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Roland Kachler



Meine Trauer geht – und du bleibst

Wie der Trauerweg beendet werden kann

KREUZ

Für meinen Sohn Simon

– der bei einem Unfall viel zu früh sein Leben verlor –

in unendlicher Liebe

2. Auflage 2009



© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2009

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de



Umschlaggestaltung: Bergmoser + Höller Agentur, Aachen

Umschlagfoto: © Bruce Heinemann / getty images



Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-7831-8016-9

ISBN (Buch) 978-3-7831-3323-3

Meine Trauer um dich darf gehen – meine Liebe zu dir wird bleiben

Wann endlich geht meine Trauer? Kann ich etwas dafür tun, damit sie milder wird? Aber darf ich meine Trauer verabschieden? Verliere ich dann nicht meinen geliebten Menschen?

Diese Fragen stellen sich dem Trauernden gegen Ende des Trauerweges. Wir werden in diesem Buch lernen, unseren Weg der Trauer behutsam zu einem guten Ende zu führen. Das aber können wir nur, wenn wir wissen, dass der geliebte Mensch sicher an seinem guten Ort und in uns selbst geborgen ist. Nun kann der Trauerweg sein Ende finden. Der Liebes- und Beziehungsweg zum Verstorbenen darf und kann weitergehen.

Den geliebten Menschen im Äußeren gehen lassen – und ihn in der Liebe bewahren

Nicht der Abschied ist der Anfang des Trauerweges, sondern die Entdeckung der Liebe in der Trauer. Trauerarbeit ist die Arbeit der Liebe, den geliebten Menschen nicht verloren zu geben, sondern für ihn einen guten, sicheren Ort zu finden. Mehr und mehr spüre ich dann, dass der geliebte Mensch auch in mir geborgen, gehalten und auf neue Weise lebendig ist. Erst dann kann ich auch realisieren und akzeptieren, dass er hier in der äußeren Realität nicht mehr da ist und nicht mehr kommen wird. Ich kann ihn an seinen guten, sicheren Ort gehen lassen und ihn dort sein lassen.

Das ist der Kern meines gänzlich neuen Ansatzes in der Trauerarbeit. Die Trauer ist nichts anderes als der Liebesschmerz. Trauer ist Liebe angesichts des Verlustes. Trauerarbeit ist eigentlich und im tiefsten Kern Liebesarbeit. Am Anfang steht die schmerzende, trauernde Liebe, die allmählich ihren Schmerz und ihre Trauer in sich hineinnimmt und löst.

In diesem Prozess findet die Liebe selbst eine neue Form der Beziehung zum abwesenden geliebten Menschen. Deshalb steht auch am Ende des Trauerweges nicht das Loslassen des Verstorbenen, sondern eine neues, inneres Leben mit dem Verstorbenen. Am Ende dieses Wandlungsprozesses von der Trauer als Liebesschmerz zur nicht mehr schmerzenden Liebe können wir auch die Trauer selbst loslassen.

Die Trauer verabschieden – nicht den geliebten Menschen!

Im Trauerprozess geht es um einen wesentlichen Abschiedsprozess, der in der bisherigen Trauerliteratur nicht beachtet und eigens thematisiert wurde. Es ist der Abschied von meiner Trauer. Die Trauer darf gehen, wenn sie mir geholfen hat, meinen geliebten Menschen im Verlust wiederzufinden, ihn an seinen sicheren Ort zu bringen und ihn in meiner Liebe zu halten.

Nun kann ich meine Trauer würdigen, und ich kann ihr – so schwer es mir auch fällt – danken. Und nun kann auch die Trauer ihrerseits gehen. Dass diese nicht leichte Beziehung zwischen mir und meiner Trauer schwer zu lösen ist, ist ganz normal. Wir werden hier die Klippen und Schwierigkeiten in diesem Abschiedsprozess genauso anschauen wie die Lösungsschritte. So ist dieses Buch eine Anleitung zum Loslassen der Trauer.

Nicht in der Trauer, sondern in der Liebe bleibe ich mit dem Verstorbenen verbunden

Bin ich anfangs im Schmerz und in der Trauer mit meinem geliebten Menschen verbunden, so ist es nun die Liebe selbst, in der ich meinem geliebten Menschen nahe bin. Wie aber leben wir nun die Liebe ohne die Trauer? Geht sie nicht verloren in der Routine, in der Gedankenlosigkeit und im Vergessen der vergehenden Zeit? Wie jede Liebe braucht auch unsere Liebe zum Verstorbenen ihre eigene Fürsorge und Pflege. Wir werden sehen, wie wir unsere Liebe lebendig halten können und wie unser geliebter Mensch uns dabei entgegenkommt. Manchmal brauchen wir auch noch einmal die Trauer in Form der Sehnsucht und Wehmut, um unsere Liebe wieder stärker in unser Bewusstsein treten zu lassen. So ist diese Buch auch eine Anleitung, wie wir die Liebe zum geliebten Menschen bewahren können, wie wir in ihr leben können und wie uns der Verstorbene auch auf lange Zeit nahebleibt.

Wie die Liebe zum Verstorbenen leicht und frei werden kann

Am Beginn des Trauerweges ist unsere Liebe eine schwere, tiefe Liebe im Schmerz. Wir brauchen sie in dieser Form, weil nur sie sich dem Tod unseres geliebten Menschen widersetzen kann, weil nur sie stark ist wie der Tod. Auf dem Trauerweg wandelt sich diese schwere Liebe und gewinnt eine Seite, die auch zu ihr gehört und gehören darf. Es ist die leichte und heitere Seite der Liebe, die sich wie ein Schmetterling erhebt und leicht in den Lüften fliegt. Wir werden sehen, dass diese Liebe dem Wesen des Verstorbenen in seiner neuen Seinsweise entspricht. Leicht wie ein Engel ist auch er und deshalb darf die Liebe leicht und luftig, schwebend und fliegend sein. Wir bleiben dennoch verbunden, weil beide es aus Liebe heraus wollen. Aber weil wir es aus der Liebe und nicht mehr aus dem Schmerz heraus wollen, ist es auch eine freie Liebe, die beiden – mir und dem Verstorbenen – erlaubt, das eigene Sein zu leben.

Wie ich wieder Glück finden kann – mit dem geliebten Menschen in mir

Am Ende des Trauerweges darf ich mich noch einmal für das Leben, nämlich für mein Leben entscheiden. Freilich ist es ohne meinen geliebten Menschen ein anderes Leben. Und doch kann ich es wieder zu meinem Leben machen, zu dem der geliebte Mensch auch immer gehört. Ich kann noch einmal in der ganzen Fülle mein Leben gestalten, weil ich darin von meinem geliebten Menschen gesegnet bin. Und ich kann in meinem Leben auch wieder Glück finden. Im Glück bin ich meinem geliebten Menschen so nahe wie in der Trauer, weil er ein in mir eingewobener Teil ist. Mein Leben ist deshalb immer auch sein Leben, mein Glück auch sein Glück.

Ich darf mich auf mein Leben und mein Glück auch noch einmal ganz einlassen, weil ich durch den Tod meines geliebten Menschen schmerzlich erfahren habe, dass es begrenzt ist. So kann ich mir und meinem geliebten Menschen sagen, dass ich noch eine Weile ganz und glücklich lebe und dann auch komme.

Ich kann hoffen, dass ich dann ganz und endlich mit meinem geliebten Menschen in der Liebe verbunden sein werde. So ist der Lebensweg nach dem Trauerweg immer auch ein Weg zu meinem geliebten Menschen mit einem besonderen Ziel, das sich so in einem rituellen Satz formulieren lässt:

»Dann wir beide in der Liebe«.



Roland Kachler

Hinweis zu den Impulsen und Imaginationen

In den Impulsen und Imaginationen werden die Grundgedanken des Buches vertieft und weitergeführt. Sie sind also wichtiger und integraler Bestandteil des Buches und sind wie die anderen Abschnitte Ihrer Lektüre empfohlen. Sie brauchen nicht jede Übung durchzuführen und können auch erst nach dem ersten Lesen entscheiden, welche Übungen Sie durcharbeiten möchten. Auch die einfache Lektüre der Impulse und Imaginationen wird Sie auf Ihrem Trauerweg und in Ihrer Suche nach einer inneren Beziehung zu Ihrem verstorbenen Angehörigen begleiten und unterstützen.

Zugleich sind die Impulse und Imaginationen konkrete Anregungen für die eigene Trauerarbeit. Alle Impulse und Imaginationen in diesem Buch können von Ihnen eigenständig durchgeführt werden. Tun Sie das so, wie es für Sie und Ihre besondere emotionale Situation stimmig ist. Wenn Sie eine Abwehr gegenüber einem einzelnem Impuls oder einer Imagination spüren, dann folgen Sie Ihren Gefühlen und übergehen diese Übung. Nicht jede Übung passt genau in Ihre gegenwärtige Situation. Zwingen Sie sich deshalb nicht zu den Übungen. Sie sind als Vorschlag und Einladung gedacht.

In den Impulsen werden rituelle Sätze vorgeschlagen, die Ihnen helfen, Ihre Gefühle in Worte zu fassen und eine innere Beziehung zu Ihrem verstorbenen Angehörigen zu entwickeln. Diese für die Trauerliteratur gänzlich neuen Formulierungen entfalten ihre Wirkung durch eine ritualisierte und rhythmisierte Form. Sie werden so zu einer sehr einfachen und elementaren, aber verlässlichen und sicheren Hilfe in Ihrer Trauer. Es ist zunächst sinnvoll, dass Sie diese Sätze für sich so übernehmen, sie leise und laut sprechen, sie schreiben oder memorieren. Sie werden entdecken, dass die Sätze für Sie in Ihrem Trauerprozess zu inneren, heilsamen Begleitern werden. Sie können die vorgeschlagenen Formeln auch entsprechend Ihren Wünschen verändern und eigenständig weiterentwickeln.

Die Imaginationen greifen Ihre Gefühle und inneren Bilder in der Trauer und in der Liebe zu Ihrem Angehörigen auf. Zugleich beziehen sie sich auf Symbole und Bilder aus den Tiefenschichten unserer Seele und lassen die innere Weisheit der Seele zur Geltung kommen. Auch wenn bei der Durchführung der Imaginationen noch einmal die Trauer und der Schmerz heftig aufsteigen, entfalten die vorgeschlagenen Imaginationen eine heilsame Wirkung.

Wenn Sie wenig Erfahrung mit Imaginationen besitzen oder zurzeit keinen Zugang zu dieser Methode finden, können Sie sich die inneren Bildreisen langsam und laut vorlesen. Lassen Sie die Bilder dann nachklingen, denken Sie immer wieder an die Bilder oder lassen eigene Bilder dazu aufsteigen. So gewinnen Sie die nötige Sicherheit, um sich allmählich intensiv auf die Imaginationen einzulassen und sie wie vorgeschlagen durchzuführen.



Die Übungen dieses Buches ersetzen keine psychologische Begleitung (wie Seelsorge, psychologische Beratung oder Psychotherapie), die bei schweren Verlusten zu empfehlen ist. Beim Tod des Angehörigen durch Suizid ist eine psychotherapeutische Begleitung dringend anzuraten.

Teil I
Was es mir schwer macht, meine Trauer gehen zu lassen – und wie es mir dennoch gelingen kann

Bruchteil



Wenn ich

ich sage

meine ich auch

dich ohne den ich nicht

singen könnte

meine Trauer

die auch Freude ist

an unserem Zusammenspiel



Bruchteil

meines bestürzenden

Überlebens



Rose Ausländer

Was ist das eigentliche Ziel des Trauerprozesses? In meinem Traueransatz ist es nicht das übliche, in der Trauerpsychologie immer wieder genannte und geforderte Ziel, den geliebten Menschen »loszulassen«. Im Gegenteil: Im Verlauf meines Trauerweges finde ich eine neue, intensive Beziehung zu meinem geliebten Menschen. Der Schmerz und die Trauer zeigen mir unerbittlich, dass die Liebe in der äußeren Realität nicht mehr konkret gelebt werden kann. Aber die Trauer und die Liebe in der Trauer eröffnen eine neue Form des Liebens. Dazu sucht und findet die Trauer für unseren geliebten Menschen einen sicheren Ort, an dem er auf seine neue Weise sein und leben kann (vgl. mein erstes Buch »Meine Trauer wird dich finden«, Stuttgart 2005, S. 39 ff.). Über diesen sicheren Ort kann ich dann diese Beziehung zu meinem geliebten Menschen leben.

Ist dies erreicht, dann kann und darf die Trauer (!) gehen. So ist die Lösung der Trauer ein Ziel im Trauerprozess. Ich kann und darf dann meine Trauer loslassen und sie verabschieden. Ich kann dann in mein Leben, in dem nicht mehr die Trauer die zentrale Rolle spielt, zurückkehren. Zu diesem Leben gehören der Verstorbene und meine Liebesbeziehung als ein wesentlicher und integraler Teil.

Allerdings gibt es auf dem Weg, die Trauer loszulassen, immer wieder Hindernisse. Dann bleibt die Trauer länger, als sie es von sich aus selbst wollte. Manchmal verhindern wir selbst bewusst oder unbewusst, dass die Trauer überhaupt gehen kann. Welchen Sinn haben diese Blockaden? Wollen und können wir sie lösen? Was ist erforderlich, damit wir diese schwierigen Klippen überwinden und dann unsere Trauer verabschieden können?

1. Noch hält mich meine Trauer –
und ich achte sie

Trauernde: Meine Trauer sitzt auf mir immer noch wie …

Trauerbegleiterin: Wie? Welches Bild fällt Ihnen dazu ein?

Trauernde: Wie ein Raubvogel mit großen Klauen.

Trauerbegleiterin: Noch sind Sie von der Trauer besetzt.

Trauernde schweigt.

Trauerbegleiterin: Und es gibt für Sie kein Entkommen aus der Trauer.

Trauernde: Ja, auch wenn ich mir das manchmal wünsche.

Trauerbegleiterin: Dann sehnen Sie sich danach, dass der Trauervogel seine Krallen löst und irgendwann davonfliegt.

Trauernde: Und doch kann ich mir das noch gar nicht vorstellen.



Nötig ist die Macht der Trauer – in ihr wohnt die Macht der Liebe

Wer einen geliebten Menschen verliert, der trauert anfangs in und mit seinem ganzen Körper. Die Trauer ist allmächtig und hat uns gänzlich im Griff. Der Satz »Ich trauere« stimmt deshalb nicht ganz. Genauer müsste man sagen: »Es trauert mich«, oder noch exakter: »Die Trauer trauert mich«. Das ist am Beginn der Trauer ganz normal und wird lange so bleiben. Auch wenn später die Intensität der Trauer abnimmt und es immer wieder Zeiten ohne Trauer gibt, bleibt sie doch gegenwärtig.

Warum tragen wir diese schlimme und scheinbar unendlich lange dauernde Trauer in uns? Warum ist sie in dieser Intensität überhaupt nötig? Warum ist die Trauer so lange da und kommt immer wieder neu wie in großen Überfällen? Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe.

Zum Ersten zeigt uns die Intensität der Trauer die Größe des Verlustes an, der uns mit dem Tod unseres geliebten Menschen zugemutet wird. Im Verlustschmerz spüren wir, wie groß die Leere ist, die das Ausbleiben und die Abwesenheit des geliebten Menschen in unserer Seele zurücklässt. Der Verlustschmerz legt offen, wie groß die Wunde ist, die in unserer Seele und in unserem Herzen klafft. Zugleich spüren wir im Schmerz den geliebten Menschen. Dies gleicht dem Erleben beim »Phantomschmerz«, bei dem wir den fehlenden Körperteil schmerzend wahrnehmen. Im Schmerz ist der Verstorbene nicht nur abwesend, sondern brennend und schmerzend anwesend. In der brennenden, geradezu rasenden Sehnsucht bricht sich die Liebe in der Trauer ihre Bahn. Der Kern der Trauer und ihre innerste Glut ist die Liebe zum Verstorbenen.

Die Trauer ist also nicht nur das Gefühl für die äußere Abwesenheit, sondern zugleich auch das Gefühl für die innere Anwesenheit des Verstorbenen. Die Trauer ist die emotionale Reaktion auf den realen Verlust des geliebten Menschen und auf seine Abwesenheit. Sie ist aber auch ein Beziehungsgefühl, in dem der Trauernde den Verstorbenen spürt und eine innere Nähe zu ihm erlebt. Diese Dimension wurde in der bisherigen Trauerliteratur vollständig übersehen. Die Trauer wurde einseitig als Abschieds- und Verlustemotion verstanden. Diese Sicht greift aber nach meinem Verständnis und in dem von mir vertretenen Traueransatz viel zu kurz. Die Trauer will viel mehr. Sie hat nämlich – wie alle anderen Gefühle – auch eine Beziehungsdimension. Sie will, dass der Trauernde die innere Beziehung zum Verstorbenen findet und bewahrt. Die Trauer will die Liebe zum Verstorbenen von der äußeren in eine innere Beziehung wandeln. Dazu braucht es die Trauer!



Zum zweiten übernimmt die Trauer die Macht in unserer Seele, weil uns niemand anderes besser in der Situation eines unendlich großen Verlustes zeigen kann, was jetzt angemessen ist. Die Trauer gibt uns jetzt auf dem Trauerweg vor, was unsere Seele zu tun hat. Dem können wir uns nicht entziehen. Die Trauer macht mit uns nun das, was getan werden muss, ob wir es wollen oder nicht, ob wir es mehr bewusst oder mehr unbewusst tun. Die Trauer selbst weiß, was für uns in der Situation der Trauer richtig und gut ist. Zuerst weist uns die Trauer an, den unendlichen Schmerz zu spüren und ihn zuzulassen. Sie will, dass wir über den Verlust und um den Verstorbenen klagen. Sie zeigt uns aber auch, wer im Mittelpunkt unseres Fühlens und Denkens steht, nämlich der Verstorbene.

Die Trauer braucht ihre eigene Zeit

Deshalb hat die Trauer ihre ganz eigene Zeit und sie braucht ihre – manchmal unendlich scheinende – Zeit, in der sie im Leben des Trauernden präsent ist. Immer wieder fragen Trauernde: »Wie lange dauert die Trauerzeit?« Natürlich gibt es darauf klassische Antworten wie die, dass sie mindestens ein Jahr dauert. Aber schon für den Verlust eines Kindes stimmt diese Zeitangabe überhaupt nicht, ebenso wenig für den Verlust eines Partners oder einer Partnerin nach einer intensiven und lang dauernden Beziehung. Die Trauer lässt sich nicht beschleunigen oder abkürzen, wollen wir ihr nicht Schaden zufügen. Die Trauer beharrt auf ihrer eigenen Zeit, in der sie ihre ganz besonderen Aufgaben für uns tun will. Und weil alle tiefgreifenden seelischen Prozesse langsame Wachstumsprozesse sind, braucht die Trauer ihre eigene Zeit und bestimmt letztendlich, wann sie gehen will.

Viele Trauernde fragen: »Wann wird es mir besser gehen?« So verständlich diese Frage ist, so steckt in ihr doch ein Missverständnis der Trauer. Natürlich ist die Trauer schmerzlich und belastend, und natürlich geht es uns mit dem Tod des geliebten Menschen unendlich schlecht. Und wie alle unangenehmen Gefühle möchten wir auch die Trauer und den Schmerz loswerden und beenden. Doch dagegen wehrt sich die Trauer zu Recht. Sie wehrt sich dagegen, als belastend oder als schlecht bewertet zu werden. Und wenn wir die Trauer zum Beispiel im Weinen zulassen, spüren wir auch die Erleichterung. Die Trauer fließt dabei ab und nimmt einen Teil des Schmerzes mit sich. Deshalb beharrt sie darauf, dass sie jetzt da sein will und da sein muss. Erst wenn sie ihre Aufgaben in unserer vom Verlust getroffenen Seele gelöst hat, erst dann wird sie sich allmählich verabschieden.

Der Trauer die Ehre geben und sie würdigen

Wie sollen wir uns nun unserer Trauer gegenüber verhalten? Wie sollen wir mit ihr umgehen?

Zuerst müssen wir ihr erlauben, dass sie in aller Ruhe ihre Arbeit tun darf. Die Arbeit, die sie für uns und für unsere Beziehung zu unserem geliebten Menschen übernimmt, ist es, die Liebe zum Verstorbenen trotz des Verlustes stark werden zu lassen. Deshalb darf die Trauer weiter da sein, und unsere Aufgabe als Trauernde ist es, in ihr immer wieder die Liebe zum Verstorbenen zu spüren. Wir sollten sie daher immer wieder neu begrüßen und willkommen heißen, auch wenn wir dabei immer wieder den Schmerz spüren. Wenn wir unsere Trauer in ihrer Arbeit sehen und würdigen, wird sie selbst zu einer Begleiterin auf einem schweren Weg. Sie wird zu einer Weggefährtin, die uns den Weg zu unserem geliebten Menschen zeigt. Angesichts der äußeren Abwesenheit unseres geliebten Menschen kann es keine bessere und größere Aufgabe geben.



2. Wenn meine Trauer alte Lebensthemen wachruft

Trauernde: Der Tod meines Mannes tut nicht nur sehr weh, sondern er hat mich tief getroffen

Trauerbegleiter: Bis in Ihren innersten Kern!?

Trauernde: Ja, ich denke: Wieder einmal hat es mich erwischt.

Trauerbegleiter: Wieder einmal?

Trauernde: Mir passieren immer die schlimmsten Dinge.

Trauerbegleiter: Das scheint eine häufige Lebenserfahrung von Ihnen zu sein?

Trauernde nickt nachdenklich.

Trauerbegleiter: Und zugleich höre ich fast so etwas wie eine

Erwartung, dass Ihnen schlimme Dinge zustoßen.

Trauernde: Und der Tod meines Mannes bestätigt das nur.

Trauerbegleiter: Er scheint ein altes Lebensthema zu berühren. Wie kommt dieses Thema immer wieder vor in Ihrem Leben?

Trauernde: Das kenne ich schon seit meiner Kindheit. Mein geliebter Großvater ist schon gestorben, und dann haben sich meine Eltern getrennt.

Trauerbegleiter: Verluste und Abschiede ziehen sich wie ein roter Faden durch Ihr Leben?

Und plötzlich sind meine alten Lebensthemen da

Der Tod eines geliebten Menschen löst nicht nur intensivste Trauer und Schmerz aus, sondern er berührt auch alte Lebensthemen. Der Verlust trifft uns im Innersten unserer Persönlichkeit, in der auch unsere wichtigsten Lebenserfahrungen und Lebenseinstellungen verankert sind.

Unsere Lebenserfahrungen und die daraus resultierenden Lebenseinstellungen formen sich seit unserer frühesten Kindheit zu Grundgefühlen und Sätzen über das Leben, über die Welt und über die eigene Person. Wir nennen diesen Komplex unserer Grundüberzeugungen das »Lebensskript«. Dieses gibt uns unbewusst vor, wie wir die Welt und uns selbst erleben und verstehen sollen. Wir sehen das, was uns dann im Leben zustößt, mit der Brille des Lebensskriptes. Die Idee vom Lebensskript wurde von Eric Berne, dem Begründer der Transaktionsanalyse, in die Psychotherapie eingeführt und hat sich als wichtiges Konzept bewährt.

Ein häufiges Skript heißt zum Beispiel: »Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden«. Als Kind hat dieser Mensch erlebt, dass er von einem oder beiden Elternteilen immer wieder übersehen, benachteiligt und schwer kritisiert wurde. Oft gab es auch keine körperliche Zuwendung und Nähe. Vielleicht war die Familie von einem distanzierten und unterkühlten Klima geprägt. Das Kind hat wenig Zuneigung gespürt und hat diese richtige Wahrnehmung dann auf sich bezogen: »Es muss an mir liegen, dass ich nicht geliebt bin. Ich bin es einfach nicht wert, geliebt zu werden.« Als Jugendlicher und als Erwachsener überträgt dann dieser Mensch die Einstellung und das Gefühl »Ich bin nicht wert, geliebt zu werden« auf alle Beziehungen. Er unterstellt anderen Menschen meist unbewusst, dass sie ihn nicht wirklich lieben oder es nicht wirklich ernst in ihrer Liebe zu ihm meinen. Er lässt sich dann nicht auf Beziehungen ein oder seine Beziehungen scheitern immer wieder, weil er sich und den anderen die Liebe nicht wirklich erlaubt. Und so bestätigt sich das Lebensskript selbst immer wieder neu. Was in der Kindheit ein durchaus richtiges Lebensgefühl war, wird nun im Lebensskript als Haltung auf das ganze Leben übertragen. Das Gefühl, das das Lebensskript entstehen ließ, ist also zunächst durchaus richtig, aber im weiteren Leben führt das Lebensskript zu einer Verzerrung der Wahrnehmung und zu einer einseitig negativen Sicht der eigenen Person, der Menschen und der Welt. Das Tragische eines Lebensskripts liegt nun darin, dass es sich selbst bestätigt, indem es das Leben eines Menschen so vorprägt, dass genau das eintritt, was es selbst vorgibt.

Der Verlust eines Menschen ruft bestimmte Lebensskripte wach

Die Trauernde im obigen Dialog hat offensichtlich immer wieder schwere Schicksalsschläge in ihrem Leben erlitten. Sie hatte schon früh ihren geliebten Großvater verloren. Die Trennung ihrer Eltern war ein weiterer schwerer Verlust in ihrer Kindheit. Und nun scheint auch der frühe Tod ihres Mannes in diese Reihe der Lebenserfahrungen zu passen. Er bestätigt damit das Grundgefühl und die Grundüberzeugung »Mir stoßen immer die schlimmsten Dinge zu.« Sie denkt dann weiter: »Ich hätte es ja wissen müssen, dass das mit meinem Mann passieren wird.« Wenn wir dann genauer nachfragen, wird ein noch weitergehender Skriptsatz sichtbar: »Ich habe es nicht verdient, dass ich glücklich sein darf. Deshalb stößt mir immer das Schlimmste zu.« Hier wird nun deutlich, dass diese Frau den Tod ihres Mannes als Bestätigung ihres Minderwertigkeitsgefühls bewertet. Zwar sind die Verluste im Leben dieser Frau tatsächlich schwer, doch sagen sie nichts über den Wert dieser Frau aus.



Der Verlust eines geliebten Menschen ruft meist ganz bestimmte Lebensskripte wach und scheint sie zu bestätigen. Sehr häufig wird das Skript »Ich bin selbst schuld, dass mir das jetzt zustößt« oder das Skript »Wie immer werde ich jetzt wieder einmal bestraft« durch einen Verlust reaktiviert. Die Überzeugung der Schuld oder der Bestrafung wird uns als Kind in elterlichen Botschaften oft nahegelegt oder wir kommen als Kind selbst zu dieser Überzeugung. Bei dem Tod des geliebten Menschen gibt es meist – wenn auch noch so kleine – Versäumnisse oder ungenutzte Möglichkeiten, die vielleicht seinen Tod hätten verhindern können. Der Hinterbliebene nimmt dann dies mit seinem alten Schuld- oder Strafskript wahr, sieht sich wie immer als der Schuldige und fühlt sich wie so oft in seinem Leben bestraft. Er hat dann nicht nur den Verlust, sondern auch sein schon lange vorhandenes und nun neu verstärktes Schuldgefühl zu tragen.

Auch der Verdienstgedanke steckt in vielen durch einen Verlust aktivierten Skriptsätzen wie: »Ich habe es nicht verdient, dass es mir gut geht« oder »Mir steht es nicht zu, dass ich lange mit einem Menschen zusammenleben und glücklich werden darf.« Hier steht meist ein Minderwertigkeitsgefühl im Hintergrund. Es sagt mir, dass ich es nicht wert bin, über lange Zeit mit dem geliebten Menschen zusammen sein zu dürfen.

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