1.Aufl.

Taschenbuch – Literatur - Klassiker

Herausgeber Frank Weber, Marburg

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© 2022 Ellen Key

ISBN: 9783756298433

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Inhalt

I.

Das Recht des Kindes, seine Eltern zu wählen.

Alle, die, von wehmütigen Erinnerungen oder bebenden Hoffnungen erfüllt, der Jahrhundertwende harrten und bei dem Glockenklang des Zwölfschlages unzählige unbestimmte Ahnungen in die Welt hinaussandten, sie fühlten, dass das neue Jahrhundert ihnen selbst mit Gewissheit nur eines geben würde, Ruhe; dass die jetzt Wirkenden nicht mehr Zeuge der Entwickelung sein würden, deren Bahn die Richtung zu geben sie bewusst oder unbewusst das ihre beigetragen.1

Die Ereignisse um die Jahrhundertwende veranlassten eine Zeichnung des neuen Jahrhunderts als eines nackten Kindleins, das sich zur Erde hinabsenkt – aber sich erschrocken zurückzieht bei dem Anblick des mit Waffen gespickten Balles, auf dem für die neue Zeit nicht ein Zoll breit Boden frei ist, den Fuß darauf zu setzen! Die vielen, die über den Sachverhalt nachdachten, den das Bild veranschaulichte: wie auf den ökonomischen und den kriegerischen Schlachtfeldern alle niedrigen Leidenschaften des Menschen noch entfesselt werden; wie es der ganzen ungeheuren Kulturentwickelung des verflossenen Jahrhunderts noch nicht gelungen ist, dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu verleihen – sie haben ganz gewiss auf ihre Frage, warum dem noch so ist, sehr verschiedene Antworten gefunden. Einige begnügen sich damit, überlegen zu erklären, dass es, so wie es ist, bleiben müsse, da die menschliche Natur dieselbe bleibe; da der Hunger, die Fortpflanzung und das Verlangen nach Geld und Macht immer den Weltverlauf beherrschen würden. Andere wieder sind überzeugt, dass, wenn die Lehre, die durch 1900 Jahre vergeblich versucht hat, diesen Verlauf umzuwandeln, einmal eine lebendige Wirklichkeit in den Seelen der Menschen würde, die Schwerter zu Pflugscharen um geschmiedet werden würden.

Ich hingegen bin überzeugt, dass alles nur in dem Masse anders wird, in dem die Menschennatur sich umwandelt, und dass diese Umwandlung sich vollziehen wird, nicht wenn die ganze Menschheit christlich wird, sondern wenn die ganze Menschheit zu dem Bewusstsein von der »Heiligkeit der Generation« erwacht. Dieses Bewusstsein wird das neue Geschlecht, seine Entstehung, seine Pflege, seine Erziehung zu der zentralen Gesellschaftsaufgabe machen, um die alle Sitten und Gesetze, alle gesellschaftlichen Einrichtungen sich gruppieren werden; zu dem Gesichtspunkt, aus dem man alle anderen Fragen beurteilen, alle anderen Entschlüsse fassen wird. Bis jetzt erfährt man bloß in Schulreden und pädagogischen Abhandlungen, dass die Erziehung der Jugend die höchste Angelegenheit des Volkes ist; in Wirklichkeit werden sowohl in der Familie wie in den Schulen und im Staate ganz andere Werte in den Vordergrund gestellt.

Denn die neue Anschauung von der »Heiligkeit der Generation« erhält die Menschheit nicht eher, als bis sie in vollem Ernst die christliche Lebensanschauung verlassen und die angenommen hat, die auch vor Jahrtausenden geboren ward, aber deren Siege erst das soeben vollendete Jahrhundert geschaut hat.

Der Entwickelungsgedanke wirft nicht nur Licht auf einen hinter uns liegenden, durch Millionen von Jahren fortgesetzten Verlauf, dessen schließlicher Höhepunkt der Mensch ist. Er erhellt auch den Weg, den wir zu wandern haben: er zeigt uns, dass wir physisch und psychisch noch immer im Werden begriffen sind. Während der Mensch früher als eine physisch und psychisch unverrückbare Erscheinung betrachtet wurde, die zwar in ihrer Art vervollkommnet, aber nicht umgestaltet werden könne, weis man nun, dass er im stande ist, sich zu erneuen; anstatt eines gefallenen Menschen sieht man einen unvollendeten, aus dem durch unzählige Modifikationen in einem unendlichen Zeitraum ein neues Wesen werden kann. Beinahe jeder Tag bringt neue Kunde von bisher ungeahnten Möglichkeiten erweiterter physischer oder psychischer Macht, engerer Wechselwirkung zwischen der Innen- und der Außenwelt, der Überwindung von Krankheiten, der Verlängerung des Lebens und der Jugend, des Eindringens in die Gesetze der physischen und psychischen Entstehung. Man spricht sogar davon, unheilbar Blinden eine neue Art Sehvermögen zu geben, Tote ins Leben zurückrufen zu können – all das und vieles andere freilich noch bloß dem Gebiet der Hypothese angehörig, den Möglichkeitsberechnungen der psychischen und physischen Forschung. Aber man sieht doch schon genügend große Ansätze, um zu zeigen, dass die Umwandlungen, die der Mensch durchgemacht hat, bevor er zum Menschen wurde, weit davon entfernt sind, das letzte Wort seiner Genesis zu sein. Wer heute erklärt, dass »die Menschennatur sich immer gleichbleibt« – d. h. so, wie sie sich in den ärmlichen Jahr-tausenden gezeigt, in denen unser Geschlecht sich seiner selbst bewusst war – verrät dadurch, dass er auf derselben Höhe der Reflexion steht, wie z. B. ein Ichthyosaurus der Juraperiode, der vermutlich auch nicht den Menschen als eine Zukunftsmöglichkeit ahnte!

Wer hingegen weiß, dass der Mensch unter unablässigen Umgestaltungen das geworden, was er nun ist, sieht auch die Möglich-keit ein, seine zukünftige Entwickelung in solcher Weise zu beein-flussen, dass sie einen höheren Typus Mensch hervorbringt. Man findet schon den menschlichen Willen entscheidend bei der Züchtung neuer und höherer Arten in der Tier- und Pflanzenwelt. In Bezug auf unser eigenes Geschlecht, auf die Erhöhung des Menschentypus, die Veredelung der menschlichen Rassen herrscht hingegen noch der Zufall in schöner oder hässlicher Gestalt. Aber die Kultur soll den Menschen zielbewusst und verantwortlich auf allen Gebieten machen, auf denen er bisher nur impulsiv und unverantwortlich gehandelt hat. In keiner Hinsicht ist jedoch die Kultur zurückgebliebener als in all den Verhältnissen, die über die Bildung eines neuen und höheren Menschengeschlechts entscheiden.

Erst wenn die naturwissenschaftliche Anschauung die Menschheit durchdrungen hat, kann diese die volle, naive Überzeugung der Antike von der Bedeutung des Körperlichen wiedererlangen. Schon in der Spätantike – bei Sokrates, bei Plato – sah die Seele auf den Körper herab; die Renaissance suchte beide zu versöhnen, aber sie war leider nicht fromm genug – frech war sie hinreichend – als dass ihr eine Aufgabe gelungen wäre, zu der man, wie Goethe von sich selbst sagt, frech und fromm zugleich sein muss. Erst jetzt, seit man weiß, wie Seele und Körper sich gegenseitig aufbauen oder untergraben, beginnt man eine zweite, höhere Unschuld in Bezug auf die Heiligkeit und das Recht des Körperlichen wiederzuerlangen.

Ein dänischer Schriftsteller hat dargelegt, wie das mosaische sechste Gebot ins Nichts zurücksinkt, sobald man einsieht, dass die Ehe nur eine zufällige soziale Form für das Zusammenleben zweier Menschen, das ethisch Entscheidende aber die Art des Zusammenlebens ist. In der Moral vollzieht sich eine allgemeine Verschiebung von den objektiven Gesetzen, die befehlen und zwingen, zu der subjektiven Grundlage, von der die Handlungen ausgehen. Die Ethik wird so eine Ethik des Charakters, der Gemütsbeschaffenheit. Man fordert, absolviert oder verurteilt nach der inneren Beschaffenheit des Individuums, und man nennt nicht gerne eine Handlung unmoralisch, die nur in äußerer Hinsicht mit einem Gesetz nicht übereinstimmt oder demselben widerstreitet. In jedem besonderen Fall entscheidet man nach dem inneren Zustande des Individuums. Und wendet man das auf die Ehe an, so findet man fürs erste, dass diese Form keine Garantie dafür bietet, dass die richtige geschlechtliche Gesinnung vorhanden ist. Diese kann ebenso gut außerhalb wie innerhalb der Ehe da sein, und viele feine und ernste Menschen ziehen nun für ihr Zusammenleben die freiere Form als die sittlichere vor. Aber infolgedessen ändert sich der Inhalt des sechsten Gebotes, der darin bestand, dass jedes Geschlechtsverhältnis, das außerhalb der Ehe entsteht, unsittlich sei. Man macht schon seine Erfahrungen mit Verbindungen außerhalb der Ehe; man sucht neue Formen für das Zusammenleben zwischen Mann und Weib; man stellt das ganze Problem unter Debatte! Die Menschheit befindet sich in dieser Beziehung auf dem Gebiet der Entdeckungen. Man sieht immer mehr ein, wie zusammengesetzt, wie voll von Gefahren für das Glück des Menschen das ganze Geschlechtsverhältnis ist. Man macht beständig neue Beobachtungen, sowohl in Bezug auf die Bedeutung dieses Verhältnisses für die Individuen selbst als für die Nachkommenschaft. Allmählich Licht in dieses Chaos zu bringen, ist das für die Menschheit vor allem Wichtige, und die Literatur sollte deshalb in diesem Falle die größtmögliche Freiheit haben – im geraden Gegensatz zu den Tendenzen der Gegenwart, die diese Freiheit einschränken wollen. Während ich dem oben Gesagten voll beistimme, möchte ich darauf hinweisen, dass das grösste Hindernis einer freien Diskussion über dieses Thema jedoch noch immer die christliche Betrachtungsweise der Entstehung und der Natur des Menschen ist, nach welcher seine einzig mögliche Erhebung aus den Folgen des Sündenfalls durch den Glauben an Christus geschieht. Denn mit dieser Betrachtungsweise kam auch die durch das Christentum in das Abendland eingeführte Anschauung, dass alles mit der Fortpflanzung Zusammenhängende das Unreine sei, das man womöglich unterdrücken, und wenn schon nicht das, so wenigstens in Schweigen und Dunkelheit hüllen müsse. Für das Christentum ist immer noch das Ewigkeitsleben, nicht das Erdenleben das Bedeutungsvolle, und den Dualismus des Daseins sucht es in erster Linie durch die Askese aufzuheben, nicht durch die Veredelung des Trieblebens. Diese Auffassung feiert noch in unseren Tagen ihre Siege, z. B. in der Gesetzgebung gegen »das Nackte« in Kunst und Literatur! Die christliche Betrachtungsweise des Geschlechtsverhältnisses als eines Niedrigen und seiner einzig möglichen Heiligung durch die unauflösliche Ehe hat in einem gewissen Zeitabschnitt eine große mittelbare Bedeutung für die Entwickelung gehabt. Sie hat die Selbstbeherrschung gefördert, die das Seelenleben erhoben hat, und die Schamhaftigkeit, die Heimlichkeit, die Treue, die – neben unzähligen anderen Einflüssen – den Trieb zu Liebe entwickelt haben. Wenn diese Gefühle aus der Liebe verschwänden, so wäre sie nicht mehr menschlich, sondern nur tierisch.

Aber wenn auch die individuelle Liebe zwischen jedem neuen Menschenpaar immer Einsamkeit und Verschwiegenheit fordern wird; wenn auch die persönliche Schamhaftigkeit stets eine der Errungenschaften des Menschen vor dem Tiere bleibt, so ist es doch gewiss, dass diese Art von Geistigkeit, die mit Schweigen und Scham an allen mit diesem Gegenstand zusammenhängenden ernsten Fragen vorbeigeht – oder sie nur als Zweideutigkeiten, als Anlass zu Scherz und Erröten behandelt – dass diese Art von Geistigkeit ausgerottet werden muss!

Nur dadurch, dass jeder von frühester Kindheit an auf jede seiner Fragen über diesen Gegenstand ehrliche, dem betreffenden Stadium seiner Entwickelung angepasste Antworten erhält und so volle Klarheit über seine eigene Art als Geschlechtswesen empfängt, sowie ein tiefes Verantwortlichkeitsgefühl in Beziehung auf seine zukünftige Aufgabe als solches, eine Gewöhnung an ernstes Denken und ernstes Sprechen über diesen Gegenstand, nur dadurch kann ein vornehmeres Geschlecht mit höherer Sittlichkeit hervortreten.

Aber schon als Björnson in Thomas Rendalen die Frage der Erziehung der Jugend zur Reinheit durch Einsicht stellte, führte ich als Einwand gegen sein Buch an, dass es so wie die Reinheitspredigten des Christentums sein Streben mehr auf die Beherrschung der Naturtriebe als auf deren Veredelung richte.

Ich legte dar, dass Björnson allerdings zwei neue Gesichtspunkte brachte, den der körperlichen Gesundheit und den der Veredelung des Geschlechts, anstatt wie das Christentum einseitig die geistige und die persönliche Seite der Frage zu betonen, und dass diese neuen Gesichtspunkte bedeutungsvoll waren, weil sie den berechtigten Egoismus des Individuums zugleich mit dem verbindenden Altruismus des Solidaritätsgefühls einschlossen. Die Umgestaltung der ererbten Anlagen in Bezug auf das Verhalten der Menschen zur Sittlichkeit und dadurch die Schaffung einer gesunden und glücklichen neuen Generation, bei der die Leiden der jetzigen geschlechtlichen Disharmonie aufgehört haben werden – das war das große Ziel des Björnsonschen Buches. Und für dieses wollte er, dass auch die Schule wirke, durch die Mitteilung der Kenntnis des Menschen als Geschlechtswesens, und wie er als solches sich selbst und dann seine Nachkommenschaft behüten sollte.

Ich wendete schon damals gegen diesen Plan ein, dass die Schule nicht der Ort sei, wo der Grund zu dieser Kenntnis gelegt werden sollte; diese müsste langsam und behutsam von der Mutter selbst mitgeteilt werden und in der Schule nur ihren theoretischen Überbau erhalten. Noch mangelhafter fand ich die eigentliche Auffassung der Keuschheits-frage als einer körperlichen Reinheitsfrage allein, als eines negativen, nicht eines positiven Ideals, und ich behauptete, dass nur der erotische Idealismus Begeisterung für die Keuschheit wecken könne. Schon durch das Märchen, dann durch die Geschichte und durch die schöne Literatur muss der Grund zum erotischen Idealismus gelegt werden; die physiologische Einsicht ist in dieser Hinsicht sehr unzulänglich, wenn nicht Phantasie und Gefühl sich in derselben Richtung bewegen. Und weder Phantasie noch Gefühl werden durch Naturkunde und körperliche Übungen allein rein erhalten, ebenso wenig wie durch christlichen Religionsunterricht!

Nein, man muss, auf naturwissenschaftlicher Basis, in neuer und edlerer Form die ganze antike Liebe zu der Stärke und Schönheit des eigenen Körpers wiedererlangen, die ganze antike Ehrfurcht vor der Göttlichkeit der Fortpflanzung, vereint mit dem ganzen modernen Bewusstsein von dem seelenvollen Glück der idealen Liebe! Nur so kann der Fanatismus der echten Keuschheit die Menschheit aus all den Qualen erlösen, die die sexuelle Zersplitterung und Erniedrigung jetzt mit sich bringen.

Es ist tief bedeutungsvoll, dass in der Welt der Vergangenheit dem Weibe auf Grund von Beobachtungen über die Fortpflanzung Göttlichkeit zugesprochen wurde, während im Christentum die Frau als die Jungfrau-Mutter göttlich ward! Der heidnische und christliche Gedanke zusammen werden vereint und veredelt dem Weibe eine neue Andacht vor sich selbst als Geschlechtswesen schenken. Die antike und die moderne Liebe, die Liebe der Sinne und die der Seele werden vereint und veredelt die Menschen, Mann wie Weib, dahin bringen, wieder Eros, den Allherrscher, anzubeten.

Die Bedeutung der Liebe verringern, sie als einen erniedrigenden Sensualismus bekämpfen, heißt nicht, für die Erhebung des Menschen wirken, das heißt im Gegenteil, seine Erniedrigung fördern. Denn ebenso erniedrigend, wie das Geschlechtsleben wäre, wenn er in ihm schamerfüllt eine tierische Forderung befriedigt, wäre es, wenn er zur Erhaltung der Art mit Widerwillen eine als niedrig angesehene Pflicht erfüllte!

* * *

Schon die Antike – z.B., wenn Lykurg Gesetze gab in der Gewissheit, dass »in blühender Frauen Schoss eines Volkes Stärke liegt«, und man demgemäß in Sparta die physische Ausbildung des Weibes überwachte wie des Mannes und das Heiratsalter mit Rücksicht auf eine kräftige Nachkommenschaft bestimmte – stand höher als die Gegenwart. Noch höher stand das Judentum in Bezug auf die Auffassung von dem Ernst der Zeugung, eine Auffassung, die sich in der strengsten Gesundheitsgesetzgebung ausdrückt, die die Geschichte kennt. Die jüdische, sowie andere morgenländische Gesetzgebungen ruhten in Bezug auf die Geschlechtsmoral sowie in Bezug auf die Diät auf scharfsinnigen Beobachtungen der Naturgesetze und der Krankheiten. Und ehe nicht die Menschen anfangen, mit alttestamentarischer Schlichtheit und alttestamentarischem Ernst die Lebensfragen zu behandeln, die der Idealismus des Christentums zwar vergeistigt, aber gleichzeitig erniedrigt hat, kann nicht der Grund zu einer neuen Ethik in diesen Fragen gelegt werden.

Diese neue Ethik wird kein anderes Zusammenleben zwischen Mann und Weib unsittlich nennen, als das, welches Anlass zu einer schlechten Nachkommenschaft gibt und schlechte Bedingungen für die Entwickelung dieser Nachkommenschaft hervorruft. Und die zehn Gebote über diesen Gegenstand werden nicht vom Religionsstifter, sondern vom Naturforscher geschrieben werden.

Aber noch – teilweise infolge der verkehrten Schamhaftigkeit in diesen Dingen – hat die Wissenschaft nur sehr unvollständige Beobachtungen über die physischen und psychischen Bedingungen für die Erhöhung des Menschentypus schon in und mit der Zeugung anstellen können.

Die Ontogenie ist eine für unser Jahrhundert neue Wissenschaft. Von Leeuwenhock, de Graaf und anderen vorbereitet, wurde sie von v. Baer 1827 begründet. Die Meinungsverschiedenheiten und die Entdeckungen der verschiedenen Theorien sind noch lange nicht zu Ende geführt, und neben den rein wissenschaftlichen treten die sozialen oder physiologischen oder ethischen Gesichtspunkte hervor. Man hat behauptet, dass durch Veränderungen in der Ernährungsweise der Mutter das Geschlecht des Kindes bestimmt werden könne; man hat beweisen wollen, dass ungefähr? aller genialen Menschen Erstgeborene seien2.Viele männliche und weibliche Ärzte heben die Wichtigkeit, nicht durch künstliche Mittel die Mutterschaft zu verhindern, sowie die Bedeutung der Enthaltsamkeit während der Schwangerschaft als Grundbedingungen für die physische und psychische Gesundheit der Mutter wie des Kindes hervor; andere wieder sehen jenes für ungefährlich, dieses für unnötig an. Die Absolutisten betonen, dass die Mutter vor der Geburt des Kindes keine Spirituosen über die Lippen bringen dürfe, sowie das alkoholartige Getränke nicht in die Diät der nährenden Mutter oder später in die des Kindes fallen sollen. Der Vegetarismus hebt die Bedeutung seiner Prinzipien für die Gesundheit und Gemütsart von Mutter und Kind hervor, u. s. w. Man studiert, von welchem Einfluss das Alter der Eltern auf das Kind ist. Große Jugend der Eltern scheint ungünstig für die Nachkommenschaft zu sein, ebenso wie hohes Alter. Das erste Kind einer zu jungen Mutter ist oft schwach; und außerdem ist von ihr gewöhnlich die Mutterfreude nicht ersehnt, weil sie fühlt, dass sowohl physisch wie psychisch das Kind eine zu große Bürde für sie ist, die selbst eben noch Kind gewesen. Der Wunsch nach einem kräftigen, gut aufgezogenen Nachwuchs erfordert so die Hinausschiebung des Heiratsalters für die Frau, dass im Norden – wenn nicht vom Gesetz, so von der Sitte – auf ungefähr zwanzig Jahre festgesetzt werden sollte. Und das ebenso sehr, damit das junge Weib einige Jahre sorgloser Jugendfreude und ungestörter Selbstentwickelung hinter sich, wie damit sie die für die Mutterschaft notwendige physische Entwicklung erreicht habe. Wenn zwanzig Jahre als das früheste Heiratsalter betrachtet würde, so würde das faktische oft noch um einige Jahre hinausgerückt werden, zum Wohle der Frau, des Mannes, der Kinder und der ganzen Ehe, in der die meisten Konflikte dadurch verursacht werden, dass die Frauen über ihr Schicksal entschieden haben, bevor ihre Persönlichkeit noch bestimmte Formen annehmen, bevor ihr Herz noch seine Wahl treffen konnte. Die Liebe des Mannes wählt, und das junge Mädchen verwechselt oft das Glück, geliebt zu werden, mit dem Glück, zu lieben, das sie später vielleicht in tragischer Weise erlebt. Zu den vielen Fragen, die im Zusammenhang mit der Erblichkeit und der Auslese stehen, gehört auch die von der Bedeutung der Absicht der Natur, oft starke Gegensätze die stärkste Anziehung ausüben zu lassen, eine Anziehung, die sich dann während des ehelichen Zusammenlebens oft in Widerwillen verwandelt, und beinahe immer in Unduldsamkeit gerade gegen die Eigenart, die ursprünglich einen so tiefen Zauber besaß. Die Natur scheint in diesem Falle ihr Ziel mit großer Rücksichtslosigkeit gegen das Glück des Individuums erreichen zu wollen. Manchmal zeigen sich nämlich wirklich die Gegensätze der Eltern in dem Kinde zu voller Harmonie verschmolzen; zuweilen hingegen äußern sie sich als tiefe Disharmonie, aber in beiden Fällen entsteht oft das Ausnahmewesen. Zu richtigen Schlussfolgerungen in diesem Falle zu gelangen, gehört zu den zahlreichen noch offenen Möglichkeiten.

Am allerstärksten bekriegen sich die Meinungen in der Vererbungstheorie, wo der Kampf zwischen Darwins Ansicht, dass auch erworbene Eigenschaften sich vererben, und Galtons und Weismanns Überzeugung, dass das nicht der Fall sei, geführt wird. In Zusammenhang damit steht auch die Frage der konsanguinen Ehen, die einige als an und für sich gefährlich für die Nachkommenschaft betrachten, andere als nur aus dem Gesichtspunkte gefährlich, dass derselbe Familienzug sich oft bei beiden Eltern vorfindet und dann so bei den Kindern verstärkt auftritt; z.B., dass die angeborene Kurzsichtigkeit beider Gatten Blindheit wird, ihre Dummheit Idiotismus, ihre Schwermut Schwachsinn u. s. w.

Das Abendland hat allmählich die morgenländische Ehegesetzgebung aufgehoben, die Moses geltend gemacht hat – während die anderer morgenländischer Gesetzgeber, zum Beispiel Manus und Mohammeds, noch zum großen Teil befolgt werden, sowie auch in China entsprechende Gebote verpflichtende Macht haben. Hie und da hat das Gefühl von der Bedeutung der Erblichkeit bei einigen abendländischen Schriftstellern durchgeschimmert, z. B. bei Thomas Morus, der ebenso wie Plato eine körperliche Untersuchung vor dem Eingehen der Ehe fordert. Aber erst im 19. Jahrhundert hat die Frage nach dem Recht des Kindes in jeder Hinsicht begonnen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und so wie Robert Owen es war, der in einem Fall das allgemeine Rechtsbewusstsein zu Gunsten der Kinder wachrief, durch seine 1815 begonnenen Untersuchungen – die zeigten, dass Kinder unter acht Jahren, von den Hieben der Lederpeitsche angestachelt, 15 bis 16 Stunden arbeiteten, mit der Folge, dass ein Viertel oder Fünftel von ihnen als Krüppel endete – war es ein anderer Engländer, Malthus, der durch seinen schon 1798 herausgegebenen Essay on the Principle of Population die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die Verhältnisse lenkte, die ihn veranlasst hatten, seine Arbeit zu schreiben, nämlich den durch Übervölkerung hervorgerufenen Mangel an Lebensmitteln und die hierdurch verursachte Schwierigkeit, Ehen zu schließen, was wieder seinerseits teils große Kindersterblichkeit, teils Kindermord zur Folge hatte. Schon Malthus sah die Bedeutung der Auslese und die Gefahr der Degeneration der Art ein. Und mit vollkommener Gewissensruhe trotzte er dem Sturm, den er hervorrief. Persönlich ein ebenso untadeliger, wie zartfühlender Mensch, musste Malthus, wie alle anderen Reformatoren der Sittlichkeitsbegriffe, unverschämte Beschuldigungen der Verderbtheit und Unsittlichkeit über sich ergehen lassen. Dasselbe widerfuhr Harriet Martineau, die für Malthus' Ansichten eintrat. Als sie ihre Novelle über diesen Gegenstand schrieb, wusste sie sehr wohl, welchen Dingen sie sich aussetzte. Aber diese seltene Frau, die selbst unvermählt und kinderlos starb, war so früh von dem Gefühl der Heiligkeit des Kindes durchdrungen, dass sie, erst neunjährig, bei der Geburt eines kleinen Schwesterchens auf die Kniee fiel und inbrünstig Gott dankte, der ihr die Gnade zu Teil werden ließ, Zeuge des großen Wunders der Entwickelung eines Menschenwesens vom Anfang an sein zu dürfen! Und dasselbe Gefühl veranlasste sie, in der obenerwähnten Novelle die Pflicht einer freiwilligen Beschränkung der Volksvermehrung darzulegen, weil sie bei dem Gedanken an das Schicksal litt, das die Kinder trifft, deren Anzahl nicht in richtigem Verhältnis zu der Möglichkeit der Eltern steht, sie zu erhalten und zu erziehen. Dieser Teil der Frage von dem Recht des Kindes hat in allen Ländern Schriften und Gegenschriften hervorgerufen; und da diese Frage in Deutschland wie überall sich noch im Stadium der Diskussion befindet, gehe ich dazu über, in größter Kürze die Meinungsverschiedenheiten über andere Seiten des Rechts des Kindes zu berühren.

In Francis Galtons berühmter Arbeit Hereditary Genius3 ist beinahe schon alles, was aus dem Gesichtspunkte der Rassenveredelung heute gefordert wird, ausgesprochen. Galton, der schon in den siebziger Jahren anfing, Darwins Ansicht, dass auch erworbene Eigenschaften sich vererben, entgegenzutreten, hat seither in dieser Beziehung einen Mitstreiter in dem Deutschen Weismann erhalten, der seinerseits wieder bekämpft wurde, u.a. von dem englischen Darwinisten Romanes4.

Galton, der aus einem griechischen Worte einen Namen für die Wissenschaft von der Veredelung der Rasse geschaffen hat, »eugenics«, beweist, dass der zivilisierte Mensch, was die Fürsorge für die Veredelung der Rasse betrifft, jetzt viel tiefer steht als die Wilden, um nicht von Sparta zu sprechen, wo es den Schwachen, den zu Jungen, den zu Alten nicht gestattet war, zu heiraten, und wo der nationale Stolz auf eine reine Rasse, eine kräftige Blüte so groß war, dass die Einzelnen sich in die Opfer fanden, die dieses Ziel erheischte. Galton – sowie Darwin, Spencer, A. R. Wallace u. a. – hebt hervor, dass das Gesetz der natürlichen Auslese, das in der übrigen Natur »the survival of the fittest« gesichert hat, in der menschlichen Gesellschaft nicht mehr gilt, wo ökonomische Beweggründe zu unrichtigen Heiraten führen, die der Reichtum ermöglicht, während die Armut die richtigen Heiraten hindert, und wo außerdem die Entwickelung der Sympathie als ein die natürliche Auswahl störendes Moment aufgetreten ist. Die erotische Sympathie wählt nämlich nach Motiven, die allerdings auf das Glück des Einzelnen abzielen, aber darum nicht die Veredelung der Rasse verbürgen. Und während andere Schriftsteller5 einen freiwilligen Verzicht auf die Ehe in jenen Fällen erhoffen, wo dieselbe eine schlechte Nachkommenschaft erwarten lässt, befürwortet Galton hingegen sehr strenge Maßregeln, um die schlechten Menschenexemplare zu hindern, ihre Laster oder Krankheiten, ihre geistige oder physische Schwäche fortzupflanzen. Gerade weil Galton nicht an die Erblichkeit erworbener Eigenschaften glaubt, ist für ihn die Auslese von allergrößter Bedeutung.

Andererseits tritt er dafür ein, mit allen Mitteln jene Heiraten zu fördern, bei denen der Stammbaum auf beiden Seiten eine ausgezeichnete Nachkommenschaft verspricht. Denn für ihn, wie später für Nietzsche, ist das Ziel der Generation die Hervorbringung starker, genialer Persönlichkeiten.

Galton betont, dass der zivilisierte Mensch durch sein Mitgefühl mit schwachen, lebensuntauglichen Individuen dazu beigetragen habe, deren Fortdauer zu unterstützen, während dies seinerseits die Möglichkeiten der Lebenstauglichen, die Gattung fortzupflanzen, verringere. Auch Wallace und mehrere andere heben bei verschiedenen Anlässen hervor, dass die Menschen in Bezug auf diese Fragen härter werden müssen, wenn die Art sich nicht verschlechtern soll; dass die moralischen, sozialen und sympathischen Faktoren, die in der Menschheit dem Gesetz von »the survival of the fittest« entgegengewirkt und es den Niedrigstehenden möglich gemacht haben, sich am meisten zu vermehren, neuen Gesichtspunkten in der Betrachtung gewisser moralischer und sozialer Fragen weichen müssen, wodurch dann das natürliche Gesetz durch den Altruismus unterstützt werden wird, anstatt dass ihm wie bis jetzt dieses Gefühl entgegenwirkt.

Es liegt eine große Wahrheit in Spencers Gedanken, den jemand gerade in diesem Zusammenhang angeführt hat: »Wir sehen den Keim zu vielen Dingen, die sich späterhin in einer Weise entwickeln, die keiner nun ahnt, und tiefe Umwandlungen der Gesellschaft und ihrer Mitglieder bewirken, Umwandlungen, die wir nicht als unmittelbare Resultate zu hoffen haben, aber die wir als schließlich Folgen getrost erwarten können.« Das Streben, die natürlichen Gesetze zu finden, von denen die Hebung oder das Sinken der Rasse abhängt, ist einer dieser Keime. Aber von der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete gilt auch ein anderes, von der Wissenschaft oft übersehenes Wort desselben Denkers: »Zu dem Eifer, die Wahrheit zu entdecken, muss der Eifer kommen, sie für das Glück der Menschheit zu gebrauchen!« Doch erst wenn die Wissenschaft wirklich in gewissen Schlussfolgerungen zur Einigkeit gekommen ist, kann man erwarten, dass die Menschheit ernstlich ihre Selbstpurifizierung beginnt. Aber dann wird es auch gewiss dazu kommen. Wenn man in ethnographischen und soziologischen Werken z. B. in Mc. Lennans »Primitive Marriage« oder Westermarcks »The human marriage«. liest, welchen ehelichen Restriktionen die wilden Völker sich oft nur auf Grund abergläubischer Vorurteile mit religiösem Gehorsam unterworfen haben, da dürfte die Hoffnung, dass die Kulturmenschen sich einmal vor wissenschaftlich bewiesenen Sätzen beugen werden, wohl nicht zu optimistisch sein!

Wallace befürwortet nicht so absolute Maßregeln wie Galton, um die Ehen der Minderwertigen zu hindern und die der Übermenschen zu fördern. Er sieht ein, dass das Problem ungeheuer verwickelt ist. Unter anderem, weil die persönliche Erotik gerade aus dem Gesichtspunkt der Rassenveredelung außerordentlich wesentlich ist. Wenn die Menschen gleich Zuchtvieh gezüchtet werden könnten, so dürfte das wohl kaum den Übermenschen hervorrufen! Die Menschenrasse des Mittelalters sank, sagte Galton, weil die Besten in die Klöster flohen und die Schlechteren sich fortpflanzten. Aber wenn Galtons strenge Forderungen an jeden Stammbaum erfüllt werden müssten, bevor eine Ehe gestattet würde, so würde nicht nur die Ehe ihren tiefsten Inhalt verlieren, sondern auch die Rasse ihr edelstes Erbe.

Aber auch mit einer starken Begrenzung von Galtons Sätzen und einer weisen Einschränkung seiner Forderungen hat die Wissenschaft schon so viele der ersteren bestätigt, dass man im Ganzen genommen die Bedeutung der letzteren zugeben muss. So weiß man, dass die ererbte Anlage bei den Kindern oft eine andere Gestalt annimmt als bei den Eltern; dass z. B. von 300 Idioten 145 zu Eltern Trinker hatten, und dass die Epilepsie oft durch dieselbe Ursache hervorgerufen wird. Man weiß, dass scheinbar gesunde Individuen oft in demselben Alter von einer Krankheit ergriffen werden, in welchem die Eltern von ihr heimgesucht wurden. Andererseits gibt es auch erfreuliche Erfahrungen dafür, dass Individuen mit Willenskraft gewissen gefährlichen, erblichen Belastungen entgegenarbeiten können. Und was auch und mit vollem Recht in der Diskussion über den Gegenstand hervorgehoben wird, ist die Möglichkeit, dass die krankhafte Anlage des einen Teils durch die Gesundheit des anderen bei den Kindern neutralisiert werden kann. Aber sowohl dieses wie viele andere Momente, ist, wie ich auch oben hervorhob, noch lange nicht ergründet.

Maudsley6 hat besonders die Frage von der Erblichkeit der Geisteskrankheiten beleuchtet, obgleich auch in diesem Fall die nervösen und psychischen Krankheiten der Eltern bei den Kindern oft ihren Charakter verändern. Auch er fordert ein ärztliches Zeugnis vor der Eheschließung und verlangt, dass das Auftreten einer Geisteskrankheit in der Ehe einen gesetzlichen Grund zur Scheidung bilde. Und er hofft, dass ein »reiner« Stammbaum, in einem neuen Sinne des Wortes, ebenso wichtig für die Ehen der Zukunft werden wird, wie für die des Adels in früheren Tagen. Einer von Maudsleys Sätzen ist so interessant, dass er hier angeführt werden soll, nämlich dass Väter, die ihre ganze Energie für die Erwerbung von Reichtum angespannt haben, entartete Kinder erhalten; denn die erwähnte Nervenspannung untergräbt das System ebenso unfehlbar wie Alkohol oder Opium! Sollte dieser Satz sich bestätigen, so würde man noch einen Gesichtspunkt zu den vielen besitzen, die zeigen, wie lebensfeindlich das jetzige, nur auf Macht und Gewinn abzielende Gesellschaftsleben ist und wie notwendig jene Umgestaltung des Daseins, die die Arbeit und die Produktion einem neuen Zwecke dienstbar machen wird: der Forderung jedes Menschen, ganz, allseitig und menschenwürdig zu leben und eine mit allen Möglichkeiten für ein ähnliches Leben ausgerüstete Nachkommenschaft hinterlassen zu können. Bricht dieser Tag an, dann wird man wie einen erschreckenden Atavismus auf dem Antlitz eines Kindes den Ausdruck entdecken, den ein Künstler der Gegenwart in dem Bilde des Knaben, der »mit der Zeit Millionär wird«, bewahrt hat!

* * *

Schließlich will ich aus der Literatur über diesen Gegenstand Nietzsches Werke hervorheben. Obgleich Nietzsche seine Gedanken vom Übermenschen nicht unmittelbar auf Darwins Theorien stützt, sind doch die ersteren, wie Georg Brandes kürzlich dargelegt hat, die große Konsequenz des Darwinismus, die Darwin selbst nicht einsah. In keinem Zeitgenossen ist die Gewissheit stärker gewesen als in Nietzsche, dass der Mensch so, wie er nun ist, nur »eine Brücke« ist, nur ein Übergang zwischen dem Tier und dem Übermenschen; und im Zusammenhang damit sieht Nietzsche die Pflichten der Menschen für die Veredelung der Art ebenso ernst wie Galton, obgleich er seine Sätze mit der Stärke der Seher- und Dichterworte, nicht mit der der naturwissenschaftlichen Beweisführung ausspricht.

Die Literatur über diese Themen wächst mit jedem Tage, und die verschiedenen Meinungen prallen noch hart aufeinander. Solange dies der Fall ist, hat man allen Grund, die Warnung des deutschen Soziologen Kurella zu beachten, der, als er sich über diesen Gegenstand äußerte7. Ammons umstrittenes Buch Die natürliche Auslese beim Menschen angriff und darlegte, dass man immer mit sozialen sowohl wie mit anthropo-logischen Momenten rechnen müsse, wenn man der Entartung der menschlichen Gattung entgegenwirken wolle. Er betonte auch, dass, ob nun die Darwin’sche Theorie, von der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, oder die seiner Widersacher die siegreiche bleibe, d. h. die Theorie von einer unveränderlichen »Erbmasse«, die von den Eltern auf die Kinder übergeht, sodass bessere Typen nur durch die neue Mischung der Eigenart des Vaters und der Mutter, sowie durch die natürliche Auslese im Kampfe ums Dasein entstehen könnten – man doch behutsam sein müsse, bevor man anfange, auf Grund von anthropologischen Motiven sozial-politisch zu handeln. Er setzte schließlich mit vollem Recht auseinander, dass das Material, das man in den Arbeiten von Spencer. Galton, Lombroso, Ferri, Ribot, Letourneau, Havelock Ellis, J. B. Haycraft, Colajanni, Sergi, Ritchie u. a. besitzt, erst systematisch bearbeitet werden und der Soziologe auch Zoologe, Anthropologe und Psychologe werden müsse, bevor man neue Kulturpläne für die Erhebung des Menschengeschlechts durchführen solle und könne.

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In Bezug auf die seelischen Anlagen meinen einige – und das hat ja in unserer Zeit das Interesse für die Mütter berühmter Männer so sehr gesteigert –, dass die Ausnahmsbegabung meistens ihre Eigenart von der Mutter ererbt hat, wenn es ein Sohn, aber vom Vater, wenn es eine Tochter ist. Eine andere, schon besser ergründete Erscheinung scheint die zu sein, dass, wenn in einer Familie die Anlagen in einem Säkulargenie ihren Kulminationspunkt erreicht haben, dieses Genie dann entweder kinderlos bleibt, oder seine Kinder nicht nur gewöhnlich, sondern oft unbedeutend werden – sei es, dass die Natur ihre Produktionskraft in der großen Persönlichkeit erschöpft hat, oder dass, wie man oft annimmt, die schaffende Kraft derselben in geistiger Richtung die Schaffenskraft in geschlechtlicher Beziehung verringert. Im Zusammenhang mit der Erblichkeitsfrage steht die von der Entwickelung der Rassen. Schon im Anfange von Origin of Species hat Darwin gezeigt, wie wesentlich die reine Abstammung für die Heranziehung einer »edlen« Rasse ist, und auf diese Erfahrung stützt sich ein moderner antisemitischer Schriftsteller8 der die Juden als das typische Beispiel für die Stärke der reinen Rasse hingestellt hat, ein Gedankengang, den einer der hervorragendsten Repräsentanten des Judentums, Disraeli, auch in den Worten ausgedrückt hat: »Rasse ist alles; es gibt keine andere Wahrheit, und jede Rasse, die sorglos Blutvermischung zulässt, geht unter.« Andere Gelehrte hingegen halten gewisse Rassemischungen für höchst ersprießlich für die Nachkommenschaft.

Ein finnischer Soziologe Westermarck: »The human marriage.« hat die Bedeutung, die die Schönheit für die Liebe und so für die Rasse erlangt hat, gut motiviert, indem er darlegte, wie der Mensch als körperliche Schönheit die volle Entwickelung all jener Züge aufgefasst hat, die dem menschlichen Organismus im Allgemeinen, den beiden Geschlechtern im Besonderen und der Rasse in erster Linie ihr Gepräge geben. Er meint, dass dies darauf beruht, dass Individuen mit diesen Zügen gerade die ihren Lebensaufgaben am besten Angepassten sind. Es wird so eine Folge der natürlichen Auslese, dass gerade jene Individuen am schönsten gefunden und am meisten begehrt werden, die zuerst als Menschen am besten die allgemeinen Aufgaben des menschlichen Organismus, als Geschlechtswesen die ihres Geschlechts erfüllen, und die als Rassewesen am besten den sie umgebenden Bedingungen angepasst sind. Im Kampfe ums Dasein sind diejenigen besiegt worden, welche von Menschen abstammen, deren Liebesinstinkte sie zu Individuen zogen, welche jenem Kampfe schlecht angepasst waren, während die Siegenden hingegen Kinder glücklich angepasster Individuen sind. So hat sich der Geschmack ausgebildet, nach dem die beste Anpassung als die höchste Schönheit erscheint. Diese ist gleichbedeutend mit Gesundheit, mit der Kraft, den Angriffen der Außenwelt zu widerstehen; während jede größere Abweichung vom reinen Typus des Geschlechts und der Rasse einen geringeren Grad von Anpassungsvermögen in sich schließt, d. h. von Gesundheit und so auch von Schönheit.

Ein anderer Schriftsteller hat den Fuß als Beweis für diese Sätze angeführt. Der schmale, hochgewölbte Fuß mit feinem Knöchel wird ja – sagt er – als der schönste betrachtet. Aber dieser findet sich nur zugleich mit einem feinen, starken und elastischen Knochenbau vor. Ein solcher Fuß bekommt außerdem durch seine starke Elastizität eine größere Tragkraft als der platte Fuß. So erleichtert der hochgewölbte Fuß beim Gehen und Springen die Tätigkeit der Lungen und des Herzens. Diese macht wieder den Gang elastisch, fest und leicht, behänd und stolz, was, aus demselben Grunde wie die Schönheit des Fußes selbst, als ein Rassezeichen angesehen wird. Diese physische Kraft und Leichtigkeit wirkt auf den Mut, auf das Selbstvertrauen zurück und steigert so das Herrschergefühl und die Lebensfreude, die eines der Merkmale des Adelsmenschen sind.

In welchem Masse diese Beweisführung in diesem einzelnen Falle Stand hält oder nicht, beweist nichts gegen die Wahrheit der Grundanschauung, auf der sie ruht und die sich allmählich durchringt, der Anschauung, nach welcher Seele und Körper sich unter Anpassung an die Umgebung gegenseitig aufbauen.

Es gilt demnach, nicht nur herauszufinden, welche Bedingungen die beste Auslese geben, sondern auch, welche äußeren Bedingungen die schon durch die natürliche Auslese begründeten Eigenschaften stärken oder schwächen. Man hat wieder die Bedeutung der körperlichen Übungen eingesehen, und nachdem man die schmerzlichen Erfahrungen gemacht hat, die notwendig sind, um die Folgen der Übertreibung und Überanstrengung, der Wettraserei und der Sporttorheit zu hindern – die sich besonders für die Frauen mit Hinblick auf die Mutterschaft oft verhängnisvoll gezeigt haben – wird Sport und Spiel, Gymnastik und Fußwanderung, Natur- und Freiluftsleben und eine nach dem Muster der schwedischen Volkstänze regenerierte Tanzkunst eine der herrlichsten Quellen der psychischen und physischen Erneuerung der Generation werden.

In dem Gedanken an diese Erneuerung hat man auch auf den Einfluss der Kunst hingewiesen. So hat man z. B. gezeigt, wie ein Burne-Jones den neuen englischen Frauentypus geschaffen hat, der sich unter einer allmählich sich vollziehenden Anpassung an den vornehmen und stillen Stil bildete, der durch ihn als der mustergültige angesehen wurde! Es wird behauptet, dass man nur eine Schar junger Engländerinnen vor seinen Bildern zu sehen brauche, um zu merken, wie nicht nur der Ausdruck, sondern auch die Gesichter eine auffallende Übereinstimmung zeigen! Der Künstler hat der Jugend dieses Gepräge aufgedrückt, bevor sie noch bewusst war; sie sind vor diesen Formen aufgewachsen, haben sie in ihren Bilderbüchern gesehen, sie wurden in Kleider von einem Schnitte gekleidet, der auf die Bilder des Meisters zurückzuführen ist. Ja, noch mehr: aus denselben Gründen, aus denen der griechische Reiz von der statuesken Schönheit beeinflusst wurde, mit der sich die Mütter umgaben, sollen die jetzigen Mütter ihren Kindern den Burne-Jonestypus vererbt haben! In der Antike glaubte man ja auch in anderen Fällen – z. B. bei der Erreichung des erstrebten blonden Haares – dass man dieses, sein Ziel, vorsätzlich erreichen könne.

Was die Bedeutung derartiger äußerer Einflüsse auf die Mütter betrifft, so hat man doch noch zu wenig Material, um darauf Folgerungen aufzubauen; und auch in diesem Falle sind die Gelehrten unter einander uneinig. Ich habe darum nur im Vorbeistreifen auch dieses Moment unter den unzähligen erwähnen wollen, die ergründet werden müssen, bevor die Menschen schließlich sicheren Einblick in die Bedingungen der Menschenwerdung erhalten. In Ermangelung wissenschaftlicher Kenntnisse konnte ich nur die Literatur und die umfassenden Untersuchungen andeuten, durch die man im vorigen Jahrhundert angefangen hat, Licht über die Rätsel des Werdens zu verbreiten. Noch ruht Dunkelheit über vielen derselben. Aber des Menschen Geist schwebt nun über den Tiefen und wird allmählich eine neue Schöpfung aus ihnen hervorrufen!

Im Zusammenhang hiermit steht die Entwickelung neuer Rechtsbegriffe auf diesen Gebieten. Während die heidnische Gesellschaft in ihrer Härte die schwachen oder verkrüppelten Kinder aussetzte, ist die christliche Gesellschaft in der »Milde« so weit gegangen, dass sie das Leben des psychisch und physisch unheilbar kranken und missgestalteten Kindes zur stündlichen Qual für das Kind selbst und seine Umgebung verlängert. Noch ist doch in der Gesellschaft – die unter anderem die Todesstrafe und den Krieg aufrechterhält – die Ehrfurcht vor dem Leben nicht groß genug, als dass man ohne Gefahr das Verlöschen eines solchen Lebens gestatten könnte. Erst wenn ausschließlich die Barmherzigkeit den Tod gibt, wird die Humanität der Zukunft sich darin zeigen können, dass der Arzt unter Kontrolle und Verantwortung schmerzlos ein solches Leiden auslöscht. Dagegen aber behält diese christliche Gesellschaft noch immer den Unterschied, zwischen »ehelichen« Kindern und »Kindern der Sünde« bei, einen Unterschied, der mehr als irgendein anderer dazu beiträgt, eine wirklich ethische Auffassung der Elternpflichten zu erschweren. Solange nicht jedes Kind sowohl dem Vater wie der Mutter gegenüber ganz dasselbe Recht hat, und beide Eltern jedem Kinde gegenüber ganz dieselbe Pflicht, ist noch nicht einmal der Grundstein zu der zukünftigen Sittlichkeit im Zusammenleben zwischen Mann und Weib gelegt.

Die Gesellschaft wird einmal die Gestaltung der erotischen Verhältnisse als die Privatsache der mündigen Individuen ansehen. Die Liebenden, die Verheirateten werden sich als vollkommen frei betrachten und auch so betrachtet werden; bindende Versprechung in Bezug auf Gefühle, eigentumsrechtliche Forderungen in Bezug auf die Persönlichkeit werden ja schon jetzt von feinfühligen und entwickelten Menschen als ein Überbleibsel niedrigerer erotischer Gefühle angesehen, Gefühle, verunstaltet durch Machtgier und Eitelkeit, Grausamkeit und blinde Leidenschaft.

Man fängt an einzusehen, dass die vollkommene Treue nur durch die vollkommene Freiheit zu erringen ist; der vollkommene Wesensaustausch nur in vollkommener Freiheit statthaben kann; die vollkommene Güte nur bei vollkommener Freiheit zu erwachsen vermag. Wenn jeder aufhört, die Gefühle und Stimmungen, die Gewohnheiten und Neigungen des anderen nach seinen eigenen zwingen und beugen zu wollen; wenn jeder die Fortdauer des Gefühls des anderen als ein Glück betrachtet, nicht als ein Recht; wenn jeder das mögliche Aufhören dieses Gefühls als einen Schmerz erlebt, nicht als ein Unrecht – dann erst ist zwischen den Seelen der reine, kühle, freie Raum, in dem sich jede mit voller Selbstbestimmung bewegen und beide in voller Einheit verschmelzen können.

Für die Treue wird die Freiheit keine Gefahr. Die Art von Treue, die Kirche und Gesetz gefordert haben, ist gewiss ein bedeutungsvolles Erziehungsmittel gewesen. Aber das Mittel ist ein solches, das nunmehr dem Ziel entgegenwirkt. Denn es hat die Besitzrechtgefühle hervorgerufen, die zur Achtlosigkeit in dem Kultus der Liebe führten; die Zwangsforderungen, die Feindlichkeit in Seele und Sinn weckten; die Menschenfurcht, die alle Art von Unredlichkeit, alle mögliche Heuchelei zwischen den Gatten, sowie gegenüber der »Welt« gezeitigt hat. Wenn die Bande des Zwanges wegfallen, wird das Gefühl erstarken. Denn wenn die äußeren Stützen der Treue fehlen, wird die Kraft dazu von innen geschöpft werden. Obgleich die Menschen immer der Möglichkeit tiefer Irrtümer über sich selbst und den Gegenstand ihrer Liebe ausgesetzt bleiben; obgleich die Zeit stets Menschen und Gefühle verändern kann; obgleich also selbst in einer aus gegenseitiger Liebe eingegangenen Ehe Verhältnisse entstehen können, die Nietzsches Gedanken, dass es besser sei, die Ehe zu brechen, als sich von ihr brechen zu lassen, Recht geben – so wird doch die Freiheit im großen Ganzen die Treue fördern, die stets eine Stütze an der Erfahrung ihres psychologischen und ethischen Werts haben wird.

Nicht durch eine Folge von leicht geknüpften und leicht gelösten Verbindungen bereitet man sich für das Glück der großen Liebe vor. Die freiwillige Treue ist ein Adelszeichen, weil sie den Willen voraussetzt, sich um den Kern seines Lebensinhalts zu konzentrieren, weil sie die Einheit mit unserem eigenen innersten Ich einschließt! Das gilt von der erotischen Treue wie von aller anderen Treue. Erst wenn die Liebe die Frömmigkeit des Werktages und die Andacht der Feierstunden ist; wenn sie unter steter Aufmerksamkeit der Seele gehegt wird; wenn sie eine unablässige Steigerung – oder warum nicht das alte, schöne Wort »Heiligung« gebrauchen – der Persönlichkeit mit sich bringt, erst dann ist die Liebe groß. Dann besitzt sie auch ein höheres Recht als eine frühere Verbindung, weil sie dann gerade die Treue gegen unser eigenes höchstes Ich bedeutet. Aber überall, wo sie nicht diesen Charakter hat, hat sie auch nicht dieses Recht. Sie ist dann ein kleines Gefühl, selbst wenn sie durch eine große Leidenschaft verschönt wird. Und die Kinder, die aus flüchtigen Verbindungen hervorgehen, werden oft ebenso halb, als ihr Ursprung es war. »Die große Liebe ist,« wie mir ein junger Arzt kürzlich schrieb, »nur die, welche so tief ergreift, dass man nach ihrem Verluste nicht mehr ein Ganzes, sondern die Hälfte eines Ganzen ist, obgleich die Natur die Generation gegen Vernichtung geschützt hat, indem sie die Möglichkeit gab, mehr als einmal zu lieben. Aber was das Ideal der Natur ist, darüber können wir nicht im Zweifel sein! Die Rasse, die entstehen würde, falls jungen Männern und Frauen die Möglichkeit gegeben wäre, sich zu vereinigen, wenn die erste Liebe von ihnen Besitz ergreift – jene Liebe, die die tiefste ist – diese Rasse würde gesund und stark und eine andere werden, als die unsere ist. Aber wenn jetzt die Jugend liebt, hat sie selten die Mittel zur Vereinigung; und wenn sie die Mittel hat, dann ist oft das, was sie zu einer ehelichen Vereinigung führt, nicht das tiefste, was sie gefühlt hat, sondern etwas, das, wenn es nicht verfälscht ist, doch ein Surrogat bleibt.«