Über die Autorin:

Gute Geschichten sind überall, man muss nur aufmerksam hinhören.

Claudia Starke ist Mutter von drei Kindern, geduldete Mitbewohnerin zweier Katzen und leidenschaftliche Schreiberin, die den Nachtschlaf gern einer guten Geschichte opfert.

Als Rikki Marx schreibt sie Geschichten für das jüngere Publikum.

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Weitere Bücher der Autorin:

Die Bestie – Bad Moon Rising

JAGD

Verborgen

Jenseits der Dunkelheit

Wolkenreise (als Rikki Marx)

Mia mitten in Mitternacht (als Rikki Marx)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Claudia Starke

Covergestaltung: Claudia Starke, unter Verwendung eines Bildes von Karen Smits, Pixabay

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783750475472

»Ha! Ha! Said the clown«

Manfred Mann

Inhaltsverzeichnis

VERWUNDERLANDLICH

»Möchtest du einen Ballon?« Eine weiß behandschuhte Faust schiebt sich vor ihr Gesicht, darin unzählige Fäden, die eine bunte Traube Luftballons auf ihrem Weg in den wolkenlosen Himmel aufhalten.

Sie blinzelt. »Ballons? Ernsthaft?«

Die Ballons tanzen in der Brise, die mit dem Duft nach kandierten Äpfeln, Zuckerwatte und Popcorn lockt.

»Warum nicht? Ein grüner Ballon für ein schönes Mädchen in einem hübschen grünen Kleid.«

Kleid? Sie sieht an sich herab, gewahrt changierenden Chiffon, apfelgrün, der ihre nackten Beine umschmeichelt, und dunkelgrüne, fast schwarze Spangenschuhe. Eine dünne Staubschicht auf dem Lackleder zeugt von dem langen Fußweg, an den sie sich nicht erinnert. Drehorgelmusik erzählt in der Ferne vom lieben Augustin. Alles ist hin.

Die weiße Faust ist einem gelben Ballon gewichen, der nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase zappelt.

»Gelb? Weil es zu deinen Haaren passt?«, fragt der Ballon.

Unwillig schüttelt sie den Kopf. »Lass mich in Ruhe mit deinen Ballons. Ich will keinen.« Sie schlägt den Ballon zur Seite und trifft etwas Nachgiebiges, Schmieriges. Als sie herumwirbelt, sieht sie sich lediglich umringt von Ballons, die wie auf ein unhörbares Kommando hin gleichzeitig aufsteigen. Ihr Blick folgt dem Schwarm, der anfänglich in wechselnden Formationen fliegt, einem Vogelzug gleich, ehe sich die Ballons auf eigene Wege begeben und wahllos das Himmelsblau bunt betupfen.

Sie reißt sich von dem Anblick los und hält Ausschau nach dem Besitzer der Stimme.

In einiger Entfernung tanzt neben dem Gerippe des Zeltes eine Gestalt mit spitzem Hut und lächerlich großen Füßen zur Drehorgelmusik, während ein Windhauch erneut von Popcorn flüstert.

Der anfahrende Bus trennte Lilys Augen vom Zirkusplakat und als sie den Halteknopf drückte, entdeckte sie etwas Weißes, Cremeartiges an ihrer Hand. Während sie es mit einem Papiertaschentuch abwischte, fragte sie sich, ob es zu viel Handcreme oder Teil eines Clownsgesichts war.

Sie kam aus dem Badezimmer, ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Eine lange Strähne rostroten Haares hatte sich nicht einfangen lassen und hing nun über die Schläfe hinunter auf ihre Schulter und tropfte beständig auf das graue T-Shirt, das an dieser Stelle immer dunkler wurde.

»Guten Morgen.« Sie klang entschieden zu fröhlich für diese Uhrzeit.

»Morgen«, brummte Jonas und kramte in seinem Gedächtnis nach dem Namen. Irgendwas mit I. Iris. Ingrid. Ilka.

»Du bist Jonas, stimmt’s?« Sie blieb vor der Couch stehen und stopfte die Strähne unters Handtuch.

Er nickte, während er die Decke zurückschlug und sich aufsetzte. Eigentlich war es viel zu früh für ihn, aber es war das Schicksals des Couchschläfers, dass er wach sein musste, sobald auch nur einer der anderen wach war. Gähnend fuhr er sich durch die schwarzen Locken.

»Du siehst aus, als könntest du einen Kaffee vertragen.« Sie lachte und verschwand in der Küche.

Er lehnte sich zurück und schloss noch einmal die Augen. Frühaufsteherin. Zum Kotzen. Hätte er Mitspracherecht … Er seufzte.

»Zucker? Milch?«, rief sie aus der Küche.

»Nein«, antwortete er. Andererseits, wenn sie jetzt jeden Morgen Kaffee machte …

»Läuft durch«, sagte sie und kam wieder ins Wohnzimmer.

Er nickte und musterte sie verstohlen. Sie trug nur das graue T-Shirt, das allerdings so aussah, als würde sie zweimal hineinpassen. Ihre rechte Schulter ragte keck aus dem Ausschnitt des Shirts und zeigte ein Tattoo. Eine Spinne. Er hob kurz die Augenbrauen, weil es ihn überraschte und gleichzeitig anzog. Zumal der Rest von ihr auch sehr ansprechend war. Vor allem ihre Beine. Die waren lang und schlank und leicht gebräunt – für einen Moment stellte er sich vor, wie sich diese Beine in Ekstase um seinen Körper schlangen.

»Einen Cent für deine Gedanken.« Sie ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen.

»Besser nicht.« Kein BH. Er schluckte und schob die Decke auf seinen Schoß.

Sie lachte. »Schon klar.«

Eine Zeitlang saßen sie schweigend nebeneinander, während in der Küche die Kaffeemaschine röchelte. Er starrte bemüht auf den Fußboden, obwohl er ihre Anwesenheit deutlich spürte. Nicht nur ihre Blicke. Ihr Körper schien aus purer Hitze zu bestehen.

»Weißt du, was ich mich frage?«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum hab’ ich das Zimmer bekommen? Ich mein’, du bist doch schon viel länger hier.«

»Ich tauge nur zum Couchschläfer.« Er zuckte die Achseln.

»Typisch Maik.« Sie lachte wieder.

Er fragte sich, ob sie mit Maik schlief, und nickte. »Ich kann mir das Zimmer halt nicht leisten.« In seinem Kopf sah er es vor sich, wie sie sich bei Maik das Zimmer leistete, und knubbelte noch mehr von der Decke auf seinen Schoß.

»Ich doch auch nicht.« Sie rutschte vom Sofa und stand auf. »Ich guck mal nach dem Kaffee.«

Er sah ihr nach. Sie hatte seine Vision mit ihren Worten soeben bestätigt, doch er hoffte trotzdem, dass sie keine von denen war, die …

Sie kam zurück mit zwei Kaffeebechern. »Ich wusste nicht, welches deine Tasse ist«, sagte sie und hielt ihm grinsend eine Tasse entgegen, die mit Schweinen übersät war. Sie selber nippte aus einer Tasse mit Marienkäfern.

»Danke.« Er nahm den Kaffee entgegen und starrte in die Tasse.

Sie setzte sich wieder neben ihn, ein Stück näher dieses Mal.

»Ich war übrigens auf derselben Schule wie du«, sagte sie. »Drei Klassen unter dir. Ich fand dich damals schon heiß.«

Nun hatte ihre Hitze seinen Kopf erreicht. Er nahm einen Schluck Kaffee.

Sie nahm ihm die Tasse aus der Hand und stellte sie gemeinsam mit ihrer auf den Couchtisch. »Aber damals hast du überhaupt nicht registriert, dass ich existiere.« Sie zog sich das Handtuch vom Kopf und warf es auf den Fußboden. Ihre Haare flossen über ihren Rücken. Sie waren noch immer nass und sehr lang, reichten beinahe bis zur Hüfte. »Heute allerdings …« Sie zog die Decke von seinem Schoß und sich das T-Shirt über den Kopf. Sie trug nicht nur keinen BH.

Er zog sie an sich und küsste sie. Sie schmeckte nach Kaffee und Zucker und hieß Fiona. Er hatte es gewusst: Irgendwas mit i …

»Ein Bild? Das ist so viel mehr als lediglich Farbe auf Papier oder Leinwand. Es erzählt dir Geschichten, nimmt dich mit in eine andere Zeit und trägt dich auf den Schwingen der Phantasie in ferne, unbekannte Welten.« Lilys Blick verlor sich jenseits des Antlitzes ihres Gegenübers.

Der junge Mann verdrehte die Augen. »Danke, dass Sie mich darüber in Kenntnis gesetzt haben.«

Lily strahlte. »Schön, dass ich Ihre Frage beantworten konnte.«

»Meine Frage?« Der Mann hob eine Augenbraue. »Ich habe gefragt, ob Sie alleine sind oder ob Sie noch jemanden erwarten.«

Sie blinzelte mehrere Male hintereinander, ehe sie sich umsah. Sah Menschen an Tischen sitzen, einige mit Speisen und Getränken vor sich, andere noch in Speisekarten blätternd.

Ihr Gegenüber räusperte sich und zeigte ein Lächeln, das ebenso ein Zähnefletschen hätte sein können. »Eine Person?« Oder will tatsächlich jemand in Ihrer Gesellschaft essen?

»Ja.« Lily nickte, drehte sich um und verließ das Lokal.

»Das ist doch bloß eine Wolke.«

»Es ist nie nur eine Wolke. Sie birgt so viele

Möglichkeiten in sich, was sie alles sein kann.

Und sein will.«

UNZUHAUSELÄSSIG

»Und nun das Wetter für morgen …«

Lily setzte sich aufrecht hin, spannte die Beine an, so dass ihre Füße auf den Zehenspitzen balancierten und verschränkte die Finger. Gleich!

»… Tief Griseldis bringt auf ihrem Weg nach …«

Griseldis. Was für ein Name! Lily schloss die Augen, sah eine große, kräftige Frau, das lange, eisgraue Haar tost um ihren Kopf. Sie schreitet über den Himmel mit weiten, ausladenden Schritten, so rasch, als gleite sie gleichzeitig dahin auf dem Rücken des Nordwinds, der nicht nur ihr Haar zaust. Schneekristalle tanzen um sie herum, Hagelkörner prasseln auf sie herab und Eis beißt ihre Haut. Lilys Atem dampft in der kalten, klaren Luft. Sie klammert sich fester an den Wind, der sie neben Griseldis herträgt. Tränen brennen in ihren Augen, die Luft ist so eisig, dass sie in der Lunge brennt, doch Lily lacht, laut und lange. Auf dem Weg in die Freiheit wird sie …

»Gefragt – Gejagt läuft auf irgend ’nem dritten Programm, ihr wisst schon, dieses Quiz. Oder wir gucken Schlager auf ’m Ersten.« Ihr Vater hatte sich in seinem Sessel gedreht, saß nun seinen beiden Frauen zugewandt. Seine Hand verharrte über der Fernbedienung, bereit zuzustoßen, doch noch zögerte sie. »Also?«

Lily atmete tief durch, schmeckte den Norden auf ihren Lippen und schüttelte den Kopf. »Ohne mich«, sagte sie leise und stand auf. »Ich sollte lieber lernen. Nächste Woche ist doch Klausur.«

Helene Fischer begleitete sie noch den Weg die Treppe hinauf, aber als Lily die Zimmertür hinter sich schloss und sich dagegen lehnte, umfing sie wohltuende Stille.

Ein Wispern ließ Lily zusammenzucken. Eines der Poster wand sich von der Wand, klammerte sich fest und kehrte der jungen Frau anfangs nur den Rücken zu, verharrte gesichtslos so lange, bis es schließlich doch auf den Boden hinunterglitt und seine Vorderseite darbot. Ausgerechnet die Aurora borrealis, die vom ersten Urlaub ohne Eltern erzählte. Und von Matthias.

Lily bückte sich und hob das Poster auf, nahm die Tesafilmrolle vom Schreibtisch und schaffte es mit Zähnen, Ellenbogen und geübter Fingerfertigkeit das Poster wieder an die Wand zu pappen. Zwischen den Pferdekopfnebel und Jupiter, über die Poster des Blauwals und der Dinosaurier und insbesondere über den allerletzten Rest Tapete, der trotz allen Bemühens immer wieder zum Vorschein kam.

Als sie damals dieses Zimmer bezogen hatte, war sie selber zehn und ihre Eltern der Meinung gewesen, dass für ihr Kinderzimmer eine abwaschbare Tapete vonnöten wäre. Dabei hatte Lily niemals zuvor auch nur einen winzigen Strich auf Wände gemalt, die nicht fürs Bemalen freigegeben waren. Dennoch gab es für ihr Zimmer diese wasserfeste Tapete, die mit Sicherheit niemals für ein Kinderzimmer gedacht war. Gelsenkirchener Barock in Bordeaux, blumig-plüschig und somit eher geeignet für kleine alte Damen denn für ein Mädchen kurz vor dem Teenageralter. Lilys größtes Problem war jedoch ein anderes: auf wasserfesten Tapeten hält auf Dauer kein Tesafilm. So oft Lily es probierte, blätterten irgendwann die Poster wieder herunter, ganz so, als hätten sie keine Lust mehr, mit der Tapete verbunden zu sein. Und da um Himmels willen, bloß keine Reißzwecken erlaubt waren – die teure Tapete! – blieb Lily nichts Anderes übrig, als immer wieder nachzukleben. So waren im Laufe der Jahre unzählige Poster an die Wände gewandert, damit bloß jeder Zipfel der Tapete verdeckt wurde.

Doch selbst direkt auf den Postern befestigte Tesastreifen hielten nicht auf Dauer, wenngleich auch länger als auf der Tapete. Somit gab es also ständig etwas nachzukleben, auch wenn Lily die Systematik hinter dem Ablösen der Bilder nicht erkennen konnte. Es schien. als hätten die Wände sich verschworen, Lily stets aufs Neue an die Tapete erinnern zu wollen.

Vor einem Jahr dann wurden neue Fenster und Zimmertüren eingebaut, eine Renovierung, vor der Lilys Eltern sich lange genug gedrückt hatten, die jedoch unvermeidbar war. Im Zuge dessen gab es Schäden an der Wandbekleidung in jedem Zimmer, so dass neu tapeziert werden musste.

Lily frohlockte, begann, ihre Poster von der Wand zu lösen, und wurde jäh enttäuscht. Für ihr Zimmer gab es noch Rollen von der guten, teuren Tapete, die seit Jahren auf dem Dachboden ihres Einsatzes harrten. Somit konnte es in ihrem Zimmer bei einer Ausbesserung bleiben. Nun frohlockten ihre Eltern, Lily hingegen schluckte Tränen und Wut hinunter, ordnete ihre Poster neu und überklebte innerhalb kürzester Zeit auch die neuen Zipfel der alten Tapete.

Und doch … Lily seufzte. Trotz der mannigfaltigen Bilder wusste sie nur zu gut, welches Grauen darunter lauerte … Sie strich über den grün glühenden Nachthimmel und klebte noch einen Streifen Tesafilm nach, ehe sie den Abroller auf ihren Schreibtisch warf. Dann ging sie zum Fenster, öffnete es weit und kletterte hinaus aufs Vordach.

»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.« Er setzt sich auf und reicht ihr seine Hand.

Langsam tastet sie sich auf das Stück Dach zwischen ihrem und dem Fenster des Elternschlafzimmers vor, wo sie sich neben ihn legt. Noch kann sie nicht erkennen, wer er heute ist, sein Gesicht ist ohne klare Konturen, seine Stimme unvertraut.

Der Himmel ist klar und beinahe dunkel, Sterne blinzeln ihr zu und Fledermäuse begleiten ihren Weg.

»Denkst du, es wird Zeit, was zu ändern?«, fragt sie.