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Supervision im Dialog

 

Herausgegeben von Andreas Hamburger und Wolfgang Mertens

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

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https://shop.kohlhammer.de/supervision-im-dialog

Günter Gödde

Annekathrin Bergner

Gerald Kurz

Supervision in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034681-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034682-6

epub:   ISBN 978-3-17-034683-3

Vorwort der Reihenherausgeber

 

 

 

Supervision wird seit vielen Jahren in therapeutischen, sozialen, pädagogischen, ärztlichen und organisatorischen Handlungsfeldern eingesetzt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich eine Vielzahl an unterschiedlichen Richtungen ergeben. In der Kohlhammer-Reihe Supervision im Dialog sollen die wichtigsten methodischen Auffassungen berücksichtigt werden: Psychodynamische, systemische, kognitiv-verhaltenstherapeutische und humanistische Ansätze werden einbezogen, wobei es viele Überschneidungen in den supervisorischen Vorgehensweisen gibt.

Auch die Anwendungsfelder von Supervision haben sich seit den ersten Anfängen in der Psychoanalyse und in der Sozialen Arbeit ausdifferenziert. Die Buchreihe Supervision im Dialog widmet solchen Einsatzbereichen und Handlungsfeldern je einen eigenen Band, um ein lebendiges und praxisnahes Bild der spezifischen Aufgaben und Bedingungen zu vermitteln. Therapien und Beratungen für Einzelpersonen, Paare, Familien, Gruppen und Organisation sind die wichtigsten Einsatzbereiche von Supervision. Neben der berufsbegleitenden Anwendung ist Supervision auch einer der wichtigsten Bausteine in vielen Ausbildungen, sei es zum Psychotherapeuten, Facharzt oder in der Sozialen Arbeit. Es gibt auch Gebiete, in denen die Einführung bzw. verstärkte Durchführung regelmäßiger Supervisionen ein Desiderat darstellt, wie etwa in Lehr- und Betreuungseinrichtungen und Krankenhäusern.

Die Besonderheit der Reihe ist der Dialog. Jeder Band wird von mindestens zwei Autoren gestaltet, die unterschiedliche Positionen vertreten und diese nach jedem Hauptkapitel miteinander vergleichen. So lernen Leser nicht nur die wichtigsten Themen, Hintergründe und Kontroversen kennen, sondern erleben dabei auch einen lebendigen Austausch zweier engagierter Fachvertreter. Die Diskussion in Dialogform dient dem Zweck, den zuvor abgehandelten Text aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, die Essenz noch einmal zu benennen, offene Fragen, Probleme und Verbesserungsvorschläge zu diskutieren.

Wir hoffen, durch diese dialogische Präsentation des in Bewegung befindlichen Kompetenzfeldes der Supervision auch die Leser unserer Reihe zum Austausch anzuregen.

Andreas Hamburger

Wolfgang Mertens

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort der Reihenherausgeber
  2. Einleitung
  3. 1   Zur Historie und Spezifität der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
  4. 1.1   Zur Entwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie als eigenständiges Richtlinienverfahren
  5. 1.1.1   Die erste Konzeptualisierung der TP nach Einführung der Psychotherapie-Richtlinien
  6. 1.1.2   Die weitere Konzeptualisierung der TP nach Erlass des Psychotherapeutengesetzes
  7. 1.1.3   TP als psychodynamisches Verfahren
  8. 1.2   Essentials der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
  9. 1.2.1   Die gemeinsame Grundorientierung der psychodynamischen Verfahren
  10. 1.2.2   Verfahrensspezifische Unterschiede zwischen TP und AP
  11. 1.3   TP als konfliktorientierte Behandlungsmethode
  12. 1.4   Die TP bei strukturell und traumatisch bedingten Störungen
  13. 2   Grundlagen psychodynamischer Supervision
  14. 2.1   Von der Kontrollanalyse zur intersubjektiven Supervision
  15. 2.1.1   Patientenzentriertes Modell
  16. 2.1.2   Therapeutenzentriertes Modell
  17. 2.1.3   Intersubjektives Modell
  18. 2.2   Die Aufgabenorientierung in der psychodynamischen Supervision
  19. 2.2.1   Kognitive Klärung der Psychodynamik und Anleitung im methodischen Vorgehen
  20. 2.2.2   Affektive Klärung und emotionale Unterstützung
  21. 2.2.3   Interaktionelle Klärung und Begleitung
  22. 2.3   Die Entwicklungsorientierung in der psychodynamischen Supervision
  23. 2.3.1   Zwei Modelle zur Entwicklung therapeutischer Kompetenzen
  24. 2.3.2   Kompetenzentwicklung in der psychodynamischen Supervision
  25. 2.4   Modelle und Methoden psychodynamischer Supervision
  26. 2.4.1   Die supervisorische Beziehung
  27. 2.4.2   Triangulierung
  28. 2.4.3   Arbeit mit dem Parallelprozess
  29. 2.4.4   Lernen durch Erfahrung
  30. 2.4.5   Arbeiten mit der triadischen intersubjektiven Matrix und dem supervisorischen Vierten
  31. 3   Konturen eines Modells tiefenpsychologischer Supervision
  32. 3.1   Erfahrungshintergrund der Autoren
  33. 3.1.1   Historischer Hintergrund
  34. 3.1.2   Das Setting in der tiefenpsychologischen Supervision
  35. 3.1.3   Gruppensupervision
  36. 3.1.4   Institutioneller Kontext
  37. 3.1.5   Ausblick
  38. 3.2   Zur verfahrensspezifischen Haltung in der tiefenpsychologischen Supervision
  39. 3.2.1   Strukturierend-zielorientierte versus prozessoffene Haltung
  40. 3.2.2   Autoritätsorientierte versus autonomiegewährende Haltung
  41. 3.2.3   Kritisch-problemorientierte versus aufbauend-ressourcenorientierte Haltung
  42. 3.2.4   Abstinent-neutrale versus selbstoffenbarend-zugewandte Haltung
  43. 3.3   Zur verfahrensspezifischen Supervisionstechnik in der tiefenpsychologischen Supervision
  44. 3.3.1   Begrenzung der Zielsetzung und Konzentration des therapeutischen Prozesses
  45. 3.3.2   Spezifische Handhabung von Regression, Übertragung und Gegenübertragung
  46. 3.3.3   Prozessorientierung
  47. 4   Tiefenpsychologisch fundierte Einzelsupervision – ein Fallbeispiel
  48. 4.1   Darstellung des Einzelsupervisors
  49. 4.1.1   Ausgangssituation für Therapie und Supervision
  50. 4.1.2   Biografisches
  51. 4.1.3   Aktualkonflikte in der therapeutischen Anfangsphase
  52. 4.1.4   Ein reaktualisierter Machtkampf im beruflichen Feld
  53. 4.1.5   Loslösung aus beruflichen Fesseln
  54. 4.1.6   Auseinandersetzung mit dem eigenen »Helfersyndrom«
  55. 4.1.7   Emanzipationswünsche und Ängste vor ihrer Realisierung
  56. 4.2   Kreditierung in der Supervision – Kommentar der Zweitautorin
  57. 4.3   Wachstum und Stockungen im psychotherapeutischen und supervisorischen Prozess – Kommentar des Drittautors
  58. 4.4   Abschließende Einordnung des Einzelsupervisors
  59. 5   Tiefenpsychologisch fundierte Gruppensupervision – ein Fallbeispiel
  60. 5.1   Darstellung der Gruppensupervisorin
  61. 5.1.1   Der Therapeut und seine Patientin
  62. 5.1.2   Verunsicherung des Therapeuten und der Supervisionsgruppe
  63. 5.1.3   Protokollführung als Zäsur und Stimulans im Supervisionsprozess
  64. 5.1.4   Heimliche Entwicklung der Patientin und ihr Sichtbarwerden
  65. 5.2   Zur Wende in einem »Problemfall« – Kommentar des Erstautors
  66. 5.3   Die tiefenpsychologische Perspektive – Kommentar des Drittautors
  67. 5.4   Abschließender Kommentar der Gruppensupervisorin
  68. 6   Aktuelle Diskussionsthemen zur tiefenpsychologischen Supervision
  69. 6.1   Zur Frage der Methodenintegration in der tiefenpsychologischen Supervision
  70. 6.1.1   Offenheit und Integrationsbereitschaft
  71. 6.1.2   Zurückhaltung und Skepsis gegenüber vorzeitiger Methodenintegration
  72. 6.2   Der Anteil der Selbsterfahrung an der tiefenpsychologischen Supervision: Teach or treat? Teach and treat!
  73. 6.2.1   Containment dissoziierter Affekte
  74. 6.2.2   Umgang mit Schamaffekten in der Supervision
  75. 6.2.3   Reflexion von Eigenanteilen an der Gegenübertragung
  76. 6.2.4   Psychohygiene und Containment von Krisen des Supervisanden
  77. 6.2.5   Techniken zur Förderung und Steuerung von Selbsterfahrung in der Supervision
  78. 6.3   Das Behandlungsende in der tiefenpsychologischen Supervision
  79. 6.3.1   Die Gestaltung der Abschlussphase
  80. 6.3.2   Der Abschied aus der tiefenpsychologischen Supervision
  81. 6.3.3   Ein Fallbeispiel
  82. Literatur
  83. Stichwortverzeichnis
  84. Die Autoren

Einleitung

 

 

 

Bei der Ausarbeitung unseres Buches waren wir durchgängig mit zwei Herausforderungen konfrontiert: der Abgrenzung der tiefenpsychologisch fundierten von der analytischen Psychotherapie im Rahmen der übergreifenden psychodynamischen Psychotherapie und derjenigen zwischen tiefenpsychologischer und analytischer Supervision im Rahmen der übergreifenden psychodynamischen Supervision.

Tiefenpsychologisch fundierte versus analytische Psychotherapie

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) wurde 1967 neben der analytischen Psychotherapie (AP) in das System der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen und kann seither als Kassenleistung abgerechnet werden.1 Die beiden Richtlinienverfahren konnten zunächst nur von Ärzten2, die entweder eine Ausbildung als Psychoanalytiker absolviert oder den Zusatztitel Psychotherapie (sog. »kleine Ausbildung«) erworben hatten, abgerechnet werden. Da es aber Engpässe in der psychotherapeutischen Versorgung gab, wurden ab 1972 therapeutisch ausgebildete Diplom-Psychologen im Rahmen des sog. Delegationsverfahrens in die kassenärztliche Regelung einbezogen. Als Delegierte unterlagen sie allerdings den Weisungen der Ärzte.

An den psychoanalytischen Instituten wurde die TP Jahrzehnte lang nur als integraler Bestandteil einer »verklammerten« Ausbildung in AP und TP ermöglicht, nur nebenbei gelehrt und nur in wenigen Fällen unter Supervision praktiziert. Das lag in erster Linie an der vorherrschenden Meinung, ausgebildete Analytiker könnten ohne weitere Zusatzausbildung auch die TP anwenden. Daher führte die TP in Praxis und Ausbildung lange Jahre ein Schattendasein.

Das Psychotherapeutengesetz von 1998 führte diesbezüglich zu bedeutsamen Veränderungen. Neben der Gleichstellung von psychologischen mit ärztlichen Psychotherapeuten war es Psychologen nun erstmals möglich, eine Weiterbildung an einem Institut zu absolvieren, in dem ausschließlich tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie gelehrt wurde Die Psychologischen Psychotherapeuten konnten nunmehr aus dem »Delegations-Schatten« heraustreten und ohne ärztliche Weisung eigenständig arbeiten. Im Rahmen einer Übergangsregelung erhielten sie in großer Zahl eine Kassenzulassung. Heute lassen sich vier Kohorten von TPlern unterscheiden:

1.  ärztliche und psychologische Psychotherapeuten mit psychoanalytischer Ausbildung,

2.  ärztliche Psychotherapeuten ohne psychoanalytische Ausbildung, aber mit dem Zusatztitel »Psychotherapie«,

3.  psychologische Psychotherapeuten ohne psychoanalytische Ausbildung, die ihre primäre Ausbildung entweder im tiefenpsychologischen Verfahren oder in anderen, z. B. humanistisch orientierten Verfahren wie Gesprächs- oder Gestalttherapie absolviert haben, aber im Zuge mehrjähriger Berufspraxis und umfangreicher Nachqualifizierungen tiefenpsychologische Kompetenzen nachweisen konnten und deshalb eine TP-Zulassung durch die Übergangsregelung zum PTG erlangten, und

4.  psychologische Psychotherapeuten, die ihre TP-Ausbildung nach 1998 an neu gegründeten TP-Instituten absolviert haben (vgl. Hauten, 2018, S. 255).

Seit über 20 Jahren gibt es eine eigene Therapeutenausbildung in TP, die im Rahmen teils psychoanalytischer, teils speziell tiefenpsychologischer Ausbildungsinstitute vermittelt wird. Die wachsende Bedeutung der TP für die therapeutische Versorgung zeigt sich darin, dass derzeit ca. 45 % der kassenfinanzierten Therapiefälle in diesem Verfahren behandelt werden (Multmeier, 2014).

Im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung stehen 17.900 TP-Therapeuten 6.200 AP-Therapeuten und 17.700 VT-Therapeuten gegenüber. Eine Auswertung der Leistungsstatistiken der KV von 2018 ergibt folgendes Bild:

•  TP: 215.000 Fälle mit Kurzzeittherapie – 160.000 mit Langzeittherapie;

•  AP: 9.900 Fälle Kurzzeittherapie – 61.000 Langzeittherapie;

•  VT: 346.000 Fälle Kurzzeittherapie – 205.000 Langzeittherapie (vgl. Wöller & Kruse, 2020, S. 24).

Bei aller Unterschiedlichkeit ist von einer grundlegenden Übereinstimmung und Verwandtschaft zwischen TP und AP auszugehen, da beide Verfahren an der unbewussten Konflikt- und Strukturdynamik, der Beziehungserfahrung im Hier und Jetzt, der Selbsterforschung im Rahmen der therapeutischen Beziehung und der aufdeckenden Vorgehensweise ausgerichtet sind. Während analytische Therapien auf die Übertragungsanalyse, die Förderung der Regression und das Behandlungsziel der strukturellen Persönlichkeitsveränderung zentriert sind, gehen die tiefenpsychologisch fundierten Therapien in der Bearbeitung der krankheitsrelevanten Psychodynamik methodisch eigene Wege. Sie lassen sich durch eine deutliche Begrenzung im Umgang mit Übertragung, Gegenübertragung und Regression und im Hinblick auf das Behandlungsziel charakterisieren. Im Zentrum steht die Frage, wann und wodurch eine lebensgeschichtliche Disposition in aktuellen Lebensereignissen eine Zuspitzung erfahren hat, die das innere Gleichgewicht des Patienten so sehr belastete, dass es zu einer Symptombildung gekommen ist. Neben dem psychodynamischen Modell der aktuellen und reaktualisierten unbewussten Konflikte werden den Kategorien der Persönlichkeitsdisposition, des Strukturniveaus der Persönlichkeit und der strukturellen Störung große Bedeutung beigemessen und davon ausgegangen, dass sich die dabei zugrunde gelegten Konzepte von Konflikt und Struktur theoretisch und praktisch sinnvoll ergänzen.

In der TP nimmt der Therapeut eine aktivere Haltung als in der AP ein und wird – auch durch das Gegenübersitzen und den Blickkontakt– für den Patienten sichtbarer und erlebbarer. Aufgrund der niedrigeren Behandlungsfrequenz (in der Regel eine statt zwei bis drei wöchentlichen Therapiesitzungen) hat die Binnenübertragung in der TP einen nicht so zentralen Stellenwert wie in der AP, während der Klärung und Interpretation der Außenübertragungen auf aktuelle soziale Beziehungen mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Tiefenpsychologische versus analytische Supervision

Im Rahmen der Therapeutenausbildung von TP-Kandidaten und der professionellen Praxis von TP-Therapeuten bedarf es einer speziellen, auf die tiefenpsychologische Praxis zugeschnittenen Supervision, die zwar grundsätzlich in der Tradition der psychoanalytischen Supervision steht, sich aber in einer Reihe wichtiger Punkte von ihr unterscheidet.

Tiefenpsychologische Supervision sollte der Begrenzung der Zielsetzung, der Konzentration des Behandlungsprozesses, dem fokusorientierten Arbeiten sowie der spezifischen Handhabung von Regression, Übertragung und Gegenübertragung und nicht zuletzt der stärkeren Präsenz des Therapeuten sowie den direkteren Interaktionen zwischen Patienten und Therapeuten in der TP gerecht werden. Schon in der diagnostischen Phase zu Behandlungsbeginn stehen Überlegungen zu Indikation und Prognose hinsichtlich eines Konfliktfokus und/oder Strukturfokus der Behandlung im Vordergrund. Eine Aufgabe der Supervision besteht u. a. darin, die psychodynamischen Überlegungen und daraus abgeleiteten Interventionen des Therapeuten auf den jeweiligen Behandlungsfokus zu beziehen. In einem adaptiven Vorgehen lässt sich der zentrale Konflikt- oder Strukturfokus mit zunehmendem Verständnis der Psychodynamik, in die auch Erfahrungen aus der therapeutischen Beziehung einfließen, differenziert beschreiben. Interaktionelle und intersubjektive Modelle der Wirksamkeit von Psychotherapien haben für die TP große Bedeutung. Die Reflexion der therapeutischen Interaktion und der wechselseitigen (unbewussten) Einflussnahme beider Beziehungspartner aufeinander und deren Bedeutung für den therapeutischen Prozess ist ein wesentliches Merkmal der tiefenpsychologischen Supervision. Das vorliegende Buch ist in sechs Kapitel aufgegliedert:

Erstes Kapitel: Zur Historie und Spezifität der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Nach einem geschichtlichen Abriss der Entwicklung von der psychoanalytischen zur psychodynamischen Psychotherapie behandeln wir die Essentials der TP in Abgrenzung von der AP, gehen auf die unterschiedlichen Vorgehensweisen und Methoden bei der Behandlung von konfliktbedingten, strukturellen oder traumatisch bedingten Störungen ein.

Zweites Kapitel: Grundlagen psychodynamischer Supervision

Auch hinsichtlich der Supervision beginnen wir mit einem geschichtlichen Abriss: Er führt von der psychoanalytischen Kontrollanalyse zur intersubjektiven Supervision. Im Weiteren folgen wir der Unterscheidung zwischen einer Aufgaben- und einer Entwicklungsorientierung in der psychodynamischen Supervision. Dabei gehen wir der Frage nach, ob in der psychodynamischen und speziell in der tiefenpsychologischen Supervision bestimmte Kompetenzen der Supervisanden besonders gefördert werden. Zu den Modellen und Methoden der psychodynamischen Supervision, die gleichermaßen für die tiefenpsychologisch fundierte wie für die analytische Supervision gelten, rechnen wir die supervisorische Beziehung, die Triangulierung, die Arbeit mit dem Parallelprozess, das Lernen durch Erfahrung sowie das Arbeiten mit der triadischen intersubjektiven Matrix und dem supervisorischen Vierten.

Drittes Kapitel: Konturen eines Modells tiefenpsychologischer Supervision

Der Versuch, die Spezifika tiefenpsychologischer Supervision herauszuarbeiten, stößt auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten, da in Theorie und Praxis der TP-Supervision eine große Bandbreite unterschiedlicher Sicht- und Vorgehensweisen existiert. Da es nicht »die« tiefenpsychologische Supervision, sondern verschiedene Modelle gibt, gehen wir zunächst auf unseren eigenen Erfahrungshintergrund ein, suchen dann die verfahrensspezifische Haltung des TP-Supervisors, die sich partiell von der eines analytischen Supervisors unterscheidet, näher zu bestimmen und zeigen Spezifika der tiefenpsychologischen Supervisionstechnik auf.

Viertes Kapitel: Tiefenpsychologisch fundierte Einzelsupervision – ein Fallbeispiel

Das noch relativ abstrakte Modell tiefenpsychologischer Supervision wollen wir anhand einer supervidierten Fallgeschichte aus der Einzelsupervision konkretisieren. Den Ausgangspunkt bildet die Vorstellung und Interpretation eines Falls durch den Supervisor, dazu geben die beiden anderen Autoren Kommentare ab, und am Ende nimmt der Supervidierende den Gesprächsfaden wieder auf, um zu einer abschließenden Einschätzung zu gelangen.

Fünftes Kapitel: Tiefenpsychologisch fundierte Gruppensupervision – ein Fallbeispiel

Ähnlich wie bei dem Fallbeispiel aus der Einzelsupervision verfahren wir auch bei einem zweiten Fallbeispiel, das aus einer Gruppensupervision stammt.

Sechstes Kapitel: Aktuelle Diskussionsthemen zur tiefenpsychologischen Supervision

Im abschließenden Kapitel behandeln wir aktuelle Themen, die sich in den derzeitigen Diskussionen über Supervision herauskristallisiert haben und uns für die tiefenpsychologische Supervision besonders wichtig erscheinen: die Frage der Methodenintegration, den Anteil der Selbsterfahrung und das Behandlungsende in der TP-Supervision.

Herzlich bedanken möchten wir uns bei den Supervisanden, mit denen wir in den vergangenen Jahren zusammengearbeitet und von denen wir viel gelernt haben. Die Supervisionen mit den Kolleginnen und Kollegen bilden den Erfahrungshintergrund, auf dem wir unser im vorliegenden Buch vorgestelltes Modell der tiefenpsychologischen Supervision entwickeln konnten. Darüber hinaus möchten wir uns herzlich bei Wolfgang Mertens als einem der beiden Reihenherausgeber für die wohlwollende und konstruktive Begleitung bei diesem Buchprojekt und bei Kathrin Kastl und Fabio Freiberg vom Kohlhammer Verlag für das sorgfältige Lektorat bedanken.

1     Analytische Psychotherapie wird im Weiteren mit AP, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit TP und Verhaltenstherapie mit VT abgekürzt.

2     Aus Gründen der Vereinfachung verwenden wir im vorliegenden Buch das generische Maskulinum.

1          Zur Historie und Spezifität der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

 

 

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Freud das psychoanalytische Standardverfahren und wies 1918 auf dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest erstmals darauf hin, dass »die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht durch die nämliche Technik erledigt werden können« (Freud, 1919, S. 186). Er fasste damals auch die Möglichkeit ins Auge, eines Tages die Zahl der Analytiker so zu erhöhen, dass eine »Psychotherapie fürs Volk« (ebd., S. 194) möglich würde. In diesem Falle ergäbe sich die Aufgabe, »unsere Technik den neuen Bedingungen anzupassen« und »in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren« (ebd., S. 193).

Einige Jahre nach Freuds Tod vertraten Franz Alexander und Thomas French (1946) die These, dass im psychoanalytischen Standardverfahren und in dessen Abwandlungen die gleichen psychodynamischen Prinzipien zur Anwendung kämen. Sie böten dem Patienten die Möglichkeit, »sich unter günstigeren Umständen immer wieder jenen emotionalen Situationen zu stellen, die damals nicht zu ertragen waren, und mit ihnen auf eine unterschiedliche Art umzugehen« (ebd., S. 67). Ihre Empfehlung zu mehr therapeutischer Flexibilität führte zu einer heftigen Kontroverse um eine »normative Idealtechnik« (Eissler, 1953) und den Sinn und die Berechtigung von Abweichungen davon. Dennoch sind in der Folgezeit eine ganze Reihe von Modifikationen des psychoanalytischen Standardverfahrens entwickelt worden, die dazu dienten, das Indikationsspektrum zu erweitern und die Behandlungsdauer zu verkürzen. Sie bezogen sich auf die Verringerung der Sitzungsfrequenz, die stärkere Ausrichtung an den Aktualkonflikten und am »Hier und Jetzt« der therapeutischen Beziehung, den modifizierten Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung, die Berücksichtigung der Interaktionsmuster innerhalb und außerhalb der therapeutischen Situation sowie auf die Erweiterung des Indikationsbereichs (vgl. Beutel, Doering, Leichsenring & Reich, 2010, S. 2). In diesen historischen Kontext ist auch die Entwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie einzuordnen.

1.1       Zur Entwicklung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie als eigenständiges Richtlinienverfahren

Verschiedene gesellschaftliche, berufs- und standespolitische Entwicklungslinien haben zur Aufnahme der Psychotherapie in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkasse geführt (vgl. Hauten, 2021). Große Bedeutung kommt dabei zwei empirischen Katamnesestudien der Arbeitsgruppe um Annemarie Dührssen zu (Dührssen, 1962; Dührssen & Jorswieck, 1965). Die Befunde, dass psychotherapeutisch behandelte Patienten deutlich weniger Kosten durch Krankschreibung und Klinikaufenthalte verursachen als nicht behandelte, überzeugten die Vertreter der Krankenkassen, sodass diese bereit waren, psychoanalytische Therapiesitzungen erstmals als Pflichtleistungen der gesetzlichen Krankenkassen anzuerkennen. Außerdem gab es 1964 ein Urteil des Bundessozialgerichts, in dem Neurosen als Krankheiten anerkannt wurden, mit der Folge, dass nun psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden mussten.

1.1.1     Die erste Konzeptualisierung der TP nach Einführung der Psychotherapie-Richtlinien

1967 war es so weit: Psychotherapie wurde als Leistungspflicht der Krankenkassen eingeführt. Im Rahmen der »Richtlinien-Psychotherapie« wurden zwei Verfahren aufgenommen: die hochfrequente, wenn auch im Unterschied zum psychoanalytischen Standardverfahren zeitlich befristete analytische Psychotherapie und daneben die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Letztere wurde als »Anwendungsform der Psychoanalyse« bezeichnet und durch eine niedrigere Behandlungsfrequenz und ein anderes Setting – Gegenübersitzen statt Liegen auf der Couch – von der Langzeitanalyse abgesetzt. Beide Verfahren waren bis zum Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes (1998) explizit nur für ärztliche Psychotherapeuten vorgesehen. Psychologische Psychotherapeuten konnten nur mittels einer »Delegation« durch einen Ärztlichen Psychotherapeuten mit den Krankenkassen abrechnen. Während die psychoanalytischen Fachgesellschaften zwingend eine Verklammerung der Ausbildung in AP und TP verlangten, sah und sieht die Berufsordnung der Ärzte eine fachärztliche Weiterbildung in TP vor, die zur Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« führt.

Maßgeblich für die Einführung der TP als Behandlungsform waren in erster Linie pragmatische Versorgungsaspekte und berufspolitische Gründe, während die Basis einer fachwissenschaftlichen Diskussion fehlte: »Diese Ausgangsmodalität bzw. das Fehlen einer spezifischen theoretischen Fundierung hat viel dazu beigetragen, die TP lange Jahre nur als verkürzte Variante oder als ›kleine Schwester‹ der AP zu betrachten« (Boll-Klatt & Kohrs, 2018, S. 16).

In den 1970er und 1980er Jahren wurden dann erste richtungsweisende Konzeptualisierungsversuche der TP unternommen. Annemarie Dührssen nahm mit ihrem Konzept der »Dynamischen Psychotherapie« (Dührssen, 1972, 1988) vieles vorweg, was später bei der »Göttinger Gruppe« um Annelise Heigl-Evers, Franz Heigl und Jürgen Ott (Heigl-Evers & Heigl, 1982; Heigl-Evers, Heigl, Ott & Rüger, 1997) in ihr Konzept der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie einging.

Dührssen plädierte für eine »adaptive Indikation«, bei der die Therapiemethoden den Bedürfnissen und Leiden der Patienten angepasst, statt einer »selektiven Indikation«, bei der die Patienten nach der Eignung für die Methode ausgewählt werden. Auch Heigl-Evers und Heigl betonten die Notwendigkeit einer adaptiven Indikation, um das psychoanalytische Behandlungsspektrum auf psychosomatische Erkrankungen, Charakterneurosen, Süchte, Psychosen u. a. ausweiten zu können. Sie wehrten sich gegen berufspolitische Bestrebungen, dem Indikationsbereich der TP enge Grenzen zu setzen und sie weitgehend nur für kurze Behandlungen von akuten Symptomen vorzusehen. Stattdessen postulierten sie ein »tiefenpsychologisch fundiertes Prinzip«, das »ein eigenständiges Verfahren mit spezifischer Indikation sowie mit speziellen Zielsetzungen und Techniken« sei (Heigl-Evers & Heigl, 1982, S. 164). Die therapeutische Arbeit vollziehe sich am Schnittpunkt der »vertikalen Achse« der Lebensgeschichte mit der »horizontalen Achse« der aktuellen psychosozialen Situation. Im Unterschied dazu sei das »psychoanalytische Prinzip« überwiegend an der vertikalen Achse einer »sukzessiven Regression«, d. h. eines kleinschrittigen Zurückgehens auf unbewusst gewordene frühkindliche Konflikte ausgerichtet (ebd., S. 165).

In der Zeit vom Beginn der Richtlinientherapie für Ärzte (1967) bis zum Erlass des Psychotherapeutengesetzes für Psychologen (1998) führte die TP in Praxis und Ausbildung eher ein Schattendasein. An den psychoanalytischen Instituten wurde sie nur nebenbei gelehrt und nur in wenigen Fällen unter Supervision praktiziert, da die Meinung vorherrschte, ausgebildete Analytiker könnten ohne weitere Zusatzausbildung auch die TP anwenden.

1.1.2     Die weitere Konzeptualisierung der TP nach Erlass des Psychotherapeutengesetzes

Mit dem Psychotherapeutengesetz (PsychThG) von 1998 kam es durch die Schaffung zweier neuer Heilberufe (Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut) zu einer rechtlichen Gleichstellung der psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten. In diesem Zuge wurde das Delegationsverfahren abgeschafft. Der Gesetzgeber schuf außerdem – analog zu Regelungen in der fachärztlichen Weiterbildung – die Möglichkeit einer eigenständigen Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie jenseits der verklammerten Ausbildung an den psychoanalytischen Instituten. Seither sind viele tiefenpsychologische Institute gegründet worden, die sich ausschließlich der Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie widmen.

In den Jahren nach dem Inkrafttreten des PsychThG kam es zu einer ganzen Reihe weiterer Konzeptualisierungen der TP (Cierpka & Buchheim, 2001; Rüger, 2002, 2020; Jaeggi, Gödde, Hegener & Möller, 2003; Rüth-Behr, 2003; Ermann, 2004, 2020; Junker, 2005; Wöller & Kruse, 2005/2020; Klöpper, 2006, 2014; Heine & Ehlers, 2009; Rudolf, 2010, 2019; Gödde, 2012, 2021; Reimer & Rüger, 2012; Boll-Klatt & Kohrs, 2018; Gumz & Hörz-Sagstetter, 2018; Hauten, 2021). Für die Eigenständigkeit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie spricht, dass durch die Begrenzung von Regression, Übertragung, Widerstand und Behandlungsziel spezifische psychische und interaktionelle Prozesse in Gang gesetzt werden. Diese erfordern einen spezifischen Umgang und sind nicht einfach von dem behandlungstechnischen Vorgehen in der AP ableitbar: Die TP ist »eine qualitativ von der analytischen Psychotherapie unterschiedene Behandlungsform und nicht nur eine verkürzte Variante« (Ermann, 2004, S. 303). Deshalb sieht Ermann die Notwendigkeit, die Supervisionen von tiefenpsychologischen Behandlungen an den Verfahrensspezifika auszurichten (ebd., S. 312).

Im Weiteren wurde die Unterscheidung zwischen einem Standardverfahren der TP für die Behandlung leichterer und mittelschwerer Störungen und einer modifizierten TP für die Behandlung struktureller oder posttraumatischer Störungen eingeführt. Modifikationen seien in der TP erforderlich, »wenn und so lange Defizite der Ich-Funktionen die Behandlung bestimmen. Bei weniger schweren Störungen treten ich-psychologische Techniken im Behandlungsverlauf in den Hintergrund oder werden entbehrlich« (ebd., S. 311). In der modifizierten TP würden »stabilisierende, strukturfördernde und konfliktzentrierte Techniken eingesetzt und miteinander verbunden« (ebd., S. 309).

Mit der Unterscheidung zwischen einem Standardverfahren und einer modifizierten TP wurde eine Entwicklung angebahnt, die einige Jahre später auch in den Psychotherapie-Richtlinien ihren Niederschlag fand. Nach deren ursprünglicher Fassung stand »die unbewusste Dynamik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte « (Psychotherapie-Richtlinien, 2009, S. 9) im Zentrum der TP. Im Unterschied dazu sollte in der AP über die unbewusste Konfliktdynamik hinaus auch »die zugrunde liegende neurotische Struktur « behandelt werden. Die strikte Gegenüberstellung von »nur Konflikt« (TP) und »auch Struktur« (AP) wurde dann aber zunehmend in Frage gestellt, weil damit der TP die Möglichkeit struktureller Veränderungen von vornherein abgesprochen würde. Mithilfe der »Heidelberger Umstrukturierungsskala« (Rudolf, Grande & Oberbracht, 2000) lassen sich aber auch im Rahmen der TP »Stufen der Umstrukturierung« beschreiben. Während die Einstufung der erreichten Konfliktbearbeitung am Grad der Einsicht in das eigene Verhalten gemessen wird, orientiert sich die Einstufung der Strukturbearbeitung daran, inwieweit sich der Patient mit seinen strukturellen Problemen aktiv verändernd auseinandersetzt und Verantwortung für sie übernimmt. Es war dann nur konsequent, dass 2009 eine Neufassung der Psychotherapie-Richtlinien vorgenommen wurde, wonach mit der TP »die unbewusste Psychodynamik aktuell wirksamer neurotischer Konflikte und struktureller Störungen « (Psychotherapie-Richtlinien, 2009, S. 8) behandelt werden kann. Als zentraler Unterschied bleibt, dass die TP auf die aktuelle Wirksamkeit von konfliktbedingten und strukturellen Störungen eingegrenzt wird. Im Zentrum der Behandlung steht weniger der aus basalen Beziehungserfahrungen erwachsene »Grundkonflikt« als der auslösende und nach wie vor wirksame Aktualkonflikt. Für die Behandlung von Ich-strukturellen Störungen kommt es auf die Eingrenzung der Behandlungsziele auf wenige strukturelle Foki an.

1.1.3     TP als psychodynamisches Verfahren

Da der Begriff tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie auf internationaler Ebene ungebräuchlich ist, ist die Frage aufgeworfen worden, ob er durch den Begriff Psychodynamische Psychotherapie ersetzt werden sollte. Dabei ließe sich an den im anglo-amerikanischen Sprachraum weit verbreiteten Begriff »psychodynamic psychotherapy« anknüpfen. Für die Gleichsetzung des Begriffs »tiefenpsychologisch fundiert« mit »psychodynamisch« hat S.O. Hoffmann plädiert und dazu folgenden Vorschlag gemacht:

Die Psychodynamische Therapie bzw. die psychodynamischen Verfahren stellen Ableitungen von oder Modifikationen der Psychoanalytischen Therapie dar. Die Konzepte des dynamischen Unbewussten, der Abwehr, der Übertragung und der Gegenübertragung sind auch bei ihnen begründend, kommen aber in der Therapie in unterschiedlicher Weise zum Tragen. Die unterscheidbaren Therapietechniken sind stärker symptomorientiert, intendieren einen Gewinn an Zeit oder an Sitzungsaufwand, enthalten übende und supportive Elemente und fördern regressive Prozesse nur ausnahmsweise. Eine Psychodynamische Therapie gelangt auch in jenen Fällen zur Anwendung, in denen eine längerfristige therapeutische Beziehung erforderlich ist. (Hoffmann, 2000, S. 54)

Gegen diesen Vorschlag wurde eingewandt, dass die TP inzwischen »ein gut standardisiertes Verfahren ist, das durch eine Reihe von Spezifika charakterisiert ist, die in anderen psychodynamischen Verfahren nicht vorkommen« (Ermann, 2004, S. 302). In einer Stellungnahme von 2004 hat der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie der Bundesärzte- und Bundespsychotherapeutenkammer dann den Oberbegriff »Psychodynamische Psychotherapie« für TP und AP eingeführt. Es gebe keine wissenschaftliche Grundlage für eine Unterscheidung zwischen TP und AP als getrennte Verfahren: »Bei der psychodynamischen Psychotherapie handelt es sich um ein Verfahren, bei dem verschiedene Methoden und Techniken mit einem gemeinsamen störungs- und behandlungstheoretischen Hintergrund in verschiedenen Settings zur Anwendung gelangen« (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie, 2004, S. 2). Dann erfolgte folgende Definition der psychodynamischen Therapie:

Die psychodynamische Psychotherapie gründet auf der Psychoanalyse und ihren Weiterentwicklungen. Die Behandlungsprinzipien der Psychodynamischen Psychotherapie bestehen in einer Bearbeitung lebensgeschichtlich begründeter unbewusster Konflikte und krankheitswertiger psychischer Störungen in einer therapeutischen Beziehung unter besonderer Berücksichtigung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Dabei wird je nach Verfahren stärker im Hier und Jetzt oder im Dort und Damals gearbeitet. Die Stundeninhalte sind je nach Verfahren strukturierter (Technik: Fokussierung) oder unstrukturierter (Technik: freie Assoziation) und der Therapeut greift jeweils auf eine stärker aktive oder eher zurückhaltendere Interventionstechnik zurück (ebd., S. 2).

Fraglich ist jedoch, ob man dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie darin zustimmen soll, dass er TP und AP als zwei unterschiedliche »Methoden« eines einzigen als psychodynamisch bezeichneten Verfahrens definiert. Eine Alternative dazu wäre, die TP als zweites psychodynamisches »Verfahren« neben der AP zu betrachten, da es eine umfassende Störungs- und Behandlungstheorie für »ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen oder mehrere darauf bezogene psychotherapeutische Behandlungsmethoden« enthält (§ 5 Psychotherapie-Richtlinien, 2021). Im Vergleich dazu ist der Begriff Psychotherapiemethode deutlich enger und bezieht sich auf eine therapeutische Vorgehensweise zur Behandlung einer oder mehrerer Störungen auf der Grundlage einer Behandlungs- und Störungstheorie (§ 6 Psychotherapie-Richtlinien, 2021). Es verwundert nicht, dass sich die Psychotherapie-Richtlinien für die Annahme von zwei »psychoanalytisch begründeten Verfahren« entschieden haben. Dem schließen wir uns an. Im Weiteren werden wir daher des Öfteren von psychodynamischem Denken und von psychodynamischer Therapie sprechen.

1.2       Essentials der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

Im Rahmen der TP gibt es nach wie vor erhebliche Orientierungsprobleme und Klärungsbedarf:

Der Erfolg und die enorme Verbreitung der TP führten nämlich dazu, dass inzwischen die Anwendungsgebiete in einer Weise ausgedehnt wurden, die eine scharfe Definition ›was ist Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie‹ heutzutage noch weniger möglich macht als zur Zeit ihrer Etablierung als kassenfinanzierte Behandlungsmethode. Ähnlich wie auch die Psychoanalyse in ihren zahlreichen Schulen und Diversifizierungen, theoretischen und behandlungstechnischen Verästelungen kaum noch auf einen gemeinsamen Nenner, den berühmten ›common ground‹ […], zu bringen ist, verhält es sich auch mit der modernen TP. (Boll-Klatt & Kohrs, 2018, S. 12)

1.2.1     Die gemeinsame Grundorientierung der psychodynamischen Verfahren

Wenn man von der AP und der TP als zwei psychodynamischen Verfahren ausgeht, stellt sich die Frage nach ihrer gemeinsamen Basis und damit nach der Art und Qualität ihrer Übereinstimmungen.

Die Konzeption des Unbewussten ist für die theoretische und praktische Orientierung in den psychodynamischen Verfahren nach wie vor zentral. Mit dem »dynamisch« Unbewussten verbindet sich die aufdeckende und analysierende Bearbeitung abgewehrter und nicht integrierter Erinnerungen, Emotionen und Affekte. Wurde das Unbewusste ursprünglich als von der Außenwelt abgegrenzter psychischer Binnenraum konzipiert, so führte die Verschiebung der Blickrichtung von Innen nach Außen zur Annahme eines »intersubjektiv« Unbewussten. Die Erforschung eines noch vor der Sprachentwicklung erworbenen impliziten Gedächtnisses und Beziehungswissens (Stern, 1992, 2005) ermöglicht die weitere Annahme eines »implizit« Unbewussten. Das therapeutische Arbeiten mit dem Unbewussten gestaltet sich sehr unterschiedlich, je nachdem ob und wie man vom dynamisch, intersubjektiv oder implizit Unbewussten ausgeht (Gödde, 2018). Würde das zentrale Axiom des Unbewussten aufgegeben, so verlören »die psychodynamischen Verfahren u. U. ihre identitäts- und konturstiftende Klammer« (Boll-Klatt & Kohrs, 2018, S. 13).

Die für das psychodynamische Grundverständnis maßgebliche Ebene wird in den Psychotherapie-Richtlinien als »Basis gemeinsamer theoriegebundener Grundannahmen« (§ 5 [1] 1) bezeichnet. Dazu kann man die vier »klassischen Psychologien« der Psychoanalyse rechnen: Triebtheorie, Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie (vgl. Pine, 1990; Giesers & Pohlmann, 2010). Hinzu kommen die relationalen und intersubjektiven sowie die entwicklungs-, bindungs- und mentalisierungstheoretischen Orientierungen (vgl. Mertens, 2014) und schließlich die »vier Pathologien der psychodynamischen Therapieverfahren«: Konflikt-, Struktur-, Trauma- und reaktive Pathologie (vgl. Boll-Klatt & Kohrs, 2018, S. 38ff.).

Allzu lange war die psychodynamische Psychotherapie allein auf den Patienten fokussiert, bis der Anteil des Therapeuten an der therapeutischen Beziehung zunehmend mehr ins Blickfeld rückte und sich ein Wechsel zum intersubjektiven Paradigma anbahnte. Mit der Anerkennung einer wechselseitigen Beziehung kam ein wohltuend antihierarchisches Moment ins therapeutische Zusammenspiel. Heute besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung für den Therapieerfolg maßgeblich ist (vgl. Gödde & Stehle, 2016).