen. Schlange steht hier für die Sexualität und für den Instinktbereich. Du musst also mit deiner Sexualität ins Kloster gehen. Du kannst sie nicht draußen lassen. Daher geht es darum, dich mit deiner Sexualität auseinanderzusetzen und sie in dein geistliches Leben zu integrieren.«