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Henning Kullak-Ublick

Jedes Kind ein Könner

Fragen & Antworten zur Waldorfpädagogik

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Inhalt

Vorwort

Waldorfschule – Ein kurzer Überblick

Erziehung ist Selbsterziehung

Instrumente der Freiheit

Vergessen und Erinnern

Es war einmal … und gilt auch heute noch

Vorbilder bilden

Der Kopf braucht Hand und Fuß

Auf den zweiten Blick

Von der Erfahrung zur Erkenntnis

Kinder sind Poeten

Prüfungen gehören zum Leben

Besondere Stärken – besondere Schwächen

Anthroposophie und Waldorfpädagogik

Stuttgarter Erklärung

Lehrplan durch alle Stufen

Statt eines Nachworts

Hinweise

Vorwort

Waldorfschulen sind ebenso erfolgreich wie umstritten. Während Eltern die individuelle Förderung ihrer Kinder, die Geborgenheit in einer von Werten getragenen Gemeinschaft, das vielfältige künstlerische und handwerkliche Angebot und die Unabhängigkeit von staatlichen Lehrplänen schätzen, begegnen ihnen immer wieder Einwände, die Waldorfschulen seien elitär, leistungs- und technikfeindlich, weltfremd («Namenstänzer») oder die Kinder würden weltanschaulich beeinflusst.

Obwohl aktuelle wissenschaftliche Studien diese Vorurteile durchweg widerlegen und führende Hirnforscher viele Unterrichtsmethoden der Waldorfschulen als vorbildlich bezeichnen, ist es für Eltern nicht ganz leicht, sich ihr eigenes Bild davon zu machen, worin denn nun das Besondere dieser Schulen besteht und wie es dort im Schulalltag zugeht.

85.000 Schülerinnen und Schüler besuchen gegenwärtig eine der 232 Waldorfschulen in Deutschland (Stand März 2014). Weltweit gibt es weit über 1.000 Waldorfschulen und fast drei Mal so viele Waldorfkindergärten. Die Abiturientenquote von Waldorfschülern liegt über dem Durchschnitt der Bundesländer, Waldorf-Absolventen werden in der Arbeitswelt wegen ihrer Initiativkraft und Teamfähigkeit geschätzt und kommen, wie empirische Studien zeigen, im Berufsleben sehr gut zurecht. Viele Ideen, die an Waldorfschulen entwickelt wurden, haben Eingang ins staatliche Schulwesen gefunden.

Dieses Buch will Eltern und anderen Interessierten dabei helfen, das Leben an einer Waldorfschule an Beispielen aus der Praxis kennenzulernen. Es gibt konkrete Antworten auf viele häufig gestellte Fragen – hervorgehoben, kurz und knapp, wie etwa die Fragen: Wodurch unterscheiden sich die Waldorfschulen von anderen Schulen? Wie sieht der Unterrichtsalltag aus? Was ist daran besonders waldorftypisch? Ist «ganzheitliches Lernen» mehr als ein Schlagwort?

Die in den einzelnen Kapiteln versammelten Geschichten aus dem Unterrichtsalltag sind keine wissenschaftlichen Abhandlungen; sie geben vielmehr Einblicke in die tägliche Arbeit eines Klassenlehrers, schließen weite Bereiche des Schullebens ein und schließen mit Erläuterungen, einer Lehrplanübersicht und weiterführenden Hinweisen ab.*

Man muss das Buch nicht unbedingt chronologisch lesen, um es zu verstehen. Die ganze Vielfalt der Waldorfschulpraxis entfaltet sich allerdings erst durch die Summe der einzelnen Kapitel, an deren Anfang eine kurze Einführung in die Grundzüge der Waldorfpädagogik steht.

Bei den vielen Kindern und Jugendlichen, die 27 Jahre lang meine Lehrer waren, möchte ich mich von Herzen bedanken. Einige von ihnen werden sich in den Geschichten wiedererkennen. Ihre Namen, hier und da auch Ort und Zeit, habe ich geändert, nicht aber die Ereignisse selbst.

*Die zwischen die Kapitel gestreuten Fragen und Antworten orientieren sich an den «21 Fragen», die der Bund der Freien Waldorfschulen in der Reihe Blickpunkt veröffentlicht hat.

Waldorfschule – Ein kurzer Überblick

Singen, Gärtnern, Malen, Rezitieren, Zeichnen, Schnitzen, Stricken, Schmieden, Bildhauern, Theaterspielen, Backen, Plastizieren und Eurythmie – dies und noch einiges mehr verbinden die meisten Menschen mit der Waldorfschule. Und sie haben Recht. Weniger bekannt ist, dass all diese künstlerischen und handwerklichen Übfelder aber gar nicht die Hauptsache der Waldorfpädagogik sind, sondern nur besonders augenfällige Bestandteile eines pädagogischen Gesamtkonzeptes, welches das Denken, Fühlen und Wollen jedes einzelnen Kindes beim Lernen gleich ernst nimmt und den Kindern zugesteht, in verschiedenen Lebensaltern auf ganz unterschiedliche Weise zu lernen.

Der griechische Philosoph Heraklit sprach vor 2.500 Jahren einen Gedanken aus, der (hier mit den Worten François Rabelais’) noch heute unvermindert gilt:

«Kinder wollen nicht wie Fässer gefüllt, sondern wie Fackeln entzündet werden.»

Was aber bedeutet das für die pädagogische Praxis? Wie entzündet man denn diese Fackel? Die einzelnen Kapitel dieses Buches geben Einblicke in die Antworten der Waldorfpädagogik auf diese Fragen. Diese Einleitung gibt zunächst einen Überblick über einige wichtige Grundzüge der Waldorfschulen.

Als Rudolf Steiner 1919 auf Bitten des Industriellen Emil Molt die Leitung einer Schule für die Kinder der Tabakarbeiter seiner Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik übernahm, blickte er bereits auf eine jahrzehntelange Forschung zu den körperlichen, geistigen und psychisch-sozialen Wechselwirkungen in der biografischen Entwicklung des Menschen zurück.

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Bestrebungen, der Schule echtes Leben einzuhauchen, mit deren Ansätzen Steiner natürlich bestens vertraut war. Was die von ihm entwickelte Pädagogik von der Reformpädagogik unterscheidet, ist vor allem die Tatsache, dass er kein pädagogisches Programm installierte, sondern die Lehrerschaft dazu anhielt, die individuelle und gemeinsame Entwicklung der Kinder genau zu beobachten und die Unterrichtsmethoden immer wieder neu darauf abzustimmen. Seine methodischen und didaktischen Anregungen leitete er wesentlich aus seinen anthropologisch-anthroposophischen Forschungen ab. Deswegen ist die Waldorfpädagogik kein statisches Modell, sondern in fortwährender Entwicklung begriffen und konnte sich weltweit in ganz unterschiedlichen Kulturen verbreiten. Während seiner fünfjährigen Schulleitertätigkeit gab Steiner allerdings eine Fülle von Anregungen, deren Aktualität und Fruchtbarkeit für die pädagogischen Herausforderungen der Gegenwart immer wieder verblüffend ist.

Was Hänschen mit den Händen lernt, wird Hans mal mit dem Kopf verstehen

Kinder lernen in unterschiedlichen Lebensphasen auf ganz unterschiedliche Weise. Der Dichter Jean Paul Richter sagte über die ersten Lebensjahre, ein Kind lerne mehr von seiner «Amme» als ein Weltreisender während seines ganzen weiteren Lebens. Tatsächlich nehmen kleine Kinder mit einer für uns Erwachsene unerreichbaren Hingabe alles auf und eignen sich nachahmend an, was in ihrer Umgebung passiert. Zugleich entwickelt sich auch ihr Körper noch besonders schnell. Im Zusammenspiel dieser sinnlich-aktiven Erkundung der Welt und ihrer körperlichen Reifung bauen die Kinder das konstitutionelle Fundament für ihr ganzes weiteres Leben. Lernen ist in diesem Alter ein andauernder schöpferischer Prozess, der nicht durch eine zu frühe Intellektualisierung gestört werden sollte. Deshalb schaffen Waldorferzieher im Kindergartenalter eine Umgebung, die lauter Anregungen für die Nachahmung gibt und in der sich die Kinder durch Bewegung, Rhythmus und differenzierte Sinneserfahrungen gesund entwickeln können.

Wenn sie älter werden, lernen die Kinder immer mehr, ihre Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu richten, das Gedächtnis auszubilden und Zusammenhänge nicht nur zu erfahren, sondern aktiv zu erkennen. Das ist die Zeit, in der das Lernen in einer Klassengemeinschaft beginnen kann. An der Waldorfschule wird eine Klasse idealerweise acht, an manchen Schulen auch sechs Jahre lang von einem Klassenlehrer* begleitet, der die Kinder jeden Morgen empfängt und mit dem die Kinder mindestens die erste Doppelstunde, den sogenannten «Hauptunterricht», verbringen. Gemeinsam mit ihrem Lehrer begeben sich die Kinder auf eine lange gemeinsame Entdeckungsreise, während der er sie vom Rechnen zur Mathematik, vom Schreiben- und Lesenlernen zur Literatur, von der Heimatkunde zur Geografie und Geschichte und vom Ackerbau zur Biologie, Chemie und Physik führt. Das stellt hohe pädagogische Anforderungen an die Klassenlehrer, die deshalb schon während ihrer Ausbildung darauf vorbereitet werden, sich gründlich mit ganz unterschiedlichen Fachgebieten vertraut zu machen, diese kreativ zu vermitteln und sich später laufend fortzubilden. Es kommt aber vor allem dem Bedürfnis der Kinder nach einer Bezugsperson, der sie verbindlich vertrauen können, entgegen. Rudolf Steiner nannte das in der Sprache seiner Zeit «geliebte Autorität», womit er zugleich klarstellte, dass Autorität kein Anspruch ist, sondern durch Authentizität verdient sein will.

Im Anschluss an den Hauptunterricht folgt der Fachunterricht, den wechselnde fachlich ausgebildete Lehrer erteilen. Dazu gehören die Fremdsprachen, die vom ersten Schuljahr an unterrichtet werden, Sport, Musik, Eurythmie und Handarbeit, später auch das Werken mit Holz, Gartenbau und eine ganze Reihe von Ensembles, die in der Regel als Wahlpflichtfächer angeboten werden.

Von der Einschulung bis zum zwölften Lebensjahr, in dem die Kinder zunehmend ein reflektierendes, «erwachsenes» Bewusstsein entwickeln, wird an der Waldorfschule sehr darauf geachtet, der sich entwickelnden inneren Vorstellungswelt der Kinder, ihrer Phantasie, Nahrung zu geben. Deshalb werden im «Erzählteil» des Hauptunterrichts viele Märchen, später auch die großen Mythen der Menschheit, erzählt.

Auch der Naturkundeunterricht beginnt mit konkreten Beobachtungen und Bildern; abstrakte Modellvorstellungen folgen erst, wenn die Kinder gründlich geübt haben, selbst hinzuschauen und das Wesentliche durch eigenes Denken herauszufinden. Die Kinder entwickeln ihre Urteilsfähigkeit in diesem Alter hauptsächlich durch eigenes Handeln, reflektierendes Beschreiben und schließlich begriffliches Verstehen des Erfahrenen. Die Waldorfschule legt großen Wert darauf, dass dieser Dreischritt beim Lernen wirklich gegangen werden kann, weil Lernen dadurch zu einem aktiven Vorgang wird und damit die Grundlage für die so oft gehörte Forderung eines lebenslangen Lernens bildet.

Für die jungen Menschen nach der Pubertät verlagert sich der Schwerpunkt des pädagogischen Geschehens zunehmend auf Informationsgewinnung und die Erlangung praktischer, theoretischer, sozialer und individueller Urteilskompetenzen. Hier beginnt die Oberstufe. Hier hat auch die wissenschaftliche Begriffsbildung im engeren Sinne ihren altersgemäßen Platz. Abstrakte Begriffsbildungen der modernen Naturwissenschaften werden in die Betrachtungen des Unterrichts einbezogen, wobei weiterhin ein ergebnisoffener, forschender, auf eigenen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen beruhender Unterricht praktiziert wird. Der mehrwöchige Epochenunterricht wird weiter beibehalten, aber jetzt mit wechselnden Lehrern, die eine fachspezifische wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen haben.

Gestalten, Beschreiben, Erkennen

Über ihre Bewegung, ihre Phantasie und den Gebrauch ihrer Sinne erschließen sich insbesondere die jüngeren Schulkinder Zugänge zur Welt, in die sie außer dem Verstand auch ihr Herz, ihre Neugier und ihr Weltinteresse mitnehmen können. Das Lernen erfolgt, wie oben schon beschrieben, in dem Dreischritt Gestalten, Beschreiben (Sortieren, was wichtiger oder weniger wichtig ist) und schließlich das Bilden eines Begriffes.

Was für jeden einzelnen Lernvorgang gilt, charakterisiert zugleich die Schwerpunkte der Arbeit mit den Kindern in der Unter- und Mittelstufe und später mit den Oberstufenschülern: Zuerst wird die Welt vor allem handelnd erfahren, gefolgt vom genauen Hinschauen und der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff; mit der Pubertät nimmt die abstrakte Begriffsbildung einen wachsenden Raum ein.

Damit folgt die Waldorfschule dem Prinzip des «entdeckenden Lernens», das den Kindern immer mehrere Wege anbietet, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen. In der Heimatkunde einer vierten Klasse kann das beispielsweise bedeuten, dass die Schüler ein Wachsmodell ihrer Stadt im Mittelalter bauen, daran die Bedeutung der Stadtmauern und des Stadtrechts kennenlernen, alte Lieder und Volkstänze ihrer Gegend lernen und zugleich die Herkunft der Straßennamen, die wirtschaftlichen und politischen Gründe für die Entstehung ihrer Stadt entdecken. In ihren selbst gefertigten Schulbüchern, den «Epochenheften», protokollieren sie die wichtigsten Dinge, die sie erfahren haben, und gestalten diese Hefte individuell. Die Vielfalt dieser Zugänge zum Unterrichtsstoff lässt sich in jedem Fach entwickeln und bietet jedem Kind die Möglichkeit, an mindestens einer dieser Aktivitäten Feuer zu fangen und von da aus weiterzugehen. Das ist eine äußerst ökonomische Art zu unterrichten, weil sie fächerübergreifend Fähigkeiten ausbildet, die auch auf ganz anderen Gebieten wieder von Nutzen sind.

Im Chemieunterricht einer siebten Klasse, also in einem Alter, das schon deutlich von den seelischen Achterbahnfahrten der Pubertät geprägt ist, kann man wunderbar mit Feuer, Säuren und Laugen arbeiten und erfahren, wie Substanzen sich verändern, wie es zischt, kocht und kracht – und dass das alles beherrschbar ist. Auch hier gilt wieder: Ein Experiment durchführen, dann genau beschreiben, was man gesehen hat, das Wesentliche protokollieren und dann erst die Gesetze formulieren. So entsteht Wissen aus Erfahrung und Beobachtung. Eine solche Epoche eignet sich auch dazu, im Chor beispielsweise Goethes reichlich dramatischen «Zauberlehrling» zu rezitieren. Wenn sich die Schüler in einer späteren Deutschepoche mit Goethe oder im Physikunterricht mit der Problematik der Kernspaltung auseinandersetzen, haben sie dafür eine zusätzliche Erfahrungsbasis.