Cover

Reinhard Mehring

CARL
SCHMITT

AUFSTIEG
UND FALL

C.H.Beck

Zum Buch

Carl Schmitt gehört neben Martin Heidegger und Max Weber zu den weltweit am meisten gelesenen deutschen Denkern des 20. Jahrhunderts. Während seine radikalen Theorien über Freund und Feind, Legalität und Legitimität, den Begriff des Politischen bis heute das politische Denken stimulieren, ist er selbst durch seinen abgründigen Charakter und seine Rolle als «Kronjurist» des Dritten Reiches für immer kompromittiert. Reinhard Mehring legt, ganz aus den Quellen gearbeitet, die grundlegende Biographie Carl Schmitts vor. Mit geradezu atemberaubender Intensität schildert er das Leben einer Shakespeare’schen Gestalt im Zentrum der deutschen Katastrophe.

«Es gehört zum großen Glück dieser gewaltigen, Maßstäbe setzenden Biographie, dass Carl Schmitts Scharfsinn auf den Biographen abgefärbt ist – auch wenn er sich nun gegen seinen Gegenstand richtet. Mit Schmitt gegen Schmitt denken. Der Fall scheint abgeschlossen. Reinhard Mehring nennt die Dinge beim Namen.»

Stephan Schlak, Süddeutsche Zeitung

«Das Buch stellt eine ungewöhnliche Leistung dar. Man legt es dankbar und respektvoll aus der Hand – in Griffweite.»

Christian Meier, Zeitschrift für Ideengeschichte

«Die beste Biographie über Carl Schmitt.»

Günther Frieder, H-Soz-u-Kult

Über den Autor

Reinhard Mehring, ist Professor für Politikwissenschaft an der PH Heidelberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu Carl Schmitt vorgelegt und für diese Biographie eine Vielzahl neuer Quellen ausgewertet. Zuletzt ist von ihm erschienen: Carl Schmitts Gegenrevolution (2021).

Inhalt

Ein weißer Rabe. Das seltsame Leben des deutschen Staatslehrers Carl Schmitt

Erster Teil: Das «falsche Sichdünken ‹Ich bin›». Aufstieg im Wilhelminismus

1. Ein «obskurer junger Mann bescheidener Herkunft»

Eifeler Herkunft der Eltern

Schulzeit in Plettenberg und Attendorn

Studienjahre in Berlin, München und Straßburg

Der Mentor: Fritz van Calker (1864–1957)

Der Freund: Fritz Eisler (1887–1914)

Die «Schuld» am Anfang des Werkes

2. Das Recht der Praxis

Als Referendar im Bezirk Düsseldorf

Die Theorie der Praxis: «Gesetz und Urteil»

Der Bruder als Mentor

Kritische Versuche: der «Boden des normalen Menschenverstandes»

3. Dichterapotheose und Literatenschelte: der «unzeitgemäße» Dichter und das «Gemeingut der Gebildeten»

Rückblickende Wahrnehmung eines Epochenwandels

Von Richard Wagner zu Theodor Däubler (1876–1934)

Religiöses Pathos und säkulare Dogmen

4. Am Vorabend des Weltkriegs: Staat, Kirche und Individuum als Orientierungsposten

Die Tänzerin aus dem «Tingel-Tangel»: Carita (von) Dorotić (1883–1968)

Die «Würde» des Einzelnen im «Dienst» am Recht

5. Düsseldorfer Leben im Ausnahmezustand

Der «Geheimrat»: Hugo am Zehnhoff (1855–1930)

Verlobung mit Schatten

Cari in Plettenberg

Kriegsausbruch und Freundestod

Glückliche Zwischenlösungen

Unzureichende Zwischenüberlegungen

6. Weltkrieg und Defaitismus: Carl Schmitt in München

Carl Schmitt als Soldat

Alltag im Generalkommando

An der «Leine» der Ehe

Jüdische Freunde und antisemitische Affekte

Antwort mit Däubler

Satirische Feindbeobachtungen

7. Straßburg, der Belagerungszustand und die katholische Entscheidung

Das neue Thema

Wieder in Straßburg: Belagerungszustand als Rechtsverhältnis

Zwischen München und Straßburg

Franz Blei (1871–1942) und die Beiträge in «Summa»

8. Politische Romantiker 1815/1919

Romantische Subjektivität

Kriegsende und Revolutionswirren: Machtergreifung der Romantiker

Zur Gesamtlinie des Frühwerks

Zweiter Teil: Jenseits der Bürgerlichkeit. Weimarer Leben und Werk

1. Feste Stellung? Münchner Handelshochschule und Diktatur

Bayern im Ausnahmezustand

Feste Dozentur an der Münchner Handelshochschule

«Da kommt das Erschießen fast vor dem Urteil»: «Die Diktatur»

Abschied von München: die Erinnerungsgabe für Max Weber

2. Ein «treuer Zigeuner» in Greifswald

Kurzes Gastspiel

Kathleen Murray, Ernst Robert Curtius und die Greifswalder Promotion

Die Novelle vom «treuen Zigeuner»

3. Ankunft in Bonn? Wendung zur katholischen Kirche

Werde, der du bist!

An der Bonner Universität

Katholizismus als politisches Credo

«Konkrete» Kirche ohne Vorbehalt?

4. Der Bonner Lehrer

Übergang zu Duška

Vom Parlamentarismus zum «nationalen Mythos»

Inkubationsjahr 1924

Vor der «Vereinigung»: «Die Diktatur des Reichspräsidenten»

Hugo Balls «doch sehr schöner» «Hochland»-Essay

Der Streit um «Die Folgen der Reformation»

Das legendäre Seminar

Ein schwieriger Schüler: Waldemar Gurian (1902–1954)

«Was ist Theologie?» Erik Peterson (1890–1960)

Stimmungswechsel

5. Vom Status quo zum demokratischen «Mythos»

Maßstäbe des Rezensenten

Rechtsprinzip gegen Genf: Legitimität der Homogenität?

Vom «Unrecht der Fremdherrschaft» zum «Betrug der Anonymität»

«Dummheit» und «Erlösung»: Duška und Magda

Vom «Mythos» der unmittelbaren Demokratie

6. Bonner Ernte: Der Begriff des Politischen und die Verfassungslehre

Sexus und System

Kernsätze staatstheoretischer Grundlegung: «Der Begriff des Politischen» (1927)

Flüchtige Skizze des «Systems»: der Gegensatz von Liberalismus und Demokratie in der «Verfassungslehre»

Der vierfache Ansatz zur Dekonstruktion des «bürgerlichen Rechtsstaats»

7. Von «Eisscholle zu Eisscholle»: Signale im Berliner «Malstrom»

Übergangszeiten

Mit der Maske von Cortés

Die Berliner Handelshochschule

Feste Adresse? Lebensabriss bis zum Sommer 1929

Erotischer Ausnahmezustand

Neues Thema: «Hüter der Verfassung»

Licht aus Italien? Die Demokratie aus ihrer «Verhüllung» retten

Feuchtwangers Antwort

Mit der Maske Bismarcks

Der «Geist» der Technik und die «neue Elite»

8. Rekonstruktion des «starken» Staates

Von der Verfassungslehre zur Staatslehre

Eine neue Staatslehre nach Hugo Preuß

Die «Pflicht zum Staat»

Nach Duškas Rückkehr

Der «Irrtum» als «Abhilfe»: der Reichspräsident als «Mittelpunkt»

Vom klassischen Freiheitsrecht zur institutionellen Garantie?

Abbruch der Theorieanstrengung?

9. In den publizistischen Kreisen der Weimarer Endzeit

Der treue Adlatus: Ernst Rudolf Huber (1903–1990)

Mobilisierung der «neuen Elite»

«Der Begriff des Politischen» und das Spiel des Antichristen

10. Carl Schmitt als Akteur im Präsidialsystem

Im Vorhof der Macht

«Von der Legalität zur Legitimität»

Preußenschlag und Notstandsplan

Vor dem Staatsgerichtshof

Nach dem Leipziger Urteil

Letzte Chance der Weimarer Republik

Dritter Teil: Im Bauch des Leviathan. Nationalsozialistisches Engagement und Enttäuschung

1. Nach dem 30. Januar 1933

Gegen einen Mythos nur einen anderen?

Topik der Entscheidungsgründe für den Nationalsozialismus

Umbrüche im Nahfeld

Wege und Antworten der Opfer

2. Der aufhaltsame Aufstieg zum «Kronjuristen»

Rache für Leipzig

Nullpunkt und erstes Engagement

Hans Frank (1900–1946) und die «Akademie für Deutsches Recht»

Sommer 1933: «Und dann kam also der Mann da»

Zenit Juristentag

Erste Auseinandersetzungen um Carl Schmitts Nationalsozialismus

3. Das «Jahr des Aufbaus»? Anfang und Ende juristisch-institutioneller Sinnstiftung

Sinnstiftungsschriften

Abschied vom Völkerrecht?

Der «unmittelbar gerechte Staat» Adolf Hitlers und der 30. Juni 1934

Das Fähnlein der letzten Getreuen

4. Die antisemitische Sinngebung

Rechtstheoretische Neuansätze

Dunkle Jahre und nationalsozialistische Schüler

Sinngebung mit Richard Wagner: «Das Judentum in der Rechtswissenschaft»

Sturz in der Ämterhierarchie

5. Kehre mit Hobbes? Sinn und Fehlschlag des Engagements

6. Recht zur Macht? Großraumordnung als Reichsbildung

Friedensfiktion und politischer Friede

Rekonstruktion des «Reiches»?

7. Der Kapitän als Geisel? Carl Schmitts Abschied vom «Reich»

Wieder Professor

Die Lage des «Rechtswahrers» bei Kriegsbeginn

Der «Symbolismus der Situation»: die Benito Cereno-Identifikation

«Solange der Weinkeller nicht leer ist»: Leben im Krieg

Verfassungsgeschichtliche Rückschau: «die Fragwürdigkeit der totalen Verstaatlichung»

8. Letzte Schriften im Nationalsozialismus

Literarische Inszenierung des Abgangs

Aufstieg und Fall eines Reiches

Verzögerte Ernte: Endgeschichte des Völkerrechts?

«Unglücksfigur» im Nationalsozialismus?

Vierter Teil: «Einer bleibt übrig». Langsamer Rückzug nach 1945

1. Haft und «Asyl»

Nach dem Sturm

Verbrechen und Verantwortlichkeiten

Im Camp

«Briefe aus der Haft»: der «authentische Fall eines christlichen Epimetheus»

«Ich bin hier als was?» Rückkehr und neuerliche Verhaftung

«Ich wusste Einiges von den legalen, paralegalen und illegalen Machtmitteln»: Nürnberger Stellungnahmen

Plettenberger «Asyl»

Das «kleine Einmaleins» der Nachkriegslage

«Gevierteilt und zertreten, aber nicht vernichtet»: Rückschau im «Glossarium»

Schmitts Hitler-Bild nach 1945

2. Von Benito Cereno zu Hamlet: «Comeback» des Intellektuellen?

Vernetzungen nach 1949

Die «Verdunklung der letzten Jahre»: Streit mit Jünger und Tod der Frau

Pater Eberhard Welty und «Die neue Ordnung»

Serge Maiwald und die «Universitas»

«Carl Schmitt Nein und Ja»: Publikationsoffensive im Greven-Verlag

«Der dunkle Sinn unserer Geschichte»: Christliches Geschichtsbild?

«Ein starker Geist luziferischer Art»: Auseinandersetzungen um das Comeback

Das Vernichtungssystem «wenigstens nachträglich ganz realisieren»: Entfremdung von Huber

Nach Duškas Tod: «großartige Aufnahme» und «niederträchtige Verfolgung»

«Dass Sie nicht mehr sprechen wollen, kann ich gut verstehen»: Querelen um Vorträge

«Einheit der Welt» oder Nachkriegsnomos?

Bibliotheksfragen

Pressekontakte: «Da werden Gräfinnen zu Hyänen»

«Der Mann, der den Walfisch fing»: Zenit des 65. Geburtstags

«Hör-Denkspiele» im Rundfunk

Das «Missverhältnis von Denken und Tun»: Carl Schmitt als Hamlet

3. Plettenberger Privatissimum. Neue Wirkungen auf bundesrepublikanische Schüler

Ankunft in der Bundesrepublik?

Anima heiratet nach Spanien

«Von Ihnen lebt eine Generation.» Die Schüler der 1950er Jahre

Münster und Ebrach

Zum 70. Geburtstag: ein «neuer Typus von Buch»

Der Karlsruher «Gummibaum»: «Die Tyrannei der Werte»

4. Partisan im Gespräch

Kategorienwechsel nach 1945?

Alter Partisan: Logik der Verurteilung und Legitimität des Widerstands

Böckenförde als Lektor des Spätwerks

Abschlussdenken mit Hobbes und Hegel

Ebracher Gabe

80. Geburtstag

«Der erste, originale N. P. bin ich»: Folgen von 1968

Promotion der Sekundärliteratur

5. Achtzig verweht: Rückblick auf alte Fragen

Die «Pseudo-Religion der absoluten Humanität»: Werkabschluss «Politische Theologie II»

Weimarer Legenden: Hugo Ball und Walter Benjamin

Streit der Schmittisten

Letzte Station Plettenberg-Pasel

Auf Augenhöhe mit Hans Blumenberg

Schmerzenskind «legale Weltrevolution»

Im Labyrinth des Nachlasses: Schmitts letztes Werk

«Ad multos annos!» Das Finale des 90. Geburtstags

«Kostbare Tage» mit Jacob Taubes

Letzte Verfügungen

Anhang

Nachwort zur überarbeiteten Auflage von 2022

Abkürzungen und Bibliographie

Archive

Einige Zeitschriftenkürzel

Abkürzungen der wichtigsten Werke Carl Schmitts

Briefwechsel und autobiographische Quellen

Bibliographie

Anmerkungen

Vorwort

I. Das «falsche Sichdünken ‹Ich bin›». Aufstieg im Wilhelminismus

1. Ein «obskurer junger Mann bescheidener Herkunft»

2. Das Recht der Praxis

3. Dichterapotheose und Literatenschelte: der «unzeitgemäße» Dichter und das «Gemeingut der Gebildeten»

4. Am Vorabend des Weltkriegs: Staat, Kirche und Individuum als Orientierungsposten

5. Düsseldorfer Leben im Ausnahmezustand

6. Weltkrieg und Defaitismus: Carl Schmitt in München

7. Straßburg, der Belagerungszustand und die katholische Entscheidung

8. Politische Romantiker 1815/1919

II. Jenseits der Bürgerlichkeit. Weimarer Leben und Werk

1. Feste Stellung? Münchner Handelshochschule und Diktatur

2. Ein «treuer Zigeuner» in Greifswald

3. Ankunft in Bonn? Wendung zur katholischen Kirche

4. Der Bonner Lehrer

5. Vom Status quo zum demokratischen «Mythos»

6. Bonner Ernte: Der Begriff des Politischen und die Verfassungslehre

7. Von «Eisscholle zu Eisscholle»: Signale im Berliner «Malstrom»

8. Rekonstruktion des «starken» Staates

9. In den publizistischen Kreisen der Weimarer Endzeit

10. Carl Schmitt als Akteur im Präsidialsystem

III. Im Bauch des Leviathan. Nationalsozialistisches Engagement und Enttäuschung

1. Nach dem 30. Januar 1933

2. Der aufhaltsame Aufstieg zum «Kronjuristen»

3. Das «Jahr des Aufbaus»? Anfang und Ende juristisch-institutioneller Sinnstiftung

4. Die antisemitische Sinngebung

5. Kehre mit Hobbes? Sinn und Fehlschlag des Engagements

6. Recht zur Macht? Großraumordnung als Reichsbildung

7. Der Kapitän als Geisel? Carl Schmitts Abschied vom «Reich»

8. Letzte Schriften im Nationalsozialismus

IV. «Einer bleibt übrig». Langsamer Rückzug nach 1945

1. Haft und «Asyl»

2. Von Benito Cereno zu Hamlet: «Comeback» des Intellektuellen?

3. Plettenberger Privatissimum. Neue Wirkungen auf bundesrepublikanische Schüler

4. Partisan im Gespräch

5. Achtzig verweht: Rückblick auf alte Fragen

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Leitmotivische Begriffe

Hans Gebhardt (1925–2013),
dem einzigen Leser von Carl Schmitts Kurzschrift

Immer steht für mich die Frage offen: wie war der ‹Fall Schmitt› möglich? Es ist doch lebenswichtig für uns alle, den ‹Fall Deutschland› einmal zu verstehen.[1]

Ein weißer Rabe. Das seltsame Leben des deutschen Staatslehrers Carl Schmitt

Für eine Ernst Jünger-Festschrift macht Carl Schmitt im November 1954 folgende Autorangaben: «C. S. geb. 1888 in Plettenberg (Westfalen), studierte in Berlin, München und Straßburg, habilitierte sich 1916 in Straßburg, verlor infolge des Ausgangs des ersten Weltkriegs seine Dozentur; von 1921–1945 ordentlicher Professor des öffentlichen Rechts in Greifswald, Bonn, Köln und Berlin; 1933 Preußischer Staatsrat; verlor 1945 infolge des Ausgangs des zweiten Weltkriegs seinen Lehrstuhl und lebt seit 1947 in Plettenberg (Westfalen). Drei Hauptwerke: Die Diktatur 1921; Verfassungslehre 1928 (Neudruck 1954); Der Nomos der Erde 1950.» (BS 183) «Ich denke das genügt», fügt er seinem Brief an den Herausgeber Armin Mohler hinzu; «die 3 Bücher können Sie streichen. Doch finde ich ihre Erwähnung nicht schlecht. Die Identität mit dem Schicksal Deutschlands, die Einheit von wissenschaftlichem Beruf und Schicksal wird deutlich genug in diesen Daten.» Als Mohler dann eine Kürzung der biographischen Angaben wünscht, antwortet Schmitt: «Schließlich genügt: C. S. geb. 1888, weißer Rabe, der auf keiner schwarzen Liste fehlt.» (BS 186) Er ist damals 66 Jahre alt und hat noch über 30 Jahre zu leben; er sieht sich als «Besiegter» und knüpft eine verführerisch starke Legende von seiner «Identität mit dem Schicksal Deutschlands».

Der Rabe tritt in vielen Legenden und Fabeln als kluger Berater auf. Ein weißer Rabe ist Unschuldslamm und schwarzes Schaf. Wenn er auf allen schwarzen Listen steht, betont Schmitt – wie bei seinen Referenzautoren Donoso Cortés, Machiavelli und Hobbes – eine Diskrepanz zwischen Leumund und Charakter. Er kontert Legenden leicht ironisch mit einem Gegenbild. Schmitt bot viele Interpretamente und «Mythen» zum Verständnis seines ereignisreichen und seltsamen Lebens an. Dabei griff er nicht in die deutsche Mythenkammer. Er spiegelte sich in Don Quijote, Othello und Don Juan, im katholischen Gegenrevolutionär Donoso Cortés, in Machiavelli, Hobbes oder auch der Novellenfigur Benito Cereno, sah sich nach 1945 in der Rolle des gescheiterten Intellektuellen als Hamlet oder als Hoftheologe Eusebius. Solche Chiffren muss der Biograph vorsichtig aufnehmen und als Selbstverständnis rekonstruieren. Die komplexe Persönlichkeit lässt sich aber schwerlich mit einem Generalschlüssel erfassen.

Die nachfolgende Biographie sucht starke Wertungen und Rückprojektionen zu vermeiden und die offenen Möglichkeiten und Kontingenzen des Lebens gleichsam in Zeitlupe vorzuführen. In der Fülle des Stoffs mag der Leser mitunter die starke These vermissen. Es erwartet ihn, grob gesagt, die alte Geschichte vom Aufstieg und Fall: die Biographie eines sozialen Aufsteigers und Außenseiters, der – Macht und Recht – politische Bedingungen und Gründe von Verfassungen thematisierte und eine neue Verfassungstheorie entwickelte. Es ist – Macht und Geist – auch ein Fallbeispiel von den Risiken politischer Verstrickung eines praktisch engagierten Verfassungslehrers: vom schrittweisen Absturz eines hoch begabten und leicht verstiegenen Intellektuellen in den nazistischen und antisemitischen Wahn, von dem Schmitt sich auch nach 1945 nie ganz erholte. In der Bundesrepublik fand er dennoch bedeutende Schüler, die sein Werk für ein zweites Leben in liberaler Rezeption retteten.

Diese Biographie historisiert Schmitts Leben und Werk. Sie ordnet es nicht in die Reihe der «Klassiker» des politischen Denkens oder die Geschichte des öffentlichen Rechts ein und diskutiert auch seine oft warnend beschworene Aktualität nicht. Die heutige Bundesrepublik ist nicht mehr nach dem Drehbruch des Nationalstaats verfasst, dem Schmitt mit seiner Verfassungslehre folgte. Gewiss ist Schmitt ein Vater des neueren Etatismus und Antiliberalismus. Er legitimierte außerordentliches Handeln und zog ihm bisweilen den weiten Mantel des Glaubens über. Seine direkte Wirkung ist aber heute vorbei.

Der Schulstreit zwischen Schmitt und seinem Weimarer Kollegen Rudolf Smend, Gegenkonzepten von Staat und Verfassung, Dezision und Integration bestimmte zwar lange die deutschen Katheder. Und es «lassen sich erstaunlich viele Diskussionen der neueren Zeit auf diese Fronten abbilden.»[2] Die hohen systematischen Ansprüche seines Denkens scheinen heute aber kaum noch einlösbar zu sein.[3] Seine politischen Positionen sind gründlich diskreditiert. Der Weimarer Etatismus, Nationalismus und Antisemitismus ist nicht mehr. Und schon die alte Bundesrepublik beschrieb Schmitt juristisch kaum noch. Die neuere Europäisierung und Internationalisierung des Rechts ahnte er nur.[4] Schmitt selbst historisierte sein Werk und verstand es als Antwort auf bestimmte Herausforderungen und Lagen. Seine Positionen und Begriffe werden zwar weltweit rezipiert, wo Erosionen des Verfassungsstaates zu beobachten sind und es gegen universalistische Rechtskonzepte geht. Solche Aktualisierungen bringen aber einen erheblichen Bedeutungswandel mit sich. Zwar erleben wir heute massive neue Politisierungen des Rechts. Schmitts Werk aber steht ganz in der Zwischenkriegszeit und der katastrophalen deutschen Nationalgeschichte seit 1914. Die Biographie stellt es in die Krise der Zeit und liest das Werk nicht zuletzt autobiographisch als Reflexionsform des Lebens. Der Absturz zeigt sich in Leben, Werk und Zeit.

Schmitts eingangs zitierte biographische Notiz hebt einen doppelten «Verlust» durch Kriegsniederlagen hervor: Der «Staatsrat» sah sich als «Besiegter» von 1918 und 1945; das «Schicksal Deutschlands» war ihm keine Erfolgsgeschichte. Auch die Bundesrepublik betrachtete er in über 30 Jahren Zeugenschaft nicht als «geglückte Demokratie». Den «langen Weg nach Westen» erlebte er nicht mehr vom Fluchtpunkt 1989/90 her als Lösung der deutschen Spannung von «Einheit» und «Freiheit».[5] Sein Jahrhundertleben war eher eine lange Enttäuschungsgeschichte. Schrittweise kamen Schmitt auf der Suche nach tragenden Ordnungen die politischen Formen und Alternativen abhanden: der Wilhelminische Rechtsstaat und die katholische Kirche, die parlamentarische Republik und das Präsidialsystem, die juristisch-institutionelle Sinngebung im Nationalsozialismus und das supranationale Ordnungsmodell des «Reiches», die Legitimität individuellen Widerstands und die «legale Weltrevolution». «Durch alles das bin ich hindurchgegangen,/Und alles ist durch mich hindurchgegangen», meinte Schmitt schon 1948 (ECS 92). Diese Biographie spiegelt deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Leben und Werk eines Analytikers und Akteurs; sie beobachtet ein problematisches Leben mitunter geradezu protokollarisch in seinem ereignisgeschichtlichen Ablauf und reflexiven Versuch normativer Orientierung und Selbststabilisierung.

Schmitt ist als Autor über 70 Jahre fassbar. Ältere Biographien[6] konnten wichtiges Material noch nicht berücksichtigen. Viele Detailstudien argumentieren heute mikroanalytisch auf hohem Niveau. Die folgende Darstellung basiert insbesondere auf den Tagebüchern, Briefwechseln und dem umfangreichen Nachlass. Schmitt verwahrte so ziemlich alles. Sein Leben lässt sich heute über weite Strecken detailliert rekonstruieren. Der Nachlass weist allerdings signifikante Lücken vor 1922[7] und nach 1933 auf. Die Erinnerung an die erste Frau Pauline (Cari) Dorotić und auch einige Quellen aus nationalsozialistischer Zeit sind getilgt. Dennoch ist eine Masse von Zeugnissen vorhanden. Leben und Werk bleiben zwar vieldeutig und rätselhaft, an Stoff und Farbe mangelt es der folgenden Biographie aber gewiss nicht.

Erster Teil

Das «falsche Sichdünken ‹Ich bin›». Aufstieg im Wilhelminismus