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Krisen
meistern

Der Leitfaden für ein starkes Danach

Sabine Edinger
Irene Penz
Friederike Ritter-Börner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2016

maudrich Verlag, Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Irene Rick, Trias Print Consulting GmbH, Wien

Lektorat: Katharina Stadler, Wien

Typografie und Satz: Trias Print Consulting GmbH, Wien

Druck: Finidr, Tschechien

eISBN 978-3-99111-018-7

ISBN 978-3-99002-017-3

Vorwort

Was kann dieses Buch? Was bringt es Ihnen? Wie können Sie es optimal nutzen? Und warum haben wir es geschrieben?

Sie können dieses Buch von vorne nach hinten lesen, was wir Ihnen empfehlen, denn es besteht aus zwei Teilen mit einem klaren Aufbau. Es ist aber auch ein Quer-Lesebuch. Eines, das Sie aufblättern und kapitelweise lesen können, so wie es gerade Ihrer Situation und Stimmung entspricht. Sie können sich dabei an den Themen der jeweiligen Kapitel orientieren und finden überall Querverweise zum Weiterlesen, Sichvertiefen und Weiterdenken.

Im letzten Kapitel »Soforthilfe im Akutfall« finden Sie komprimiert alles, was Ihnen in einer akuten Krise dabei hilft, den Kopf über Wasser zu halten und wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das Kapitel dient Ihnen aber ebenso als Leitfaden, wenn Sie eine andere Person durch eine Krise begleiten.

Doch nun der Reihe nach: Zuerst sehen wir uns gemeinsam an, was eine Krise ausmacht, woran man sie erkennt und dass jede Krise auch eine Möglichkeit bereithält, sich zu verändern und positiv zu entwickeln. Im Kapitel »Innenansicht einer Krise« veranschaulicht ein Beispiel, was bei einer Krise im Körper passiert und wie Körper, Seele und Geist sich gegenseitig beeinflussen. Danach geht es um die Auslöser von Krisen, die von Übergangsphasen im Leben wie der Pubertät und den Wechseljahren bis hin zu positiven Ereignissen wie der Geburt eines Kindes reichen können, aber auch dramatische Erlebnisse sein können, die über uns hereinbrechen und unseren Weg in neue Bahnen zwingen. Das umfassende Kapitel »Persönliche Krisengebiete« beschäftigt sich mit persönlichen Krisengebieten wie etwa dem Finden von Beruf und Berufung und den Problemen, die im Arbeitsumfeld auftauchen können. Breiten Raum nehmen auch die Themen Liebe, Beziehungen und Familie ein. Außerdem beschäftigen wir uns in diesem Kapitel mit Verlusten und Abschieden sowie mit dem Tod.

Im zweiten Teil des Buches geht es um das, was uns hilft, Krisen zu meistern. Wir schauen uns jene Bereiche in unserem Leben an, an denen wir arbeiten können, um in Krisen besser bestehen zu können oder um manche Krisen vielleicht sogar vermeiden zu können. So beschäftigt sich das Kapitel »Was unser Identitätsempfinden ausmacht« mit unserer Identität und jenen fünf Lebensbereichen, die diese prägen. Wissen wir darüber Bescheid, können wir nachjustieren, um im Leben besser aufgestellt zu sein. Im Kapitel »Innere Ressourcen« sprechen wir über Ressourcen wie Resilienz, über Glaubenssätze, die unsere Wahrnehmung und unsere Entscheidungen beeinflussen, und über die Gefahren, die es mit sich bringt, wenn wir in der Rolle des Opfers verharren, statt Gestalter unseres Lebens zu sein. Wir gehen den menschlichen Bedürfnissen auf den Grund und beschäftigen uns damit, wie es gelingen kann, nicht mehr an alten Defiziten zu leiden und sich selbst zu stärken. Anschließend besprechen wir ein neues Lebensgefühl ohne Krisen. Oft identifizieren wir uns mit unseren Problemen so stark, dass wir uns nicht vorstellen können, wie ein Leben ohne sie wäre. Das Kapitel »In Kontakt mit sich selbst sein« bietet Ihnen Übungen an, wie Sie in besseren Kontakt mit sich selbst treten können. Denn wenn wir uns gut spüren, können wir eher gegensteuern, wenn es schwierig wird, und vielleicht sogar verhindern, dass sich Schwierigkeiten zu Problemen und diese wiederum zu Krisen auswachsen. Im Kapitel »Über das gute Leben und warum wir positive Gefühle brauchen« beschäftigen wir uns mit dem guten Leben, das wir uns alle wünschen und das Sie vielleicht für unerreichbar halten. Doch das ist es nicht, auch wenn Sie viele Hürden zu nehmen und Bürden zu tragen haben. Es liegt trotz allem vieles in Ihren Möglichkeiten – versprochen! Den Abschluss des Buches bildet das Kapitel »Soforthilfe im Akutfall«, das Hilfe für akute Krisen bietet und als schnelle Gebrauchsanweisung für alle Fälle dient. Und noch etwas: Wir verwenden im Text abwechselnd die männliche und weibliche Schreibweise und meinen selbstverständlich immer beide Geschlechter.

Warum es dieses Buch gibt

Wir wollten dieses Buch schreiben. Wir wollten es aus ganzem Herzen schreiben, weil das Thema Krise in unserem Leben eine große Rolle gespielt hat – beruflich und privat – und weil wir wissen, dass es vielen anderen genauso geht.

Wir haben durch die vielen Menschen in Not, denen wir im Laufe der Jahre begegnet sind, viel gelernt und verstanden. Immer klarer wurde uns, dass es in Krisensituationen so etwas wie Gesetzmäßigkeiten gibt und auch Bewährtes, das immer wirkt. Deshalb haben wir ein Buch geschrieben, das wir uns selbst in so mancher Lebenssituation gewünscht hätten, ein Buch, das man betroffenen Menschen in die Hand geben kann, aber auch eines, das jenen hilft, die die Zusammenhänge in ihrem Leben besser verstehen wollen. Es ist daher nicht nur ein Krisen-Buch, es ist auch ein Lebens-Buch, eines, in dem es um ein besseres, ein wirklich gutes Leben geht und um Befreiung von alten Mustern. Ein Buch, das Ihnen zeigt, wo Sie feststecken. Ein Buch, das Ihnen Türen öffnen kann – zu sich selbst und zu Ihren Mitmenschen. Ein Buch, das Ihnen Orientierung und Kraft geben kann.

Nehmen Sie es mit in Ihr Leben. Finden Sie heraus, was Sie gerade brauchen und wenden Sie es an. Es ist aus der Praxis entstanden und dafür gedacht, Sie gerade jetzt zu begleiten.

Sabine Edinger
Irene Penz
Friederike Ritter-Börner

Inhalt

Was sind Krisen und wozu sind sie gut?

Problem, Krise oder Trauma?

Die zwei Seiten einer Krise

Wie es sein kann

Innenansicht einer Krise

Körperliche Veränderungen während einer Krise

Seelische Veränderungen während einer Krise

Geistige Veränderungen während einer Krise

Was löst Krisen aus?

Kritische Übergänge in unserer Lebensspur

Wenn ein Ereignis eine Lawine lostritt

Wenn der Eimer zum Sieb wird

Persönliche Krisengebiete

Beruf und Berufung

Familien-Herausforderungen

Patchwork-Herausforderungen

Unfreiwillig Single sein

Wenn die Liebe in die Krise kommt

Verluste, Abschiede und Tod

Was unser Identitätsempfinden ausmacht und wie wir uns selber besser verstehen können

Das Gefühl vom »Ich« und die tragenden Lebensbereiche als Fundament

Alles hängt zusammen

Ein Koffer voller Ideen

Innere Ressourcen

Unser seelisches Immunsystem stärken

Bedürfnisse erkennen und Grenzen setzen

Raus aus der Opferrolle und Abschied vom Leid

Innere Glaubenssätze und ihre Wirkung

Nachnähren und nachlernen – es ist nie zu spät

Wer bin ich ohne mein Problem?

Probleme als Spiegel der Biografie

Probleme als Lernmotoren

Sich selber neu entdecken

In Kontakt mit sich selbst sein

In Verbindung geboren, verletzt und geheilt

Der Atem als Kraft- und Lebensquelle

Übungen, um gut mit sich in Kontakt zu kommen

Über das gute Leben und warum wir positive Gefühle brauchen

Im neuen »Aggregatzustand der Wirklichkeit« und die Bedeutung der Gefühle

Was wir tun können um mehr gute Gefühle zu erleben

Das gute Leben

Soforthilfe im Akutfall

Achten Sie auf Ihre Grundbedürfnisse

Schaffen Sie das für Sie Nötigste

Halten Sie an kleinen Alltags-Strukturen fest

Holen Sie sich Hilfe von außen

Halten Sie Ausschau nach Vorbildern

Danksagung

Literatur

Stichwortverzeichnis

Was sind Krisen und wozu sind sie gut?

Problem, Krise oder Trauma?Die zwei Seiten einer KriseWie es sein kann

Was sind Krisen und wozu sind sie gut?

Was macht eine Krise aus und was unterscheidet sie von einem Problem oder einem Trauma? Was passiert, wenn wir mittendrin sind? Und können Krisen wirklich Chancen sein? Welche Erkenntnisse können wir aus diesen schmerzvollen Erfahrungen ziehen und wie können wir daraus lernen?

»Mitten im Winter habe ich erfahren,
dass es einen unbesiegbaren Sommer in mir gibt.«

— Albert Camus 1

Krisen gehören zum Leben. Sie kommen immer ungelegen und sie fordern uns heraus. Fast jeder von uns hat schon Bekanntschaft mit persönlichen Lebenskrisen gemacht. Es gibt die kleinen Krisen, die keine große Sache werden müssen, wenn wir uns damit auseinandersetzen, und solche, die wir auch eine Zeit lang verdrängen können, ohne dass sie uns im Alltag besonders belasten. Dann gibt es aber auch die massiveren, die uns zeigen, dass wir tatsächlich etwas verändern müssen, um wieder in die Komfortzone zu gelangen, und die uns dabei auch richtig viel abverlangen. In ihrer schlimmsten Form können Krisen brachial und urgewaltig über uns hereinbrechen und einem Schicksalsschlag gleich alles Gewohnte und Sichere hinwegfegen, sodass unsere gesamte Existenz tief erschüttert ist. Krisen können klein beginnen, am Anfang noch unspektakulär sein und sich dann zu etwas Großem auswachsen, Kreise ziehen und so immer mehr Einfluss auf unser Leben gewinnen. Es gibt aber auch Krisen, die vorauszusehen sind und oft in jenen Lebensphasen auftreten, die mit starken Veränderungen und Umbrüchen zu tun haben. Diese Phasen fordern daher verstärkte Wachsamkeit von uns. Wenn wir nicht aufpassen, heften sich krisenhafte Entwicklungen an unsere Fersen und treten wieder und wieder in Erscheinung, bis wir uns wirklich mit ihnen beschäftigen.

Krisen können also durch eine besondere Situation ausgelöst werden oder dadurch, dass wir mitten in einem Entwicklungsprozess stecken oder eine Entscheidung mit folgeschweren Konsequenzen treffen müssen.

Wie ein Schiff ohne Kompass

Es zeichnet eine Krise aus, dass unsere herkömmlichen Fähigkeiten, Probleme zu lösen und zielgerichtet zu handeln, nicht mehr ausreichen. Manchmal scheint es so, als wäre uns diese Fähigkeit ganz abhandengekommen. Unsere Wahrnehmung verengt sich und wir können auf keine Erfahrungen zurückgreifen, die uns in diesem Moment helfen könnten. Dabei kann sich dieser »Moment« über Tage und Wochen hinziehen. Manchmal fühlen wir uns existenziell bedroht und stellen all jene Werte und Normen infrage, die uns bisher bedeutsam erschienen sind. Wir schätzen unsere Handlungsmöglichkeiten als gering oder gar gleich Null ein, was uns den Glauben nimmt, selbstwirksam sein zu können. Unser emotionales Gleichgewicht ist dahin. Wir haben zu dieser Zeit den Eindruck, wie ein Schiff ohne Kompass auf offener See zu sein.

Was wir für uns selbst als Krise bewerten, ist sehr individuell. Zwei Personen können das exakt Gleiche erleben und völlig unterschiedlich verarbeiten. Hierbei spielt auch unsere Umwelt eine große Rolle. Entscheidend ist aber, als wie bedrohlich oder destabilisierend das Ereignis wahrgenommen wird, und ob man meint, handlungsfähig zu sein und diesem Handeln auch Erfolg zutraut.

Karin und Bea sind zum Beispiel beide 17 Jahre alt, Schülerinnen und ungeplant schwanger. Beide haben die Beratungsstelle des Frauenzentrums aufgesucht und wurden zu ihrer individuellen Situation beraten. Sie bekamen Informationen über staatliche Unterstützungen und darüber, wie und wo sie sich Hilfe organisieren können. Beas Familie und auch die Familie ihres Freundes sind nach dem ersten Schock einstimmig bereit, mitzuhelfen, um dem Kind die besten Startbedingungen ins Leben zu geben. Karin hat diese Ressource nicht: Mit ihrem Freund ist sie nicht mehr zusammen und außer ihrer berufstätigen und alleinerziehenden Mutter hat Karin kein familiäres Netz, das sie auffängt und unterstützt. Karin ist selbst ohne Vater aufgewachsen. Sie kennt die Einsamkeit nur allzu gut, gepaart mit dem Kampf, sich die notwendigsten Dinge des täglichen Lebens leisten zu können. Die Vorstellung, ein Kind alleine großzuziehen, löst eine heftige Krise aus. Für sie ist die Schwangerschaft bedrohend und in hohem Maße destabilisierend. Bea hingegen kämpft auch, verliert aber nicht den Boden unter den Füßen. Sie traut sich selbst viel zu. Sie hat die klare Vision, die Schule abzuschließen und ihre gewünschte Berufslaufbahn einzuschlagen. Und sie hat das Vertrauen, dass sie es mithilfe ihrer Familie und ihres Freundes schaffen kann, dieses Kind großzuziehen.

Wir alle sind mit einem unterschiedlichen Repertoire an Vorerfahrungen ausgestattet. Dementsprechend verschieden sind unsere Sozialisation, unsere gesellschaftliche und persönliche Konditionierung sowie die Art und Weise, wie sich unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen manifestieren. Wir nehmen Ereignisse, uns selbst und die Welt um uns durch den Filter unserer Vorerfahrungen wahr. Ob wir eine Situation als so bedrohlich oder einengend empfinden, dass wir sie als Krise bewerten, hängt von unserer subjektiven Einschätzung und Interpretation ab sowie von unserer kulturellen Prägung und unseren Werten und Normen.

Problem, Krise oder Trauma?

Nicht jedes Problem ist gleich eine Krise. Manchmal haben wir »nur« ein Problem, benennen es aber fälschlicherweise als Krise. Und manchmal liegt die Ursache unserer Schwierigkeiten viel tiefer in einem Trauma, das wir durchlebt haben, oft ohne uns bewusst daran zu erinnern. Diese drei Begriffe auseinanderzuhalten ist hilfreich und klärend.

Ihre 12-jährige Tochter kommt in voller Kriegsbemalung mit Minirock und Netzstrumpfhose aus dem Bad und will so in die Schule gehen. »Ich krieg die Krise!«, ist Ihre Reaktion darauf. Sie haben aber vermutlich keine Krise, sondern nur ein Problem. Und wahrscheinlich kriegt Ihre Tochter auch gleich eines.

Krise oder Problem?

Ein Problem stellt uns vor eine schwierige Situation, die es zu lösen gilt. Der Unterschied zu einer Krise ist, dass wir bei ersterem mit unseren bisher erlernten Strategien zielgerichtet planen und handeln können. Wir wissen uns zu helfen und können Hilfe organisieren.

Sie fahren auf der Autobahn und haben unvorhergesehen eine Panne. Sie müssen dringend zu einem für Sie beruflich wichtigen Termin und fühlen sich nun unter Druck. Diese Autopanne ist für Sie ein Problem, das mit unangenehmen Gefühlen, Stress und Sorgen einhergeht. Zuvor waren Sie vielleicht in einem innerlich guten Zustand, die Panne versetzt Sie aber in Aufruhr. Nun gilt es, klar zu überlegen, was der Reihe nach zu tun ist, und zu handeln. Sie verständigen die Pannenhilfe und informieren jene Person, mit der Sie verabredet sind, über Ihre Verspätung. Dann nimmt alles seinen Lauf und Ihr Auto wird wieder startklar gemacht, sodass Sie bald weiterfahren können. Sie haben die Situation gemeistert, das Problem behoben und finden wieder zurück zu Ihrer inneren Balance.

Von einem Problem klar abzugrenzen ist eine Krise, für die es verschiedene Definitionen gibt. Das Wort Krise kommt vom altgriechischen Verb krinein, das trennen und (unter-)scheiden bedeutet. Das griechische Wort krisis bezeichnet nicht eine hoffnungslose Situation, sondern einen instabilen Zustand. Das lateinische crisis wiederum bezeichnet in der medizinischen Fachsprache die entscheidende Wendung von Krankheiten und allgemein den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Lage, von dem an es nur noch besser werden kann. Charakteristika einer Krise in unserem Sprachgebrauch sind etwa die dringende Notwendigkeit von Handlungsentscheidungen, ein Gefühl von Bedrohung, eine verengte Wahrnehmung, ein Anstieg an Unsicherheit, Dringlichkeit und Zeitdruck und das Gefühl, das Ergebnis sei von prägendem Einfluss auf die Zukunft. Die Krise ist ein schmerzhafter seelischer Zustand, der meist durch ein überraschendes Ereignis oder akutes Geschehen hervorgerufen wird.

Eine erfolgreiche Ärztin und Mutter zweier Kinder mit gut gehender Praxis erfährt nach einer Routineuntersuchung, dass sie einen sehr aggressiven Brustkrebs hat. Die Lymphknoten sind bereits befallen, eine Chemotherapie ist dringend notwendig. Die Ärztin muss ihre Praxis schließen und sich sofort in ärztliche Behandlung begeben. Eine Welt bricht für sie zusammen. Der Schock sitzt tief.

Eine derartige Nachricht löst bei den allermeisten Menschen eine Krise aus, denn plötzlich ist nichts mehr wie zuvor. Alle bisherigen Erfahrungen, Normen, Werte und Ziele sind infrage gestellt. Dinge, die bisher selbstverständlich erschienen, wie etwa die Gesundheit des eigenen Körpers und der Verlass auf sein Funktionieren, sind tief erschüttert. Wir sehen die Welt mit völlig anderen Augen, was uns bisher wichtig erschien, kann völlig unwichtig werden und umgekehrt.

Krise oder Trauma?

Das Wort Trauma bedeutet allgemein Verletzung. In der Medizin meint Trauma eine Verwundung, die durch Gewalteinwirkung wie etwa einen Unfall hervorgerufen wurde. Analog dazu bezeichnet man in der Psychologie eine starke psychische Erschütterung, ausgelöst durch ein traumatisches Erlebnis, als Psychotrauma. Eine der bekanntesten Definitionen des Traumas ist die von Fischer und Riedesser. Sie bezeichnen ein Trauma als

»vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« 2

Ein traumatisches Ereignis ist ein sehr einschneidendes und erschütterndes Ereignis, das sich von einer Krise durch seine enorme Intensität abgrenzen lässt. Erst in den letzten Jahrzehnten beschäftigen sich Psychologie und Psychotherapie intensiv mit der Entstehung von Traumen und beleuchten auch mehr und mehr die Zusammenhänge mit Suchterkrankungen und psychiatrischen Erkrankungen.

Traumatische Erlebnisse können sehr unterschiedliche Folgen haben. Wie sie sich auswirken, hängt von der Art und Weise des Traumas ab und wodurch es ausgelöst wurde. Auch wie lange ein Ereignis gedauert hat und ob es öfter oder immer wieder passiert ist, spielt eine Rolle. Bei Traumen, die von Menschen verursacht wurden, ist die Beziehung zwischen Opfer und Täter von großer Bedeutung. Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen

von Menschen verursachten Traumen wie zum Beispiel:

sexuelle und körperliche Misshandlung in der Kindheit

kriminelle und familiäre Gewalt

Kriegserlebnisse

Vergewaltigung

Folter und politische Inhaftierung

Massenvernichtung

zivile Gewalterlebnisse (z. B. Geiselnahme)

und Katastrophen und Unfalltraumen wie zum Beispiel:

technische Katastrophen

Naturkatastrophen (Tsunami, Erdbeben)

Arbeitsunfälle (z. B. Grubenunglück)

Verkehrsunfälle

In ihrer Auswirkung sind die von Menschen verursachten Traumen schwerwiegender und man braucht länger, um sie aufzuarbeiten. Menschen, die eine Traumatisierung erlebt haben, zeigen besondere Verhaltensweisen oder Symptome. Sie leiden zum Beispiel an immer wiederkehrenden, sehr belastenden Erinnerungen an das Geschehene, sind seither oft erregt und unruhig, können sich schlechter konzentrieren und schlafen schlecht. Sie sind oft übermäßig wachsam oder auch aggressiv und sie versuchen häufig, alles zu meiden, was sie an das Erlebte erinnert.

Nicht jede Krise ist ein Trauma. Aber jedes Trauma führt den betroffenen Menschen unweigerlich in eine Krise. Ob ein einschneidendes oder erschütterndes Ereignis für den betroffenen Menschen zur Krise oder zum Trauma wird, hängt von vielen Faktoren ab. Dabei spielen die Persönlichkeit, die inneren und äußeren Ressourcen sowie das persönliche Umfeld eine entscheidende Rolle. Ein Trauma zu bewältigen, erfordert viel Zeit und meist professionelle Hilfe. Es wächst sich selten von alleine aus. Erfahrene Psychotherapeuten mit einer zusätzlichen Qualifikation für Traumatherapie können Betroffenen helfen, wieder Stabilität und Qualität im Leben zu bekommen.

Die zwei Seiten einer Krise

Wir beschäftigen uns in diesem Buch überwiegend mit jenen Krisen, Problemen und Herausforderungen, mit denen wir in unserem täglichen Umfeld am häufigsten konfrontiert sind. Das sind unsere persönlichen psychischen, körperlichen und sozialen Krisen im Leben, die wir bewältigen müssen. So manche Krise hilft uns dabei letztlich, mehr über uns selbst zu erfahren. Von unserer Fähigkeit, schwierige Situationen zu meistern und allen Hürden zum Trotz den Kopf nicht in den Sand zu stecken, hängt vieles ab. So sind Krisenzeiten auch Zeiten, die uns jene Veränderung abverlangen, die wir zwar vielleicht sogar als notwendig erkennen, aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht umsetzen wollen oder können. Insofern sind Krisenzeiten wichtig für unsere Entwicklung und immer auch eine Chance für eine neue Ausrichtung, einen Neubeginn.

Wahrscheinlich haben Sie schon einmal gehört, dass das chinesische Schriftzeichen für Krise aus zwei Teilen besteht: Der erste bedeutet verkürzt Gefahr, der zweite Chance. Krise = Gefahr und Chance zugleich. Sich daran zu erinnern, hilft, wenn man sich mit Krisen auseinandersetzen muss. Wir erleben eine komplizierte, schwierige Zeit, fühlen uns verwirrt und verunsichert, wünschen uns, dass alles so bleibt wie zuvor, und wissen doch, dass das nicht passieren wird.

Eine Krisenzeit ist unbequem, ungemütlich, vielleicht auch schrecklich. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Der andere Teil heißt: Da warten neue Ufer, Veränderungen und Wandlungen. Man häutet sich wie eine Schlange, gelangt in einen neuen Lebensabschnitt, vielleicht sogar in ein viel besseres Leben. Die Krise ist die Chance, sich oder sein Umfeld zu verändern, den Blickwinkel zu verschieben oder auch handfeste Fakten zu schaffen, seine Beziehungen zu überprüfen und neu aufzusetzen und vielleicht nur die Wahrnehmung, vielleicht aber das ganze Leben zu verändern. Das, was Krisen jedenfalls immer von uns verlangen, ist unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie sagen uns: Jetzt ist es Zeit hinzuschauen und etwas zu verändern.

Erinnern Sie sich an eine schwierige Situation in Ihrem Leben, die Sie bewältigt und überstanden haben? Wahrscheinlich fühlten Sie sich wie in einem Tunnel gefangen und konnten kein Licht am Ende erblicken. Und dennoch, Sie sind durchgegangen und in der Rückschau sagen Sie heute: »Das hat mich stärker gemacht«, oder »Diese Erfahrung war wichtig für mich, weil …«. Vielleicht können Sie mit zeitlichem Abstand sogar sagen: »Ich bin dankbar für …«.

Wie es sein kann

Stellen Sie sich vor, Sie sind Mitte 30, haben eine Familie mit zwei Kindern und sind dabei, Ihr Haus fertigzustellen. Die letzten fünf Jahre haben Sie alles für die Verwirklichung dieses Traumes getan. Sie haben Ihren Beruf ausgeübt, Überstunden gemacht, jede freie Minute am Haus gearbeitet, die Kinder versorgt und alles darauf ausgerichtet, um bald im neuen Heim leben zu können. Kaum sind Sie eingezogen, teilt Ihnen Ihr Partner oder Ihre Partnerin mit, dass es so nicht mehr weitergeht: Er oder sie ist unglücklich und unzufrieden mit der gesamten Lebenssituation, ja sogar eine Trennung steht im Raum. Ganz plötzlich. Oder doch nicht so plötzlich? Im ersten Schock sind Sie panisch und haben Angst, alles zu verlieren. Eine ganze Palette an Gefühlen überschwemmt Sie. Sie sind wütend, zornig, ohnmächtig. Sie können nicht mehr klar denken. Sie wollen nur, dass alles so bleibt, wie es ist, obwohl Ihnen auch klar ist, dass es nicht so bleiben kann. Was jetzt? Sie fragen sich, was geschehen ist. Gab es in den letzten Monaten Hinweise auf die sich zuspitzende Situation? Was haben Sie übersehen? Erst jetzt, als Ihr Partner oder Ihre Partnerin Ihnen in aller Deutlichkeit mitteilt: »Ich will so nicht mehr!«, erst jetzt sind Sie aufgewacht – und in Panik.

Nun ist sie da, die Gefahr und Chance zugleich, und sie fordert uns. Sie will, dass wir genau hinschauen. Sie verlangt Phasen des In-sich-Gehens, Nachdenkens, Nachspürens, verlangt, dass wir der Frage nach dem Wie? Was? Warum? nachgehen. Wie wollen wir unser Leben weiterleben? Wo liegen unsere Prioritäten? Und gibt es überhaupt noch ein Wir? Wie kann ich das JETZT aushalten, als gegeben annehmen, akzeptieren? Was können die nächsten Schritte sein?

Es ist, als ob jemand ein großes Stopp-Schild vor uns hingestellt hätte und uns daran hindert, in derselben Geschwindigkeit, im gleichen Modus, in dieselbe Richtung weiterzumachen. Unsere Gefühle, unser vorhersehbares Handeln und unsere Routinen geraten ins Wanken. Der Boden schwankt, nichts ist mehr sicher.

Wenn wir zur Arbeit gehen, kann es sein, dass wir plötzlich keinen Sinn mehr darin sehen, uns weiter anzustrengen. Die Familie ist in Gefahr, das Haus ist in Gefahr, alles ist in Gefahr. Machen wir morgens die Kinder fertig für die Schule, überfällt uns eine Traurigkeit nie dagewesenen Ausmaßes, denn vielleicht werden sie mit getrennten Eltern aufwachsen, was wir nie gewollt haben, in einer Wohnung in der Stadt, weil die finanziellen Möglichkeiten nicht ausreichen werden, das Eigenheim zu behalten. Vielleicht vernachlässigen wir in dieser Phase der Ungewissheit unsere Grundbedürfnisse wie regelmäßig zu essen, zu schlafen, uns zu bewegen und Kontakte zu Freunden und Familie zu halten so sehr, dass wir körperlich oder psychisch krank werden. Oder wir nehmen Zuflucht in Alkohol, Medikamenten und Drogen, um zumindest zeitweise Erleichterung zu erfahren – wir versuchen, uns mit diesen Suchtmitteln selbst zu therapieren, um den Schmerz nicht spüren zu müssen. Vielleicht bunkern wir uns auch ein, sind für niemanden mehr zugänglich oder driften vor dem PC in andere Welten ab. All dies sind Versuche, die Bedrohung abzuwehren.

Werden wir aber gewahr, was mit uns in diesem Moment passiert, in welche Richtung unser Denken, Fühlen und Handeln geht, dann öffnen wir die Tür für andere Möglichkeiten. Wir tun es alleine schon deshalb, weil wir nicht mehr unbewusst sind.

Fragen, die jetzt hilfreich sind:

»Wo stehe ich gerade in meinem Leben?

»Was funktioniert (noch) gut?

»Welcher Lebensbereich ist von der Krise betroffen?

»Wie stark erlebe ich gerade diese Krise auf einer Skala von 0–10?

»Was genau nehme ich wahr in mir?

»Welche Gedanken, welche Gefühle habe ich? Was spüre ich in meinem Körper?

»Gibt es Menschen in meiner Umgebung, denen ich mich anvertrauen kann?

»Möchte ich professionelle Hilfe suchen und mich begleiten lassen?

»Kann ich in all dem Geschehen auch eine Chance erkennen?

»Welche Fähigkeiten und Ressourcen stehen mir zur Verfügung, um diese Krise bewältigen zu können?

Achtsames Einlassen und neue Erkenntnisse

Je nachdem, welche Vorerfahrungen wir mitbringen und wie ausgeprägt unsere Fähigkeit ist, bestehende Ressourcen zu erkennen und zu nutzen, könnten wir in unserem Beispiel folgende neue Erfahrungen machen:

Wir nehmen unseren Partner, unsere Partnerin plötzlich anders wahr. Er oder sie ist nicht mehr nur jene Person, die selbstverständlich an unserer Seite ist, die das Geld nach Hause bringt, die für die Kinder da ist und die sich um all das kümmert, was wir bislang nicht als unsere Aufgabe gesehen haben. Uns wird vielleicht wieder bewusst, dass dieser Mann, diese Frau eigene Wünsche und Bedürfnisse hat und nicht nur ein funktionierendes Rädchen im Familiengetriebe ist.

Wenn wir es schaffen, wieder offen und ehrlich miteinander zu reden, stellen wir fest, dass unsere Sicht der Dinge nicht die alleinige Wahrheit ist.

Wir gehen auf die Suche nach unseren Werten, nach dem, was uns beiden wichtig war und was verloren gegangen ist.

Wir erkennen die Punkte, die eine ernsthafte Gefahr für die Beziehung darstellen, und sprechen vielleicht erstmals darüber.

Wir reden mit einem Freund oder einer guten Freundin über unser Problem und erfahren, was er oder sie schon seit Längerem als Außenstehender gesehen hat. Vielleicht machen wir den Eindruck, nebeneinanderher zu leben, ohne dass wir es selbst gemerkt haben.

Vielleicht wird uns bewusst, dass die viele Mehrarbeit und der berufliche oder ehrenamtliche Einsatz auch eine willkommene Gelegenheit war, sich nicht mit der Familie, mit dem Partner, der Partnerin oder den Kindern auseinandersetzen zu müssen. Dass wir auf der Flucht waren, ohne es uns einzugestehen.

Vielleicht sehen wir plötzlich sonnenklar, dass unser gewohnheitsmäßiges Schweigen, unser Kritisieren oder unser Kontrollieren jede Liebesbeziehung früher oder später abtötet. Wir beginnen langsam zu begreifen, was da eigentlich gelaufen ist, und fangen an, die volle Verantwortung für unser eigenes Verhalten zu übernehmen.

Wir entscheiden uns vielleicht, professionelle Hilfe in Form von Paar-, Familien- oder Lebensberatung in Anspruch zu nehmen, und lernen zu verstehen, wo wir vom gemeinsamen Kurs abgekommen sind und wie wir den Weg in einer konstruktiven Weise wieder zueinander finden können.

Wir bemerken plötzlich, wie groß unsere Kinder schon geworden sind, wie sie sich in den letzten Monaten verändert haben, was sie bewegt, was sie beschäftigt und wie wenig qualitative Zeit wir mit ihnen verbracht haben.

Wir durchleben tief in unserem Innersten einen Wertewandel und stellen fest, welchen scheinbar wichtigen Dingen wir nachgejagt sind, und richten unseren inneren Kompass ganz neu aus.

Dies ist ein Prozess der Achtsamkeit, die wachsen muss, und er geschieht in der Regel nicht auf allen Erkenntnisebenen gleichzeitig und auch nicht über Nacht. Es braucht Zeit und oft auch Mut, sich mit sich selbst, der eigenen Geschichte und dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen. Tun wir es, gelangen wir fast immer zu der Einsicht, dass diese schmerzhafte Lebensphase sinnvoll war, dass wir innerlich gereift sind und unser Horizont weiter geworden ist. Krisen zu meistern, kann dann auch bedeuten, hinterher stärker und widerstandsfähiger zu sein, manche Dinge bewusst nicht mehr zu wiederholen, bereits erste Anzeichen von Problemen viel früher zu erkennen und vor allem besser Bescheid zu wissen, was wirklich hilft.

Innenansicht einer Krise

Körperliche Veränderungen während einer KriseSeelische Veränderungen während einer KriseGeistige Veränderungen während einer Krise

Innenansicht einer Krise

Wie erleben wir Krisen? Wie fühlen sie sich an? Warum sehen wir, wenn wir mittendrin sind, oft keine Auswege, keine Lösungen? Was kann uns helfen, derartige Situationen auszuhalten? Und was können wir tun, um wieder handlungsfähig zu werden?

So sehr sich Krisen inhaltlich unterscheiden können, sie ähneln sich in ihrer inneren Struktur und ihren Abläufen. Krisenhaftes Geschehen betrifft und erschüttert den Menschen in seiner Ganzheit und verändert ihn.

Es gibt verschiedene Modelle, die uns helfen, den Menschen in all seiner Komplexität zu begreifen. Wir können ihn uns beispielsweise vereinfacht als eine biopsychosoziale Einheit vorstellen, ein offenes System, das ständig im Austausch mit anderen Menschen und mit der Umwelt ist. Man kann auch von drei Ebenen sprechen – von Körper, Seele und Geist – die sich permanent gegenseitig beeinflussen. Der Begriff Seele umfasst in diesem Modell die Emotionen, die Bedürfnisse, den Willen und die soziale Einbindung. Geist meint hier mehr als das Denken. Dazu gehören auch Sinnfindung, Spiritualität, Werte und innere Haltungen sowie Visionen und Ziele. Jeder dieser Bereiche – Körper, Seele und Geist – wird in einer Krise erschüttert und verändert.

Karin lebt seit vielen Jahren mit ihrem Freund Alex zusammen. Die beiden hatten es in den letzten Monaten nicht leicht: Alex musste sehr fordernde Arbeitseinsätze bewältigen, die zahlreiche Überstunden mit sich brachten, und er leidet sehr darunter, mit einem Kollegen, mit dem er eng zusammenarbeiten muss, dauernd in Konflikte zu geraten. Er hat wenig Kraft und Energie für die Partnerschaft. Karin hat das Gefühl, dass er sich innerlich immer weiter von ihr distanziert. Karin wiederum ist gerade auf Arbeitssuche, was sich als sehr kräfteraubend herausstellt. Sie kündigte ihren letzten Job, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sah. Außerdem wünscht sie sich nichts sehnlicher, als endlich schwanger zu werden, was jedoch seit Monaten nicht gelingen will. So sehr sie auch das Gespräch mit Alex sucht, er bezieht dazu nicht wirklich Stellung. Sie haben sich also ein Stück weit auseinandergelebt und in letzter Zeit kam es auch immer wieder zu kleineren Unstimmigkeiten und sogar Streitereien zwischen den beiden. Karin ist darüber traurig und enttäuscht und sie erhofft sich insgeheim, dass eine Schwangerschaft die beiden einander wieder näherbringen werde. Eines Tages sitzt Karin am PC, um wieder einmal nach neuen Stellenausschreibungen zu suchen, als sie aus einem Bauchgefühl heraus in Alex’ Mailbox stöbert, was sie normalerweise nie tun würde. Was sie dabei entdeckt, zieht ihr den Boden unter den Füßen weg: Alex schreibt seit Wochen mit einer Kollegin regelmäßig sehr intime Mails, die an Eindeutigkeit nichts offen lassen. Karin sitzt wie erstarrt vor dem Monitor und bricht in Tränen aus. Alles beginnt sich vor ihren Augen zu drehen. Auf der anderen Seite hat sie nun die Bestätigung für ihre Ahnung, die sie schon länger in ihrem Herzen trägt, nämlich, dass Alex eine Affäre hat.

Körperliche Veränderungen während einer Krise

Beginnen wir mit der äußersten Schicht unseres vereinfachten Modells des Menschen, dem körperlichen Bereich. Was genau passiert im Körper, wenn wir in eine Krise geraten? Und welche kleinen Schritte sind hilfreich, um den körperlichen Bereich wieder zu stärken?

Plötzlich auftretende Krisen

Es macht einen großen Unterschied, ob die Krise abrupt oder schleichend eintritt. Nehmen wir die Geschichte von Karin und Alex als Beispiel für eine plötzlich auftretende Krise und beobachten wir, was dabei genau im Körper passiert.

Karin gerät beim Lesen der Mails innerhalb weniger Augenblicke in einen krisenhaften Zustand. Es gibt hier also einen klaren Auslöser – die konkreten Mails von Alex an seine Kollegin –, der ihren Körper in einen absoluten Alarmzustand versetzt. Karin steht unter Schock, ihr Körper schüttet einen Cocktail an Stresshormonen aus.

Die Stresshormone sollen uns helfen, aktiv ins Handeln zu kommen, um Kräfte zu mobilisieren. Im Stammhirn, dem von der Evolution her ältesten Teil des Gehirns, herrscht Alarmzustand. Der Körper reagiert mit beschleunigtem Herzschlag, der Blutdruck steigt, die Durchblutung der Haut und der inneren Organe wird heruntergefahren. Wir brauchen mehr Sauerstoff, die Bronchien weiten sich und wir atmen schneller. Unsere Pupillen erweitern sich. Die Körpertemperatur steigt, kalter Schweiß steht auf der Haut. Karin wird, wie alle Menschen in einer plötzlich auftretenden Krisensituation, mit einem der vier Überlebensmuster reagieren:

angreifen (Aggression)

erstarren

sich zurückziehen

sich unterwerfen und die Schuld bei sich suchen

Durch diesen Notfallmodus des Körpers ist das Nervensystem aktiviert. Der Stresspegel wird zwar in den nächsten Stunden absinken, trotzdem fühlt es sich so an, als könnte man nicht zur Ruhe kommen.

Ein Gedanken-Karussell beginnt sich zu drehen: »Wer ist diese Frau?«, »Ist sie hübscher, intelligenter, humorvoller etc. als ich?«, »Warum und wann hat das alles begonnen?«, »Wie kann er mir das nur antun?«, »Warum habe ich nichts gemerkt?«, »Muss ich die Beziehung jetzt beenden oder was soll ich jetzt tun?«. Diese und viele andere Gedanken drängen sich Karin immer wieder auf, lassen sie über Stunden nicht zur Ruhe kommen und in der Nacht wenig Schlaf finden.

Mögliche andere körperliche Reaktionen beim Auftreten von plötzlichen Krisen sind:

Herzrasen oder Herzrhythmusstörungen

Einschlaf- oder Durchschlafstörungen

depressive Verstimmtheit

Magen- oder Darmprobleme

Migräne

vermehrte Schweißbildung

körperliche Unruhe, Nervosität

Schwindel und Schwanken

Zittern in den Extremitäten

Sprachlosigkeit

Diese Symptome können in unterschiedlicher Stärke und Ausprägung auftreten und ebenso rasch wieder abklingen, wenn eine Lösung oder Entspannung der Situation in Aussicht ist. Bei all diesen Symptomen ist es normalerweise nicht notwendig, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, es sei denn, sie klingen nicht ab, sondern dauern einige Tage bis Wochen an und die betroffene Person fühlt sich dadurch extrem eingeschränkt oder ist sehr verängstigt. Wichtig ist, zu wissen, dass es sich hierbei um völlig normale Begleiterscheinungen von Krisen handelt, die sich auf der körperlichen Ebene bemerkbar machen.

Bei Karin kann man davon ausgehen, dass sie Alex bald mit ihrer »Entdeckung« konfrontieren wird. Dann steht dem Paar höchstwahrscheinlich eine turbulente Zeit ins Haus. Es kommt jetzt sehr auf die Reaktion von Alex an, wie es konkret mit dieser Beziehung weitergehen wird. Wenn Alex seine »Schuld« sehen, die große Verletzung von Karin und den Vertrauensbruch ernst nehmen kann und die Primärbeziehung zu ihr retten möchte, haben die beiden eine Chance, die Beziehung tatsächlich auf eine neue Basis zu stellen. Der Weg aus einer Affäre heraus ist sehr herausfordernd und benötigt nicht selten professionelle Unterstützung. Karin wird wahrscheinlich noch einige Zeit an Schlafproblemen leiden und nicht »in ihrer Mitte« sein, was sich sehr unterschiedlich äußern kann. Im besten Fall arbeiten Alex und Karin an einer tiefgreifenden Veränderung und Erneuerung ihrer Partnerschaft und bringen die Geduld auf, immer wieder neu aufeinander zuzugehen, offen miteinander über ihre Gefühle zu reden und sich zu verzeihen (siehe auch Kapitel Wenn die Liebe in die Krise kommt). Wenn dies gelingt, dann wird Karin wieder zu ihrer inneren Stabilität zurückfinden können, also zu jenem Zustand, in dem sowohl ihre Seele als auch ihr Körper nicht mehr in einem Alarmzustand sind.

Krisen, in die man hineinrutscht

Das Beispiel mit Karin hat uns gezeigt, was sich im Körper bei plötzlich auftretenden Krisen ereignen kann. Nun gibt es aber auch schleichend auftretende Krisen, zum Beispiel Reifungskrisen oder kritische Lebensübergänge (siehe auch Kapitel Was löst Krisen aus?). Hier sind die körperlichen Symptome oft sehr ähnlich den im Abschnitt zuvor aufgelisteten, allerdings treten diese höchst beunruhigenden Symptome wie Schlafprobleme, Unruhe, depressive Verstimmungen oder Zittern nicht so schlagartig auf. Viele Betroffenen entwickeln chronische psychosomatische Beschwerden, die sie sich nicht erklären und mit der persönlichen Krise in Verbindung bringen können. Sie laufen von Arzt zu Arzt, um Hilfe zu erhalten. Dabei reagiert ihr Körper hier ganz normal mit außergewöhnlichen Symptomen auf eine außergewöhnliche Situation, auf eine Krise, auf den chronischen seelischen Stress. Dieser manifestiert sich auch auf der körperlichen Ebene. Mögliche Erkrankungen bzw. Beschwerden können hier etwa Gastritis, Migräneanfälle, Depressionen, Verstopfung oder Durchfälle sein, ebenso Haarausfall, Essprobleme oder Hauterkrankungen. Das Behandeln der körperlichen Symptome bringt keine langfristige Erleichterung, denn irgendwann treten andere Beschwerden auf und es kann sein, dass man sich dauernd krank fühlt. Doch eigentlich ist das alles eine sehr »gesunde« Reaktion, die uns sagt: Wir sind in einer Krise. Hier kann Psychotherapie unterstützen, die Ursachen der körperlichen Beschwerden zu erkennen und Lösungswege zu erarbeiten, um wieder Anschluss an die eigenen Ressourcen zu finden.

Was Sie sofort tun können:

Hier ein paar kleine erste Maßnahmen, die helfen können, wenn der Körper in Aufruhr ist:

»Gehen Sie möglichst viel an die frische Luft und kommen Sie aktiv in Bewegung. Das hilft, die Stresshormone im Körper schneller abzubauen.

»Vergessen Sie nicht, gesunde Nahrung zu sich zu nehmen, der Körper braucht jetzt noch mehr Vitamine und Ballaststoffe.

»Schalten Sie immer wieder bewusst einen Gang zurück. Stress, der durch Krisen ausgelöst wird, zehrt vermehrt an Ihren körperlichen Ressourcen.

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