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Schluß mit Schule!

das Menschenrecht, sich frei zu bilden

Bertrand Stern

Widmung

dieses Buch widme ich

...jenen (un-)mutigen jungen Menschen, die sich den obsoleten, von der Schule verkörperten und vermittelten Existenz-Modellen entziehen, verweigern. Mögen sie sich nicht nur prospektiv einsetzen für ein wahrhaftiges, aktives, kreatives Leben, sondern für das selbstverständliche Recht, sich frei zu bilden!

...und den sie Begleitenden: Möge ihre Sensibilität, ihre auf Wissen beruhende Überzeugung und ihr Wille zum erforderlichen Wandel sie bewegen, unsere Töchter und Söhne nicht feige zu verraten, sondern sie konsequent zu unterstützen!

...und alle jenen, für die das Visionäre nichts Krankes ist, sondern der Quell aller wirklichen Lebendigkeit.

BertrandStern.psd

Siegburg/Leipzig, am Internationalen Tag der Menschenrechte, 10. Dezember 2006

Schluß mit Schule? – ein Vorwort von Matthias Kern

Daß mit der Schule nicht alles zum Besten steht, ist allgemein bekannt. Aber deswegen gleich mit der Schule an sich Schluß machen? Muß nicht eher versucht werden, die Schulen zu verbessern, eventuell reformierte oder alternative Schulen zu gründen? Sich also für die bessere Schule stark machen, die den eigenen pädagogischen Idealen gerecht wird?

Schluß mit Schule: Versinkt dann nicht alles im Chaos? Es ist durchaus nachvollziehbar, daß eine solche Forderung Bedenken, Befürchtungen und Ängste hervorruft; oder vielleicht die Sorge, wozu es führen würde, mit der Schule Schluß zu machen. Da tauchen Bilder auf wie: Dann würde kein junger Mensch mehr etwas lernen! Dann gehen Bildung und Kultur völlig verloren! Dann breiten sich Egoismus, Massenarbeitslosigkeit und Gewalt aus! Dann brechen Gesellschaft und Staat zusammen! Dann bricht Chaos aus!

Es wird – gerade in Deutschland? – viele Menschen geben, für die eine solche Forderung schlicht inakzeptabel ist: Vielleicht erahnen sie, daß die Umsetzung dieser Parole zu gesellschaftlichen Veränderungen führen würde, die nicht vorhersehbar sind und allein schon deswegen als erschreckend empfunden werden. Da also Schule und Schulzwang nicht angetastet werden dürfen, kann, ja muß diese Forderung getrost als »utopisch« disqualifiziert und beiseite gelegt werden. Von ein paar Reform-ansätzen abgesehen bleibt alles beim Alten...

Aber damit würde – fälschlicherweise und fatalerweise – Lernen mit Schule, Bildung mit Schule, Kultur mit Schule, Gesellschaftsfähigkeit mit Schule gleichgesetzt.

Deshalb ist die von Bertrand Stern erhobene Forderung nicht aus der Luft gegriffen, sondern wohlüberlegt. Er hat sich seit Jahrzehnten mit Schule, mit ihren Ordnungssystemen und mit dem ihr zugrunde liegenden Menschenbild beschäftigt und hierbei Gedanken von Ivan Illich, John Holt, Ekkehard von Braunmühl und anderen fortgeführt. Welche unausgesprochenen und unangetasteten Annahmen und Konzepte unserer Kultur und insbesondere der Schule zugrundeliegen, machten mir die vielen mit Bertrand Stern erlebten und geführten Diskussionen sehr deutlich. Seine Überlegungen und die daraus abgeleiteten Forderungen erscheinen vielen Menschen zu radikal. Dennoch wird in der vorliegenden Analyse klar: Aus der ernstgemeinten Schulkritik lassen sich keine Reformen ableiten, denn Reformen sind ungeeignet, das ideologische und strukturelle Problem der Schule zu lösen. Und: Bertrand Sterns Forderung ist letztlich die logische Konsequenz aus der Haltung, junge Menschen als eigenständige Persönlichkeiten ernstzunehmen, indem insbesondere ihre Rechte und ihre Menschenwürde respektiert und geachtet werden.

Bildung ohne Schule scheint für die meisten Menschen in Deutschland wohl noch kaum vorstellbar. Sie halten Lernen ohne die schulüblichen Rahmenbedingungen wie Lehrpläne, Stundenpläne, Unterricht und Noten für undenkbar. Somit tragen sie dazu bei, die Schule – oder genau genommen: den Schulzwang – zum Dogma zu erheben. Viele Eltern und insbesondere viele Bildungsexperten glauben sogar, daß dies gesetzlich so verankert und unabänderlich sei und sein müsse. Schulzwang wird als Tabu gehegt.

Die derzeit in Deutschland geltenden Regelungen zur Schulpflicht sind in ihrer Tragweite nahezu einzigartig in Europa. Eine staatliche Behörde bestimmt mit Hilfe von Schulen und Lehrplänen, wo sich praktisch ausnahmslos alle jungen Menschen einen großen Teil ihrer Zeit aufhalten, womit sie sich beschäftigen und worüber sie nachdenken sollen. Diese massive Einschränkung der natürlichen und gesetzlichen Rechte junger Menschen, etwa ihres Rechts auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, bedingt, daß sie der Schule sogar zwangsweise zugeführt werden können: Die eigentlich als selbstverständlich zu betrachtende Möglichkeit, sich zu Bildung in anderer Weise als durch den Besuch einer Schule zu entscheiden, wird unterbunden. Und wenn Eltern ihre »minderjährigen« Töchter und Söhne ernstnehmen und solche Entscheidungen ihrer Kinder hinsichtlich deren Lebens und deren Bildung akzeptieren, müssen sie – wie ich aus eigener Erfahrung weiß – mit Geldbußen und weitergehenden staatlichen Zwangsmaßnahmen rechnen. Mit Maßnahmen, die eher einen repressiven Staat kennzeichnen als einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft würdig sind.

Zwei unserer Söhne hatten sich im Jahr 2001 im Alter von 11 und 14 Jahren entschlossen, nicht mehr zur Schule zu gehen und sich stattdessen selbstbestimmt zu bilden. Wir akzeptierten diese Entscheidungen, was – wie vorhersehbar – zu Auseinandersetzungen mit den Schulbehörden führte. Ein Freund berichtete uns von einem Vortrag Bertrand Sterns und empfahl uns, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Es entwickelte sich eine immer noch andauernde, intensive Zusammenarbeit, die sowohl Vorträge, Seminare und ausführliche Diskussionen als auch die gemeinsame Arbeit an Schriftsätzen umfaßt. Die Gespräche mit Bertrand Stern halfen uns einerseits, die verschiedenen, immer wieder diskutierten Ansätze wie Alternativschulen oder »Schule zuhause« zu analysieren und zu erkennen, daß solche Ansätze den Respekt vor der Würde des Menschen und den Rechten der betroffenen Personen letztendlich nicht gewährleisten können. Andererseits stand uns Bertrand Stern in unseren jahrelangen Auseinandersetzungen zur Frage der Schulpflicht mit Ämtern und Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zur Seite. Die in unseren Diskussionen gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der »Beschulung« hatten deutliche Einflüsse auf unser Menschenbild und auf unsere Vorstellungen vom angemessenen Miteinander mit jungen Menschen. Diese Erkenntnisse und Vorstellungen bilden auch die Grundlage unserer juristischen Position.

Menschen sind von Natur aus neugierige, soziale Wesen. Gerade weil das Lernen und die Kontaktsuche zu anderen in ihrer Natur liegen, besteht wirklich keine Notwendigkeit, sie hierzu zu zwingen – zumal Schule und Schulzwang die ihnen zugeschriebene und ihrer Rechtfertigung zugrundeliegende Aufgabe in weiten Teilen nicht erfüllen. Schulpflicht und Schulzwang müssen hinterfragt werden. Denn die bisherigen Beobachtungen belegen, daß Schluß mit Schule eben nicht Schluß mit Lernen, Schluß mit Bildung oder Schluß mit Gesellschaftsfähigkeit bedeutet! Die zahlreichen Erfahrungen in verschiedenen Ländern, die beispielsweise Olivier Keller exemplarisch dokumentiert, zeigen eher das Gegenteil: Ein Verzicht auf Bevormundung durch Schule und Lehrpläne führt dazu, daß sich die Anlagen, Interessen und Fähigkeiten der Menschen frei entfalten können – nicht nur zum Wohle des Einzelnen, sondern zum Wohle der ganzen Gesellschaft. Wenn andere Bildungsformen zugelassen werden, entwickeln sich bisher ungeahnte Lernmöglichkeiten, neue Lernräume und freiheitliche, selbstorganisierte Lerngemeinschaften, in denen – wortwörtlich – ungezwungenes Lernen stattfindet. Oft wird hierbei auch die in unserem Bildungssystem übliche – meines Erachtens unsoziale und unnatürliche – Trennung nach Altersstufen überwunden. In diesem Sinne könnte das vorliegende Buch dazu beitragen, Möglichkeiten einer lebendigen, menschlichen Bildung zu eröffnen.

Matthias Kern

1. Steter Tropfen höhlt den Stein … – Könnten diese Zeilen das Recht, sich frei zu bilden, eröffnen?

In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich.

Voltaire (eigentl. François-Marie Arouet) 1694-1778

Seltsam: Wenn von Bildung gesprochen wird, denken die meisten an Schule. Und oft genug an deren Versagen. Diese so üblich und normal gewordene Verwechslung von Bildung und Schule ist ebenso erstaunlich wie die Gleichsetzung von Gesundheit und Medizin oder von Kommunikation und Telefon.

Indem Bildungsfragen üblicherweise als Schulfragen verstanden werden, verkommen sie zu pädagogischen Angelegenheiten, über die zu entscheiden bestimmte Personen sich besonders berufen fühlen: zuvörderst die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen pädagogischen Richtungen, die Schulbürokraten, die Lehrerschaft, die Eltern. Auch die Politik greift hie und da Fragen der Bildung auf: beispielsweise wenn ein gutes Thema für eine unverbindliche programmatische Rede benötigt wird oder, vor allem, wenn Wahlkampf herrscht.

Den Medien scheint die Bildung dann ein besonderes Thema zu sein, wenn ihnen die Schule wieder Anlaß gibt, die deutsche Bildungskatastrophe zu beklagen: Wenn eine neue internationale Untersuchung das schulische Versagen offenbart; oder wenn die Gelegenheit gegeben ist, sich an Merkmalen wie der schulischen Gewalt zu laben.

Auch die Wirtschaftsverbände greifen Bildungsfragen auf, um der Schule ihre Not mit dem Nachwuchs zuzuschreiben.

Die Aufzählung jener, die das Thema Bildung mißbrauchen und daraus eine Schulfrage machen, ließe sich fortsetzen. Und ebenfalls die Aufzählung jener, die ein Versagen der Schule zum Anlaß nehmen, deren Verbesserung zu fordern – als ob dies der Forderung nach Bildung und ihrer Förderung gleichkäme!

Schulkritik? Sie ist wahrlich so alt wie die Schule selbst und hat sich allem Anschein nach als modisches Diskussionsthema fest etabliert – ohne daß durch die lange Tradition diese Schulkritik an Stringenz gewonnen hätte!

Woran liegen solche Mißstände? solche Mißverständnisse? Vielleicht tragen zwei emotionale Belastungen, die – wie mir scheint – Verschulte lebenslang mit sich schleppen, zum allgemeinen Unbehagen bei:

• Einerseits müssen die eigenen schulischen Erinnerungen weitgehend verdrängt bleiben oder verbrämt werden.

Hierbei gilt es, eine interessante Beobachtung zu analysieren. Wenn ich Erwachsene nach ihren eigenen schulischen Erfahrungen befragte, offenbarten sie nicht selten ein in der Schule empfundenes Unbehagen, dessen Ursachen so vielfältig wie die Personen waren: einmal war es ob der »gemeinen« Mitschüler, ein andersmal ob einer Lern-Unlust; hier ging es um Langeweile und Sinnlosigkeit, weil der Stoff so öd und blöd war; da um »unfaire« Abfragen oder um Prüfungen mit ungerechten Benotungen; dort um gemeine Lehrer, deren damals wahrgenommenes Verhalten sie heute als subtiles Mobben bezeichnen würden… Entscheidend ist allerdings, welche emotionale Strategie sie einst, als Betroffene, entwickelten, um mit dem »zwangsbeglückenden Schulzwang« zurechtzukommen. Da beispielsweise selbst die wohlmeinenden Eltern zu Verbündeten des schulischen Systems werden – muß die Tatsache, daß sie sich nicht als solidare und verläßliche Verbündete ihrer Tochter oder ihres Sohnes verhalten, nicht als Verrat empfunden und bewertet werden? -, müssen innerhalb der unentrinnbaren Lage »Fluchtwege« gefunden werden. Diese sind nicht selten das, was in der Psychologie als »Identifikation mit dem Aggressor« bezeichnet wird: nicht allein sich unterwerfen, sich anpassen, sich in sein Schicksal fügen; sondern geradezu darauf stolz sein, dafür sogar gelobt und anerkannt zu werden. Das wirklich empfundene subjektive oder objektive Leid wird strategisch verdrängt, zurecht gebogen, schließlich gerechtfertigt (»rationalisiert«).

Kein Wunder also, daß das Befragen von Erwachsenen nach ihren Schuljahren sehr unterschiedliche Reaktionsweisen offenbart: Von jenen, die immer schon erfolgreich waren und es heute noch sind und die nun das System loben; über jene, die zwar gelitten haben, aber ihrem Leid nun einen positiven Sinn geben wollen, indem sie es umkehren – vielleicht indem sie in der Schule blieben und Lehrer wurden, gar vom Impetus getragen, es nun besser zu machen?; hin zu jenen anderen, die vieles haben vergessen müssen, um, dank der Strategie des Ignorierens, zu überleben. Nur selten gestehen befragte Erwachsene Gefühle von Wut, Zorn, Trauer, Verlust – aus denen ein Verhalten von mitfühlender Solidarität mit jenen, die es gegenwärtig trifft, abzuleiten wäre!

Als dramatisch betrachte ich allerdings die Folgen jener notwendigen, also Not-abwendenden emotionalen Spaltung: Schulkritische Positionen werden gar nicht zugelassen, geschweige denn als innovativ rezipiert; nein, sie werden so empfunden, als ob es sich um Angriffe auf die geleistete Verdrängung handelte – und entsprechend heftig abgewehrt. So wie bei anderen tabuierten, vorurteilsbeladenen Fragen auch, werden selbst Fakten und Argumente keinen ruhigen, sinnvollen, konstruktiven Austausch ermöglichen…

Insofern wende ich mich vor allem an Menschen, die, nachdem sie ihre eigene – insbesondere schulische – Biographie »geklärt« haben, nun dazu fähig und willig sind, aus der – gewalttätigen und nachweislich unsäglich dummen – Institution Schule auszubrechen: entweder weil sie sowohl emotional wie ratio-nal sich mit betroffenen jungen Menschen, die sich der Schule verweigern, solidarisch verhalten; oder weil ihre Ahnung, ihre Vision oder ihr Wissen, daß Bildung viel sinnvoller anders zu gestalten ist, sie bewegt, statt ewig sinnlos zu reformieren endlich originell und innovativ zu sein: auch für sich selbst…

• Andererseits bedingt die Tatsache, daß es um den Nachwuchs und dessen Zukunft geht, das Aufkommen von zwar unwillkürlichen, aber fast unweigerlichen Erwartungen; um diese rechtfertigen zu können, wird auch lauthals verkündet, unsere Kinder sollen es doch besser haben – und diese Zukunft solle bitte sehr eine gute Schulbildung gewährleisten! Ist es erlaubt und angebracht, solch ach wie wohlmeinende Illusionen infragezustellen?

Wie bedauerlich ist es, gerade dieses Thema dermaßen zu belasten! Wollten wir nämlich Innovatives ermöglichen, müßten wir zunächst uns von so manchen uneinlösbaren Versprechungen, von ideologischen Erwartungen und von falschen Vorzeichen verabschieden, welche das Prospektive verstopfen; und wir müßten erkennen, daß just diese Frage nach persönlichem und kreativem Engagement ruft, zumal dieses Engagement dem Anliegen dient, es geradezu fördert und ermöglicht!

Zugegebenermaßen würde ich diese so radikale und kritische Infragestellung der schulischen Institution nicht wagen, wenn sie wenigstens erfolgreich wäre: entweder hinsichtlich der »Brauchbarkeit« der vermittelten Kenntnisse; oder hinsichtlich der totalen Erziehung, so daß viele der auf ihre subtile Manipulation sogar stolzen Betroffenen zumindest glücklich wären. Ist dem so? Offensichtlich nicht! Wieviele – heute junge – Menschen sollen noch auf dem Altar der ideologischen Tabus »geopfert« werden, weil dieses Versagen der Schule inzwischen die Grenzen des Hinnehmbaren und Vertretbaren zwar überschreitet, die verblendeten »zivilisierten« Erwachsenen dies aber ignorieren? Das gewiß schmerzvolle Anerkennen ist allerdings die Voraussetzung für radikalere, vor allem sinnvolle, menschliche und logische Schritte.

Zweifelsohne mangelt es nicht an Menschen, die mit aufopferungsvollem Heroismus versuchen, die Schule zu reformieren, sie zu verbessern. Ich halte dies für völlig fehl am Platze! Weshalb? Weil die schulische Institu-tion und der frei sich bildende Mensch aus meiner Sicht schlicht unvereinbar sind. Und statt des m. E. widersinnigen Versuchs, die Schulprobleme beispielsweise reformerisch anzugehen – solche Unlösbarkeit bezeichne ich, trotz aller guten Absicht, dennoch als »Quadratur des Kreises« oder als Sisyphusarbeit -, denke ich, daß jeder sensible, an Lebendigkeit, Freiheit und Würde interessierte Mensch sich selbstverständlich der Frage widmen wird, welche Bedingungen den Prozeß des sich bildenden Subjekts und der bildungsfreundlichen Kultur optimieren können. Eröffnet nicht just dieser grundlegende Wandel im Verständnis von Bildung und ihres Erfahrens neue, originelle Horizonte? Diese Reflektion 1 möchte Sie also zu einer Wanderung in eben diese Richtung einladen, gemäß dem chinesischen Motto: »Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem Schritt!«

* * *

Aus Gründen der Deutlichkeit habe ich an einigen Stellen sprachliche Verkürzungen und Vereinfachungen benutzt. Selbstverständlich bin ich mir der Gefahr bewußt, daß einzelne Personen, die eine wohltuende Ausnahme bilden, sich durch Verallgemeinerungen verletzt fühlen könnten, weil pauschale Aussagen gewiß Unrecht tun. Dennoch: so herzensgut eine Lehrerin, ein Arzt, eine Polizistin, ein Richter… sein mag: beschreibt diese Berufsbezeichnung nicht vor allem eine eingegangene Bindung an einen Beruf und dessen Zwänge? Daher ist hier nicht die Person und ihre Qualität, vielleicht auch ihr eigenes Leiden unter den Bedingungen ihres Berufs gemeint, sondern der Beruf als Funktion in einem Zusammenhang mit den jeweiligen Institutionen. Erfahrungsgemäß wage ich zu bezweifeln, daß eben diese Institutionen an sich willig und fähig sind, Menschlichkeit, Lebendigkeit, auch Würde zuzulassen oder zu fördern!

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Vielleicht wird sich manche Leserin oder mancher Leser darüber wundern, daß in einem 2006 publizierten Buch die »alte Rechtschreibung« verwendet wird. Weshalb diese bewußte Entscheidung von Autor und Verlag?

Zweifellos beruhte die Orthographie als eine normierte Übereinkunft auf den zwei Faktoren »Tradition« und »Wandel«; es war ein Merkmal des kulturellen Selbstverständnisses, daß Lesen und Schreiben nach kodifizierten Regeln zu erfolgen hatte. Da allerdings gerade die Orthographie ein Alibi für die Schule und deren Pflicht bildete, muß deren offensichtliches Versagen hinterfragt werden: Soll schlicht davon ausgegangen werden, die Menschen wären halt zu blöde für die Erkenntnis, wie wichtig die Rechtschreibung sei? Oder können die immer dramatischeren Konsequenzen der Schule in Zusammenhang gebracht werden mit ihren Methoden und Bedingungen? Die vermeintliche Notwendigkeit einer sog. »Rechtschreib-Reform« könnte vor allem als das Eingeständnis des schulischen Scheiterns gewertet werden! Um dies allerdings zu ignorieren, befahl der Staat in selbstherrlicher Willkür das, was als »Neue Schlechtschreibung« bezeichnet werden müßte – als ob solche zum verpflichtenden Dogma erhobene, symptomorientierte Kosmetik, solche Verschlimmbesserung es vermöchte, Sinn, Zweck, Logik unserer Sprache hervorzuheben und das erotische Verhältnis zur Schrift zu wecken.

Betrachten wir die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit und umgekehrt: Weshalb, so fragen sich viele besorgte intelligente Menschen angesichts dieser anerkanntermaßen sinnlosen Maßnahme, ist es so schwer, der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen und Widersinniges zu verändern? Bietet vielleicht der sensible Bereich der Schrift eher eine Möglichkeit, sich der staatlichen Willkür zu entziehen? Insofern spiegelt diese Wahl der »traditionellen Schreibweise« das ethische Ansinnen wider, das sich durch dieses Buch durchzieht: Der Widerstand gegen die Dummheit artikuliert vielleicht die Haltung von freien Menschen, die, als frei sich bildende Subjekte, selbstverständlich Übereinkünfte akzeptieren und respektieren; die es aber ablehnen, vom Staat und seiner Schule verdummt zu werden und zum Objekt einer staatlich verordneten, unsäglichen »Reform der Schlechtschreibreform« gemacht zu werden!

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Gewiß verdanken einige schulkritische Schriften ihr Entstehen den eigenen, zumeist schlechten (Schul-)Erfahrungen, die ihre Autorin oder ihr Autor vielleicht so verarbeiten möchte; daß das Thema Schule in solchen Fällen zum Alibi für eine allgemeine Anklage der Schule verkommt, ist sozusagen logisch, auch wenn ungeklärt bleibt, wer denn überhaupt als Adressat dieser Anklage zu gelten habe. Wenn es dann um einen Vorschlag geht, folgt der Anklage leider nur selten mehr denn ein weiterer Ersatz in Gestalt einer erneuten Schul-Reform. Ich hoffe, diese Falle der (billigen weil polemischen!) Anklage und der Reform zu meiden, denn An-Klagen ist gewiß nicht der Sinn meiner radikal-kritischen Beschreibung der Institution Schule; meine Absicht ist allenfalls ein Be-Klagen. Weshalb Beklagen? Einerseits finde ich die schulischen Mißstände, unter denen einige der betroffenen Menschen – als »Schülerinnen« und »Schüler« ebenso wie als deren »Eltern«, aber auch als Lehrpersonen – zu leiden haben, im Grunde völlig vergeblich. Sie sind nicht allein dramatisch im Verlauf und in den Konsequenzen, sondern völlig unnötig, da radikale Schritte, würden sie endlich unternommen, zu anderen, besseren Möglichkeiten führen könnten. Andererseits könnten diesem Beklagen ungeahnte prospektive Möglichkeiten innewohnen – insofern die Kritik an der Institution Schule uns alle animiert, jene Bedingungen unmittelbar zu erschaffen und zu fördern, die der Freiheit der Bildung dienen. Welch wichtigen emanzipatorischen Schritt stellt daher, so glaube ich, eine radikale Schulkritik dar!

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Aus der übl(ich)en Unterstellung, Theorie und Praxis stünden in einem Gegensatz, wird mir oft – nicht selten vorwurfsvoll und abwertend! – die Rolle des Theoretikers zugeschoben, dem das Recht sogar abgesprochen wird, in der harten Praxis des – beispielsweise zwischengenerationellen oder schulbezogenen – Lebens überhaupt mitreden zu können.

Nicht allein finde ich diesen Gegensatz schlicht dumm weil verdummend, da er den Menschen an sich beleidigt: Er ist Mensch auch auf Grund seiner Fähigkeit zur abstrakten, theoretischen Reflektion. Vor allem trifft der angestellte Gegensatz nicht die Wirklichkeit meines Engagements! Daß dieses radikal ist, bedeutet lediglich, der Ansatz meiner Aktivität sei auf die Wurzeln (lat: radix) bezogen. Was kann allerdings überirdisch, an der Oberfläche, gedeihen, wenn es an der naturgemäß unterirdischen Wurzelaktivität mangelt? Welches »Gebilde« an der Oberfläche bliebe nicht oberflächlich oder gar wackelig, wenn die auf die Fundamente bezogene fundamentale Aktivität nicht erfolgte? Gewiß sind im Außen erfolgende Aktionen allseits sichtbar, allein solch kurzsichtiger Aktionismus birgt die Gefahr, deshalb in bloße Agitation zu münden. Deutliche Beispiele hierfür sind insbesondere die »Reformen«, welche letztlich das Bestehende stabilisieren und erneuern, statt es zu überwinden, um Originelles, Neuartiges entstehen zu lassen.

Doch der Ausbruch aus dem symmetrischen Gegensatz von Theorie und Praxis zu Gunsten einer Konzentration auf das Radikale, das Fundamentale, artikuliert auch eine bewußte, ethisch begründete Zurückhaltung: Daß aus meiner Kritik keine »konkreten Vorschläge« abzuleiten sind, drückt meinen Respekt vor der Freiheit und Würde der Person aus; den sich frei bildenden Personen muß es einzeln und als soziokulturelle Gesamtheit überlassen bleiben zu definieren, was sie für die komplexen Prozesse, sich zu bilden, als nötig und möglich, als richtig und wichtig betrachten und was sie entsprechend verwirklichen!

Immerhin könnte meine fundamentale und radikale Kompetenz auch die Freiheit zu einer kritischen Stellungnahme bedingen: Bei mancher Initiative muß offenbar sein, ob sie bereits prospektiv, innovativ ist und in eine Richtung weist, die dem Menschen, der Bildung, der Freiheit dienen; oder ob solch »reformerische« Ansätze nur Altes verankern, das zumeist unhinterfragt tabuiert ist?

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Drei Autoren will ich an dieser Stelle besonders hervorheben, ohne deren wesentliche Erkenntnisse und grundlegende Publikationen meine Reflektion niemals so radikal angeregt worden wäre; zweifellos hätte ohne sie dieses Buch nicht entstehen können! Mein besonderer Dank geht an:

• Ekkehard von Braunmühl, dessen fundamentale »Antipädagogik« 2 mir die Augen öffnete auf das (Un-?)Wesen der Erziehung. In jahrelanger freundlicher Zusammenarbeit haben wir so manche Schritte unternommen, um einige Exzesse des subtil wirkenden Erziehungswahns, insbesondere auf politischer Ebene, anzuprangern und dazu beizutragen, diese vor- und antidemokratischen Mißstände zu überwinden: Ob die Gesetzesänderung zum BGB § 1631 (»elterliche Gewalt«) überhaupt und in dieser Form erfolgt wäre, ohne unsere »böse« politische Initiative: »Kinderdoppelbeschluß – Eine Initiative für den Frieden zwischen den Generationen« 3, wage ich zu bezweifeln.

• Ivan Illich, dessen »Deschooling society« 4 (Deutsch: »Entschulung der Gesellschaft«) sowie viele seiner anderen Werke mir das Kennzeichen der Institutionen und ihre Unveränderbarkeit verdeutlichten. Nach wie vor glaube ich, daß keine radikale Institutionen- und Zivilisationskritik an Ivan Illich vorbeigehen kann!

• Olivier Keller, dessen »Denn mein Leben ist Lernen« 5 den zuvor fehlenden Beweis erbrachte, daß Nicht-Verschulung weder Bildungslosigkeit noch Verelendung bedeutet: An den in seinem Buch umfassend beschriebenen Biographien von Nicht-Verschulten und an seiner sich daraus speisenden Reflektion läßt sich die spannende Erfahrung dieser (un)mutigen Menschen deutlich erkennen, die, aus jeweils sehr unterschiedlichen Beweggründen, sich der Schule verweigert haben. Zugleich ist dieses Buch ein wichtiger Kontrapunkt zu den offensichtlich florierenden Hoffnungen eines elternbestimmten »homeschooling«! Nachdem Ekkehard von Braunmühl die Erziehung und Ivan Illich die Institutionen einer radikal-kritischen Analyse unterzogen hatten, bedurfte es dieser fundierten Untersuchung, um die Befürchtungen oder Lügen des Schulsystems entlarven oder sie ad absurdum führen zu können.

Mein besonderer Dank gilt darüber hinaus Karen und Matthias Kern: Nicht allein begegneten wir uns über einen jahrelangen Zeitraum, weil die kategorische Schulverweigerung ihrer drei Söhne bedeutete zu eruieren, wie dem schulischen Wahn konkret und sinnvoll zu begegnen oder zu entkommen ist: vom theoretischen Ansatz über die Auseinandersetzungen mit Schulbürokratie und anderen Behörden hin zur Ebene der Gerichtsbarkeit. Ganz wesentlich waren für mich die vielen ebenso ausführlichen wie vertrauensvollen Gespräche, die wir bei diversen Seminaren oder nach Vorträgen, aber auch oft privat bis tief in die Nacht führten. Ohne die konkreten Erfahrungen dieses Zusammenwirkens und ohne einen »pingeligen Text- und Begriffsaustausch« hätte ich einige Aussagen in diesem Buch nicht so formulieren können.

Ganz herzlich bedanke ich mich hiermit bei Elisabeth und Thomas: Ohne die wohltuende Einsamkeit in ihrer mir zur Verfügung gestellten ruhigen Herberge in der Provence, also ohne den hierfür erforderlichen und so ermöglichten Rückzug, wäre es mir nicht gelungen, die in über dreißig Jahren angesammelten Gedanken zu sortieren, die Erfahrungen, die ich in unzähligen Diskussionen nach Vorträgen oder im Rahmen von Seminaren gewonnen und gesammelt habe, konstruktiv zu klären; und letztlich die Grundzüge dieses Buchs zu setzen.

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Last not least eine typische Erfahrung aus der Zeit, da ich mit der Redaktion dieses Buches beschäftigt war: Wenn »fremde« Menschen sich nach meiner Aktivität erkundigten und ich ihnen von diesem Buchprojekt erzählte, wurde ich nicht nur einmal gefragt, ob ich Lehrer sei. Bekräftigt dies nicht die eingangs angeführte These, Bildungsfragen seien nunmal zumeist Schulfragen? Möge nun diese kritische Reflektion einen konstruktiven Beitrag für die (Selbst)Befreiung der Bildung von solcher Monopolisierung und Enteignung liefern!

Als prozeßhaften Weg dieser Befreiung, der zugleich die Struktur dieses Buchs bestimmt, stelle ich mir vor:

Die innovativen Ansätze, welche geradezu die Herausforderung dieses Buchs bilden, könnten folgendermaßen in ein Bild gekleidet werden: Wir alle wissen hinlänglich, daß es auf diesem uns weidlich und leidlich bekannten Ufer so wie bisher nicht weitergehen kann: das Bekannte ist zwar bequem und pflegeleicht, aber eine Sackgasse! Wie verständlich, daß sich einige danach sehnen auszubrechen! Allein zwischen dem uns hier-und-jetzt-Bekannten und jenen anderen, zumeist nur im Nebel sichtbaren Ufern, jener »terra incognita«, die hier als »Landschaften der freien Bildung« umschrieben wird, gibt es einen großen, gefährlichen, Furcht einflößenden Fluß zu überqueren. Die Vision erfordert Abschied und Wagemut und Ausdauer und Widerstandskraft und beseelte Hoffnung…

In diesem Sinne wollen diese Denk-Anstöße die werte Leserin und den werten Leser zu einem Dialog einladen: In ihm wurzelt die dringend und drängend gebotene Dynamik, die in die gemeinsame Vision mündet. Möge also diese Reflektion ein Anstoß sein, diese Vision unumkehrbar zu verwirklichen!

1 Daß ich dieses Wort so schreibe, erfolgt mit Bedacht, um hervorzuheben, daß ich »Reflektion« als Prozeß des Reflektierens abhebe von der »Reflexion« als Widerspiegelung!

2 Ekkehard von Braunmühl, Antipädagogik – Studien zur Abschaffung der Erziehung, (Beltz) Weinheim/Basel, 19751; (tologo), Leipzig, 2006

3 »Kinderdoppelbeschluß – eine Initiative für den Frieden zwischen den Generationen« Publik-Forum Nr. 1/84, Frankfurt/Main, 6. 1. 1984; teilweise abgedruckt in: Bertrand Stern Hrsg.: Kinderrechte – zwischen Vision und Resignation, 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, (Klemm und Oehlschläger) Ulm 1995

4 Ivan Illich, Deschooling society, New-York 19711; Deutsch: Die Entschulung der Gesellschaft, (Kösel) München, 1972, (Rowohlt) Reinbek bei Hamburg 19731

5 Olivier Keller, Denn mein Leben ist Lernen – Wie Kinder aus eigenem Antrieb die Welt erforschen, (Mit Kindern wachsen Verlag) Freiamt 1999