Barbara Salesch
Ich liebe die Anfänge!
Von der Lust auf Veränderung
FISCHER E-Books
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Gaby Gerster
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402871-2
Allen Anfängen gewidmet
»Diddy, braucht ihr noch meinen Gerichtssaal?« Unser Herstellungsleiter schüttelte den Kopf. Super. Da ließ sich etwas machen. Zum letzten Drehtag brachte ich deshalb aus meiner Werkstatt alles an grobem Werkzeug mit, was in zwei große Kisten passte, und legte zur Sicherheit noch meinen Verbandskasten aus dem Auto dazu. Nach dem allerletzten Wort wuchtete ich die beiden Kästen auf mein Pult und begann noch in Robe, meinen Richtertresen zu zersägen. Was war der stabil! Erst nach herzhaftem Beil-Einsatz löste sich das erste lange Stück und flog in hohem Bogen über unsere Köpfe. Dann wollte jeder einen Teil vom Gericht haben. Auch der Tisch der Staatsanwaltschaft und die Balustrade vor den Zuschauerbänken mussten dran glauben. Alle sägten und hieben sich etwas ab, und auf jedes Teil schrieb ich das, was gewünscht wurde. Ein wunderbares Happening und meine schönste Signierstunde.
Warum mit einem Ende beginnen, wenn es um Anfänge geht? Ganz einfach. Anfang und Ende gehören zusammen. Zwölf Jahre »Richterin Barbara Salesch« mit 2356 Sendungen und 17000 Mitwirkenden hatten Anspruch auf einen kraftvollen Abschluss.
Ich habe mir damals ein langes Stück aus der Mitte meines Tresens mitgenommen. Nur, wo ist es geblieben? Es ist weg. Die Handwerker haben es bei der Sanierung meines Hauses – eben weil es so verhauen aussah, als Unterlage für die Kreissäge benutzt. Davon hatte ich natürlich keine Ahnung. Und suchte es überall für ein Foto für dieses Buchprojekt. Zu spät. Vier Wochen vorher hatten sie das Teil im Baucontainer entsorgt, weil es inzwischen so ramponiert war, dass es für gar nichts mehr zu gebrauchen war. Das letzte Teil hat sein Ende also selbst bestens in Szene gesetzt. Aber ganz und gar ist es doch nicht verschwunden. Ein kleines, unbeirrbares Stück davon war schon zu einem Griff geworden und zusammen mit zwei Schrauben zu einem »Spezialwerkzeug« aufgestiegen. Das ist also alles, was ich aus meinem Gerichtssaal noch habe – und meinen kleinen ledernen Drehsessel, den durfte ich auch noch mitnehmen.
Der Weg war frei für etwas Neues. Freischaffende Künstlerin. Mein »drittes Leben«, wie ich immer dazu sage. Es hat übrigens gleich zwei Tage nach der letzten Aufzeichnung in aller Öffentlichkeit begonnen.
Ich liebe die Anfänge, weil es einfach spannend ist, sich öfter mit etwas Neuem zu beschäftigen. Schon kleine Änderungen bringen frischen Wind in Bestehendes, und selbst eingefahrene Gleise werden erstaunlich biegsam, wenn sie gezwungen werden, neue Stationen zu bedienen. Gelegentlich kam auch ein großer, also ein wirklicher Neuanfang daher, und ich habe dann nicht allzu lange über Details gebrütet, sondern die Chance genutzt, mein Leben zu ändern. Bislang ist alles gut ausgegangen. Warum also nicht weiter so?
Einen klugen Ratgeber, wie Sie Ihr Leben in zehn Schritten leicht und lustvoll verändern können, finden Sie hier nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass Sie den von mir erwarten. Wer jedoch lesen möchte, wie es bei mir so war, wird vielleicht das eine oder andere als Anregung finden. Oder als Mutmacher.
Meine Tante sagte immer: »Man kann in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein.« Recht hatte sie, denn die Basis für Vertrauen, Selbstsicherheit und Zufriedenheit wird in der Familie gelegt. Ich habe das große Glück gehabt, dass meine Eltern mir die Grundlage gegeben haben, mein Leben auf mich zukommen zu lassen, Chancen zu ergreifen und auch Risiken einzugehen. Dieses »Das-schaffst-du-schon« meiner Eltern begleitet mich bis heute. Viele Frauen meines Alters haben als Kind diese Anerkennung nicht bekommen, vor allem nicht die ihrer Väter, denn in den fünfziger Jahren war es nicht so selbstverständlich, dass Eltern einem Mädchen genauso viel Aufmerksamkeit und Bestätigung entgegengebracht haben wie einem Jungen – und auch bei mir wäre es fast schiefgegangen.
Als meine Mutter mich am 5. Mai 1950 in Karlsruhe auf die Welt brachte, war mein Vater als klassischer Mann und Ostpreuße mit größter Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass sie ihm seinen Stammhalter geschenkt hätte. Jetzt war ich da. Nur ein Mädchen. Und das ihm! Er war so fassungslos, als die Hebamme aus dem Kreißsaal herauskam und ihm zu seiner gesunden Tochter gratulierte, dass er direkt in Richtung Ausgang gestürmt ist. Aber weit ist er nicht gekommen, dafür hat diese Hebamme schon gesorgt, wie ich aus sicherer Quelle weiß, nämlich von ihr selbst. Sie hat ihn noch hinten am Kragen erwischt, ihn zurückgezogen und zu ihm ziemlich energisch gesagt: »Herr Salesch, dieses Kind ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Das müssen Sie sich anschauen!« Das mit dem Gesicht scheint meinen Vater interessiert zu haben. Jedenfalls hat er auf dem Absatz kehrtgemacht und ist zu Mama und mir ins Zimmer.
Ich muss schon von Geburt an ausgesehen haben wie ein Abziehbild meines Vaters. Dass ich ein Mädchen war, spielte keine Rolle mehr. In mir sah er sich selbst. Wegen des Krieges gibt es keine Kinderbilder von ihm; erhalten ist nur ein einziges Foto, das ihn als 14-Jährigen mit seinen Eltern zeigt. Wenn man Aufnahmen von mir danebenlegt, auf denen ich in diesem Alter bin, glaubt man wirklich, mein Vater und ich seien Zwillinge. Er sah jedenfalls in mir seinen Stammhalter und erzog mich dann auch so. Gut, dass ich vier Jahre später, als meine Schwester Petra geboren wurde, meine Prinzen-Position nicht aufgeben musste. Ich habe keine Ahnung, was passiert wäre, wenn 1954 ein Sohn in unsere Familie gekommen wäre. Womöglich hätte ich meinen Thron verlassen müssen, aber so musste ich nur ein bisschen teilen.
Bei der Namensgebung hat er sich übrigens damals nicht durchgesetzt. Kurt Willy Siegfried Salesch wollte, dass ich Ludowika heiße, wie seine Mutter. Meine Mutter Johanna Julie wiederum wollte ein Bärbelchen. So heiße ich nun Barbara Ludowika, in dieser Reihenfolge. Und Phyllis noch dazu, nach meiner amerikanischen Patentante. Als Schülerin fand ich diese drei Namen »irre interessant« und habe alle meine Bücher mit »B. L. Ph. Salesch« gestempelt. In grauslichen gotischen Buchstaben.
In meinen ersten sieben Jahren spielte sich unser ganzes Familienleben im Haus meiner Großeltern in Ettlingen ab, einer kleinen Stadt in der Nähe von Karlsruhe. Das Firmenbüro meiner Eltern, ihr Wohnzimmer und zunächst auch mein Kinderzimmer war ein Raum im Obergeschoss, nur 14 Quadratmeter groß, und mein Laufställchen stand auch noch mittendrin. Ihr Schlafzimmer – unheizbar – und unsere Küche lagen hinter dem offenen Schopf (Speicher). Meine Eltern bauten damals ihr Baugeschäft auf, und das bestimmte ihren Alltag. Leben und arbeiten waren bei uns eins, und das blieb auch später so.
Mein Vater war zwei Jahre nach Kriegsende aus französischer Kriegsgefangenschaft geflohen und hatte nichts außer seiner Kleidung dabei, als er bei Baden-Baden endlich über der Grenze war. In seinem Beruf als Bauingenieur fand er auf Dauer keine vernünftige Arbeit. Deshalb machte er sich mit Baustoffen selbständig, nachdem er meine Mutter geheiratet hatte. Mit einem geschenkten Fahrrad lieferte er seine ersten beiden Kellerfenster aus, die man ihm auf Kredit überlassen hatte. So ganz freiwillig war er nicht in Baden-Württemberg geblieben. Er konnte ja nicht mehr zurück nach Ostpreußen. In Masuren hatte er ganz andere Pläne gehabt und hätte dort am liebsten eine Bauunternehmertochter geheiratet oder eine aus einem großen Sägewerk und den Betrieb natürlich gleich mit, so hat er es mir einmal erzählt. Damit konnte meine Mutter nun nicht dienen. Sie hatte einen Bruder, der den Steinmetz- und Kunststeinbetrieb ihrer Eltern übernehmen sollte. Aber von früheren Plänen hatte mein Vater sich eh längst verabschiedet. Er sah ohnehin immer nur nach vorn, das war sein Naturell.
Und er liebte die Bewegung. Aber nur im Sitzen. Er saß einfach auf und in allem, was Räder hatte. Ich habe ihn jedenfalls fast nie zu Fuß gehen sehen. Vom Kinderwagen stieg er nahtlos um aufs Fahrrad, aufs Motorrad, auf Traktoren und Lkws und später in seine Autos. Sein Vater war Straßenbaumeister in Lyck gewesen. Fehlte mal wieder etwas Fahrbares vor der Tür der Straßenbaumeisterei, vertröstete sein Vater alle Besitzer gleichermaßen: »Keine Angst, mein Junge kommt gleich damit zurück, der muss das nur ausprobieren.« Die Mutter von »Kurtchen« war übrigens bei seiner Geburt deutlich über vierzig. Er blieb ihr einziges Kind und ist vier Jahre gestillt worden, zum Schluss sogar mit Fußbänkchen. Kein Wunder, dass er sich sein ganzes Leben wie ein ungemein verwöhntes Einzelkind benommen hat. Ständiger Spruch meiner Mutter: »Was soll man an Einsicht von einem erwarten, der vier Jahre an der Mutterbrust hing.«
Trotzdem war mein Vater jemand, der unheimlich viel anschob, sein Leben lang. Nach dem Abitur hat er Bauingenieurwesen in Königsberg studiert und gleichzeitig eine Lehre als Maurer und Zimmermann gemacht. Er war schon eine einzigartige Mischung aus Praktiker, Theoretiker und Kaufmann. Seine Mutter hatte übrigens immer gewollt, dass er Pfarrer werden sollte, aber natürlich evangelisch, wie die Familie. Wenn, sagte er immer, dann wäre er nur zu den Katholiken gegangen, denn dort sei mehr los. Es gibt sogar ein Foto, das diese Situation simuliert. Der Sohn eines Freundes meines Vaters sollte für seine Fotografenprüfung vier Menschen bei der Arbeit ablichten. Er wollte damals unseren katholischen Pfarrer und drei seiner Ministranten in den Messgewändern in Szene setzen. Aber unser Pfarrer wollte partout nicht aufs Bild. Die Gewänder könne er haben, aber ohne »katholischen Inhalt«. Und deshalb waren auf dem Foto drei mit dem Fotografen befreundete Dozenten und mein Vater zu sehen. Der steht fest in der Mitte, ganz behäbig, in diesem wunderbaren Gewand, und schaut ungemein heilig. Für die Arbeit gab es eine Zwei: wegen des echten Priesters im Vordergrund. Bei den anderen dreien sehe ja alles ein bisschen gestellt aus, so die Kommission, aber die Würde und Weisheit des Pfarrers seien wirklich überzeugend getroffen. Die Prüfer kannten natürlich die Fotos nicht, die danach gemacht wurden, mit Zigarre und mit Schnapsflasche. Das Prüfungsfoto hing später immer in meinem Büro, egal wo ich war, und ich amüsierte mich über die neugierigen Fragen von Besuchern: »Wer ist das?« »Mein Vater.« »Ah, ja … aber wie …?«
Meine Mutter war eine echte Badenerin. In Ettlingen geboren und aufgewachsen, war ihre sprachliche Färbung nicht zu überhören. Sie stammte aus der sogenannten Gipser-Müller-Familie, und meine Oma war überall die »Frau-Gipser-Müller«. Ich habe als Kind gedacht, sie hieße wirklich Gipser-Müller, nicht nur Müller, denn am Telefon meldete sich Oma immer so. Mein erstes Wort – vor »Mama« – war übrigens »ja-ja«, weil ich das im Büro so mithörte, bis ich später verstand, dass ein »ja« völlig ausreichend war.
Meine Eltern waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, und das nicht nur, was ihre körperliche Gestalt anging. Mama war 1,76 Meter groß und gertenschlank. Papa war nicht größer, dafür sehr breitschultrig und bald lebenslänglich mit Bauch. Auch von ihrer Art und ihrem Wesen her waren beide extrem unterschiedlich, von ihren Interessen ganz zu schweigen. Sie passten einerseits wirklich nicht zusammen, stimmten aber andererseits in ihren Grundsätzen und Grundwerten weit mehr überein, als es nach außen schien. Es funktionierte zwischen ihnen wohl auch deshalb, weil es damals funktionieren musste. Heute würde sich ein so unterschiedliches Paar vermutlich trennen. Die Umstände, mit denen sich meine Eltern arrangierten, genauer gesagt, die Umstände, mit denen meine Mutter sich abzufinden hatte, nehmen Frauen inzwischen nicht mehr hin.
Ein »Heimchen am Herd« war meine aber Mutter nicht. Sie war eine kluge Geschäftsfrau, hatte eine kaufmännische Lehre gemacht, Buchhaltung gelernt und die Firma mit aufgebaut. Während mein Vater im Außenverhältnis der Macher war, kümmerte sie sich um die ganzen internen Abläufe, Geschäftskorrespondenz, Finanzen und Angestellte. Mein Vater wurde einer der 13 Werksvertreter für Velux-Dachflächenfenster in Deutschland, und beide schufen innerhalb weniger Jahre einen großen Spezialbaustoffhandel. Ein privates Wirtschaftswunder. 1957 bauten sie ihr erstes Haus, für das meine Großeltern den Bauplatz beisteuerten. Dennoch hatte meine Mutter wegen der Baukosten schlaflose Nächte. Als das Haus fertig war, saßen wir noch lange auf Gartenstühlen, und in unserem Kinderzimmer standen die alten Möbel vom Kindergarten. Wohnungseinrichtung auf Kredit wäre meinen Eltern nicht in den Sinn gekommen.
Arbeits- und Wohnraum waren im neuen Haus weiterhin eins. Das Büro meiner Eltern war nur durch eine Schiebetür vom Wohnzimmer abgetrennt. In dieser Situation sehe ich meine Eltern immer noch vor mir: Ihre beiden Schreibtische standen sich direkt gegenüber, das Telefon auf einem Schwenkarm dazwischen. Müßig zu fragen, zu wem es grundsätzlich geschoben wurde, wenn mein Vater tagsüber mal da war. Aber meistens war er auf Kundenbesuch bei Händlern, Handwerkern und Architekten oder auf Fachmessen, und meine Mutter saß immer am Schreibtisch, oft über den großformatigen Buchungsblättern, in die alles per Hand eingetragen werden musste. So etwas wie Feierabend oder Wochenende gab es zwar bei den Angestellten, aber im Alltag meiner Eltern nicht. Selbst Heiligabend fiel irgendjemandem ein, dass sein Garagentor klemmte. Man konnte sich keinesfalls drauf verlassen, dass an diesem Abend Ruhe war.
Trotzdem war gerade Weihnachten immer besonders schön, und unser erster Weihnachtsbaum im neuen Haus reichte bis zur Decke. Der war meiner Mutter eine Herzenssache. Meine Schwester und ich mochten Weihnachten schon deshalb so sehr, weil die beiden Weihnachtsfeiertage die einzigen Tage im Jahr waren, an denen unsere Eltern nur für uns da waren und wir Kinder allein bestimmen durften, was den ganzen Tag über gemacht und gespielt wurde. Das Geschäft hatte dann wirklich geschlossen, und zwischendurch gab’s Gans. Das schönste Weihnachtsgeschenk für mich war – ich war damals neun, meine Schwester fünf Jahre alt –, als wir statt Päckchen nur eine einzige Karte im Baum fanden: eine Woche Skilaufen auf dem Dobel, dreißig Kilometer von zu Hause entfernt. Eine ganze Woche mit den Eltern zu haben, das war phantastisch und auch das einzige Mal, dass ich in dieser frühen Zeit mit ihnen in Ferien gewesen bin. Später, als ich schon ein Teenager war, kauften sie sich ein Ferienhaus in Österreich, und wir fuhren dort immer Weihnachten zum Skilaufen hin. Aber in den frühen Wirtschaftswunderjahren war eine Firma wichtiger als Freizeit. Lässt man die eine Woche mit uns mal außen vor, machten meine Eltern die ersten gut 15 Jahre keinen Urlaub. Später fuhren sie meistens nur zur Kur – mein Vater zugleich zum Abspecken, aber immer nur getrennt, damit einer im Geschäft war.
Ich reiste anscheinend schon als Kind gerne alleine. Jedenfalls durfte ich mit fünf Jahren in die Ferien zu entfernten Verwandten meines Vaters nach Mainz, die ich sehr mochte. Meine Eltern setzten mich dazu in Karlsruhe in den Zug – mit einem Schild um den Hals, auf dem stand, wie ich hieß und wohin ich sollte. Das fand ich oberpeinlich. Solche Schilder um den Hals trugen seinerzeit doch nur die mageren »Berliner Kinder«, die in ländliche Gegenden verschickt wurden, um dort ein bisschen aufgepäppelt zu werden. Auch wir hatten einige von ihnen aufgenommen und holten sie immer vom Bahnhof ab. Man konnte sie nur über diese Namensschilder finden. Aber ich mit Schild? Ich wusste doch schon genau, wo ich wohnte, wie ich hieß und dass ich zu Onkel Egon und Tante Ella wollte. Dazu hatten meine Eltern auch noch den Schaffner mit Zigaretten bestochen: Er sollte sich gut um mich kümmern. Vollkommen überflüssig, wie ich fand. Kaum waren meine Eltern aus dem Zug, riss ich das Schild ab und wechselte das Abteil. Dass ich noch nicht lesen konnte und gar nicht wusste, wann ich hätte aussteigen müssen, kam mir nicht in den Sinn. Ich wollte nur weg von diesem Schaffner, der mich aber trotzdem gut im Auge hatte und in Mainz in die Arme der Verwandtschaft entließ. Mein Wille nach Selbstbestimmung war schon in frühester Jugend sehr ausgeprägt.
Meine Schwester hätte solch einen zivilen Ungehorsam gepaart mit Sorglosigkeit in dem Alter noch nicht gewagt. Sie war auch viel liebenswürdiger als ich und sehr erfolgreich damit. Zum Beispiel in der Adventszeit. Da wurden immer viele Päckchen mit Wein und selbstgebackenen Plätzchen für unsere Nachbarn, Mieter und Geschäftspartner gepackt, und wir Kinder verteilten sie im Ort. Wenn ich etwas wegbrachte, klingelte und den Nachbarn kurz und knapp »Schöne Weihnachten von meinen Eltern« wünschte, nahmen sie die Päckchen und sagten: »Danke, euch auch, auf Wiedersehen.« Ganz anders lief es bei meiner Schwester. Sie begann erst einmal mit einem vielversprechenden Lächeln. Und auf mehrfaches Nachfragen, was sie denn wolle, flötete sie: »Ich bringe Ihnen etwas sehr Schönes.« Ich weiß nicht, wie sie es weiter gemacht hat, jedenfalls kam sie statt mit einer leeren immer mit einer prallgefüllten Tasche voller Süßigkeiten zurück. Manchmal wartete ich auf sie und half beim Tragen ihrer Ausbeute, die sie dann schwesterlich mit mir teilte. Oder sie ging zu allen Geschäften in unserer Umgebung und fragte: »Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?« Der genaue Wochentag interessierte sie dabei weniger. »Ja, aber heute ist ein ganz besonderer Tag. Heute ist mein Geburtstag!« Blaue Augen und lange Wimpern taten das Ihre. Natürlich bekam sie sofort etwas, schaute aber nicht selten kritisch und reichte die Bonbons auch gelegentlich zurück: »Diese Sorte mag ich nicht. Ich mag keine gefüllten.« So erreichte sie fast alles, was sie wollte. Und wenn sie etwas nicht bekam, heulte sie »quer«. Das ging so: Sie machte die Augen ganz weit auf, dann verschleierten sie sich immer mehr, und schließlich schossen mächtige Tränen fast waagerecht heraus. Sie hatte nicht dieses »Knatscheheulen« drauf, sondern das stille. Und das setzte sie einzigartig in Szene.
Ob dieser dramaturgischen Fähigkeiten, auf die ich neidvoll schielte, fühlte ich mich öfter zurückgesetzt, denn ich war jemand, der kantig war und gar nicht so liebreizend. Das mit dem effekthascherischen Weinen war auch nicht mein Ding. Das fand ich »kindisch«. Wenn ich eine begründete Ablehnung bekam, dann habe ich mich umgedreht, vielleicht mit einem blöden Spruch, aber ich akzeptierte sie. Meine Schwester tat das damals nie. Ein Nein war für sie geradezu die Einladung dazu, zu Hochform aufzulaufen. Und sie hing so lange jemanden am Hals oder klebte auf seinem Schoß, bis sie genau das hatte, was sie wollte. Ihre Strategie funktionierte so gut, dass ich ihr oft nur deshalb versprach, sie mit ins Kino oder Schwimmbad zu nehmen, damit sie fragte und uns die Erlaubnis dazu sicher war. Das klappte immer, und wir gingen auch danach weiter strategisch vor. Meine Mutter war großzügiger, wenn es ums Weggehen ging. Mussten wir allerdings auch Geld dafür haben, brachen wir das Gespräch in der Sekunde ab, in der wir die Erlaubnis bekommen hatten, und suchten nach unserem Vater.
»Papa, wir brauchen Geld fürs Schwimmbad.« »Wer hat euch denn erlaubt …?« »Mama.« »Ja, warum fragt ihr dann nicht gleich sie?« Schulterzucken unsererseits. »Ja, was kostet das denn?« Erneutes Schulterzucken. Dann gab er uns fünf Mark und fragte: »Reicht das?« Meine Mutter dagegen hätte genau einschätzen können, dass der Eintritt fürs Schwimmbad nur fünfzig Pfennige kostete, und noch zehn Pfennige für Eis draufgelegt.
Unser Vater war ein guter Vater, aber ein großer Choleriker, der oft so laut brüllte, dass wir Kinder vor ihm Angst bekamen, das war er auch. Ich hatte allerdings deutlich weniger Angst vor ihm als meine Schwester, weil ich meistens versuchte, der Situation irgendwie standzuhalten. Auch später bei den sogenannten Salesch’schen Diskussionen zwischen uns beiden, die oft fern jeder logischen Argumentationskette abliefen. Es ging dabei immer lautstark zu. Und meist um Politik. Diese Debatten endeten meinerseits gerne mit einem gebrüllten »Ich kann keinen Zweiten Weltkrieg anzetteln, damit ich deine Erfahrung vorzuweisen habe«, und weg war ich. Meine Mutter zog sich meist gleich zu Beginn zurück, weil sie unsere Lautstärke und Vehemenz nicht ertragen konnte. Aber vorher klopfte sie noch, ihre Ansage damit unterstreichend, mahnend auf den Tisch: wir sollten Ruhe behalten. Das war eine typische Geste von ihr und ist es anscheinend auch von mir. In der Produktionsfirma von »Richterin Barbara Salesch« hieß es dann immer: »Die Richterin macht Hausmusik.« Wenn mein Klopfen etwas unterstrich, war Ende der Diskussion darüber.
Unser Familienleben fand hauptsächlich am Esstisch statt. Meine Eltern legten großen Wert auf gutes Essen, mittags auch noch mit Suppe und Nachtisch. War Papa zu Hause, gab’s etwas mit Fleisch und Kartoffeln, denn er hatte sich Teigwaren schon direkt nach der Trauung verbeten, noch bevor Mama und er wieder aus der Kirche waren. War er weg, gab’s Nudeln und die herrlichen Mehlspeisen meiner Oma. Jedenfalls wurde immer gewartet, bis wir aus dem Kindergarten oder später aus der Schule zurück waren, damit wir alle beisammensitzen konnten. Mindestens eine Stunde. Die gemeinsamen Mahlzeiten waren quasi unser Familienleben, denn danach gingen meine Eltern direkt an ihre Schreibtische zurück.
Mit am Tisch saßen auch meine Oma und unser Hausmädchen. Wir hatten nach der Geburt meiner Schwester nacheinander zwei »Mädchen«, die, bis sie selbst heirateten, jeweils zehn Jahre bei uns blieben. Sie gehörten ganz zur Familie und durften deshalb nicht nur mitreden, sondern taten es auch. Wir mochten beide sehr. Wenn ich mir heute vorstelle, was diese jungen Frauen alles geleistet haben – großer Geschäftshaushalt mit Kochen, Waschen, Putzen und Einkaufen, dazu die Betreuung von zwei lebhaften Kindern –, dann habe ich den größten Respekt vor ihrer Leistung. Damals war es für mich irgendwie selbstverständlich. Und auch dass sie nur samstags und sonntags ab nachmittags freihatten, so wie es zu der Zeit üblich war.
Bei Tisch ging es immer lebhaft zu. Ich probte schon als Kind die Rebellion und die große Rede zu zentralen Themen wie »Ich, heiraten oder Kinder kriegen? Nie!« Am Tisch gab es keine strenge Hierarchie. Wer sich traute, konnte sich einfach einmischen. Oder auch nicht. Zuhörer wurden schließlich auch gebraucht. Den Vorsitz hatte eindeutig mein Vater. An zweiter Stelle kam ich. Dieser Status ist mir in den Schoß gefallen, weil mich mein Vater irgendwie immer als gleichwertige Sparringspartnerin ansah. Für ihn war meist nur wichtig, was ich zu einem Thema zu sagen hatte. Selbst meine ersten Schulberichte waren für ihn anscheinend interessanter als alles andere. Meine Mutter brachte sich vielleicht deshalb etwas weniger in die Unterhaltung bei Tisch ein. Für mich war es zumindest im Nachhinein aber auch nicht so einfach, mehr als gleichwertiger Partner denn als Kind gesehen zu werden. Das überfordert gelegentlich.
Meine Mutter ist immer das gewesen, was man eine Dame nennt. Gutes Auftreten, extrem gepflegt, wunderschöne Hände, lange Beine, nur mit ihrer Nase haderte sie, die war wirklich groß, ein Zinken, wie so etwas bei uns hieß. Besondere Sorgfalt legte sie darauf, geschmackvoll gekleidet zu sein, und so wollte sie auch ihre Töchter sehen. Mein Tanzstundenkleid für die beiden großen Bälle – damals gab es vor dem Abschlussball noch einen Mittelball –, war ein Traum aus rotem Chiffon. Es hat damals so viel gekostet wie das Monatseinkommen eines Staatsanwalts, was mir aber erst viel später bewusst wurde, als mein Oberstaatsanwalt irgendwann mal erzählte, was er 1964 monatlich verdient hat. Von gestopften, geliehenen Windeln bin ich in einen Rollkragenpullover von Dior mit Rückendekolletee und Pailletten hineingewachsen, und das als 14-Jährige. Das war schon extrem, was meine Eltern sich in jener Zeit aufbauen konnten. Wobei unser Alltag mit Dior nichts zu tun hatte. Der war ganz normal. Aber nie wieder in meinem Leben war ich so perfekt mit Cocktail- und Abendgarderobe ausgestattet. Meine Mutter wollte mich bei unseren Theater- und Konzertbesuchen schick an ihrer Seite haben. Mein Vater ging nur einmal jährlich in der Weihnachtszeit mit zur Operngala, weil wir da einen begleitenden Smoking brauchten. Mit Bauchbinde. Das restliche Kulturjahr erledigten wir zu seiner Erleichterung ohne ihn. Später verweigerte ich gelegentlich das Aufbrezeln und ging in Jeans mit. Mama nahm mich dann zwar im Auto mit nach Karlsruhe oder sonst wohin, ließ mich aber vor dem Theater aussteigen. Ab da sprach sie kein Wort mehr mit mir, weder im Saal noch im Foyer in der Pause. Nach der Aufführung sammelte sie mich wieder vor dem Theater ein; dann war das Schweigen zu Ende.
Generell waren meine Eltern mit Sachwerten großzügig, wenn sie eine Ausgabe für angemessen hielten. Anders war es mit Bargeld. Da hielten sie uns extrem kurz. Wir mussten uns unser Taschengeld Mark für Mark mit dem Stempeln von Prospekten, mit Ablage und Lagerarbeiten verdienen und waren im Geschäft überall ganz gut im Einsatz. Das ging bis hin zum Ausliefern von Garagentoren. Ich brauchte dazu übrigens keinen Beifahrer, denn meine damals noch blonden Haare lösten auf Baustellen wahre Hilfswellen aus. Einmal gingen vier Wochen meiner Sommerferien nur für ein Tonbandgerät drauf, das mit acht Stunden täglicher Arbeit verdient werden musste; den Rest gab Papa dazu. Auch im Studium hielten sie mich aus »pädagogisch wertvollen« Gründen finanziell kurz. Ich bekam nur 400 Mark als monatlichen Wechsel und musste während der gesamten Studienzeit arbeiten, um über die Runden zu kommen. Zumal ich auch noch ein Auto fuhr und zu betanken hatte. Und zwar das Auto meiner Mutter, das ich so lange mit fadenscheinigsten Begründungen nicht zurückgab, bis mein Vater entschied: »Lass es ihr. Nimm meins, wenn du fahren willst. Du brauchst dein Auto doch sowieso nicht«. Das stimmte schon irgendwie, denn meine Mutter fuhr nur samstags damit zum Frisör, sonst benutzte sie es nicht, aber dass das einfach so über ihren Kopf hinweg beschlossen wurde, fand sie auch nicht so prickelnd. Jedenfalls hatte ich fast meine gesamte Studienzeit über einen fahrbaren Untersatz – sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit. Ihren Opel Kadett Coupé in Beige mit roten Kunstledersitzen und bei mir mit einem Zementsack im Kofferraum wegen der »besseren« Straßenlage. KA-TA 70, das einzige Kennzeichen, das wir alle – Familie und Freunde – heute noch kennen. Denn wir nannten das Auto nur so.
Meine Eltern versuchten uns Kinder natürlich einigermaßen gleich zu behandeln, aber meine Schwester hatte es schon etwas schwerer, Gehör zu finden. Zum Beispiel mit ihren Schulangelegenheiten. Sie war eben vier Jahre jünger. Als sie endlich in die Schule kam, war ich gerade auf dem Gymnasium gelandet, was eben schon wieder spannendere Geschichten abgab als die Volksschule, die meine Eltern ja schon mit mir abgehakt hatten. Sicher waren alle immer freundlich zu ihr, aber mehr wie zu einem kleinen Kind; man nahm sie lange Zeit nicht ganz so ernst wie mich.
Petra hat es damals mit mir nicht so leicht gehabt. Aber ich mit ihr auch nicht immer. Zwischen einer Dreijährigen und einem Schulkind liegen eben Welten. Ich musste sie öfter mitnehmen oder zu Hause auf sie aufpassen, und dazu hatte ich null Lust. Beim Verstecken brüllte sie sofort, wenn man nicht mehr sichtbar war. Eine einzige Schreinummer. Wenn ich Pech hatte, bekam meine Mutter das mit, und es setzte eine Ohrfeige. Dann hatte meine Schwester aber auch Pech, denn kaum war meine Mutter wieder im Haus, wurde die Ohrfeige von mir höchstpersönlich an meine Schwester weitergereicht. Damit sie wusste, warum sie heulte. Ich habe mich aber natürlich auch wirklich um sie gekümmert, so war das nicht. Nur liebte ich sie eben auf meine etwas harsche Weise.
In einem war ich als Kind richtiggehend neidisch auf meine Schwester. Die wenigen Zärtlichkeiten, die meine Eltern vergaben, griff sie sich nahezu komplett ab. So sah ich es jedenfalls aus meiner damaligen Perspektive. Ich dachte manchmal wirklich, meine Eltern hätten mich nicht so lieb wie meine Schwester. Mit acht oder neun Jahren war ich das leid. Ich setzte mich aufs Bett und schrieb einen Brief. An den Wortlaut erinnere ich mich nicht mehr genau, er fing etwa so an: »Ich gehe jetzt weg, es hat ja keinen Zweck mehr. Ihr wollt mich ja doch nicht.« Ich spekulierte darauf, dass meine Eltern, bevor sie abends ins Bett gingen, wie immer zu uns Kindern hereinkämen, und legte den zur Hälfte geschriebenen Abschiedsbrief dekorativ zur Seite. Ich tat so, als ob mir beim Schreiben vor Müdigkeit der Stift aus der Hand gefallen wäre, und schlief ruhig bei vollem Licht ein. Ich habe natürlich nicht im Traum daran gedacht, wirklich das Feld zu räumen, aber ich wollte ein deutliches Zeichen setzen. Meine Eltern lasen natürlich meine Zeilen und waren sehr betroffen. Am nächsten Tag wurde intensiv über meinen »Hilferuf« diskutiert. Wunderbar. Mein Zuwendungsplus hielt sogar ein paar Wochen an, bis meine Schwester ihre alte Position zurückerobert hatte, und Sätze wie »Du bist doch die Ältere, du verstehst das doch« waren wieder Alltag. Es wurde immer an meine Vernunft appelliert, und meine Schwester durfte lange Jahre »die Kleine« bleiben. Als sie endlich 13, 14 Jahre alt war, klappte es zwischen uns dann ohne Wenn und Aber, denn ab da waren wir beide junge Frauen. Der Altersunterschied spielte keine Rolle mehr, und wir verstehen uns seitdem richtig gut.
In einem war ich aber klar im Vorteil: Egal was ich machte, dass mein Vater mein Tun rechtfertigte oder gar entschuldigte, war mir sicher. Schließlich sah er sich selbst in mir. Und niemand greift sich gern selbst an oder ist allzu kritisch mit sich. Das hieß im Klartext: Hatte ich Mist gebaut, waren in den Augen meines Vaters immer andere schuld. Aber doch nicht ich. Denn er war ja auch nie schuld. Ganz typisch war zum Beispiel, als ich einmal im Zwischenzeugnis in Mathematik eine Sechs mit nach Hause brachte, obwohl ich eigentlich sonst immer so zwischen Drei und Fünf stand. Mein Mathelehrer war offensichtlich der Meinung, ich müsste für meine Faulheit mal einen Schuss vor den Bug kriegen; es ging ja nicht um die Versetzung. Zeugnisse mussten damals dem Vater vorgelegt werden. Papa fragte: »Ungenügend? Was ist denn das für eine Note?« Das wusste ich in der Sekunde dann sicherheitshalber auch nicht und trat einen Schritt zurück. Leider stand im Index des Zeugnisses das Ungenügend ganz unten. »In Mathematik eine Sechs. Meine Tochter!« Daraufhin brach ein Donnerwetter über meine Mutter herein, die an ihrem Schreibtisch ihm gegenübersaß. Mit eindeutiger Sippenhaft: »Eure Erziehung!« Er meinte die meiner Mutter und meiner Oma. »Religion sehr gut, Mathematik ungenügend. Das kommt mir nicht mehr ins Haus!« Meine Mutter schnappte nach Luft. Warum bekam sie meine Mathe-Sechs um die Ohren gehauen? Dass ich ausgerechnet in Religion ein »Sehr gut« hatte, gab meinem Vater den Rest. Das war doch nur ein Fleißfach, bei dem man nicht denken können muss. In seinen Augen. Sodann unterschrieb er das Zeugnis quer über das ganze Blatt und schmiss es mir hin, mit dem Kommentar: »Nicht noch mal!« Den Nachmittag über ging ich dann erst mal in Deckung. Abends war alles schon wieder gut. Nachtragend war niemand in unserer Familie. Das war charakteristisch für uns und ein dickes Plus. Aber es war auch typisch, dass meine Mutter immer an erster Stelle stand, wenn es darum ging, einen zu finden, der verantwortlich gewesen sein könnte. Ungerechterweise. Ich sah mich damals aber noch nicht genötigt, mich zwischen meine Eltern zu stellen und ausgleichend für Gerechtigkeit zu sorgen. Ich fühlte mich auf der Seite meines Vaters stets sicher und wohl. Und aus dieser starken Position heraus schien mir die Welt irgendwie in Ordnung zu sein.
Noch heute nimmt mein Vater »Einfluss« auf meinen Alltag. Seine Bronzebüste steht jetzt bei mir im Garten, und er sieht mich von dort aus durchs Fenster an meinem Esstisch sitzen. Nicht selten stehe ich mit seinem »Du kannst das, mach es!« im Ohr von meinem Platz auf und zwinkere seiner Büste mit der dicken Zigarre im Mund und seinem leichten Lächeln im Mundwinkel kurz zu.
Dieses Mantra meines Vaters und auch meiner Mutter hat mich mein Leben lang begleitet. Schon in der Grundschule. Ich wurde als Maikind erst mit fast sieben eingeschult. Übrigens war ich dazu freiwillig nur deshalb bereit – in dem Alter stand ich Neuanfängen anscheinend noch skeptisch gegenüber –, weil mir meine heißgeliebte Schwester Gretchen, die kleine und kugelrunde Diakonissin des Kindergartens, versicherte, dass ich auch als Schulkind zu Ostern und Weihnachten ganz allein die fünf Meter lange Tafel im Kindergarten bemalen dürfe. Wohl wissend, dass sich das bald »von selbst« erledigen würde. So war es dann auch.
Ich bin gerne zur Schule gegangen, war schnell im Begreifen, störte nicht, machte mündlich erst mal gut mit und erledigte dann meine Hausaufgaben schon während des Unterrichts, während unsere Lehrerin alles zum zweiten Mal an der Tafel erklärte. Sobald ich zu Hause ankam, warf ich meinen Ranzen in die Ecke, der immer für die ganze Woche gepackt war, und fasste ihn an dem Tag nicht mehr an. Freizeit, Turnverein und unbeschwertes Leben folgten. Meine Hausarbeiten wurden zu Hause nicht kontrolliert. Nur ein einziges Mal, nach dem ersten Schultag. Wir sollten O’s auf unsere linierte Schreibtafel malen; damals gab es noch keine Schulhefte. Meine Mutter wunderte sich über meine Schnelligkeit. Klar, ich hatte mit zwei O’s meine Tafel schon voll. Sie wischte sie aus und brachte mir bei, dass man sich beim Schreiben an Linien halten muss. Okay, dann eben auf Linien.
Meine beste Volksschulfreundin und ich hatten die ganzen vier Jahre miteinander nur ein einziges Problem, unsere ewige Konkurrenz: Wer ist die Klassenbeste? In allen Fächern hatten wir »Sehr gut«, außer in Sport, da war sie schwach, und in Schönschreiben, das konnte ich nicht. Das glich sich aus. In den beiden Fächern bekamen wir beide »nur« eine Zwei. Völlig unverdient, Vieren wären korrekt gewesen. Aber wegen der Einser in unseren Zeugnissen fand unsere Klassenlehrerin, dass schlechter als Zwei nicht gehe. Und dann war da noch das Fach »Handarbeit«. Hier war ich wirklich nicht so gut wie meine Freundin, aber meine Mutter, die auch schon von unserer Handarbeitslehrerin Fräulein Knoll, genannt Knolla, unterrichtet worden war, muss wohl einen so phantastischen Eindruck hinterlassen haben, dass ich immer nur hörte: »Das Hannele war so gut, und du wirst es auch werden …« Der Glanz meiner Mutter, die sich keinen Deut um meine verschwitzten und verknubbelten Strickereien und Nähereien scherte, vergoldete jedes meiner bescheidenen Werke, die ich gemeinhin vorlegte. Wenn ich nach vorn zum Pult kam und meinen Fingerhut auf den falschen Finger steckte, weil ich eh nicht damit nähte, erfuhr ich von der durchaus gefürchteten Knolla nur Güte oder Nachsicht und bekam immer meine Eins, was mich regelmäßig vor dem an sich verdienten zweiten Platz rettete.
Im Verhältnis zu vielen meiner Klassenkameradinnen war ich durch meinen Altersvorsprung ziemlich weit, und zudem war ich sehr groß, robust und kräftig. Mit zwölf war ich schon so groß wie heute. Jeder dachte damals, ich wachse noch in den Himmel. Aber ich bin dann einfach bei 159 Zentimetern stehengeblieben. Schade, denn ich finde gerade große Frauen wunderschön. In der Schule war ich jedenfalls in den ersten Jahren die Zweitgrößte, wenn wir uns im Sportunterricht der Reihe nach aufstellen mussten. Nach und nach überholten mich die anderen, bis ich am Ende die Zweitkleinste in der Reihe war, neben meiner besten Freundin vom Gymnasium, die noch früher das Wachsen eingestellt hatte.
In den ersten Schuljahren habe ich gerne meine körperliche Kraft genutzt, um mich damit völlig unerschrocken durchzusetzen. Und das mit der ganzen Unterstützung meines Vaters. Da er schon keinen echten Jungen hatte, wollte er doch wenigstens ein schlagkräftiges Mädel haben. Wenn sich deshalb Lehrer über mich beschwerten – meistens bei meiner Oma –, weil sich das doch bitte für ein Mädchen nicht gehöre, dann zollte er mir Lob: »Das hast du richtig gemacht, dass du sie verprügelt hast. Du darfst dir nichts gefallen lassen.« In der Volksschule ging ich noch in eine reine Mädchenklasse, aber meine beste Freundin dort konnte auch gut keilen. Das war ein prima Übungsfeld, und gleich der Erste meiner neuen Klassenkameraden auf dem Gymnasium zog – überrascht von meiner Geschwindigkeit – mit einem blauen Auge davon, und die Rangfolge in der neuen Klasse war geklärt.
Damals gehörten Keilereien zum Schulalltag und wurden nicht so ernst genommen. Auch deshalb, weil sie nicht so brutal waren wie heute. Es kamen keine Waffen zum Einsatz, und außer blauen Flecken gab es so gut wie keine Verletzungen. Wenn man erwischt wurde, stand darauf zwar Strafarbeit, aber das war mir egal. Ich wusste ja, damit konnte ich meinem Vater imponieren: »Lass dir ja nichts gefallen.« Es ging mir dabei weniger ums Angreifen als ums Verteidigen meines Rangs. Die Wahrung meiner schulischen Autorität und in der Hierarchie der Klassengemeinschaft mit oben zu stehen waren mir wichtig. Als mit zwölf, dreizehn Jahren die Jungs kräftemäßig an mir vorbeizogen, habe ich die Waffen gewechselt. Statt mit schneller Hand habe ich mich ab da mit Worten gewehrt. Auf meine Sprachgewandtheit war Verlass. Und damit komme ich noch heute bestens zurecht.