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HENNING SCHERF

Mit Uta von Schrenk

Gemeinsam
statt
einsam

Meine Erfahrung für die Zukunft

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de



Umschlagkonzeption und -gestaltung: Agentur R·M·E /

Roland Eschlbeck, Rosemarie Kreuzer

Umschlagmotiv: © Joerg Sarbach



Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33327-9

ISBN (Buch) 978-3-451-30255-8

Vorwort

Vor kurzem habe ich den Sozialen Ökohof St. Josef in Papenburg kennen gelernt. Ein Hof mit über 3.000 Schafen, noch viel mehr Hühnern und einem großen Ackerbau. Die Betreiber haben sich in einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit und viel Armut vor zwanzig Jahren vorgenommen, mit Langzeitarbeitslosen und Behinderten zusammen einen Betrieb aufzubauen, der alle trägt. Inzwischen gibt es über tausend Mitglieder, die über einen Verein dieses Projekt unterstützen. Hundert Menschen haben in St. Josef einen Ort gefunden, an dem ihnen gezeigt wird, dass sie noch gebraucht werden, dass sie noch etwas können, dass sich Lebensmut lohnt. Als ich dort herumlief und mir alles ansah, dachte ich: Ja, genau so etwas brauchen wir. Wir brauchen Menschen wie den Arbeiterpriester Gerrit Weusthof, der diesen Betrieb ins Leben gerufen hat und heute dort mit Gummistiefeln über den Hof stapft und nach dem Rechten sieht. Wir brauchen Menschen, die Mut machen. Mehr Solidarität hat unsere Gesellschaft bitter nötig. Um diesem Ziel näher zu kommen muss man keine Visionen an die Wand malen. Und man muss nicht die Weltrevolution fordern. Man kann sich auch in der Freiwilligen Feuerwehr, im Altenchor oder im Betriebsrat mit anderen zusammentun, um diese Welt ein Stück weit besser zu machen. Es bleibt immer die Chance, etwas zu verändern. Man muss sie nur sehen und ergreifen.

Ich erlebe viele Menschen, die sich vielleicht früher einmal in sozialen Projekten engagiert haben und die heute sagen: Es hat alles keinen Sinn, man kann ohnehin keinen Einfluss nehmen auf den Lauf der Dinge. Ich halte das nicht nur für selbstschädigend. Es ist auch eine Fehleinschätzung. Meine Erfahrung ist eine ganz andere: Es gibt auch in einer ständig komplexer werdenden Gesellschaft und in unübersichtlicher werdenden Entscheidungssituationen eine Vielzahl von Möglichkeiten, im eigenen Umfeld etwas zu bewegen, anders miteinander umzugehen, mit anzupacken, gemeinsam etwas zu tun und Solidarität zu zeigen. Und sei es nur, dass man einem anderen eben aushilft. Es gibt genügend Beispiele konkreter gelebter Hilfe. Auch diesen vielen kleinen Projekten möchte ich mit diesem Buch Öffentlichkeit und Anerkennung verschaffen – in der Hoffnung, dass sie Schule machen.

Ich habe als Politiker oft von großen Lösungen, von langfristigen Perspektiven, weitreichenden Plänen und gesamtwirtschaftlich funktionierenden Konzepten geredet – und sie mit durchaus gemischtem Erfolg auch umgesetzt oder begleitet. Beim Aushandeln der Agenda 2010 war ich Vorsitzender des Vermittlungsausschusses. Meine Rolle war damals, dafür zu sorgen, dass Hartz IV, Fördern und Fordern und das Fitmachen der Republik für den internationalen Wettbewerb in Bundestag und Bundesrat mehrheitsfähig wurde. Ich habe nach Kräften dafür gesorgt. Und nun sehe ich: Das, was wir damals im guten Glauben beschlossen haben, hat auch viel Kummer über die Menschen gebracht. Wenn man mir jetzt den Vorwurf machen will, ich würde mir nun eine solidarische Politik zusammenträumen, die ich selbst als aktiver Politiker nicht umgesetzt habe, dann kann ich dem nur entgegenhalten: Ja, ich will in dem mir verbleibenden Leben weiter lernen. Ich möchte selbstkritisch mit dem umgehen, was ich gemacht habe – und ich möchte auch Konsequenzen daraus ziehen. Ich kann mich, nun da ich nicht mehr in der Mühle der Tagespolitik stecke, auf handfeste Projekte konzentrieren und muss keine parteipolitischen Rücksichten nehmen. Aus solchen Projekten schöpfe ich heute meine Hoffnung: dass es viele kleine Taten sind, die zusammen eine Großtat ergeben. Was sind diese paar hundert Leute im Emsland, auf dem Ökohof in Papenburg, gegen die Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise? Nichts? Keineswegs. Sie sind ein Anfang!

1. Wie Solidarität zu meinem Lebensthema wurde

Was ist eigentlich Solidarität? Meine Antwort darauf hat mit einer Geschichte zu tun, die ich als kleiner Junge miterlebt habe. Es gab in unserer Kirchengemeinde St. Stephani in Bremen eine Familie Abraham, getaufte Juden. Der Vater ein einfacher, bescheidener Mann, ein Schuhmacher, die Mutter Hausfrau, dazu zwei Töchter in meinem Alter, Anni und Hedwig. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen und ihre rassistischen Gesetze durchsetzten, da wurden auch die vier Abrahams als Juden erfasst. Obwohl Christen, mussten sie den gelben Stern tragen. Diese Vier haben überlebt – in Bremen. Dabei wurden von über 1.400 Bremer Juden mehr als 700 nach Minsk, Auschwitz und in andere Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht.

Diese Vier haben überlebt, weil eine kleine Kirchengemeinde zusammengehalten hat. Dabei war die Gestapo ständig dabei, im Alltag der Gemeinde und im Alltag ihrer Mitglieder. St. Stephani war schon damals als Teil der Bekennenden Kirche und als eine linke, pazifistische Kirche bekannt. Die Opportunisten, die Deutschchristen, die für Hitler beteten, Hakenkreuzfahnen aufhängten, ihren Landesbischof Heinz Weidemann Naziparolen reden ließen und sie beklatschten, die saßen im Bremer Dom. Unser Pastor Gustav Greiffenhagen begrüßte jeden Sonntag die Gestapo-Leute von der Kanzel: „Liebe Gemeinde, dort sind die beiden Herren von der Geheimen Staatspolizei, die schreiben alles auf, was hier gesagt wird.“ Greiffenhagen hatte bei dem großen Theologen Karl Barth promoviert, war sein Assistent gewesen und wäre Professor geworden, wenn nicht die Nationalsozialisten seine Karriere beendet hätten. Weil die Kirche ihn nicht bezahlen wollte, übernahm das unsere Gemeinde – so wie es auch bei Dietrich Bonhoeffer der Fall war. Gustav Greiffenhagen hatte sechs Kinder. Und trotzdem war er fest davon überzeugt, die Schutzhaft, in die er durch seine NS-kritische Haltung geriet, auf sich nehmen zu müssen – für seine Kirche, die Verrat am Christentum beging und sich den Nationalsozialisten andiente. Er zeigte seine Verachtung für die Nazis offen und versammelte dadurch auch die Gemeinde hinter sich. Die Mitglieder haben auf ihn gehört; dabei waren sie nicht alle Helden. Sie haben auch gezittert – und sie hatten Grund dazu. Mein Vater und andere Kirchenvorsteher wurden von der Gestapo verhört und über Nacht festgehalten. Überzeugten, widerständigen Christen drohte die Deportation. Und: Sie wussten, was Konzentrationslager waren, sie wussten, was dort geschah. Greiffenhagen hatte es ihnen selbst gesagt.

Und doch hat diese Gemeinde bis zum Kriegsende alle Versuche, die Abrahams zu deportieren, abgewehrt. Hedwig, die später zur jüdischen Religion übertrat, den Namen Sara-Ruth annahm und heute Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Oldenburg ist, erzählt immer wieder, wie die Gemeindemitglieder sich vor sie und ihre Familie gestellt und gesagt hätten: „Ihr müsst uns alle deportieren, bevor ihr sie deportiert. Wir lassen nicht zu, dass sie von uns getrennt werden.“ Und solche Situationen gab es immer wieder – im Gottesdienst, bei Gemeindeversammlungen, bei Gemeindeabenden, aber auch bei uns oder den anderen Familien zuhause, wo die Vier ab und an unterkamen.

Als kleines Kind habe ich mir Hedwigs Mantel angezogen, weil ich wissen wollte, wie es sich anfühlt, einen Judenstern zu tragen. Und ich erinnere mich daran, dass unsere Mutter uns verbot, bei unserem Krämer mehr zu kaufen als sonst, wenn die Abrahams bei uns waren. Krämer Rehmstedt war Nazi und sie hatte Angst, dass er etwas bemerken könnte. Wir kleinen Bürschchen, wir mussten nicht nur alle den Mund halten, sondern wir mussten zum Einkaufen dann auch zum zweiten und dritten Krämer laufen. Und Einkaufen hieß bei uns anschreiben lassen, weil mein Vater so wenig Geld hatte. Seine ohnehin kleine Drogerie wurde von den Nationalsozialisten boykottiert, davor stand ein SA-Posten und sagte: „Kauft nicht bei dem, der ist gegen Deutschland.“

Diese Gemeinde wurde von sehr unterschiedlichen Menschen getragen. Von Geschäftsleuten und Intellektuellen, aber auch von Arbeitern und Angestellten. Die Stephani-Kirche lag damals in einem Arbeiter-Viertel, das Armenhaus befand sich direkt daneben. Erich Hase zum Beispiel, ein Buchhalter, war mutig genug, sich mit seiner Frau im kirchlichen Bruderrat zu engagieren. Ein schlichter Mann, aber fest im Glauben. Er wurde nach 1945 Verwalter der Gemeinde. Und es gab das linke Kinderarztehepaar Michaelis, das vor allem Arbeiterkinder medizinisch versorgte. Oder die Gerholds, Buchhändler und Antiquare. Die gaben einen Großteil dessen, was sie verdienten, sonntags in die Kollekte. Gottfried Gerhold hat mir später „Hitler, mein Kampf“ zum Lesen gegeben, sein persönliches Exemplar. Das Buch war voll mit handschriftlichen Notizen – „das ist Verbrechertum“, „das ist Aufruf zum Mord“, „das ist Völkermord“. Noch vor 1933 hatte dieser brave Buchhändler erkannt, was Hitler plante. Der hat all das gesagt, was sowohl Pius XII. als auch viele andere katholische, aber vor allem auch evangelische Kirchenfürsten nicht gesagt haben. In dieser Gemeinde gab es auch zwei Lehrerinnen, die mich stark beeindruckt haben. Magdalene Thimme, Altphilologin und Theologin, offene Gegnerin der Nazis, wurde 1938 aus dem Schuldienst ausgeschlossen. Meine Patentante, Elisabeth Forck, auch unverheiratet, hat in der Nazizeit Juden mit unglaublicher Energie, voller List und mit Hilfe von Unternehmern, die sie gewinnen konnte, gerettet. In der Nachkriegszeit wurde sie Oberstudiendirektorin und sollte mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt werden. Das hat sie mit den Worten abgelehnt: „Ich trage keinen Orden, den auch Hans Globke trägt.“ Diese kleine, zarte, kluge Frau. Sie wollte keine Auszeichnung, die auch dem späteren Staatssekretär Konrad Adenauers zuteil wurde, einem NS-Juristen, der an dem „Blutschutzgesetz“ der Nazis mitgeschrieben hatte. Elisabeth Forck begründete ihren persönlichen Einsatz für die Bremer Juden so: „Ich selber verstehe mich nur als eines der Glieder dieser Bekennenden Gemeinde, die jedes an seinem Teil versucht haben, das Gebot christlicher Nächstenliebe gerade an den am schwersten Bedrängten zu erfüllen. Aus Gewissensgründen ist es mir nicht möglich, für das, was ich für meine Christenpflicht halte, eine besondere öffentliche Auszeichnung anzunehmen.“ Die Stephani-Mitglieder hatten großen Mut und große Zivilcourage bewiesen. Aber eine Belohnung dafür? Ihre Solidarität war ihr trotz des Risikos eine Selbstverständlichkeit – und den vielen einfachen Leuten in der Gemeinde auch. In St. Stephani ging es nicht um Bildung und nicht um Besitz, sondern um Überzeugung. Und nur die Überzeugung der Stephani-Mitglieder – vom Arbeiter bis zur Intellektuellen – hat dieser christlich-jüdischen Familie das Leben gerettet.

* * *

Wie kommt es, dass die Haltung der Solidarität, die solche Geschichten möglich macht, heute so in Misskredit geraten ist? Bis in die achtziger Jahre hinein gab es gerade in Deutschland große soziale Bewegungen, wie die Dritte-Welt-, die Friedens- oder auch die Frauenbewegung, die vom Solidaritätsgedanken getragen wurden. Und davor war es die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, die unseren modernen Sozialstaat erst ermöglicht hat – die historische Leistung der vergangenen 200 Jahre. Doch Solidarität heute? Die Botschaft der Kirche – Nächstenliebe als Kern des Christentums – erreicht immer weniger Menschen. Solidarität ist eine Leerformel geworden, nicht zuletzt weil der Begriff durch inflationierten Gebrauch seines Kerns beraubt wurde. Wer sich an die Menschen wendet, egal, ob von links oder rechts, ob er Gewerkschaftssekretär ist oder Unternehmensverbandsfunktionär, trägt dieses Wort gern wie ein Legitimationsschild vor sich her. Und mancher, der an die Solidarität anderer appelliert, versucht von seinen eigentlichen Interessen abzulenken: So, weiter, bitte solidarisch! Beispiele gibt es genug. Ich denke da etwa an Bert Rürup, der zuerst als Regierungsberater der Privatwirtschaft den Markt in der staatlichen Rentenversicherung öffnet und dann bei einer privaten Versicherung anheuert. Rürup hat regelrecht einen strategischen Angriff auf die hundertjährige gesetzliche Sozialversicherung eingeleitet, begleitet, kommentiert, zum Teil hat er die Sätze des Reformpaketes mit formuliert. Dabei hatte er noch nicht einmal ein politisches Mandat. Als Berater hatte er einen größeren Einfluss auf die Regierung als die zuständige Fachministerin. Heute streicht Rürup die Rendite für sein politisches Handeln ein. Und das alles unter dem Deckmantel, die solidarische Alterssicherung retten zu wollen.

Ein anderes Beispiel: der Fall Aribert Galla. Galla, übrigens ein Sozialdemokrat, war Verwaltungsdirektor der größten kommunalen Bremer Klinik, des Zentralkrankenhauses in der Sankt-Jürgen-Straße. Ich war zweiter Bürgermeister und verwaltete 1986/1987 kommissarisch für ein knappes Jahr das Gesundheitsressort. Bald wurde klar, dass mit den Büchern der Klinik etwas nicht stimmte. Der Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft hat dann herausgefunden, dass dieser Aribert Galla über viele Jahre bei allen Bau- und Beschaffungsaufträgen für dieses Riesenklinikum Schmiergelder kassiert und diese Millionen auf ein Konto auf den britischen Kanalinseln verbracht hat. „Mister 10 Prozent“, hieß er damals. Zugleich war er ehrenamtlich beim Arbeitersamariterbund Ortsverbandsvorsitzender und hat in dieser Funktion die Leute angeödet bis zur Schmerzgrenze, dass sie bitte sehr mehr tun sollen für das Gemeinwesen, für die unterbezahlten Schwestern, für die armen Kranken und pflegebedürftigen Alten. Galla hat die Solidarität immer wie die Monstranz bei einer Prozession hochgehalten – und selbst mit unglaublicher Energie und Systematik in die eigene Tasche gewirtschaftet. Als alles aufflog, ist er untergetaucht. Wir haben ihn dann nur über Interpol fassen und zur Rechenschaft ziehen können.

Wer öfter erfahren hat, was das Heine-Wort – sie predigen öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein – bedeutet, der hat irgendwann keine Lust mehr hinzuhören. Als die Außerparlamentarische Opposition in den sechziger, siebziger Jahren „Hoch die internationale Solidarität“ skandierte, haben die Studenten da etwa an die türkischen Gastarbeiter, die keine menschenwürdige Unterkunft hatten, gedacht? Oder an die Asylsuchenden, die weltweiten Flüchtlinge? Nein, die APO wollte etwas ganz anderes: Sie wollte Stärke zeigen und internationale Macht erlangen. Das hatte nichts mit Teilen, Abgeben, Zusammenrücken zu tun. Solidarität war nur der Spruch oben drüber. Dabei war und bin ich überzeugt davon, dass internationale Solidarität notwendig ist. Aber hier wurde etwas instrumentalisiert, nach dem egoistischen Motto: Wer nicht mit uns marschiert, ist gegen uns.

Noch etwas kommt dazu: Solidarität und soziale Absicherung sind heute entpersonalisiert. Es werden Leistungen der Gesamtveranstaltung Staat abgerufen, auf die jeder einen Rechtsanspruch hat. Das ist eine Errungenschaft, ohne Frage. Aber gerade sie hat das persönliche Engagement eines jeden entbehrlicher gemacht. Vor dem Sozialstaat war Solidarität die existenzielle Begründung einer Gemeinschaft, heute ist sie eine nette Geste. Es ist durchaus gut angesehen, wenn ich mich in der Hospizarbeit oder in der Obdachlosenarbeit engagiere, wenn ich zu denen gehe, die einsam sind. Aber solidarisches Handeln wird nicht mehr als die existenzielle Basis empfunden, auf die unsere Gesellschaft aufbaut. Man hält es für eine Zutat – eine wichtige zwar, aber eine Zutat.

Dabei können wir uns „Solidarität als Zutat“ nicht leisten. Der Einzelne nicht, will er nicht verkümmern. Und die Gesellschaft nicht, will sie nicht auseinanderbrechen. Wir leben in einer hoch differenzierten, komplexen Gesellschaft, in der dieses Ich-bin-mein-eigener-Herr-und-ich-kümmere-mich-um-niemanden-sonst, nicht auf Dauer möglich ist. Wer sich in einer Gesellschaft verorten und auch nur einigermaßen mit seinem Alltag und seinen Lebensrisiken umgehen will, muss sich vernetzen. Wer das ablehnt, dem geht es wie einem früheren väterlichen Freund meiner Frau, einem erfolgreichen Bremer Unternehmer. Der saß bis zu seinem Tod allein in seiner großen Villa und hat mit Sicherheitsanlagen versucht, sich zu schützen. Mit Ausnahme eines Raumes hatte er überall sonst im Haus die Heizungen abgedreht und die Gardinen zugezogen. Er ließ niemanden mehr an sich heran – aus Angst, dass jemand seine Vermögensgegenstände, sein Silber, seine Möbel, seine Bilder mitgehen lassen würde. Das kann doch nicht die Perspektive sein!

Die Individualisierung, die die Medien so propagieren, die als chic gilt – „Mach dein Ding“, „Gib Gas“ – ist in Wirklichkeit nicht nur menschenfeindlich. Sie ist eine bedrohliche Sackgasse. Kein Mensch ist bei dir, aber du gibst Gas, Gas, Gas. Wenn ich bei meinen Vorträgen über die Einsamkeit im Alter rede, dann spüre ich, wie viele genau wissen, was diese Einsamkeit bedeutet und wie bedrohlich sie ist. Wie es ist, Stunde um Stunde vor dem Fernseher zu sitzen, diesem medialen Gefängnis, nur um sich von den eigenen Ängsten abzulenken. Wann ist die Gelegenheit, sagen zu können, wie es einem geht, oder wie einem zumute ist? Wo findet man das? Beim Arzt in der Sprechstunde? Beim Apotheker, beim Psychopharmaka-Einkauf? Das ist zu wenig. Wenn es dann mucksmäuschenstill ist im Saal, spüre ich: So mancher blickt jetzt in seinen eigenen Abgrund. Aber aus diesem Abgrund kann man sich befreien! Doch dazu muss man schon eine Hand ausstrecken und selbst aktiv werden. Wer die Zuwendung anderer erreichen möchte, muss ihnen erst einmal Vertrauen schenken.

Wer Vertrauen will, auf das er sich verlassen kann, muss etwas dafür tun. Solidarität pustet einem niemand mal einfach ins Haus. Dazu muss man sich vorher auf andere zubewegt haben. Und genau das meine ich mit Solidarität: hinsehen, sich kümmern, sich verantwortlich machen für andere, die Not des anderen zu seiner eigenen machen. Immer darauf hoffend, dass diejenigen, zu denen man gehalten hat, hinsehen und einen nicht allein lassen, wenn es einen selbst trifft. Solidarität ist kein schlichtes Tauschgeschäft. Aber je mehr Menschen sich solidarisch verhalten, desto mehr wird dieses Verhalten stilprägend. Und jeder sollte bedenken: Erst wenn Gegenseitigkeit vorhanden ist, kann ich auch meine eigenen Nöte, meine Einsamkeit, meine Hilfsbedürftigkeit, meine Verzweiflung, meinen Wunsch nach Nähe, meinen Wunsch nach Anerkennung und auch meinen Wunsch, wahrgenommen zu werden, einbringen. Solidarität ist die Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Das kann man nicht als Gutmenschentum abtun.

* * *

Ein Gutmensch war Carl Katz, Neubegründer der Bremer jüdischen Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht unbedingt. Aber ein erstaunlich solidarischer Mensch. Katz war der Bubis von Bremen: Ein Jude, der den Holocaust nur knapp überlebt hatte. Seine ganze Familie war umgekommen. Und obwohl ihm Deutschland alles genommen hatte, hat sich dieser Mann nach dem Zweiten Weltkrieg wieder für Deutschland entschieden. Carl Katz tat mehr, als nur wieder seine eigene Existenz in Bremen aufzubauen. Er sorgte dafür, dass die von den Nazis zerstörte Bremer Synagoge wieder neu errichtet wurde. Er organisierte einen Kantor und später auch einen Rabbi und hielt die kleine, versprengte Gemeinde zusammen. Dabei wurde er von vielen Bremern geschnitten. Denn er, der Jude, war der größte Schrotthändler der Stadt. Das war diffamierungsträchtig. Er war keiner, mit dem man sich auf dem Marktplatz sehen lassen wollte. Doch ausgerechnet dieser Außenseiter sollte zum Retter meines Patenonkels werden. Mein Patenonkel, Wollkaufmann, war in den Nachkriegsjahren zu einem der ersten Millionäre in Bremen aufgestiegen. Dieser Vorzeigeunternehmer hatte, als es mit ihm wirtschaftlich bergab ging, jahrelang als Kirchenvorsteher einer Innenstadtgemeinde Geld unterschlagen, um sein Geschäft zu halten. Er wurde erwischt und verurteilt. Als er nach etwa zwei Jahren aus dem Gefängnis kam, mit Mitte Fünfzig, wollte niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben. Es haben sogar einige seiner sechs Kinder Bremen verlassen, um nicht mehr mit dem Vater in Verbindung gebracht zu werden. Der einzige, der ihn wieder beschäftigt hat, als er aus dem Gefängnis kam, war Carl Katz. Dieser Mann hätte Grund gehabt, sich völlig anders zu verhalten. Erst verfolgt, dann verhöhnt und geschnitten. Aber dieser Mann gab meinem gefallenen Onkel als einziger eine Chance. Und so arbeitete mein Onkel bis zu seinem Tod als Katz’ Geschäftsführer im Schrotthandel, um den Unterhalt für seine klein gewordene Familie zu bestreiten.

Soziale Abstürze sind heute, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und der Wirtschaftskrise, an der Tagesordnung. Kann mir nicht passieren? Hab ich nicht nötig, die Solidarität anderer? Wer ehrlich ist, wird sich anderes eingestehen: Brüche gibt es in jeder Biografie. Jeder war oder wird einmal auf die Hilfe anderer angewiesen sein, darauf, dass jemand zu ihm hält.

In der Pubertät habe ich ganz heftig gestottert. Ich bin in der Schule blamiert worden, bin vor die Klasse gestellt worden, wusste zwar, was ich hätte sagen sollen, konnte es aber nicht. Irgendwann traute ich mich gar nicht mehr, den Mund aufzumachen. Und das als Pubertierender. Ich war ein Fall für den Suizid und hatte schon überlegt: Wie bringst du dich um? Ich werde nie vergessen, dass irgendwann in dieser Zeit mein jüngerer Bruder Michael aus Nähe zu mir auch anfing zu stottern. Das war meine Chance, unsere Chance. Wir haben uns untereinander ausgetauscht und versucht, gemeinsam da raus zu kommen. Wir haben es geschafft – ich letztlich durch einen Wechsel der Schule und er dadurch, dass er sah, wie ich das Stottern überwand.

Auch in meiner politischen Laufbahn war ich schon einige Male auf die Solidarität anderer angewiesen. Ich bin nie ein stromlinienförmiger Karrierepolitiker gewesen, also war ich immer gut für Attacken und Angriffe. Ich habe allein zwölf Untersuchungsausschüsse gegen mich überstanden – nicht nur im Bremer Stadtparlament, auch im damaligen Bonner Bundestag. Aber es haben immer auch andere zu mir gehalten, allen voran Hans Koschnick. Dabei hatte er regelrecht darunter gelitten, dass ich so ein unbotmäßiger Querkopf war. Als Bremer Bürgermeister und stellvertretender Parteivorsitzender der SPD unter Willy Brandt erwarteten alle von ihm, dass er mich diszipliniert. Aber er hat stets loyal zu mir gehalten. Er hat mir vor einem Jahr erst gesagt, dass er es wichtiger fand, dass ich authentisch blieb, als dass die Bonner sagten, der große Hans Koschnick habe seinen Laden im Griff. Wenn er mich zur Brust genommen hat, dann immer diskret. Er hat den Ärger immer abgefangen und mich immer fühlen lassen, dass ich geschützt werde.

Auch am 6. Mai 1980. Damals verfolgte Hans Apel, zu der Zeit Bundesverteidigungsminister, die fatale Idee, im Bremer Weserstadion eine Rekrutenvereidigung zu veranstalten. Ausgerechnet dort, wo die Nationalsozialisten ihre Soldaten vereidigt hatten! Aber der SPD-geführte Bremer Senat stimmte zu – hinter meinem Rücken. Alle wussten, dass ich, damals Sozial- und Jugendsenator, wie so viele einfache SPD-Mitglieder auch, gegen die Veranstaltung war. Das Gelöbnis wurde ein Desaster. 257 verletzte Polizisten und Soldaten, die Verwundeten unter den fast zehntausend Demonstranten haben sie gar nicht gezählt. Militärfahrzeuge standen in Brand. Und ich mit einem Häuflein Gleichgesinnter mittendrin. Wir wollten, was völlig gescheitert ist, bei der drohenden Eskalation vermitteln. Wir wollten dazwischen stehen und sagen, hier wird nicht geschlagen, hier wird nicht geschossen. Aber es kam anders: Die haben uns niedergemacht, die haben uns instrumentalisiert. Wir haben die Schlacht komplizierter gemacht, das genaue Gegenteil bewirkt von dem, was wir wollten. Mein Senatskollege Helmut Fröhlich, zuständig für die Polizei, hatte Polizisten aus Niedersachsen geholt. Und ich hatte Demonstranten aus Niedersachsen geholt, Jungsozialisten, Gewerkschaftsjugend und andere Friedensbewegte. Danach wollten natürlich alle, dass ich zurücktrete, so schnell wie möglich. Es gab zwei Untersuchungsausschüsse, in Bremen und in Bonn. Ich war entsetzt über die Gewalt, hatte sowohl von der Polizei als auch von Demonstranten Prügel bezogen. Ich habe dann vor den Ausschüssen gesagt, dass ich das nicht für mich getan hätte, sondern für die Zigtausenden, die sich einen friedlichen Verlauf der Demonstration gewünscht hätten. Und die sollten nun für die Gewalteskalation verantwortlich sein? Aber ich hatte mich angreifbar gemacht, weil ich einen Beschluss des eigenen Senats unterlaufen hatte. In der Woche darauf erklärte Gerhard Schröder, damals Bundes-Juso-Vorsitzender, auf einem Parteitag in Bremen in einer langen Rede, dass die Jungsozialisten hinter mir stünden. Dann kamen die Solidaritätsbekundungen der Kirchen, der Journalisten, vieler Parteimitglieder. So bin ich über die Runden gekommen. Damals habe ich mich getragen gefühlt.

Auch heute, in meinem Alltag als Rentner, trägt mich Solidarität. Zentral ist die glückliche Ehe mit meiner Frau. Selbst im Streit und wenn wir ganz anderer Meinung waren, haben wir uns nie verlassen. Wenn ich dieses Fundament nicht hätte, wüsste ich nicht, wo ich heute wäre. Dazu kommt meine Hausgemeinschaft, die ich immer „meine Alters-WG“ nenne. Wir leben nun schon seit 1988 zusammen und ich spüre immer wieder, dass ich der Exot, der Außenseiter bin, der wenig präsent im Haus ist und weniger Arbeiten und Mitdenken übernimmt. Aber meine Mitbewohner haben noch nie gesagt, jetzt reicht es uns mit dir. Das war selbst während meiner Regierungsjahre so. Und sie hätten Grund genug gehabt, mir als unbequemem Mitbewohner ihre Solidarität zu entziehen. Etwa, als vor unserem Haus gegen meine Politik demonstriert wurde. Nein, wenn sie mal anderer Meinung und mit mir unzufrieden sind, dann werfen sie mir nicht meine Sachen vor die Füße, sondern üben Kritik – aus Nähe und nicht aus Fremdheit oder Desinteresse. Sie tragen mich nicht nur, sondern sie halten mich.

* * *

Nicht nur unsere persönliche Umgebung, unsere gesamte Gesellschaft ist auf Solidarität gebaut. Doch eine große soziale Bewegung kann man nicht bestellen und Solidarität kann man nicht am Grünen Tisch beschließen. Wir haben lange Jahre der Individualisierung hinter uns. Ich bin überzeugt, dies war eine verlorene Zeit, aber ich habe auch das Gefühl, sie geht zu Ende. Zunehmend spüren die Menschen das soziale Gefälle, sie sehen die Not des Staates, dem sich immer mehr Reiche finanziell entziehen und der zugleich immer mehr Arme stützen muss. Und immer mehr Menschen haben, beschleunigt durch die Weltwirtschaftskrise, erkannt, dass der Neoliberalismus nicht die Antwort ist, nach der wir suchen. Die neunziger Jahre waren die große Zeit der Neoliberalen – Thatcher in Großbritannien, Reagan in den USA; in Schweden, Dänemark und Norwegen sind die Sozialdemokraten zu Boden gegangen. Selbst der Kanzler der rotgrünen Koalition, Gerhard Schröder, hat eine neoliberale Reformpolitik gemacht, um die damalige wirtschaftliche Wachstumskrise zu meistern. Doch was gab diese Zeit für eine Antwort auf die globalisierte Welt? Wir „bewältigen“ die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland mit staatlich geförderten Dividenden für Reiche? Wir bearbeiten das soziale Gefälle der Welt, indem wir nur um die Wachstumskrisen unserer Wohlstandsgesellschaften kreisen? Was für ein Armutszeugnis!



Ich gebe zu: Auch ich war im Sog der neoliberalen Reformpolitik. Ich ärgere mich bis heute, dass ich mich nicht gewehrt habe, als mein Finanzsenator und Vize-Bürgermeister Ulrich Nölle von der CDU sagte, wir verkaufen unsere Anteile an der Landesbank. Die Sozialdemokraten haben das damals abgenickt, weil in der Landesbank ohnehin nur CDU-Anhänger saßen. Das Land Bremen hat dann seine Anteile bis auf zehn Prozent an die Nord-LB verkauft. Zuvor hatten wir die Sperrminorität. Damals hätte ich natürlich sagen müssen, das ist doch nichts, was man privatisiert. Mit dem Blick zurück stellt sich eine solche Politik, wie ich sie damals mitgetragen habe, ganz anders dar. Ich bin überzeugt, dass auch die Dekade des Neoliberalismus nun ihrem Ende entgegen geht. Und am Beginn dessen steht eine bittere Erkenntnis: Wir haben den Neoliberalen geglaubt, und sie haben uns Jahrzehnte lang verladen mit ihren Ankündigungen über den Segen spekulationsgetriebenen Wachstums. Was wir erleben, ist ein Aufwachen, als würden wir die Fenster öffnen und sähen plötzlich die Realität da draußen. Und da draußen sind die entlarvten Spekulanten, unter ihnen manche, die strafrechtliche Großtaten begangen haben.



Dieser Erkenntnis folgt eine weitere: Die alten Antworten stimmen nicht mehr. Das Neusortieren hat erst mühselig begonnen. Bewegungen wie Attac sind bereits eine, wenn auch zaghafte Antwort auf diese – bislang – weltweit praktizierte neoliberale Wirtschaftspolitik. Die Sozialforen der Evangelischen und der Katholischen Kirche, ihre Forderung nach einer Globalisierung der Zivilgesellschaft, könnten eine richtungsweisende Antwort sein. Nur leider werden sie selbst bei kirchlichen Entscheidungen nicht gehört.

Bei alledem müssen wir auf eines achten: Dass die Angst vor den Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise und den sozialen Unsicherheiten uns nicht im Denken blockiert. Wir brauchen jetzt den Mut, aus diesem Desaster die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nicht ängstlich das Fenster schließen und die Krise Krise sein lassen. Nein, hinsehen und handeln.

* * *

Solidarität wirkt im Kleinen, in der Kirchengemeinde, in der Nachbarschaft. Solidarität kann aber auch Wirkung für eine Gesellschaft und darüber hinaus entfalten. Der Nationalstaat schützt uns nicht vor einer globalisierten Welt, also auch nicht vor einer Weltwirtschaftskrise. Deshalb müssen wir umdenken. Was sich draußen vor unserem Fenster abspielt, verändert die Qualität sozialstaatlicher Modelle. Wenn wir handlungsfähig sein wollen, müssen wir international denken. Wie wollen wir sonst mit der weltweiten Massenarbeitslosigkeit umgehen, die auf uns zukommt? Mit der Verarmung? Mit der Obdachlosigkeit? Im vergangenen Jahr wurden in den USA über drei Millionen Wohnungen und Häuser zwangsversteigert. Viele dieser ehemaligen Hausbesitzer leben nun in Zelten – und das in einem reichen Land. Ich kenne solche Zeltstädte aus eigener Anschauung aus Palästina. Diese Bilder aus den USA zeigen die Flüchtlingslager der Rezession.

Und weil diese Wirtschaftskrise unsere neue Wirklichkeit ist, müssen wir uns zusätzlich zu einer sozialstaatlichen Absicherung ein soziales Netz knüpfen. Wir können uns nicht allein auf den Staat verlassen, wir müssen Menschen finden, mit denen wir uns zusammentun können, die uns nicht hängen lassen, wenn uns Unrecht zugefügt wird und uns nicht allein lassen, wenn uns ein Unglück passiert und wir nicht mehr weiter können. Eines dürfte sicher sein: Solidarische Gesellschaften werden diese Krise besser überstehen, als sozial entflochtene, deren Mitglieder sehen müssen, wo sie bleiben.

Diese Krise, so beängstigend sie mit ihren Verteilungsungerechtigkeiten und Bedrohungen ist, kann eine Chance sein! Und sie wird Neues entstehen lassen, selbst in einem so stark regulierten Bereich wie der deutschen Arbeitswelt: Da sammelt ein Solidaritätskomitee über tausend Unterschriften gegen die Kündigung einer Altenpflegerin, die ihren Arbeitgeber wegen unmenschlicher Zustände in seinem Heim angezeigt hat. Da demonstrieren Studenten, Gewerkschafter und völlig unbeteiligte Arbeitnehmer vor dem Berliner Arbeitsgericht, weil eine Verkäuferin sich an Streiks beteiligte und prompt per Verdachtskündigung an die Luft gesetzt wird: Angeblich soll sie für 1,30 Euro Pfandbons eines Kunden gestohlen und eingelöst haben – nach 31 unbescholtenen Berufsjahren. Nein, die Solidarität ist nicht tot. Es gibt immer wieder neue und auch riskante Fälle, in denen Menschen beigestanden wird, denen Unrecht widerfährt.



Im vergangenen Jahr war ich in Sri Lanka, einem Bürgerkriegsland, seit zwanzig Jahren von Singalesen und Tamilen umkämpft. Der schreckliche Tsunami von 2004 erschien dort nur als ein zusätzliches Unglück, so desaströs ist das Leben. Doch auch in Sri Lanka gibt es Menschen, die sich nicht von diesen traurigen Zuständen entmutigen lassen. Zum Beispiel Kumari, die Ehefrau eines Plantagenbesitzers, die ich über einen Bremer Reeder kennengelernt habe. Sie sammelt auf den weit abgelegenen Teeplantagen in den Bergen Sri Lankas die alleingelassenen Kinder der Teearbeiter ein und betreut sie. Mitten im Busch versucht sie, die Kinder zusammenzuhalten. Sie bringt ihnen bei, sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei bezieht sie die Eltern, die auf den Plantagen arbeiten müssen, und auch die anderen Familienmitglieder mit ein. Mehrere Großmütter helfen ihr dabei, die Krippe, Vorschule und Schule zu organisieren. Kinder jeden Alters – vom Baby bis zur 14-Jährigen – werden mit Essen versorgt, mit kleinen Spielen und Basteln beschäftigt und nehmen am Schulunterricht teil, sobald sie alt genug dafür sind. Kumari verhält sich nicht wie die Damen der singalesischen Upperclass, die das Elend vor ihrer Tür nicht sehen wollen. Sie packt an. Durch ihren persönlichen Einsatz lindert sie Leid in ihrer unmittelbaren Umgebung: einfache, gelebte Solidarität.

Oder mein Freund Johnny Carrasco Cerda in Chile, katholischer Theologe, heute Bürgermeister in Pudahuel, einem der ärmsten Stadtteile in Santiago mit mindestens 400.000 Einwohnern. Im Widerstand gegen Pinochet wurde dieser Stadtteil ein Heldenviertel, doch was mussten die Menschen dort alles für Leid aushalten – die vielen Verschwundenen, die vielen Gefolterten. Johnny hat dieses Viertel im Grunde gerettet. Er hat die Bewohner zusammengebracht und ihnen Mut gemacht, sich gegenseitig zu helfen, zu schützen und zu vertrauen. So hat er es den Menschen in diesem Viertel ermöglicht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er wohnt selbst in diesem armen Viertel, er lebt Zusammenhalt und Solidarität. Auch er ist keiner, der nur redet.



Menschen wie Kumari und Johnny gibt es auf der ganzen Welt viele. Sie sind für mich die Hoffnungsträger. Wenn ich meinen Kindern versucht habe zu erklären, warum ich Politik mache und zwar für die SPD – und die haben das öfter hinterfragt – dann habe ich ihnen nicht von meiner Bürgerschaft erzählt, nicht von den Regierungsgeschäften und nicht von meinen Ministerpräsidenten-Kollegen, sondern von Menschen wie diesen. Und habe gesagt: Das ist real, kein Theater, keine Propaganda. Fahrt da mal hin, dann seht ihr, was möglich wird, wenn Menschen sich solidarisch verhalten.

Und das haben sie getan. Heute sind alle drei politisch engagiert, vor allem international.

Über meine Tochter Julia sind meine Frau und ich überhaupt erst zu unserem sozialen Engagement in Nicaragua gekommen. Julia hatte dort 1981, zwei Jahre nach der sandinistischen Revolution, als Austauschschülerin gelebt. Hätten wir nicht den Kontakt zu ihrer Gastfamilie gehabt und über diese Familie die Nöte im Land kennen gelernt, wer weiß, ob wir uns heute dort für das Projekt „Pan y Arte“, zu deutsch „Brot und Kunst“, einsetzen würden. Mit diesem Verein, zu dem wir auch eine Stiftung gegründet haben, betreuen wir verschiedene Projekte – etwa Musikerziehung für Kinder in den Armenvierteln des Landes oder ein Dorf, das für 1300 Menschen gebaut wurde, die durch einen Hurrikan obdachlos geworden sind. All dies ist angestoßen worden, weil unsere Tochter, die heute das Asienreferat der Heinrich-Böll-Stiftung leitet, damals gesagt hatte: Hier gibt es so viel zu tun.

Auch die anderen beiden setzen sich für andere ein. Unser Sohn Christian hat in den achtziger Jahren als Freiwilliger des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge in Costa Rica in Flüchtlingslagern gearbeitet. Dort hat er mit den Menschen, die aus Nicaragua geflüchtet waren, Lehmöfen gebaut, damit sie nicht auf Lagerfeuern kochen mussten. Bald musste er feststellen, dass diese Flüchtlinge keine von der CIA aufgehetzte konservativen Rechten waren, wie es unter Linken immer hieß. Es waren Menschen, die unter Unrecht gelitten hatten. Er hat dort viel gelernt, nicht nur über Schwarz-Weiß-Denken, sondern auch über einfache Hilfe im Alltag. Christian ist heute das, was man einen Internationalisten nennt. Da passt es, dass er einen international arbeitenden Forschungsverbund in Hamburg leitet.

Meine große Tochter, Caroline, hat Ende der Neunziger zwei Jahre in Gambia als Gynäkologin gearbeitet. Im ersten Jahr hat sie in der Hauptstadt Banjul gelebt und am städtischen Victoria-Hospital gearbeitet. Im zweiten Jahr hat sie für ein Forschungsprojekt der University of Wales über 1.000 Frauen auf Gebärmutterhalskrebs untersucht. Damals ging es darum, zu belegen, dass ein Virus Auslöser dieser Krebserkrankung ist. Und das hat sich auch bewahrheitet. Heute engagiert sie sich für die gesundheitliche Versorgung von Migranten und Flüchtlingen und für eine feministische Vereinigung von Gynäkologinnen in Großbritannien.

Diese internationalen Erfahrungen haben uns auch als Familie zusammengehalten. Dass wir diese Wir-Erfahrung geteilt haben, dieses nicht Weggucken, nicht zur Tagesordnung und das Elend anderer übergehen und Gas geben und Hauptsache, ich komme durch und die anderen sind egal – das hat sie motiviert. Und ich bin stolz auf meine Kinder – auch auf das, was sie beruflich erreicht haben, aber vor allem auf ihr soziales Engagement, auf ihre Bereitschaft, sich für andere Menschen einzusetzen und mit anderen Menschen zusammen Notlagen zu bewältigen.

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Wenn Solidarität unter so schwierigen Bedingungen wie in Sri Lanka oder Chile, in Gambia oder Nicaragua möglich ist, warum soll sie dann nicht bei uns möglich sein? Solidarität beginnt im Alltag, im Kleinen. Und etwas, woran man anknüpfen kann, findet jede und jeder. Solidarisch sein heißt pragmatisch sein, praktisch zu denken und zu handeln.