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Aus dem Englischen von Daniela Stilzebach

www.hannibal-verlag.de

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2020

© 2020 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-696-4

Auch als E-Book erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-695-7

Titel der Originalausgabe: HJEMKOMST – Morten Harket 1993–1998

ISBN 978-82-328-0307-1

© Forlaget Press 2019

Forlaget Press, Kongens gate 2, 0153 Oslo

Die Übersetzung wurde mit finanzieller Unterstützung von NORLA veröffentlicht.

Cover Design © Concorde Design

Coverfoto © Julian Broad

Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Daniela Stilzebach

Deutsches Lektorat und Korrektorat: Dr. Matthias Auer

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Printed in Germany

Inhalt

Widmung

Vorwort

Das Album, das niemand gehört hat I

Die Heimkehr

Die Welt außerhalb von Eden

Begrabe mein Herz in Osttimor

A Kind of Christmas Card

Auswüchse

Bilderstrecke

Bei Minusgraden

Heavenʼs Not for Saints

Zurück ins Leben

Fremd

Das Album, das niemand gehört hat II

Das Nobelkonzert

Bonustrack: 1987

Quellen

Dank

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Widmung

„Dieser Song wird deine Karriere zerstören.“

Die Plattenfirma Warner Brothers in einem Brief
an Morten Harket im Frühjahr 1995

Vorwort

Es gibt einen anderen Morten Harket; einen, der nicht mit hellem Sternenstaub auf den Stimmbändern Pop-Melancholie verbreitet; einen, der nicht mit a-ha Stadien füllt; einen, der nicht die ewig scheinende Sonne im TV besingt. Einen Morten Harket, der sich nicht immer ganz so leicht parodieren oder in eine Schublade stecken lässt.

Es ist das Jahr 1993. Acht Jahre lang hatte sich Morten Harket im internationalen Popstar-Universum bewegt. Ganz oben in den Sphären, wo man ansonsten nur auf Madonna, Michael Jackson, Whitney Houston und Duran Duran traf. Seinen Landsleuten in Norwegen hatte es vor lauter Staunen die Sprache verschlagen. Wer war dieser Kerl?

Jetzt kehrte der große Popstar nach Hause zurück. Der Szenenwechsel war enorm, die Rückkehr komplex. Dazu gehörten unter anderem ein Soloalbum mit geheimen Musikern, Songs in der norwegischen Muttersprache sowie der Aufbau einer Karriere fernab von a-ha. Es war auch die Zeit, in der er seine Stimme verstärkt und unüberhörbar für gesellschaftliche Belange erhob, weit über die Grenzen der Musik hinaus.

Morten Harkets Solokarriere der Neunzigerjahre folgte nur in geringem Umfang irgendeinem Erfolgskonzept. Er setzte vollkommen andere Prioritäten, als man es von einem internationalen Star erwartet. Er entschied sich für unkonventionelle Kooperationspartner, sang auf Norwegisch von der Bibel inspirierte Lieder, betrieb nachdrücklich Lobbyarbeit für ein vom Bürgerkrieg gebeuteltes, bettelarmes Land auf der anderen Seite des Erdballs, sprang für das Klima in die Bresche – um nur einiges zu nennen. Und: Er produzierte nahezu zeitgleich zwei Popalben, von denen eins alle überraschte und von den Kritikern gelobt wurde, während das andere, das dazu gedacht war, seine kommerzielle Karriere zu sichern, nie veröffentlicht wurde.

All das sind Geschichten aus den Jahren 1993 bis 1998. Zusammengenommen ist es eine Geschichte über eine Rückkehr in die Heimat.

Das Album, das niemand gehört hat I

Die Arme. Da ist etwas mit der Haltung der Arme im Verhältnis zum Rest des Körpers. Ein Stück weg vom Körper, so als müssten die Arme das Ego stützen oder den kostbaren Leib, den sie flankieren, mit der Stimme mittendrin als Dreh- und Angelpunkt sowie Kraftzentrum. Morten Harket hält seine Arme so. Nicht weil die Muskelmasse so voluminös ist, dass die Arme nicht weiter an den Körper herangepresst werden könnten, sondern vielleicht als ein Zug seines Charakters. Es sieht besser aus. Die Arme neigen sich sanft nach unten, das Handgelenk jedoch weist eine leichte Krümmung nach innen auf. Auf dem Cover zu Wild Seed (1995), Morten Harkets erfolgreichstem Soloalbum, befinden sich die Hände in dieser ihm ganz eigenen Haltung. Mit der einen Hand hält er eine Schreibmaschine im Vintage-Stil, als Andeutung auf die Songwriter-Ambitionen. Die gleiche Haltung haben seine Hände bei unserem ersten Treffen zu diesem Buch. Sie ruhen auf einem derben Holztisch in der Kongens gate in Oslo. Anlass ist eine Besprechung für ein Buch über die Jahre 1993, 1994, 1995, 1996, 1997 und 1998. Es ist ein Tag im April 2018. Morten hat es nicht geschafft, vor dem Termin Mittag zu essen, und taucht deshalb mit zwei Stück saftigem Möhrenkuchen auf. Durch das zum Hinterhof geöffnete Fenster erklingt das frühlingshafte Falsett der Vögel.

„In gewisser Hinsicht war ich doch die ‚Gesangsdame‘ von a-ha – vor Wild Seed“, ertönt es von der anderen Seite des Tisches, gefolgt von Stille.

„Ja, was ist mit deiner Solokarriere, Morten?“, unternehme ich einen Versuch.

„Sie ist voller Höhen … und einzelner Tiefen.“

Er lächelt verschmitzt. Blinzelt. Wie er es all die Jahre auf Fotos, auf der Bühne und im Fernsehen getan hat. Das ist ein anderer Zug an Morten Harket. Genau so einer wie mit den Armen.

Einige Stimmen übersteigen nahezu das Auffassungsvermögen. Der Klang dieses menschlichen Instruments, die Kraft, Schönheit und Präzision der Stimme führt in einigen Fällen dazu, dass Menschen mit Tränen, Zittern und Gänsehaut reagieren. Mitunter ist man regelrecht gelähmt. Passieren kann das in der Kirche, auf einem Popkonzert, in der Oper, überall auf der Welt. Für viele hat Morten Harket eine solche Stimme. Eine Stimme, die die Tonspur des Lebens vieler Menschen prägt. Eine Stimme, die seit 1985 bei Menschen in vielen Teilen der Welt Gefühlsreaktionen auslöst. Allem voran dank seiner Rolle als Frontmann von a-ha. Dieses Buch widmet sich hingegen einigen intensiven Jahren in den Neunzigern, weitestgehend ohne a-ha. Es sind Jahre, in denen aus Morten Harket neue Songs heraussprudelten – sehr viele von ihnen wurden nie veröffentlicht. Es sind Jahre, in denen es um die Gitarre geht, darum, zu schreiben und die Musik in neue Richtungen zu führen. Einige Leitlinien aus diesen Jahren flossen in die weitere Karriere ein, andere blieben auf der Strecke. Es sind die ersten Jahre als Solokünstler, das erste Sich-Freimachen von a-ha, Jahre mit großen Höhen und in Sachen Karriere durchaus absurden Entwicklungen. In persönlicher und künstlerischer Hinsicht eine Zeit des Umbruchs. Neben dem enormen Erfolg als Solokünstler ging es in diesen Jahren um so viel mehr. Um Osttimor und ein Konzert in einem Frauengefängnis. Um Gott. Ein erwachendes Interesse an norwegischer Poesie. Konzerte in Hønefoss, London und auf dem Momarkedet-Festival, eine Naturserie für TV3 und einen Moderatorenjob beim Eurovision Song Contest. Er brillierte, weit über die Stimmpracht hinaus. Gleichzeitig aber erweist sich Harkets Sololaufbahn auch als gewundener und scheinbar richtungsloser Wanderpfad. Sie umfasst einen Pulk von Menschen (die meisten davon wurden in Verbindung mit diesem Buch interviewt) sowie eine Reihe verschiedener Projekte. Morten Harkets Solokarriere scheint auf der Zufallsmethode zu beruhen.

„Ja, und das ganz bewusst. Es ist nie mein Ziel gewesen, eine Karriere aufzubauen, auch habe ich mich nicht besonders für die Musikbranche interessiert“, sagt er, einen Zeigefinger auf den Tisch gepresst.

Das ist eine milde Variante der Art von Aussagen, die dazu führen, dass viele nicht genau wissen, wo sie Morten Harket einordnen sollen. Ein bekanntes Phänomen. Während das gesangliche Vermögen sich sanft seinen Weg in die Gehörgänge bahnt, raufen sich viele die Haare, wenn er sich zu Wort meldet. Ist er ganz woanders? Ist er zu scharfsinnig? Folgt er einem einigermaßen logischen Gedankengang? Agiert er auf einer anderen Ebene? Leistet er selbst dem ihm verpassten Etikett des Nebulösen Vorschub, oder ist er einfach so? Er führt es näher aus:

„Die Karriere war eine direkte Folge dessen, was ich in der Musik gemacht habe. Alles drumherum geschah infolgedessen. Ich habe es getan, weil ich für Musik brenne, nicht für die Branche. Was abgesehen davon – und das in relativ hohem Maße – meinen Weg beeinflusst hat, ist all dieser alltägliche Lärm, den eine große Karriere mit sich bringt. Das schränkt die Bewegungsfreiheit ein, sowohl die körperliche als auch die geistige. Das beeinflusst auch mein Tun. Manche Dinge habe ich zudem aus Trotz gegenüber der Karrierepolizei getan.“

Einiges von dem, was er sagt, grenzt an etwas Chuck-Norris-Artiges. Dessen ist er sich voll und ganz bewusst. Seit langem.

1993 erschien das Album Poetenes Evangelium, durchweg in norwegischer Sprache, mit Morten als Sänger. Mit Songtiteln wie „Hymne til Josef“ (Hymne an Josef) und „Elisabeth synger ved Johannes døperens død“ (Elisabeth singt beim Tod von Johannes dem Täufer). Ein christliches Album. Es ist der Auftakt zu Morten Harkets Agieren in der Arena der Solokünstler nach der ersten großen Welle des Erfolgs von a-ha, die 1985 ihren Anfang nahm. Die Emanzipation. Mehr über Poetenes Evangelium später.

Im selben Jahr nahm er ein Album auf, das nie veröffentlicht wurde, das kaum einer gehört hat. Noch weniger haben eine Kopie davon. Eines dieser wenigen Exemplare befindet sich in einem Haus im Londoner Stadtteil Richmond. Wenn es nach Morten geht, dann bleibt es auch dort. Obwohl zwei Songs ihren Weg auf YouTube gefunden haben, ist diese Platte noch immer ein Missing Link. Die Hintergründe sind folgende: Als a-ha 1983 den Plattenvertrag mit Warner Brothers unterzeichneten, sicherte sich das Unternehmen gleichzeitig die Rechte an eventuellen zukünftigen Soloalben der Bandmitglieder, zumindest am jeweils ersten. Das ist vielerorts gängige Praxis. Andrew Wickham, der Brite, der a-ha 1983 zu Warner holte, hielt große Stücke auf Morten. In seinem Büro soll er Bilder von Muhammad Ali, Elvis, Richard Nixon und Morten Harket gehabt haben. 1993, während a-ha ein bisschen die Luft ausging und die Band sich auf dem Weg in ihre erste längere Pause befand, die von 1994 bis 1998 dauerte, einigten sich Morten und Warner auf ein Soloalbum. Sein erstes. Wickham fungierte als Architekt im Hintergrund, zusammen mit Terry Slater – der in den ersten Jahren nach dem großen Durchbruch 1985 als a-ha-Manager zur Legende wurde –, zudem heuerte er für das Projekt den ehemaligen a-ha-Produzenten Alan Tarney an. Das Album wurde aufgenommen, aber dann geschah nichts. Hier ist die Erklärung:

„Ich wollte ins tiefe Wasser springen, wusste aber auch, dass sich mit Tarney als Produzent im Meer Klippen befinden. Da würde sich das Album schnell von einem gedachten Produkt – sehr konkret – zu etwas entwickeln, das ich nicht hätte abbremsen können. Ich war bereit, selbst zu schreiben, hatte aber noch nicht damit angefangen. Ich suchte nach einem Punkt, an dem ich ansetzen konnte, und war gezwungen, mich selbst in eine Ecke zu drängen, um mich anschließend wieder daraus zu befreien. Ich wusste nicht, wo das enden würde, ob es ein gemeinsames Projekt werden oder ob ich feststellen würde, dass ich ‚die Stimme‘, um selbst zu schreiben, nicht fand. Es war nicht meine Absicht, Tarneys Projekt durch mein eigenes zu verdrängen. Als ich aber nach und nach die Lieder bekam, wurde klar, dass es sich hier um zwei verschiedene Projekte handelte. Als der ganze Prozess mit dem Soloalbum begann und ich bei Warner unterschrieb, wusste ich, dass ich an einem Scheideweg stand: als Künstler fortzufahren oder etwas komplett anderes zu machen.“

Heute – 25 Jahre später: Was geschah eigentlich mit dem Album, das die Welt nie zu hören bekam? Morten erklärt:

„Andy Wickham meinte, Pål und Magne seien schwierig. Zudem war er der Ansicht, a-ha hätten offensichtliche internationale Möglichkeiten nicht genutzt. Unter anderem verfolgten wir die USA nicht weiter. Stattdessen machten wir ein ums andere Mal etwas anderes. Er hatte den Traum, dass ich ein Album einspielen würde. Er wollte meine Stimme und Alan Tarney als Produzenten sowie Songs, die wir gemeinsam finden sollten. Er glaubte, das würde ein Knaller werden.“

Die Plattenfirma zahlte Morten einen soliden Vorschuss, und er machte sich auf nach London, nach Wimbledon ins RG Jones Studio. Die Melodien hatte Tarneys Sohn Oliver geschrieben. Die Texte stammten von seinem Freund aus Kindertagen, Robert Carr. Oliver arbeitet heute übrigens im Bereich Filmmusik – als Sounddesigner – und konnte unter anderem zwei Oscar-Nominierungen für sich verbuchen. Als die beiden Jugendfreunde damals die Songs schrieben, waren sie Studenten, und Carr hatte sich in die Texte von Paddy McAloon von der stilsicheren Popband Prefab Sprout vertieft. Zu dieser Zeit gab Carr sein gesamtes Geld für Konzerte in mittlerweile legendären Londoner Lokalitäten wie dem Astoria, Marquee Club und Hammersmith Palais aus. Bands wie Echo and the Bunnymen und The Sugarcubes standen bei ihm hoch im Kurs. Das Debütalbum der Stone Roses veranlasste den jungen Tarney schließlich dazu, sich als Songwriter zu versuchen.

Zurück zu Morten:

„Ich musste meine ganze Seele in die Aufnahme legen, ansonsten wäre es nicht aufrichtig gewesen. Also schuf ich lieber aus eigener Kraft ein anderes Album, das so gut war, dass die Plattenfirma gezwungen war, das auszuwählen. Die Entscheidung oblag dem Label. Ich sagte nichts dahingehend, was sie wählen sollten. Ich lieferte zwei Platten ab. Die andere war Wild Seed.“

Er spult zurück und fügt die Fäden zusammen. Der Blick fokussiert die fade Topografie vor dem Fenster. Die Erinnerungen kehren zurück.

„Das zu tun, war genau das Richtige. Auf dem Tarney-Album sind einige gute Popsongs, aber ich bin kein Unterhaltungssänger. Es ist nicht viel, aber gerade ausreichend, was an der Platte grundlegend falsch ist. Um es anders auszudrücken: Ist etwas richtig, dann verträgt es Widerstand. Selbstverständlich hätte ich es anders machen können. Ich hätte sagen können, dass ich das nicht machen wolle, und hätte mich einfach meinen eigenen Sachen gewidmet. Ich war Morten von a-ha, und wenn ich ein eigenes Album herausbringen sollte, dann musste es in Charakter und Eigenart eindeutig sein – nicht ‚nur‘ ein gutes Album.“

Während sich Morten 1995 im Nidaros Studio in Trondheim befand, erhielt er einen Anruf aus England. Im Studio nahm das Wild Seed-Projekt langsam Formen an, und die Beteiligten spürten, dass sich hier etwas Besonderes anbahnte. Davon hatte man auch in England Wind bekommen, denn dieses Telefonat – im Übrigen das bis dato einzige zwischen Wickham und Morten, dessen eigene Songs betreffend (das Kuckuckskind-Projekt, wie Morten es bezeichnet), war kurz, aber unmissverständlich. „Hallo, Morten, hier ist Andrew. Ich sitze hier mit deinem Album und dem von Tarney, und mir ist vollkommen klar, dass die beiden unvereinbar sind. Ich hatte die Hoffnung, dass jedes eine Seite ausmachen könnte, was offenkundig aber nicht funktioniert. Ich rufe also nur an, um dir zu sagen, dass du dein Album bekommst“, ließ Wickham telefonisch aus England verlauten. Er war aufgewühlt und hatte lange und gründlich darüber nachgedacht, schließlich ging es um ein für ihn wichtiges Projekt. Dann legte er auf. Morten schaffte es nicht einmal zu antworten. Langsam jedoch wurde ihm der schlussendliche Sieg bewusst. Wickham hatte sich also entschieden, ihn Wild Seed anstatt „seines“ Albums – seines Wunschprojekts mit Morten und Alan Tarney – veröffentlichen zu lassen. Für Morten war es wichtig, dass ohne irgendeine Form von Lobbyarbeit in der Plattenfirma die Wahl auf sein eigenes Material fiel.

„Und in all den Jahren: Gab es nie Überlegungen dahingehend, das Tarney-Album zu veröffentlichen?“

„Nein, nein. Der Zug ist abgefahren. Ich habe es seit 20 Jahren nicht gehört, obwohl ich mitbekommen habe, dass zwei Songs im Netz gelandet sind. Einer heißt wohl ‚Sounds of Rain‘ – ein schönes Lied, schönes Synth-Terrain. Ein Fan hat mich darauf aufmerksam gemacht, ich selbst verfolge die Sachen im Netz nicht. Nicht im Geringsten“, sagt er, während er das Smartphone vom Wohnzimmertisch angelt.

„Aber ich denke, ich finde es.“

Wir lauschen. Die sanfte Synth-Landschaft gleitet vorüber.

Einer, der das Album zu Hause hat, ist Produzent Alan Tarney im Londoner Stadtteil Richmond, und auch er hat es seit vielen Jahren nicht gehört. Auf meine E-Mail reagiert er positiv, meint, selbstverständlich könne ich eine Kostprobe des Albums erhalten, das die Welt nie zu hören bekam. Jedoch betont er, dass er mir keine physische Kopie schicken oder geben könne. Veröffentlicht oder nicht, das Album ist noch immer Eigentum der Plattenfirma – Warner Music. Und so soll es bleiben, Tarney ist ein ehrlicher und redlicher Kerl. Er lädt mich in sein Haus nach Richmond ein, woraufhin ich mich an einem Novemberabend 2018 ins Flugzeug nach London setze.

Fliegt man in den Abendstunden nach Heathrow, ist die unter einem liegende Stadt voller Lichter. Autos, Neonröhren, Straßenlaternen, das Leben. Unmittelbar neben diesem herrlichen Durcheinander der Stadt findet sich jedoch ein großer, dunkler Bereich. Ein dunkler Fleck in all dem Hellen. Kein Neonlicht – ausschließlich schwarz. In dieser Dunkelheit wimmelt es nur so von Tieren. Im Richmond Park drehen Hirsche und Rehe vorsichtig ihre Runden, während zwischen den Baumstämmen Eichhörnchen hindurchflitzen. Neben dem nationalen Naturreservat, das Teil der königlichen Parkanlagen Londons ist – sich also im Besitz der Königsfamilie befindet –, wohnt ein wichtiger Mann des a-ha-Universums. Kurz gesagt der Mann, der die bekannte Hitversion von „Take on Me“ sowie die ersten drei Studioalben der Band produziert hat. Im Übrigen hatte er auch bei der Comeback-Platte Cast in Steel (2015) seine Finger im Spiel. Am nächsten Tag fahre ich mit dem Zug nach Richmond, wo mich Alan Tarney in seinem schwarzen Range Rover vom Bahnhof abholt. Im Schneckentempo geht es dann an dem knapp zehn Quadratkilometer großen Park vorbei. Aus Rücksicht auf die Tiere ist die Höchstgeschwindigkeit auf 20 km/h begrenzt. Vom Straßenrand aus beäugt uns ein neugieriges Eichhörnchen. Mich und den Mann hinter dem Lenkrad mit der luftigen weißen Haarpracht.

1945 in England geboren, lebte Tarney im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren in Australien, bevor er hier raus nach Richmond zog. Nach einer nicht sonderlich erfolgreichen Karriere als Musiker im australischen Adelaide machte er sich als Produzent und Songwriter einen Namen, wobei er für eine Reihe von Welthits verantwortlich ist, darunter Cliff Richards Ohrwurm „We donʼt Talk Anymore“. Im Sommer 1979 kletterte der Song an die Spitze der britischen Charts und erlangte auch in Norwegen einen der vorderen Plätze der VG-Charts. Des Weiteren stehen der Pulp-Hit „Disco 2000“ und Saint Etienne auf Tarneys Meritenliste als Produzent. Dennoch gehört er nicht zur Gruppe derer, die britische Musikkenner sofort auf dem Schirm haben. „The greatest British pop producer youʼve never heard of“, schrieb The Guardian 2015 in einem seltenen Artikel über Tarney. Wir lassen den Park hinter uns, Tarney erhöht das Tempo, zu beiden Seiten befindet sich tiefer Wald. Schlussendlich fahren wir durch ein großes Tor. Es ist herrschaftlich hier draußen und beinahe auf parodistische Art britisch charmant. Auf dem Autodach trommelt der Regen einen wirren Beat. Eine kleine Allee endet vor einem hübschen alten Backsteinhaus. Hier führt Alan Tarney ein gutes Leben, aufgebaut in Jahrzehnten erfolgreichen Engagements in Sachen Musik. Das Studio befindet sich im Nebengebäude. Der Raum hinter der schweren schwarzen Tür ist mit Teppich ausgelegt, die Möbel sind aus dunklem Leder, in der Ecke steht ein Kontrabass. Der 72-Jährige serviert gesüßten Tee und saftige Blaubeermuffins. Hinter der Glaswand im Aufnahmeraum steht eine seiner wirklichen Kostbarkeiten. Er verweist auf einen Syntheziser vom Typ Roland Juno 60.

„Das ist er“, sprudelt es aus Tarney heraus. „Der Syntheziser, auf dem ‚Take on Me‘ eingespielt wurde. Nicht mehr und nicht weniger“, sagt er und lächelt in seinem dunkelblauen Blazer.

In den letzten Wochen hat Tarney versucht, sich an die Aufnahmen mit Morten 1993 zu erinnern. „Aber das ist nicht leicht. Das ist lange her“, erklärt er.

„Wir waren draußen im RG Jones Studio in Wimbledon. Morten war sehr positiv gestimmt, plötzlich aber geriet der ganze Prozess ins Stocken. Damals begriff ich nicht, warum, jetzt aber, nachdem du mir erzählt hast, was geschehen war, verstehe ich umso mehr.“

Dann machen wir uns daran, einigen der Lieder zu lauschen, die die Welt nie zu hören bekam. Tarney nimmt auf einem roten Bürostuhl vor seinem Mac Platz und klickt die erste Audiodatei an. Er dreht laut auf. Draußen hat es aufgehört zu regnen, die Bäume neigen sich schwerfällig über die Allee. Ein leicht chaotisches Klangbild ist zu vernehmen, Unmengen an Gitarren verpackt in einen elektronischen Rahmen. Es klingt ein bisschen altbacken. Tarney holt mit den Armen aus und tut so, als würde er durch den Raum auf mich zufliegen.

„Es heißt ‚Glide‘“, sagt er laut. Er singt mit, klopft den Takt. „There are clouds over my nation“, trällert er. Der Refrain „When we glide. Baby, letʼs glide“ strömt in den Raum hinein. Es verspricht ein toller Vormittag zu werden, hier im Backsteingebäude.

„Wie du hörst, hat es etwas Unfertiges und leicht Chaotisches. Vermutlich kennzeichnet das eine Phase, in der man versucht, einen neuen Ausdruck zu finden. Morten kam von a-ha, wo er hauptsächlich die Songs von Pål und Magne gesungen hatte. Hier ging es darum, etwas Eigenes zu erschaffen, aber immer noch mit den Liedern anderer“, sagt Tarney, der die Flügel wieder eingeklappt hat und den nächsten Titel abspielt. Es ist eine Coverversion. Auf Wunsch von Andrew Wickham sollte Morten einen Song der Everly Brothers aufnehmen, den Evergreen „Devoted to You“. Möglicherweise hatte hierbei auch Mortens Manager Terry Slater seine Finger im Spiel, der in den Sechzigern Bass bei den Everly Brothers gespielt hatte. „Devoted to You“ erreichte 1958, ein Jahr vor Mortens Geburt, übrigens Platz 10 der Billboard Singlecharts. 1990 hatten a-ha eine Coverversion von „Crying in the Rain“ aufgenommen, und jetzt sollte die Erfolgsformel also wiederholt werden. Dieser Ansicht war zumindest Wickham. Tarney vollführt auf seinem Stuhl eine kleine Drehung. Er erzählt, dass bei dem Song, den das von ihm sehr geschätzte amerikanische Country-Songwriter-Ehepaar Felice und Boudleaux Bryant geschrieben hat, seine Tochter im Duett mit Morten singe. Die Version unterscheidet sich stark vom Original, wobei der Ausdruck jedoch ein Stück weit beibehalten wurde. Es ist schön und ordentlich. Unverkennbar Harket. Dann unterbricht Tarney das Vorspielen für eine Pause. Es ist offensichtlich, dass er ungern unfertiges Material präsentiert. Bereut er die Einladung? Das kratzt ein wenig an seinem Stolz.

„Ich wusste nie genau, was die Plattenfirma haben wollte, mitunter war ich unsicher, welchen Weg wir einschlagen sollten. Morten vermutlich auch. Da mich die Plattenfirma aber angerufen hatte, war man sich dort wohl sicher, dass wir etwas abliefern würden. Ich besaß diese Songs, die mein Sohn Oliver zusammen mit Robert Carr geschrieben hatte, und ich glaubte, Mortens Stimme würde dazu passen. Also versuchten wir es. Gleichzeitig sollte es sich ohne die beiden anderen nicht wie ein a-ha-Album anhören. Das war schwer“, sagt er.

„Und Morten war enthusiastisch, er mochte die Sachen, die wir machten. Ich erinnere mich, dass er nach einer neuen Kassette mit den Aufnahmen fragte, weil die erste vollkommen verschlissen war. Er hatte sie so oft gehört, dass sie kaputtging.“

„Wie hätte sich Mortens Karriere deiner Meinung nach entwickelt, wäre dieses Album veröffentlicht worden? Es hätte einen ganz anderen Kurs abgesteckt, oder?“

„Das hätte es, und das wäre womöglich nicht die beste Richtung gewesen, denn die Quelle für mehr Material war nicht sonderlich ergiebig. Trotzdem wäre es ein gutes Album geworden, und es hätte für sich stehen können. Ich glaube, es wäre ein schönes Album geworden. Wir waren auf einem guten Weg.“

„Das wusstest du?“

„Ich arbeite seit sehr jungen Jahren mit Musik und weiß, wann ein Album ein Album wird. Es ist eine zarte Grenze zwischen dem, was eine Platte ist, und dem, was keine ist. Die Demos, die a-ha für Hunting High and Low eingespielt hatten, zum Beispiel, waren keine Platte, wurden aber eine. ‚Take on Me‘ war kein Hit, alle Elemente waren vorhanden, er aber war nicht da. Und dafür wurde ich bezahlt – als Produzent: für die letzten fünf Prozent, um das Material von 95 auf 100 Prozent zu bringen. Jeder kann eine Platte in Angriff nehmen, das ist keine große Sache, aber es geht darum, sie zu vollenden. Darin besteht die Aufgabe.“

Dann strömt „Sounds of Rain“ aus den Lautsprechern. Vielleicht das stärkste von all diesen Liedern.

„Ich verstehe nicht, wie dieser Song und ‚A Place I Know‘ auf YouTube gelandet sind. Diese Songs haben nur sehr wenige“, sagt Tarney misstrauisch. Er zählt sie an beiden Händen ab, gibt das Ganze jedoch schnell wieder auf. Er will keine Namen nennen.

„Genau dieses Lied ist ein potenzieller Hit. Zweifellos. Zumindest war das 1993 der Fall. Er hat all die richtigen Zutaten, und man kann sich gut vorstellen, dass er im Radio läuft. Meiner Meinung nach hätte er hier allerdings besser singen können.“

„In welcher Hinsicht?“

„Man hört, dass er sich während des Singens noch immer mit dem Song vertraut macht.“

„Willst du noch einen hören?“, fragt Tarney.

„Selbstverständlich.“

Das vom Klavier getriebene „Donʼt Ask“ bewegt sich auf einer dünnen Linie zwischen Ballade und leichtfüßigem Pop. Es wirkt vielleicht ein bisschen zahm, ein bisschen uninspiriert. Dann aber passiert etwas. Am Ende singt Morten heller, als er es womöglich jemals auf einer Auskopplung getan hat. Die Stimme erhebt sich weit über die Melodie hinaus, es ist, als würde alles stehenbleiben und den grauen Vormittag in Richmond hinter sich lassen. Tarney hebt seine Arme, und während sich die Stimme gen Decke erhebt, trifft sein milder Blick meine weit aufgerissenen Augen.

Dann schaltet er ab.

„Nun, das ist es“, sagt er und verlegt seinen Sitzplatz aufs Sofa. Er wirkt ein bisschen nachdenklich. Ist er enttäuscht darüber, wie es sich 25 Jahre später anhört?

„Es gehört eindeutig in eine bestimmte Epoche. Damals fühlte es sich gut und richtig an, wenn ich es aber jetzt erneut höre … ich weiß nicht. Es ist, was es ist. Heute klingen die Dinge anders. Damals waren die gewissen Elemente vorhanden.“

Er schaut nach draußen auf die Einfahrt, das grüne, nasse Gras, auf die Hecke und die Bäume. Die Landschaft hier draußen hat beinahe etwas Postbote-Pat-Ähnliches.

„Für Morten war es vermutlich schwerer, als ich damals dachte. Er wollte nicht nur als Sänger in Erinnerung bleiben, als einer, der die Lieder anderer sang. Und hiermit war er schließlich auf dem Weg dahin.“

Wären die Lieder veröffentlicht worden, hätte die Laufbahn der beiden Songwriter Oliver Tarney und Robert Carr eine gänzlich andere werden können. Aus ihrer Enttäuschung machen sie keinen Hehl.

„Das war damals eine herbe Enttäuschung. Das Projekt stand kurz vor der Fertigstellung, am enttäuschendsten ist der Gedanke daran, was eine solche Platte für die Zukunft hätte bedeuten können, bereits in ganz jungen Jahren hätten sich für uns Türen öffnen können“, schreibt Carr in einer E-Mail, und Oliver Tarney fügt hinzu:

„Damals war es eine Enttäuschung, aber mittlerweile ist es so lange her. Ich denke heute nicht so viel daran. Ich erinnere mich, dass ich überrascht war, als ich Wild Seed hörte, das Dunkle in dem Material. Im Nachhinein betrachtet, war das offensichtlich der Weg, den Morten zu diesem Zeitpunkt der Karriere einschlagen wollte.“

Als die beiden die Lieder schrieben, studierte Robert Carr im dritten Jahr an der London School of Economics, während Tarney für Psychologie eingeschrieben war. In der Praxis drehte sich das Leben des jungen Tarney zu dieser Zeit weitaus mehr um Musik als ums Studium. Er wusste, dass sein Kumpel Robert ein bisschen Poesie schrieb, und fragte ihn daher, ob er einen Text zu einem seiner Songs beisteuern könne. Die beiden, deren Musikgeschmack sich von jeher stark unterscheidet, schrieben nie im selben Raum.

„Entweder schickte ich Robert ein Lied, bei dem ich den Text durch Murmeln simulierte, oder ich bekam von ihm einen Text, den ich als Grundlage für eine neue Melodie verwendete. So arbeiteten wir mit den Liedern, die von Morten gesungen wurden.“

„1993, acht Jahre nach dem Erfolg von ‚Take on Me‘ und nur zwei Jahre nach a-has enormem Rekordkonzert in Rio sollte Morten Lieder von zwei völlig unbekannten Jungs singen. Was habt ihr damals darüber gedacht?“

„Das war surreal. Ich war ihm bereits ein paar Mal begegnet, aber es war etwas vollkommen anderes, seine fantastische Stimme mit unseren Songs zu hören. Er war in Topform und schaffte es, dass es ganz einfach aussah, solche stimmlichen Leistungen zu vollbringen. Es versetzt mir noch immer einen heftigen Kick, wenn ich diese Songs heute höre. Selbstverständlich hätte ich es am liebsten gesehen, wenn wir damals alles fertiggestellt und veröffentlicht hätten, aber es zu besitzen, bedeutet in der Tat noch immer etwas: ein Album mit meinen Melodien, gesungen von einer derart spektakulären Stimme.“

Dann ist Robert an der Reihe:

„Morten zu begegnen, lag zu diesem Zeitpunkt meines Lebens völlig außerhalb meiner Erwartungen. Er war ein unglaublich charismatischer Typ. Wir trafen uns im Studio in London, bevor wir zusammen mit ihm zum Abendessen gingen. Es war vollkommen surreal, einige Stunden später in die kleine, enge Vorstadtwohnung meiner Mutter zurückzukehren, wo ich auf dem Schlafsofa nächtigte.“

Zurück im Haus von Tarney senior in Richmond ist die Hörsession vorüber, die Blaubeermuffins sind verspeist, und der alte Starproduzent fährt mich zurück ins Zentrum zum Bahnhof. Während die Wildtiere leichtfüßig durch das Gras im Richmond Park spazieren, schüttelt Tarney beim Anblick einiger Radfahrer mittleren Alters in zu enger Kleidung den Kopf. „Die Zeit ist ihnen davongerollt“, murmelt er.