Georg Reider

Lass die Seele
für dich sorgen

Entlastend glauben,
achtsam leben

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Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © shutterstock

Autorenfoto: © Hanna Battisti

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80095-5

ISBN (Buch) 978-3-451-61186-5

Inhalt

Vorwort

I. Seele als Chiffre der inneren Sehnsucht

Wie wirklich Seele ist

Der Körper ist Form der Seele

Denken: Trittstein zur Seele

Psyche, Selbst und Seele

Die Seele als Echo unserer Tiefe und unserer Höhe

Verlust der Seele

Das Innere als unbewohnter Raum

Seelenverlust als Metapathologie

Äußere Überreizung verhindert psychisches Leben

Im Inneren dem Wesentlichen begegnen

Die Sprache der Innerlichkeit lernen

Der Kraft des Höheren vertrauen: Ein Exkurs zur Psychosynthese

Im Lassen empfangen

Sabbat – die Seele der Seele

II. Die Seele der Religion

Ursprung und Zukunft einer unsterblichen Idee

Ein lateinisches Konstrukt

Jerusalem und Benares: Offenbarung und Innerlichkeit

Die unsichtbare Kraft der Religion

Das Geheimnis ertragen lernen

Religiös autonom werden

Die Notwendigkeit innerer Begründung

Individuelle und soziale Impulse der Religiosität

Nicht allein vom Brot

Spuren der Gemeinsamkeit sichern

Von der Unterwerfung zum Dienst

Sakrale Intelligenz

III. Befreiendes Glauben

Gott ruft, der Mensch vertraut

Glaubendes Denken

Glaube als Wahrheitssuche

Die Wirklichkeit ist wahr, nicht das Wunder

Geistige Entwicklung und Entfaltung des Glaubens

Biographischer Exkurs zu den Glaubensstufen: Thomas Merton

Allein glauben: Der reformatorische Genius

Aus Gnade gerecht

Der Mythos: Das seelische Kleid des Glaubens

Die Bibel als mythische Evokation

IV. Glaube als achtsames Leben

Gott ist mitten in der Welt und ihre Mitte

Innerung als Ergänzung zur Äußerung

Die Wirklichkeit der Gottesbilder

Glauben in einer transmodernen Gesellschaft

Achtsamkeit als selbstverantwortete Glaubenspraxis

Achtsamkeit als alternative Kraft zur Lebensbewältigung

Glauben und Achtsamkeit im Schatten des Lebens

Schlussgedanken

Übungen für die Seele

Beobachte dich

Sinn denken

Abstand als Entlastung

Persönliche Ergriffenheit

Beten

Sonnengesang

Ich glaube an Gott als Vater und Mutter

Heimat im inneren Raum gewähren

Wie ein Baum im Leben stehen

Zu sich und für etwas stehen können

Die andere Sicht von Leid und Leiden

Verzeichnis der verwendeten Literatur

Vorwort

Seele, Glauben und Achtsamkeit. Auf den ersten Blick fragen Sie sich, liebe Leserin, lieber Leser, was diese miteinander zu tun haben. Achtsamkeit ist ein sehr moderner Begriff; Glaube und Seele scheinen eher abgegriffen und werden in Bereichen verwendet – Spiritualität, Kirchen und Esoterik –, die heute oft suspekt erscheinen.

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich in meiner Arbeit als Seelsorger und Berater mit diesen Bereichen. Aufgrund dieser Erfahrung ist die Überzeugung gewachsen, dass dieses Begriffsdreigespann große Bedeutung für unser Leben haben kann, sofern diese Begriffe die Sehnsucht nach Sinn und Tiefe ansprechen. Die Kombination von Seele, Glauben und Achtsamkeit fasziniert, daher habe ich mich damit auseinandergesetzt. Entstanden ist daraus dieses Buch über Seele, die trägt, über Glauben, der entlastet, und Achtsamkeit, die einen besonderen Zugang zum Leben eröffnet.

Mitten in den Ansprüchen des privaten, öffentlichen und beruflichen Lebens sehnen wir uns nach Entlastung, nach Tiefe oder Sinn, um unser Leben in einen Horizont zu stellen, der Kraft und Freude zu seiner Gestaltung gibt.

Glauben ist in diesen Überlegungen nicht etwas Vorgegebenes, sondern innere Wahrnehmung; ein Prozess, den wir auch steuern können und müssen.

Seele und Achtsamkeit sind für die Beschreibung und Einübung des Glaubens als innerer Prozess und menschliche Fähigkeit unverzichtbar. Seele ist ein umstrittener und schwer definierbarer Begriff: Humanistische und Transpersonale Psychologie verwenden das Wort Seele synonym zu jenem des Selbst; Theologie, Medizin und die meisten psychologischen Schulen verwenden den Begriff überhaupt nicht (mehr). Jenseits der Esoterik-Verdächtigungen und des Missbrauchs, den das Wort Seele erfährt, transportiert die Verwendung des Wortes Gedanken, Gefühle und Bilder, die das wesentlich Menschliche anrühren und bewusst machen.

So ist der Begriff der Seele eigentlich nicht ersetzbar durch die Worte Selbst, Persönlichkeit oder Unbewusstes, wiewohl diese Teile und Aspekte der Seele bezeichnen und uns helfen, bestimmte Funktionen der Seele besser zu verstehen.

Wenn Seele als Weite, als Antenne für die Höhe und Tiefe der Wirklichkeit beschrieben und erlebt wird, sprechen wir damit eine Fähigkeit unseres Lebens an, die uns das Empfinden für Sicherheit und Perspektive liefern kann. Dann wird Seele etwas Tragendes und Bergendes.

Der zweite Begriff, mit dem ich in diesen Überlegungen die Entfaltung des Glaubens beschreiben möchte, ist die Achtsamkeit. Achtsamkeit bedeutet, kurz vorweggenommen, aufmerksame und vorurteilslose Wahrnehmung dessen, was über die Sinne, die Gedanken und Gefühle in unser Bewusstsein fließt.

Achtsamkeit gibt uns die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung zu betrachten und für das, was sie auslöst, Verantwortung zu übernehmen. Dadurch fördern wir Selbstständigkeit, Freiheit und Entwicklung.

Im Lauf meines Lebens und meiner Arbeit habe ich immer mehr erkannt, wie wichtig es ist, Glauben und religiöses Engagement unter der Perspektive der seelischen Bedingungen, als Entlastung und Achtsamkeit zu reflektieren und zu gestalten.

Dazu hat mich meine religiöse Biografie mit zwei Ideengebern und Reformatoren des Christentums in Kontakt gebracht: Franziskus und Luther. Beide Persönlichkeiten sind ein Beispiel außerordentlichen Engagements und authentischen Glaubens; ich bin dankbar, dass mein religiöser Lebensweg durch diese Gestalten in je eigener Weise angeregt und vertieft wurde. Franziskus hat der Kirche durch seine unbedingte Solidarität und die Entdeckung des Evangeliums einen Reformimpuls geliefert; Luther hat die Kirche durch eine kritische Solidarität herausgefordert und reformiert. Die Tiefe ihres Lebens und die Spuren, die beide hinterlassen haben, sind für mich ein Hinweis, dass es beide Formen des Engagements und der Erneuerung braucht: bedingungslose und kritische Solidarität.

Glauben als innere Erfahrung wurde durch die Reformation neu bedacht. Mit dem sola fide (nur der Glaube) und dem sola gratia (nur die Gnade) wurde der Glaubensakt personalisiert. Auf die biblische Botschaft und das eigene Ringen aufbauend, hat Luther den Akt des Glaubens neu gedeutet und durch die theologische Eigenart der Reflexion einen unschätzbaren Beitrag für die Entwicklung des Christentums geliefert.

In einer Zeit, in der sich so vieles so schnell verändert, ringen die Kirchen um authentische Reformmuster, und es ist sekundär, aus welcher Kirche Ansätze für religiös-christliche Erneuerung und Vertiefung kommen. Wichtig ist, dass sie dem Menschen dienen und ihn bei der Suche nach dem Sinn des Lebens unterstützen.

Dieses Buch widmet sich vier Hauptthemen: Seele, Religion, Glauben und mögliche Auswirkungen des Glaubens auf die Gestaltung und Bewältigung des Lebens.

Ein Buch ist immer das Ergebnis von Entscheidungen und Einschränkungen und kann nur hinweisen und anregen: zum Weiterdenken und Weiterfühlen, vor allem zum Tun und zum Engagement. Als Beispiel und Hilfe dafür werden »Übungen für die Seele« eingefügt.

Viele Menschen haben mich im Entstehen dieses Buches begleitet.

Der Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde in Bozen, Dr. Marcus Friedrich, hat den Kontakt zum Verlag und zur Lektorin, Frau Evamaria Bohle, hergestellt. In vielen anregenden und brüderlichen Gesprächen ist er mir nach der Konversion zu einem guten Begleiter geworden und hat auch die Entstehung des Buches immer wieder mit Anregungen, Fragen und Hinweisen gefördert.

Meine Partnerin hat die Entwicklung des Buches – vom Exposé bis zum letzten Kapitel – begleitet. Unzählige inhaltliche Anregungen und viele Textverbesserungen habe ich ihr zu verdanken.

Nicht zuletzt gilt dem Kreuz Verlag ein großer Dank für die Aufnahme meines Buchvorschlages in das Verlagsprogramm. Frau Evamaria Bohle hat den Weg des Buches mit Geduld, aber auch mutigen Anfragen und Forderungen begleitet. An ihren Änderungsvorschlägen habe ich immer wieder große sprachliche und theologische Kompetenz wahrgenommen.

Allen gilt mein herzlicher Dank.

I.
Seele als Chiffre der inneren Sehnsucht

Wir sind heute in einer Situation, in der wir über uns selbst und die Welt immer mehr wissen und immer genauere Instrumente entwickeln, um unsere Lebensräume zu analysieren, zu beschreiben und zu gestalten. Gleichzeitig werden wir aber mehr und mehr einer Wirklichkeit gewahr, die sich uns und dem Messbaren entzieht. Zu dieser Wirklichkeit gehört die Seele; ein Wortbild, das in den letzten Jahrzehnten erneut in die Sprache und damit in das Bewusstsein der Menschen zurückgekehrt ist. Nachdem eine vorwiegend materialistische Deutung des Lebens, die mit der Vorherrschaft naturwissenschaftlichen Denkens einhergeht, den Begriff der Seele zu Beginn des 19. Jahrhunderts verdrängt hatte, gewinnt er jetzt wieder an Bedeutung und scheint wie ein Sog Suche und Sehnsucht des Menschen unserer Zeit anzuziehen. Der Begriff ›Seele‹ wird zum Kürzel für die Wahrnehmung der Weite und Tiefe unseres Lebens und für die Sehnsucht, die diese erzeugen. Leider bewirkt die Inflation des Seelenbegriffs aber auch Unschärfen und gegensätzliche Vorstellungen darüber, was man darunter verstehen kann. Mitunter wird er missbraucht, wenn er als Blickfänger auf den Buchcovern erscheint, im Buch selber dann eigentlich nicht mehr vorkommt oder nur oberflächlich behandelt wird.

Auch in diesem Buch geht es nicht darum, Seele zu definieren, denn dies ist grundsätzlich weder sinnvoll noch möglich. Ich werde mich beschreibend mit der Sehnsucht beschäftigen, die sich hinter der Chiffre Seele verbirgt. Diese Beschreibung will Zugangsmöglichkeiten zum Seelischen aufzeigen und dadurch verständlicher machen, was es heißt, Seele zu erfahren, Seele zu verlieren, Seele zu gewinnen und Seele zu pflegen.

Wie wirklich Seele ist

Trotz der Tatsache, dass Seele nicht greifbar und messbar ist, waren die Menschen von der Idee, die mit dem Begriff Seele verbunden ist, immer fasziniert und haben von ihren Wirklichkeiten und ihrem Funktionieren verschiedene, teils gegensätzliche Vorstellungen entwickelt. Man kann zwei Hauptrichtungen unterscheiden:

Die einen behaupten, dass Seele eine von der Materie getrennte Wirklichkeit sei und grundsätzlich auch ohne Materie bzw. Körper existieren und leben könne. Diese beziehen sich auf den griechischen Philosophen Platon.

Die Gegenrichtung ist der Auffassung, dass man Seele nicht getrennt von der Materie sehen könne. Diese haben Aristoteles, einen Schüler Platons, als Gewährsmann. In dieser Ausrichtung geht man heutzutage zum Teil so weit, sich vom Begriff Seele ganz zu verabschieden, da sich alles, was im Menschen geschieht, einfacher über neurologische Abläufe erklären ließe.

Die platonische Auffassung, dass Leib und Seele trennbare Wirklichkeiten sind, lässt nicht nur die Vorstellung einer präexistenten Seele zu, sondern auch die der Seelenwanderung. Auch der Idee, dass die Seele im Augenblick des Todes den menschlichen Körper verlässt und irgendwie und irgendwo weiterlebt, liegt diese Auffassung zugrunde. Diese Sicht der Seele ist nicht ohne Folgen für die Lebensauffassung und -gestaltung: Sie hat in den Kirchen, aber auch in anderen Religionen und kulturellen Strömungen zu körperverachtenden und leibfeindlichen Einstellungen geführt.

Ich sympathisiere mit dem Ansatz, dass Materie und Seele/Geist unweigerlich zusammengehören und ohne einander nicht existieren und noch weniger funktionieren können: Seele ist ohne materielle oder körperliche Grundlage nicht vorstellbar.

Der Körper ist Form der Seele

Aristoteles, der diese Theorie von der Seele-Körper-Einheit maßgebend geprägt hat, war der Meinung, dass Materie und Form zusammenhängen und einander bestimmen. Die Organisation der Materie macht nicht nur ihre Form aus, sondern bestimmt auch ihre Funktion. Je nach ihrer Organisation und Form kann dieselbe Materie verschiedene Funktionen haben. Ein Beispiel aus unserer Alltagswelt kann das veranschaulichen: Schreibtische, Computer, Kabel, Telefongeräte und mehrere Menschen können einem Lagerraum, einem Geschäft, einem Büro oder einer Forschungseinrichtung zugeordnet sein – je nachdem, wie sie angeordnet und aufeinander bezogen sind. Diese Anordnung, die das spezifische Funktionieren eines Lagerraums, eines Büros oder einer Forschungseinrichtung bestimmt, kann – im Bild gesprochen – »die Seele der Einrichtung« genannt werden. Die menschliche Seele wäre demnach das Organisationsprinzip oder die Organisationsstruktur, welche die Teile, aus denen ein Mensch besteht, so anordnet und erhält, dass der Mensch Mensch ist und als solcher »funktioniert«. Diese Auffassung entspricht auch den Erkenntnissen der Gehirnforschung, nach denen nicht die Neuronen an sich die Gehirnfunktionen ermöglichen, sondern die Form ihrer Verbindung: Die Formen der Netzwerke der Neuronen sind die Voraussetzung dafür, dass und wie wir denken und fühlen (Oomen, 380 ff.).

Analog dazu zeigt sich die Seele eines Menschen in der Art, wie die Aspekte, die einen Menschen ausmachen – Gefühl, Körperbewusstsein, Denken, Wollen, Wissen etc. –, aufeinander bezogen sind. Die menschliche Seele ermöglicht und bewirkt also eine besondere Art und Weise zu denken, zu fühlen, zu essen, zu trinken, zu arbeiten, zu lieben und zu Gott in Beziehung zu treten.

Diese Auffassung von der Seele entspricht auch der biblischen Vorstellung vom Menschen. Im Alten Testament gibt es keine Trennung zwischen Leib, Gefühl und Geist; das hebräische Wort nefesh, das wir mit »Seele« übersetzen, bedeutet im Hebräischen auch Leben, Atem, Kehle und Person und ist der Versuch, Bedeutung und Funktion dieser Wörter zu verbinden. Nefesh ist der Sitz des Lebens, der Körperlichkeit, Denken und Fühlen integriert. Auch im Neuen Testament meinen nefesh oder psyche die ganze Person und ihr emotionales Leben. Leib und Seele gehören also zusammen, können ohne einander nicht funktionieren und beeinflussen sich gegenseitig.

Diese Überzeugung leitet sich aus der biblischen und aristotelischen Sichtweise des Menschen in Verbindung mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft her.

Daraus folgt, dass eine möglichst gute Integration der leib-seelischen Funktionen die Voraussetzung von menschlicher Entwicklung und menschlichem Wohlbefinden ist. Das Wohlbefinden von Körper und Seele bedingt sich wechselseitig.

Im Lauf der Geschichte sind die Menschen immer wieder der Versuchung erlegen, entweder den Körper auf Kosten der Seele in den Vordergrund zu stellen oder die Seele auf Kosten des Körpers. Sowohl die machtvolle Überzeugung von Teilen der abendländischen philosophischen und theologischen Tradition, dass sich geistliches oder spirituelles Leben besser entwickeln könnte, wenn man den Körper mit seinen Bedürfnissen zurückstellt oder durch strenge Askese zum Schweigen bringt, als auch die eher zeitgenössische Art, dem Körper auf Kosten der seelischen Aspekte des Lebens zu huldigen, sind einseitige Irrwege, die sich mittel- und langfristig als schädlich für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen erweisen. Nur im delikaten Tanz zwischen Seele und Körper kann die Seele einerseits zum Sinnesorgan jener Wirklichkeit werden, die wir mit den fünf Sinnen allein nicht wahrnehmen, und andererseits der Körper ein Widerschein der göttlichen Wirklichkeit sein, die er dank der Seele erleben kann.

Aber wie kommt man in dieses besondere Gleichgewicht? Wie lernt man, die Seele zu spüren und sie in die körperlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten zu integrieren? Ich will hier zu einer Spurensuche einladen und damit anregen, selbst zu suchen und zu versuchen, die Seele, die sich je individuell und persönlich zeigt, zu spüren.

Denken: Trittstein zur Seele

Die sich im Körper verwirklichende Seele hat unter anderem zwei, wohl ausschließlich menschliche, Fähigkeiten: Menschen können über sich nachdenken, und sie können sich als Denkende beobachten. Das ist ein Weg, die Tätigkeit der Seele spüren zu lernen. Durch Selbstwahrnehmung und Selbstbeobachtung erfährt der Mensch, dass er sich seiner bewusst ist. Und in der Beobachtung dessen, was geschieht, wenn ich mir bewusst werde, dass ich mir bewusst bin, öffnet sich das Tor der Seele. Indem der Mensch lernt, seine eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen aus der Distanz zu beobachten, ist er in der Lage, seinen Umgang mit ihnen zu verändern.

Der erste und wesentliche Schritt in der psychologischen und spirituellen Entwicklung ist die Erkenntnis, dass Gedanken, Gefühle und Handlungen vor allem das Ergebnis persönlicher Überzeugungen und Einstellungen sind, die man natürlich auch ändern kann. Diese Erkenntnis ist meistens ein echtes »Aha-Erlebnis«. Weil wir meinen, wir müssen so denken, fühlen und handeln, wie wir das vielfach unkritisch und unreflektiert tun, und alle würden in unserer Situation Gleiches erleben, glauben wir, dass wir nach einheitlichen Schemata leben, die wir nicht ändern können. Freiheit, Würde und Einmaligkeit des Menschen sind aber darin begründet, dass dem nicht so ist. Über und hinter unserem Denken und Fühlen ist eine Wirklichkeit, die uns, wenn wir uns in ihren Horizont begeben, Alternativen und Wahlmöglichkeiten bietet.

In diese Wirklichkeit treten wir ein, wenn wir lernen, unser Denken und Fühlen zu beobachten. Das bedeutet, einen Punkt zu finden, von dem aus wir uns zuschauen, als ob wir ein anderer Mensch wären. Dadurch gewinnen wir eine objektivere Distanz zu uns selber; wir sehen und spüren, wie wir denken oder fühlen, und erkennen – mit etwas Übung –, dass die beobachteten Gedanken und Gefühle von uns erzeugt sind, dass sie eine Möglichkeit unter mehreren sind und dass parallel zu unserem Denken und Fühlen noch ganz viel anderes in uns abläuft.

Übung für die Seele: Beobachte dich

Suche dir eine Zeit und einen Ort, die es dir erlauben, eine Weile ungestört zu sein. Stelle dir vor, dass du dich aus einer bestimmten Distanz sehen kannst (vom Balkon aus über dir, aus dem Fenster nebenan, durch die offene Tür). Und stell dir vor, dass du deine Gedanken und Gefühle beobachten kannst. Beobachte nur, es ist nichts besser oder schlechter, sondern es ist einfach, was es ist. Die Beobachtung und die Wahrnehmung in der Übung ist nicht wahrer oder falscher als deine üblichen Beobachtungen und Wahrnehmungen, denn auch diese sind nur Beobachtungen und Wahrnehmungen. Du hast dich nur an sie gewöhnt und meinst, dass sie deshalb wahr sind.

Was sieht, denkt, fühlt die Beobachterin vom Balkon, durchs Fenster, in der Tür? Durch die Beobachtung, dass neben einem Gedanken und Gefühl noch viel mehr da ist, endet die Identifikation mit dem Gedanken und Gefühl und du kommst zur Erkenntnis, dass du zwar Gedanken und Gefühle »hast«, aber nicht der Gedanke oder das Gefühl »bist«.

Im Grunde ist Denken die Fähigkeit zu dieser Beobachtung und Wahrnehmung. Wenn wir uns nur mit dem befassen, was gerade jetzt zu tun oder zu organisieren ist, oder überhaupt nur mit dem, was andere von uns erwarten, Fernsehen und Medien uns anbieten, reagieren wir nur. Wenn wir aber immer wieder von diesen Vorgaben Abstand nehmen und uns fragen, was wir wollen, können oder möchten, warum wir etwas tun oder nicht tun wollen, werden wir zu dem, was wir – und nur wir – werden können.

In diesem Denken entwickeln wir mehr und mehr, was typisch menschlich ist: Wir übersteigen uns und spüren, dass wir zu einer Wirklichkeit gehören, von der die Physik nichts weiß (Hell, 2009, 17).

Sich aus der Distanz beobachten und wahrnehmen zu können, ist eine einfache und wichtige Form der Achtsamkeit. Es ist ein Tor zur Seele oder zur metaphysischen Dimension der Psyche (Hinterhuber, 100).

Wenn wir lernen, uns nicht mit unseren Gedanken und Gefühlen zu identifizieren und uns aus der Perspektive der Beobachterin oder des Beobachters wahrzunehmen, erleben wir zum einen, was es heißt, uns aus der Perspektive der Seele wahrzunehmen, und erhalten zum anderen ein emotionales Feedback zu dem, was die Seele im Zusammenhang mit unseren Erfahrungen erlebt. Wir können lernen zu spüren, was Gedanken und Gefühle, was Begegnungen mit anderen Menschen in uns auslösen.

Die eigene Erfahrung und die Eigenbeobachtung lehren uns, dass es uns immer dann gut geht, wenn unsere Gedanken, Gefühle, Begegnungen und Handlungen in der Lage sind, Bedeutung und Sinn zu erschließen; das ist ein Hinweis darauf, dass die seelische Energie fließen kann. Wenn wir aber nicht in der Lage sind, Bedeutung zu erzeugen, wird unser Energiefluss blockiert und es geht uns schlecht. Der freie Energiefluss und die Entstehung von Bedeutung bedingen sich also gegenseitig. Natürlich schaffen auch unangenehme Themen Bedeutung und Austausch. Aber sie kennen den Energiefluss und erzeugen damit ein eigenartiges, im Schnitt unangenehmes Gefühl. Das spüren wir besonders in nahen Beziehungen: Wenn wir mit Menschen, die uns eigentlich wichtig sind, zusammen sind und kein Energiefluss zustande kommt. Wenn trotz des Zusammenseins kein Kontakt da ist, kann die Energie nicht fließen, und das löst Gefühle von Verletzung, von Traurigkeit und Bitterkeit aus.

Wir können also feststellen, dass die Seele unser eigentliches »Sinnesorgan« ist. Sie kann in unseren Begegnungen und den damit verbundenen Empfindungen wahrnehmen, ob daraus Bedeutung und Sinn entstehen kann – oder nicht. Noch einfacher: Sinn ist der Stoff, der die Seele nährt und belebt.

Psyche, Selbst und Seele

Das Wort Seele kennt man aus dem Kontext der Religion, der Philosophie und in letzter Zeit auch aus der Esoterik. Für viele Menschen ist der Begriff deswegen suspekt, scheint er doch auf Weltbilder zu verweisen, die einem modernen Lebensstil widersprechen. Da auch die Psychologie eher vom Selbst als von der Seele spricht, ist es sinnvoll, den Begriff der Seele um die Beschreibung des Selbst auszuweiten, zu vertiefen und glaubwürdiger zu machen. Auch wenn der Begriff des Selbst, ähnlich dem der Seele, eher diffus und schwer definierbar ist, erhalten wir doch eine konkretere Vorstellung von der Seele und einen zusätzlichen Zugang zu ihr.