Clemens Bittlinger

Großzügigkeit

Kleinkariert war gestern

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Impressum

Für Rosi

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Erika Hemmerich, © 2012 Clemens Bittlinger

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80088-7

ISBN (Buch) 978-3-451-61254-1

Inhalt

Einleitung

Verschwenderisch: Die Schöpfung

So langsam wie möglich!

Großzügigkeit kann man lernen 1

Großzügigkeit versus Gutmütigkeit

Um des lieben Friedens willen

Spar deinen Wein nicht auf für morgen

Groß denken und groß handeln

Großzügigkeit kann man lernen 2

Das Navigationssystem

Das Geschenk

Gelassenheit

Ein Lob des Alters

Kannst du mir mal dein Auto leihen?

Voneinander lernen

Die gute Fee

Von Schnorrern und Pharisäern

»Entdecke die Möglichkeiten!«

Großzügigkeit kann man lernen 3

Das große Vaterherz

Das lasse ich mir gefallen!

Einen Antrag auf Erteilung …

Machtspiele

Über den Wolken

»Geiz ist geil«

»Du tust mir gut!«

Vergebung

Im Zweifelsfall: großzügig!

Hauptsache: Auferstehung

Ausblick

Literatur

Einleitung

»Im Zweifelsfall: großzügig!« Irgendwo habe ich schon als Kind diesen Satz aufgeschnappt und er hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Mit der Zeit wurde daraus für mich so eine Art Lebensmotto und ich habe immer wieder versucht, mir diesen Satz in den unterschiedlichsten Situationen selbst zu sagen und vor Augen zu halten. Und je älter ich werde, desto wichtiger ist mir dieses Motto geworden. Denn wer möchte nicht von anderen großzügig behandelt werden? Wer freut sich nicht, wenn bei einer Fahrzeugkontrolle der diensthabende Polizist gut gelaunt und fröhlich einmal »fünfe gerade sein lässt« und die zu schnell gefahrenen Kilometer »noch einmal« mit einer Ermahnung kommentiert? Wer hat schon etwas dagegen, wenn einem bei einer Autopanne schnell und unkompliziert geholfen wird und der Mechaniker auf die Frage, was es denn nun koste, antwortet: »Das geht schon in Ordnung, es war ja nur eine Kleinigkeit«? Großzügige Menschen machen unser Leben schöner, überraschend und angenehm; wir sind angenehm überrascht, wenn uns jemand großzügig begegnet. Und wenn ich mich umschaue, dann stelle ich fest: Ich bin umgeben von großzügigen Menschen, Freunden, Bekannten, Kolleginnen und Kollegen, die mir nicht kleinkariert und engstirnig, sondern mit einer großen Weite begegnen. Menschen, die bereit sind, von dem, was sie haben, das Beste zu teilen und sich daran zu freuen, wenn es dem anderen auch gefällt und gut geht. In diesem Buch erzähle ich viele Beispiele aus meinem Leben, in denen ich sie aufspüre, die Großzügigkeit.

Kleinkariertes Denken und Verhalten kennen und erleben wir in unserem Alltag zur Genüge und vielleicht stehen wir manchmal selbst in der Gefahr, engstirnig und wenig flexibel zu reagieren. Ich sitze zwar nicht den ganzen Tag am Fenster und zeige jeden Parksünder gleich an, aber bei nächtlicher Ruhestörung, heiklen Situationen auf der Autobahn oder bei Konflikten am Arbeitsplatz merke ich doch, wie schnell sich einem das kleinkarierte Muster in die Brille schiebt. Die meisten Menschen, die ich kenne, wollen das nicht, wollen solches Denken und Verhalten hinter sich lassen oder sich abtrainieren. Deshalb mag der Titel dieses Buches fast wie eine Proklamation, in jedem Fall wie eine deutliche Selbstverpflichtung daherkommen: Großzügigkeit – Kleinkariert war gestern!

»Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus!«, sagt eine alte Volksweisheit. Der Kreislauf der Großzügigkeit funktioniert nur, wenn diejenigen, die großzügig sind, auch immer wieder mal selbst so behandelt werden. Jemand, der immer nur gibt und sich für andere »opfert« und niemals etwas zurückbekommt, wird es irgendwann leid sein und sich zurückziehen. Dabei lebt die Großzügigkeit gerade davon, dass sie nicht berechnend ist. Man ist nicht großzügig, um etwas zu erreichen, sondern weil man so sein möchte, weil man so leben, denken und handeln möchte. Und es ist wichtig, dass ich mir die Großzügigkeit anderer auch gefallen lasse und nicht immer versuche, mit meiner Freigiebigkeit alles zu dominieren. Jemand, der im Restaurant die Rechnung für alle begleicht und noch ein gutes Trinkgeld dazu gibt, muss es sich gefallen lassen, dass er oder sie beim nächsten Mal ebenfalls eingeladen wird. Das gut gemeinte Argument: »Nein, jetzt lass mal, ich habe doch viel mehr Geld als du« mag mal gelten, aber auf die Dauer muss ich den anderen Gelegenheiten bieten, ebenfalls ihre Großzügigkeit zu zeigen. Dabei geht es beileibe nicht nur um Geld, sondern um die ganze Art und Weise, wie ich mich verschenke, meine Zeit, meine Aufmerksamkeit, meine Gastfreundschaft, meine Begabungen. Es gibt Menschen, die von Natur aus so sind, es gibt Menschen, die sind eben nicht so und es gibt Menschen, die sind kleinkariert, geizig und habgierig. Für die ersteren sei gesagt: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Naturveranlagung, denn sie macht für Sie und für andere vieles leichter. Freuen Sie sich mit mir über dieses Buch und entdecken Sie, in wie viele Bereiche diese Haltung hineinstrahlt und dass Sie auf einen alten spirituellen Wegbegleiter für Ihre »Veranlagung« zurückgreifen können: die Bibel. Die Bibel atmet Großzügigkeit.

Allen anderen sei gesagt: Großzügigkeit kann man lernen und einüben, und wenn Sie das interessiert, wenn Sie das spannend finden und lernen möchten, dann freuen Sie sich über dieses Buch und entdecken Sie die vielen Möglichkeiten, wie Sie sich selbst und andere überraschen und hier und da vielleicht auch über sich selbst hinauswachsen können. Sollten Sie jedoch zu der Spezies gehören, die Geiz und Habgier toll findet, dann möchte ich Ihnen zumindest zu Ihrer Ehrlichkeit gratulieren, aber dann klappen Sie dieses Buch wieder zu, es sei denn, Sie möchten sich amüsieren über jene weltfremde, einfältige Lebenshaltung, die ohne klar geregelte Rückgabegarantie, ohne vereinbarte Gegenleistung und einfach so ins Blaue anderen Gutes tut. Dann lesen Sie ruhig weiter, aber ich warne Sie: Großzügigkeit kann ansteckend sein!

Verschwenderisch:
Die Schöpfung

»Am Anfang schuf Gott Himmel …«, das sind die ersten Worte der Bibel und sofort tauchen wir hinein in einen unglaublich weiten Raum. Mit Himmel ist der Kosmos gemeint, alles, was sich im Weltall befindet. Wenn ich in einer sternenklaren Nacht hinausschaue und immer mehr Lichter wahrnehme, dann fühle ich mich ganz klein und unbedeutend. Was sind wir Menschen schon angesichts dieses unfassbar weiten Raums? Das ist wirklich groß: 100 Milliarden Galaxien, in denen sich wiederum 100 Milliarden Sonnensysteme befinden. Eine von diesen 100 Milliarden Galaxien ist das, was wir die Milchstraße nennen und innerhalb dieser Galaxie sind wir eines von 100 Milliarden Sonnensystemen allein in der Milchstraße, können Sie das wirklich denken? Ich kann es nicht, es ist einfach unvorstellbar. Es ist so groß und so weit, dass ich es wirklich nicht fassen kann. Und doch ist es so. Die räumlichen Dimensionen, in die wir »eingebettet« sind, bewegen sich in einer Größenordnung, die wir nur noch mit Lichtgeschwindigkeit beschreiben können (zum Beispiel: Die Strecke von der Erde bis zum Mond beträgt etwa 390 000 Kilometer, das entspricht ca. 1,3 Lichtsekunden). »Bewegen« deshalb, weil die Schöpfung ja nicht zu Ende ist. Das Weltall wächst ja, es dehnt sich immer weiter aus.

Wenn wir also beginnen, unser Denken zu erweitern und größer werden zu lassen, dann folgen wir im Grunde einem Naturgesetz und tun das, was unser Umfeld (im weitesten Sinne) seit Milliarden von Jahren tut: Es weitet sich aus, rasant! Wenn ich in einer sternenklaren Nacht hinausschaue und immer mehr Lichter wahrnehme, dann fühle ich mich wie gesagt ganz klein und unbedeutend. Wenn ich dann jedoch in der Bibel lese und erfahre, dass der Schöpfer des Kosmos sich den Menschen auserwählt hat, den Menschen geschaffen hat zu seinem Ebenbild und zwar in der zweifachen Weise als Mann und als Frau, dann fühle ich mich auf einmal »großartig«, von großer Art, große Kunst, das ist die Schöpfung. Das ist der Mensch.

Und wie habe ich mir nun diesen Gott vorzustellen? Die häufigste Darstellung Gottes ist die eines kräftigen älteren Herrn mit Rauschebart und die bekannteste Darstellung ist wohl jene in der sixtinischen Kapelle in Rom von Michelangelo. Doch warum wird und wurde Gott immer als Mann dargestellt, wo doch in den alten biblischen Texten ganz klar und für die damalige Zeit unfassbar revolutionär beschrieben wird: »Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, als Mann und Frau schuf er sie«? Ich weiß jetzt zwar, dass ich ein Ebenbild Gottes bin, aber wie habe ich mir dann Gott vorzustellen: als Zwitter oder als ungeschlechtliches Zwischenwesen? Könnte das zweite Gebot »Du sollst dir kein Bildnis machen« vielleicht nicht nur in Abgrenzung zu den vielen anderen Religionen, die sich Götzenbilder schufen, die sie anbeteten, formuliert sein, sondern auch in der weisen Absicht, dem Menschen zu raten: Versucht erst gar nicht, euch ein Bild von mir zu machen, denn alle Bilder werden scheitern? Es ist ja auch nicht ausgemacht, dass wir die einzigen Lebewesen im Kosmos sind, die Gott als sein Ebenbild geschaffen hat, vielleicht ist Gott äußerst variabel und wir sind nur eine von 100 Milliarden Ebenbildlichkeiten des einen Gottes. Aber selbst wenn es so wäre, wäre es trotzdem legitim, sich den Schöpfer auch menschlich vorzustellen.

Wahrscheinlich ist, dass wir viel zu klein denken und wahrscheinlich ist auch, dass es angesichts von 100 Milliarden Sonnensystemen in jeweils 100 Milliarden Galaxien im Weltall vor Leben nur so wimmelt. Wenn sich in nur einem von den 100 Milliarden Sonnensystemen die gleichen lebensbegünstigenden Umstände ergeben (haben) wie in unserem Sonnensystem, dann wären das immer noch (bei 100 Milliarden Galaxien) 100 Milliarden unterschiedlichster Formen intelligenten Lebens im Weltraum. Wahrscheinlich ist jedoch, dass es »da draußen« sehr viel mehr Lebensformen gibt. Seien wir erst einmal froh, dass wir nicht (wie man bis zum Mittelalter geglaubt hat) das Zentrum des Kosmos sind, sondern uns in einem Randsonnensystem einer Randgalaxie befinden. Dort lebt es sich, vermute ich, kosmologisch gesehen ruhiger.

Sonne

Im Weltraum ist eine Party angesagt. Treffen sich zwei schwarze Löcher, sagt das eine: »Du, ich weiß überhaupt nicht, was ich anziehen soll.« Sagt das andere: »Alles!«

Die Bibel beschreibt nicht, wie der Mensch erschaffen wurde, sondern warum. Sie tut das in der ausschmückenden, übertreibenden, orientalischen Erzählweise alter Mythen und trotzdem finden sich immer wieder Hinweise, die im Dialog mit den Erkenntnissen der modernen Astrophysik zumindest interessant und erhellend erscheinen. Dabei ist es sowohl für den Theologen als auch für den Naturwissenschaftler notwendig, größer zu denken und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen:

Der Naturwissenschaftler sieht und beschreibt, überprüft, rechnet nach, experimentiert, rechnet wieder, macht die Gegenprobe, verifiziert und beschreibt schließlich, wie etwas funktioniert oder funktionieren könnte. Der Glaubende erahnt, staunt und traut dem Offenbarten, er sieht hinter der Komplexität des Weltalls den Schöpfer, er denkt nach, sucht das Gespräch mit denen, die mehr wissen und findet eine Antwort auf das Warum. Beide, der Glaubende und der Naturwissenschaftler, stehen vor einem Rätsel. Je mehr sie wissen und voneinander lernen, desto mehr staunen sie. Beide.

Die schönsten und interessantesten »Objekte« im Weltall sind die explodierenden Sterne (Supernovae) und die sogenannten planetarischen Nebel. Jeder Stern heizt sich irgendwann soweit auf, dass er explodiert und sich und sein Umfeld zerstört. Die Sonne ist unser Stern und auch sie wird in etwa fünf Milliarden Jahren explodieren. Das mag erschreckend klingen, aber fünf Milliarden Jahre sind ja auch noch eine ziemlich lange Zeit. Es ist eher wahrscheinlich, dass die Menschheit es bis dahin geschafft hat, sich auf anderem Wege selbst zu beseitigen; oder man hat ein jüngeres Sonnensystem entdeckt, in dem die Menschheit weiterleben kann. Sie merken: Hier ist der reale Boden, aus dem Science-Fiction-Romane erwachsen. Für das Leben im Weltall war und ist es notwendig, dass Sterne sterben, denn nur dann werden jene chemischen Substanzen freigesetzt, aus denen zum Beispiel der Mensch besteht. Im zweiten Schöpfungsbericht lesen wir, dass Gott aus Staub einen Klumpen formt und seinen Atem hineinbläst. Heute wissen wir: Aus Sternenstaub sind wir gemacht. Das alles ist groß, vielleicht zu groß für unser Denken, in jedem Fall ist es ein Anfang, der uns ermutigen und herausfordern will, selbst groß zu denken.

Wo wir Großzügigkeit finden, da begegnen wir Gott. Einen anderen Schluss lässt die Schöpfungsgeschichte nicht zu. Es wird beschrieben, wie die Erde in sechs Tagen, in sechs Etappen und Zeitabschnitten erdacht und geschaffen wurde in einer atemberaubenden Vielfalt, die in uns die Sehnsucht nach allem weckt, was Leben atmet. Wenn wir uns allein die Flora und die Fauna dieser Welt betrachten, mit wie viel spielerischer Kreativität die Wesen und Pflanzen dieser Erde entwickelt wurden und entstanden sind, dann können wir nur staunen. Und wir kennen ja noch längst nicht alle Lebewesen auf diesem Planeten. Man schätzt, dass es allein in der Tiefsee etwa eine Million verschiedener Lebensformen gibt, von denen wir gerade mal 30 Prozent kennen.

Doch zurück zur Erdoberfläche: Wir sind umgeben von einer bunten Vielfalt, einem unglaublichen Artenreichtum. Allein im Reich der Insekten gibt es so viele filigrane und dennoch hochspezialisierte Lebewesen, dass man nur staunen kann.

Sie wiegt 6,8 Gramm bei einer Flügelfläche von 2,5 Quadratzentimetern und einem Winkelabstand von sechs Grad. Nach den Gesetzen der Aerodynamik kann die Hummel nicht fliegen. Die Hummel weiß das nicht!

Die Schöpfungserzählungen wollen nicht erklären, wie die Erde geschaffen wurde, sondern warum. Die wichtigste Aussage der Schöpfungserzählungen war für die Menschen damals: »Und Gott sah, dass es gut war!« In einer Welt, in der man sich vieles nicht erklären konnte, in der man scheinbar hilflos dem Wechsel der Gezeiten, den Launen des Wetters und den Katastrophen ausgeliefert war, zu wissen: Die Schöpfung ist gut, sie ist verlässlich. Das ist die gute Nachricht der Schöpfung: Es ist gut!

Natürlich hat der Mensch versucht, die Natur zu kopieren, aber wenn man das probiert, merkt man eigentlich erst, wie viel dahintersteckt. Wie sagte der Astrophysiker Andreas Burkert so treffend: »Je mehr wir erkennen, desto Wo wir Großzügigkeit finden, da begegnen wir Gott. Einen anderen Schluss lässt die Schöpfungsgeschichte nicht zu. Es wird beschrieben, wie die Erde in sechs Tagen, in sechs Etappen und Zeitabschnitten erdacht und geschaffen wurde in einer atemberaubenden Vielfalt, die in uns diemehr staunen wir!« Die Bibel beschreibt nun, wie groß und vielfältig die Schöpfung gedacht und gemacht wurde und dass alles, was erschaffen wurde, gut war. Alles, auch der Moskito, die Wespe und der Bandwurm, alles hat seinen Zweck, alles ist gut. Ich muss das nicht alles gut finden und ich muss lernen, damit umzugehen, aber ich darf zunächst einmal erkennen: Wo Gott ist, da ist Kreativität, und die denkt groß und atmet Freiheit, nämlich die Freiheit, am siebten Tag zu pausieren und zu ruhen. In einer Welt der Sklaverei und der Fronarbeit war das ein unglaublicher Freiraum: Einen Tag in der Woche soll ich, muss ich, darf ich aussteigen aus dem Hamsterrad und nichts tun, ausruhen, mit den Kindern spielen und das Leben genießen.

Gottes großer, bunter Garten

Übers Leben uns zu freuen,
wo es wild und frei gedeiht,
wollen wir in diesen Zeiten
nicht vergessen und dabei
Gottes großen, bunten Garten
staunend sehen und begehn.
Vor den Wundern seiner Schöpfung
bleiben wir voll Sehnsucht stehn.

Der Sehnsucht nach Leben
entspricht die Pflanzenwelt,
die Jahr für Jahr aufs Neue
die Erde kraftvoll füllt.

Der Sehnsucht nach Freude
entspricht die Farbenpracht
der Blüten und der Früchte,
die Gott für uns erdacht.

Der Sehnsucht nach Vielfalt
entspricht die Gegenwart
der vielen tausend Arten,
hier wurde nicht gespart.

Der Sehnsucht nach Liebe
entspricht das »Ich und Du«,
wo wir einander finden
kommt sie ganz still dazu.

Der Sehnsucht nach Frieden
entspricht die Harmonie,
denn Kriege unter Pflanzen
die gibt und gab es nie.

Der Sehnsucht nach Freiheit
entspricht der weite Raum,
in dem wir leben dürfen,
wir merken es oft kaum.

Übers Leben uns zu freuen,
wo es wild und frei gedeiht,
wollen wir in diesen Zeiten
nicht vergessen und dabei
Gottes großen, bunten Garten
staunend sehen und begehn.
Vor den Wundern seiner Schöpfung
bleiben wir voll Sehnsucht stehn.

So langsam wie möglich!

Mit unserem Konzertprogramm »Atem – Klang der Seele« waren wir zu Gast in Halberstadt, wo seit 2001 in der Burchardi-Kirche ein Stück von John Cage uraufgeführt wird, das 639 Jahre dauern soll (jetzt sind es nur noch 627 Jahre). Während das Stück läuft (Dauertöne von Orgelpfeifen) wird eine Orgel nach und nach aufgebaut. Die nur acht Seiten umfassende Partitur von John Cage hatte dieser mit der Anmerkung versehen: »play as slow as possible« – »bitte so langsam wie möglich spielen!« Tja, und das wird nun umgesetzt – in Halberstadt. Als ich das erste Mal von diesem Projekt gehört habe, dachte ich: »Das ist ja irgendwie ganz schön durchgeknallt«, aber mein lieber Mitmusiker und Freund Matthias Dörsam, ein begnadeter Saxophonist, war hellauf begeistert von diesem Projekt. Immer wieder erzählte er mir davon und brachte eine zehnstündige Filmvorführung eines Transatlantikfluges verbunden mit diesem Cageprojekt bei sich in seiner Studiobühne zur Aufführung. Nach und nach faszinierte auch mich dieser Gedanke und als wir dann in Halberstadt tatsächlich in dieser Kirche standen, fand ich das Projekt auf einmal sehr schön, angenehm, entschleunigend und: großzügig angelegt. Man steht in dieser leeren, fast ruinenhaften Kirche und hört einen Dauerton von zwei Orgelpfeifen, die auf einen Holzblock montiert sind. Und obwohl das Ganze auf den ersten Blick eher an eine Bodenentfeuchtungsanlage erinnert, wird man doch ergriffen und spürt, dass man in diesem Moment Teil eines großen und sehr langfristig angelegten Werkes ist.

Der kürzeste Ton dauert einen Monat und der längste Ton über 52 Jahre. Das Projekt finanziert sich dadurch, dass Liebhaber sich einzelne Töne und Tonwechsel kaufen. Das kostet im Schnitt etwa 1000 Euro und man wird auf einer kleinen Messingtafel an den Wänden der Burchardi-Kirche verewigt. Wann immer ein Tonwechsel angesagt ist, wird dies als großes Happening gefeiert, zu dem hunderte von Besuchern und Kunstbegeisterten strömen. Tatsächlich passiert da aber nichts anderes, als dass eine Orgelpfeife hinzugefügt oder ausgetauscht wird, deren Luftklappe mit einem herabhängenden Sandsäckchen offen gehalten wird und somit im Dauerton erklingt. Der letzte Tonwechsel war am 5. Oktober 2013, der nächste wird sieben Jahre später, Anfang September im Jahr 2020, sein. Wir haben uns fest vorgenommen, dann dabei zu sein.

Hier haben Menschen, Visionäre, ein Kunstwerk begonnen, dessen Ende sie selbst nicht miterleben werden. Ähnliche Beispiele finden wir in der Architektur, zum Beispiel bei der Erbauung des Kölner Doms: Hier wurde groß gedacht und über Jahrhunderte ein Kunstwerk geschaffen, das groß und großzügig bis heute das Erscheinungsbild der Stadt Köln prägt. Viele Bauprojekte der Antike lassen sich unter dem baulichen Aspekt der Großzügigkeit betrachten. Dass man dabei allerdings auch mit dem Leben und der Gesundheit der Handwerker und Fronarbeiter (zum Beispiel beim Bau der pharaonischen Pyramiden) äußerst »großzügig« umging, verleiht diesen Zeugen einer großen Vergangenheit einen bitteren Nachgeschmack. Unter Großzügigkeit in der Architektur versteht man heute eine große, weitläufige und luftige Bauweise; die Golden Gate Bridge in San Francisco, die künstliche Inselanlage in Palmenform in Dubai oder das Bundeskanzleramt in Berlin fallen mir dabei ein. Allerdings weist schon in der Bibel die Geschichte vom Turmbau zu Babel eindrücklich auf den fließenden Übergang zwischen Großzügigkeit und Größenwahn hin.

Großzügigkeit kann man lernen 1

Beginnen wir mit dem Klassiker: dem Trinkgeld! Vor etlichen Jahren haben wir als Familie eine Zeit lang in den USA gelebt. Wenn man dort in ein Restaurant geht und auf die Speisekarte schaut, liest man nur die »Nettopreise«, denn das Geld für die Bedienung ist in diesen Preisen nicht enthalten. Der so genannte »tip« muss jeweils noch draufgerechnet werden und es wird erwartet, dass man 15 bis 20 Prozent »Trinkgeld« bezahlt. Wenn Sie also etwas für 50 Dollar bestellt haben, wird erwartet, dass Sie etwa 60 Dollar bezahlen. In dieser Zeit erhielten wir Besuch von sehr weitgereisten und welterfahrenen Freunden, die die Tatsache gerne nutzten, dass wir in Berkeley für vier Monate ein Haus gemietet hatten. Eines Abends luden sie uns zum Essen ein. Die Gesamtrechnung betrug etwas über 150 Dollar. Unser Freund legte den Betrag genau abgezählt auf das Tablett. Da sagte ich ihm: »Du hast den ›tip‹, das ›Trinkgeld‹ vergessen.« Darauf erwiderte dieser: »Ne, ich gebe kein Trinkgeld, grundsätzlich nicht, ich bin ja nicht reich!« Daraufhin musste ich ihn aufklären, dass er damit nach US-amerikanischer Sitte die Bedienung brüskieren würde, denn sie bekommt nur einen kleinen Grundlohn und ist auf den »tip« unbedingt angewiesen.

Nun war dieser Freund nicht etwa geizig – er wusste es einfach nicht besser. Wenn auch widerwillig erhöhte er die 150 Dollar auf 170 und lag damit immer noch am unteren Limit eines ganz normalen »tips«. Auch wir mussten uns erst daran gewöhnen, dass der »tip« in den USA etwas ganz anderes ist als das Trinkgeld bei uns. Als wir als Paar unsere erste USA-Reise unternahmen, landeten wir bei einem Nobel-Italiener in Las Vegas. Die Preise waren saftig und lagen weit über unserem normalen Budget, aber irgendwie hatten wir genug vom »Fast- und Junkfood« und wollten mal wieder richtig »gemütlich« zu Abend essen. Die Rechnung belief sich auf 106,50 Dollar. Nach deutscher Manier rundeten wir auf und reichten dem Kellner mit großzügiger Geste 110 Dollar, lächelten ihm zu und sagten: »It’s okay!« Mit steinerner Miene nahm er das Geld entgegen und kehrte nach einiger Zeit mit dem kleinen Tablett, auf dem 3,50 Dollar lagen, zurück.

Als wir Anstalten machten, aufzustehen und zu gehen, wandte er sich an uns und sagte: »Sir (oft wird nur der Mann angeredet), you forgot the tip!«, und ich antwortete ihm: »No, no, it’s okay, there it is!« und deutete auf das Tablett. Da starrte er uns mit großen Augen an, sein Kopf schwoll rot an, er baute sich vor uns auf und schrie: »That’s the tip?«, drehte sich um und verschwand. Wir haben damals nicht verstanden, was das Problem war, haben uns aber im Laufe der Reise dann doch kundig gemacht, was es mit dem amerikanischen Trinkgeld auf sich hat.

Während in Deutschland ein Trinkgeld von 10 Prozent als großzügig gilt, ist dies in den USA erst ab 25 Prozent so, bis 20 Prozent wird es erwartet und ist völlig normal. Aber man kann einen US-Aufenthalt nutzen, um Großzügigkeit zu üben, indem man sich dort normal verhält und dann hier bei uns diese Normalität wieder um 50 Prozent reduziert.

Also: Wenn Sie das nächste Mal ausgehen und die Rechnung beträgt 68,90 Euro, dann widerstehen Sie doch der deutschen Angewohnheit, auf 70 Euro aufzurunden und gönnerhaft »Stimmt so!« zu sagen. Geben Sie doch 72 oder 73 Euro oder, wenn Sie »in Scheinen« bleiben wollen, sogar 75 Euro. Sie werden sehen: Es tut gar nicht weh, Sie wertschätzen den Service und werden auch noch mit einem freundlichen Lächeln belohnt. Und wenn Sie mit Karte zahlen, dann fragen Sie: »Können Sie sich Ihr Trinkgeld ausbezahlen, wenn ich auf 75 Euro erhöhe?« In aller Regel geht das und wenn nicht, dann zahlen Sie den gewünschten Betrag per Bankeinzug und legen Sie fünf Euro in bar drauf. Wenn Sie nur einen 20 oder 50 Euro-Schein haben, dann sagen Sie es der Bedienung: »Ich würde Ihnen gerne noch ein Trinkgeld geben, können Sie mir bitte diesen Schein wechseln?« Niemand erwartet allen Ernstes, dass Sie 20 Euro Trinkgeld geben, also keine Angst: Ihr Geld wird ordnungsgemäß gewechselt und dann können Sie sagen: »Geben Sie mir 15 Euro zurück!« Trinkgeld zu geben hat oft so etwas Verschämtes, so etwas Gönnerhaftes, leicht Protziges, wenn man so konspirativ nebenbei, gewissermaßen »unter der Theke« handelt. Das ist aber Unsinn und wir alle können lernen, es ganz offen und frei zu handhaben und zu üben. Das Gleiche gilt für die sogenannte Kollekte in einem Gottesdienst, hier wird Geld für einen ganz bestimmten Zweck gesammelt. Oft sind es soziale Einrichtungen, die da unterstützt werden, oder bestimmte Projekte und Bauvorhaben in einer Gemeinde. Diese Sammlung wird in der Kirche als »Dankopfer« verstanden, als dankbare Antwort der Gläubigen auf das eigene Wohlergehen und den Gottesdienst. Es ist aber auch, neben der Kirchensteuer und dem (in freien Gemeinden üblichen) Zehnten, ein letzter Rest der in der Urgemeinde so wichtigen Gütergemeinschaft. Wem viel gegeben wurde, der möge auch viel weitergeben. Wenn ich mir nun klarmache, dass Kollekte auch »Opfer« bedeutet, dann kann ich mir schon überlegen, ob das bisschen, was ich gelegentlich in den Klingelbeutel lege, tatsächlich einem Opfer entspricht.

Sonne

Kollekten-Ansage in einer Gemeinde: »Wenn Sie das Doppelte geben von dem, was Sie gerade dachten zu geben, ist es die Hälfte von dem, was gebraucht wird.«

Ein weiteres großes Übungsfeld ist der Straßenverkehr: Auch hier lohnt sich ein kleiner Ausflug in ein anderes Land. Es gab Zeiten, da sind wir (meine Frau, ein Team und ich) jedes Jahr mit 50 bis 60 Jugendlichen nach Norwegen gefahren. Wir waren mit einem großen Bus (einem 54-Sitzer), einem VW-Bus und mehreren Pkws unterwegs und fuhren über Hirtshals in Dänemark mit der Fähre nach Christiansand und von dort noch einmal zwölf Stunden durch das Land, um zu unserem südlich von Bergen gelegenen Freizeitheim zu gelangen. Wenn man mit dem Auto und besonders, wenn man mit einem großen Bus durch Norwegen fährt, lernt man vor allem eines: Rücksichtnahme. Mit dem deutschen Fahrstil »Weg da, jetzt komm ich!« kommt man dort nicht weit, denn die Straßen sind viel zu eng. Man muss die Haltebuchten nutzen und sich per Augenkontakt, Licht- und Handzeichen mit dem entgegenkommenden Verkehr verständigen.

Was bei den Norwegern wunderbar klappt, könnte auch in Deutschland gut funktionieren, wenn wir alle ein wenig gelassener, weniger gehetzt und großzügiger wären. Längst sind ja auch bei uns viele Straßen zu eng geworden. Das liegt zum einen daran, dass sie oft beidseitig »beparkt« werden und es liegt zum anderen auch daran, dass manche Zeitgenossen nun auch bei uns mit fetten Pick-ups und Offroadern unterwegs sind, die wohl für die breiten Straßen in den USA, nicht aber für den bundesdeutschen »Innerortsstraßenverkehr« und schon gar nicht für eine EU-genormte Parklücke konzipiert sind. Hier kann man nun üben, den