Titel

Wolfgang Streeck

Zwischen Globalismus und Demokratie

Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus

Suhrkamp

Vorwort

Dieses Buch steht, wie vieles, was heute geschrieben wird, in der Tradition Karl Polanyis. Gegenstand jeder politischen Ökonomie in seiner Nachfolge, theoretisch wie praktisch, ist die gesellschaftliche Einbettung der unter dem Liberalismus losgelassenen kapitalistischen Ökonomie – die Sozialisierung der Ökonomie zur Verhinderung der Verwirtschaftung der Gesellschaft. Einbettung heißt Rückgewinnung gesellschaftlicher Kontrolle über den Selbstlauf selbstregulierender Märkte. Aber keine Einbettung ohne Bett. So kommt die Staatsfrage ins Spiel und die Politik kehrt in die politische Ökonomie zurück. Kapitalismustheorie verlangt nach Staatstheorie. Aber wie muss ein Staat aussehen, mit dem die Rückbettung einer kapitalistischen Ökonomie in den Wirkungskreis demokratischer, den oligarchischen Elitismus des Marktes egalitär korrigierender Politik möglich wäre?

Eine Gesellschaft, die eine kapitalistische Wirtschaft einbetten will, benötigt einen regierungsfähigen Staat. Und nicht nur das. Wenn Einbettung Gestaltbarkeit kraft egalitärer Demokratie bedeuten soll – und nichts anderes bedeutet sie jedenfalls bei Polanyi –, dann muss der Staat, in den eingebettet wird, demokratischer Beeinflussung und Willensbildung zugänglich sein. So werden Struktur, Verfassung, Architektur von Staatlichkeit zum Gegenstand einer politischen Theorie des Kapitalismus, und politische Ökonomie muss sich für eine Institutionentheorie öffnen, in der es nicht um »den Staat« im Allgemeinen geht, sondern um historisch real existierende Staaten in historisch real existierenden Staatensystemen, die die Handlungsfähigkeit ihrer Staaten befördern, begrenzen oder zunichtemachen. Deshalb beschäftige ich mich in diesem Buch mit der Struktur von Staatlichkeit und dem Kampf um diese, in Weiterverfolgung und Ausweitung früherer Untersuchungen über die Krisen des Kapitalismus und das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie im 21. Jahrhundert (Streeck 2015b; 2016a).

Nicht, dass das Thema bei Polanyi nicht präsent wäre. Polanyi war Ökonom, Historiker, Anthropologe, aber er war gewiss kein marxistischer Systemtheoretiker. Der turbulenten Politik seiner Zeit, der nationalen wie der internationalen, hat er niemals den Versuch angetan, sie in ein abstraktes Schema irgendeines Histo- oder gar Diamats einzuzwängen. Ähnlich wie der späte Friedrich Engels war er sich der wie auch immer »relativen« Autonomie staatlichen Handelns und vor allem der konstitutiven Offenheit historischer Ausgänge elementar bewusst. Es war denn auch ein Aufsatz Polanyis aus dem Jahr 1945, der letztlich den Anstoß zu diesem Buch gegeben hat – ein Aufsatz, in dem die Möglichkeit einer Bändigung, einer Domestizierung und, vielleicht, Überwindung des Kapitalismus vor dem Hintergrund der politischen Weltlage am Ende des Zweiten Weltkriegs diskutiert wird und in dem internationale, zwischenstaatliche Beziehungen als Bedingungskonstellationen für eine den Kapitalismus vergesellschaftende demokratische Politik behandelt werden (Polanyi 1945). Keine antikapitalistische Innenpolitik ohne zu ihr passende, sie ermöglichende Außen- und Weltpolitik, ohne ein ihr günstiges Staatensystem; kein Verständnis der Innenpolitik eines Staates ohne Berücksichtigung seiner Einbettung in ein internationales Staatensystem; kein Verständnis der Außenpolitik innerhalb eines Staatensystems ohne Berücksichtigung der Innenpolitik seiner Mitgliedstaaten. Dieser Zusammenhang ist die Prämisse auch dieses Buchs.

Mein Ansatz, die Problematik einer politisch-ökonomisch einbettungsfähigen Staatlichkeit in einer zeithistorischen, durchaus auch zeitdiagnostischen Perspektive zu behandeln, scheint mir im Übrigen ganz im Sinne Polanyis zu sein. Nach dem in den 1980er Jahren einsetzenden Scheitern der sozialdemokratischen Transformation der »großen« Transformation stellt sich heute das Problem der Wiedergewinnung gesellschaftlicher Kontrolle über eine im Zuge des »frivolen Experiments« des Neoliberalismus ein zweites Mal freigelassene kapitalistische Wirtschaft erneut, und zwar in einer Gegenwart, die ich als von einer doppelten Krise geprägt beschreibe: einer Wirtschaftskrise und einer Staaten- oder Staatlichkeitskrise, die sich auf mannigfache Weise gegenseitig bedingen und sich in einer komplexen Stagnationskrise vereinigen. Während die kapitalistische Ökonomie nun schon jahrzehntelang nur noch unter geldschöpferischer Notbeatmung keuchend weiterläuft, wird das neoliberale Projekt einer Ablösung der Nationalstaaten durch global governance oder gar durch Superstaatlichkeit von einer plebejisch-populistischen Gegenbewegung blockiert, national wie international. Damit steckt das Staatensystem, steckt Staatlichkeit, so die These dieses Buches, zwischen Globalismus und Demokratie, zwischen »oben« und »unten« fest. Bestrebungen zu weiterer neoliberaler Zentralisierung stoßen auf Forderungen nach lokaler Selbstbestimmung, mal von links, mal von rechts, schwer auszusortieren, immer aber »von unten«, wobei der populäre Widerstand gegen den elitären Globalismus sich um eine Verteidigung des Nationalstaats und der in ihm potentiell gegebenen populär-demokratischen Einflusschancen sowie um Zweifel an deren Verlagerbarkeit »nach oben« herum organisiert.

Meine in diesem Buch ausgearbeitete Intuition ist, dass eine Überführung von Staatlichkeit in global governance, eine »Überwindung« des Nationalstaats zugunsten internationaler Organisationen oder globalisierter oder regionalisierter Superstaatlichkeit auf die Errichtung einer demokratischem Einfluss entzogenen Techno- oder Merkatokratie – Experten- oder Marktherrschaft –, oder beider zugleich, hinauslaufen und eine Rückgewinnung demokratischen Einflusses auf die kapitalistische Ökonomie auf lange Zeit unmöglich machen würde. Deshalb, so mein Argument, darf dem neoliberalen Sirenengesang von einer alle Menschen zu Brüdern machenden Verlagerung von Politik und Demokratie auf ein zukünftiges, erst noch aufzubauendes weltweites Regierungssystem kein Gehör geschenkt werden. Dies nicht nur, weil das Ziel sozialontologisch unrealisierbar ist, sondern auch, weil schon kleine Schritte in Richtung auf eine weitere Entnationalisierung von Politik und Demokratie, legitimiert durch die Perspektive einer nationenbefreiten Welt- oder Kontinentalregierung, nichts anderes sein können als Schritte in Richtung auf eine Entdemokratisierung von Politik und politischer Ökonomie.

Der Kampf gegen den neoliberalen Zentralismus findet unter erschwerten Bedingungen statt. Wie schon in der Zwischenkriegszeit berühren sich »rechte« autoritäre mit »linken« egalitären Gegenbewegungen, wenn es um die Verteidigung des Nationalstaats als Ort des Schutzes gegen die gesellschaftszerlegende Volatilität von Märkten und relativen Preisen geht; dieses Problem hat schon Polanyi gekannt. In der Gegenwart der zweiten, erweiterten und überarbeiteten Auflage des Kampfes gegen den Marktliberalismus kommt erschwerend hinzu, dass die neoliberalen Globalisierer Verbündete in der grün-linken postindustriellen Mitte der Gesellschaft gewonnen haben, die sich vor dem selbstregulierenden Weltmarkt weniger fürchten als vor dem regulierenden Nationalstaat, der ihnen als nach außen tendenziell aggressiv und nach innen tendenziell diktatorisch erscheint. Die dem zugrunde liegende, sich als kosmopolitisch missverstehende Weltsicht, die sie mit den Globalisten teilen, schwächt die Verteidiger egalitär-redistributiver Politik, deren klassische Artikulationskanäle überdies gegenwärtig durch Identitätspolitik und Kulturrevolutionen aller Art verstopft sind.

Wer eine wissenschaftliche Abhandlung schreibt, tut gut daran, sich früh zu überlegen, von wem er oder sie erwartet, dass sie nach Lektüre ihre An- und Weltsichten revidieren werden. In meinem Fall sind das diejenigen, die glauben, dass eine globale, sich weltweit erstreckende kapitalistische Wirtschaft auch global regiert werden kann, weil sie global regiert werden muss. Dagegen möchte ich zeigen, dass die Welt, wenn sie überhaupt regiert werden soll, nur unterteilt regiert werden kann. Je globaler ein Zusammenhang ist, desto komplexer, Staatlichkeit überfordernder, am Ende unregierbarer, wenn man so will: staatsfreier, demokratischen Prozessen entzogener und deshalb undemokratischer ist er. Kosmopolit sein im Sinne von global governance kann deshalb nur, wer darauf vertraut, dass ein sich selbst überlassener Freilauf einer globalisierten Wirtschaft in einem alle gleichermaßen glücklich machenden Gleichgewicht endet – oder, alternativ, dass eine gerechte Verteilung von Lebenschancen irgendwann durch eine ebenfalls sich selbst überlassene, gigantische globale Expertokratie, vielleicht unterstützt durch eine globale Datenverarbeitungsmaschine, bewerkstelligt werden kann.

Kernthemen dieses Buches sind dementsprechend die Grenzen integrierter und die Chancen differenzierter Staats- und Regierungssysteme, das heißt hier die überschätzten Fähigkeiten großteilig-einheitlich zentralisierter und die unterschätzten Möglichkeiten kleinteilig-verteilter dezentraler Ordnungen, politisch wie administrativ, in Bezug auf politics wie policy sowie unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie. Hier greife ich ein Thema auf, das als die Skalenpolitik von Staatensystemen bezeichnet worden ist und in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit gefunden hat: die Größe der innerhalb eines Staatensystems bestehenden Staaten, die durch diese bedingten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten politischen Handelns sowie die Interessen und Entscheidungen, die die »Schneidung« von Staaten und ihren Grenzen im Verhältnis zu den ihnen unterliegenden Gesellschaften betreffen. Ein in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchender Schlüsselbegriff ist derjenige der Komplexität, angewandt in Zusammenhang mit der neoliberalen Revolution der 1980er und 1990er Jahre auf die Welt der »globalisierten« Wirtschaft. Auch hier argumentiere ich politisch-ökonomisch, nicht systemtheoretisch, indem ich bestreite, dass »die Welt« im 20. Jahrhundert von sich aus komplex geworden ist und sich infolgedessen anschließend als unregierbar herausgestellt hat. In Wahrheit ist ihre unregierbare Komplexität in ihrer heutigen Gestalt ein Ergebnis strategischer Entgrenzung mit dem politischen Ziel, dem egalitären und egalisierenden demokratischen Regieren und Regiertwerden als solchem ein Ende zu setzen – das Ergebnis, wenn man so will, eines liberal-anarchistischen strukturellen Staats- und Marktstreichs gegen den staatlich administrierten Kapitalismus der Nachkriegszeit (Brown 2003; 2015), mit hohen und wachsenden Kosten für die von diesem befreiten Nationen.[1] 

Kurz zusammengefasst ist meine These, dass Staaten, wenn sie richtig auf- und eingestellt sind, nach innen und im Zusammenhang der sie umgebenden Staatensysteme als gesellschaftliche Halteseile für eine ins Weltoffene strebende kapitalistische Wirtschaft brauchbar sind. Damit wende ich mich gegen die kosmopolitische Illusion, dass »Globalisierung«, insbesondere in der von ihr nach 1989 angenommenen Form, jemals etwas anderes bedeuten könnte als eine Herrschaft des Marktes über die in diesen dann eingelagerte und von ihm unter Wettbewerbsdruck gesetzte Vielfalt menschlicher Vergesellschaftung. Ich werde argumentieren, dass das, was zur Regulierung derselben als global governance angeboten wird, nicht eine neue Form von Staatlichkeit ist, sondern eine Alternative zu ihr, und zwar eine für die Stabilität und Bewohnbarkeit der Gesellschaft unzulängliche. Tatsächlich begann im versuchten allmählichen Übergang zu global governance ein eigenartiges Absterben des Staates – eigenartig unter anderem deshalb, weil es auf nur einen, sehr speziellen Ausschnitt seiner im 20. Jahrhundert erworbenen Funktionen beschränkt blieb: denjenigen, der dazu dient, die Resultate kapitalistischer Märkte egalitär zu korrigieren. Gegen die Vorstellung, dass die »komplexe« Welt von heute immer zentralisiertere Regime »benötigt«, die sich partikular-spezifischer diskretionärer Eingriffe enthalten müssen, weil sie zu ihnen weder politisch noch technisch in der Lage sind, wende ich ein, dass Regime umso anfälliger sind, je zentralisierter sie sind – und dass es deshalb im Gegenteil darum gehen muss, prospektive Superstaaten und überforderte Imperien durch einen Wiederaufbau dezentralisierter Souveränität abzulösen. Dem unterliegt als Prämisse, dass Staaten und politische Herrschaft allgemein insofern ein Janusgesicht aufweisen, als sie zugleich partikularen Machtinteressen und allgemeinen Ordnungsinteressen dienen und, von blutigen Ausnahmen abgesehen, Letztere bedienen müssen, um Erstere bedienen zu können – ein Umstand, der in manchen »linken« Theorien politischer Herrschaft nicht vorkommt. Politische Gerechtigkeit und technische Funktionsfähigkeit sind offensichtlich nicht dasselbe, auch wenn zwischen ihnen vielfältige Interdependenzen bestehen mögen, denen hier nicht nachgegangen werden kann – jedenfalls nicht über die von mir geteilte und im weiteren Verlauf ausgeführte Annahme hinaus, dass jenseits eines bestimmten Zentralisierungsgrads politische Regime nicht nur sozial exklusiv, sondern auch funktional defizitär werden, also ihre Ziele nur noch diktatorisch, und das heißt: mit hoher Wahrscheinlichkeit des Scheiterns verfolgen können.

Als dieses Buch halb fertig war, kam das Virus. Es hieß damals, dass es alles in Frage stellen werde, und für eine kurze Zeit hatte ich befürchtet, das Projekt aufgeben oder mit ihm von vorne anfangen zu müssen. Dies erwies sich dann doch als unbegründet. Das Virus hat viele der Probleme lediglich radikalisiert, die sich schon vor seiner Ankunft gestellt haben: von der Krisenanfälligkeit des heutigen Kapitalismus bis zur unterschiedlichen Handlungsfähigkeit unterschiedlich zentralisierter Staaten und Staatenverbände und allgemein zur Zukunftsfähigkeit des globalisierten Neoliberalismus. Zunächst hatte ich daran gedacht, genau das in einem eigenen Corona-Kapitel oder einem Corona-Appendix auseinanderzulegen; aber so wären im Hauptteil des Buches zu viele Stellen stehengeblieben, die sich nach Corona (und als Nach-Corona hat man sich das Frühjahr 2021 im Sommer 2020 ja noch vorgestellt) etwas anachronistisch gelesen hätten. So war dann an manchen Stellen im teilweise schon annähernd fertigen Text doch noch auf die Seuche einzugehen, meist in dem Sinn, dass Corona die jeweils besprochene Entwicklung nicht beendet, sondern sie im Gegenteil verstärkt und beschleunigt habe, wie etwa die Verschuldung der Staaten des demokratischen Kapitalismus, die seit den 1980er Jahren ständig gestiegen ist, nach 2008 besonders, und nach 2020 ganz besonders. Wenn man vorsichtig genug mit den Begriffen umgeht, dann lässt sich die Corona-Krise in der Tat dem globalisierten Kapitalismus ebenso als endogen zurechnen wie seinerzeit die Finanzkrise: als das (durchaus absehbare) Eintreten eines aus Rentabilitätsgründen unversichert gebliebenen Großrisikos, das sich aus der globalen und deshalb unregierbaren Vernetzung des kapitalistischen Produktions- und Akkumulationsprozesses ergibt, wobei die Beseitigung der Schäden den gleichgetakteten Staaten des hyperglobalisierten Staatensystems zu bleibender Last fällt.

Die Begrifflichkeit der Analysen in diesem Buch – Nationalstaat, Staatensysteme, Superstaat, Imperium – passt mutatis mutandis auch auf Europa, sowohl auf das in der EU mehr oder weniger organisierte als auch auf den nicht unbeträchtlichen Rest: eine Teilwelt auf dem Weg zu projektierter Teilweltglobalisierung. Mit meiner Kritik an der Richtung, in welche die europäische »Einigung« sich in den letzten drei Jahrzehnten mit Binnenmarkt und Währungsunion bewegt hat, mit ihrem Steckenbleiben zwischen einer illusionären Superstaats- und Zentralisierungsutopie und strategisch abgewerteter Nationalstaatlichkeit, halte ich dabei nicht hinter dem Berg. Im Anschluss daran entwickle ich, für meine Verhältnisse ausnahmsweise, eine Idee für einen alternativen Lauf der Dinge und ein besseres Ende dessen, was als »Integration« bezeichnet wird: das, was ich das Keynes-Polanyi-Modell eines einigen, nicht aber vereinten Europas nenne, eines Europas friedfertiger, nichtimperialer, demokratischer und souveräner Klein- und Mittelstaaten.

Hier möchte ich allerdings nicht missverstanden werden. Anders als die unendlich vielen unendlich langen Verbesserungsrezepte, die eine Brüssel-konforme, programmatisch unskeptische Europaforschung jahrzehntelang produziert hat, ohne dass ein einziges davon auch nur von ferne irgendeiner »Umsetzung« nahgekommen wäre, ist das, was ich nicht vorschlagen, sondern lediglich zur Sprache bringen möchte, kein »Plan« im Sinne einer Konstruktionszeichnung; das würde ein Maß an Naivität voraussetzen oder vortäuschen, welches vorzutäuschen ich keinen Grund habe. Stattdessen geht es mir darum zu zeigen, dass sich in der Tradition der politischen Ökonomie und Staatstheorie des 20. Jahrhunderts gute Gründe finden lassen, warum man sich das staatlich geordnete Europa der Zukunft gerade heute nicht mehr nur als Alternative zwischen Techno- und Merkatokratie, also zwischen Skylla und Charybdis, vorstellen muss und warum das in Brüssel, Berlin und Paris mit Feuereifer über die Köpfe der europäischen Gesellschaften hinweg betriebene Integrations- und Zentralisierungsprojekt ein anachronistisches Überbleibsel aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist, das sich überlebt hat und immer mehr Schaden anrichten wird, wenn man sich seiner nicht bald entledigt.

»Praktische« Folgen, wie gesagt, erwarte ich nicht. Die für den Karlspreis der Stadt Aachen Schlange stehenden »Europapolitiker« sind längst auf beiden Augen für alle Alternativen erblindet. Wenn ich mich bemühe darzulegen, dass man sich den Lauf der Dinge plausibel auch anders vorstellen könnte, heißt das nicht, dass ich glaube, dass es der EU und Europa durch eine neu erleuchtete Entschlossenheit ihrer Eliten erspart bleiben könnte, auf lange Zeit in einem Stellungskrieg, in einem so kräftezehrenden wie immobilisierenden Tauziehen zwischen seinen Nationen und innerhalb derselben zwischen ihren jeweiligen »Nationalisten« und »Europäern«, also den kontinentalen Kleinglobalisten, festzustecken. Politischer Wandel, auch zum Besseren, kommt ohnehin nicht durch einsichtige Verwirklichung überlegener Konstruktionszeichnungen zustande, sondern nur dann, wenn es mächtigen Beteiligten dämmert, dass die Dinge nicht mehr so weitergehen können wie bisher, weil sonst die Verhältnisse auch für sie immer unerträglicher werden; wenn der Preis für zuzukaufende Zeit inflationär steigt; und wenn die Halbwertzeit improvisierter Zwischenlösungen immer kürzer wird, bis die sich ablösenden Krisen so eng zusammenrücken, dass zwischen ihnen keine Atempause mehr bleibt. Worauf es in solchen Momenten ankommt, sind die Intuitionen der dann noch oder erstmals handlungsmächtigen Akteure, denen ihre lange kultivierten Selbstverständlichkeiten im Angesicht der Wirklichkeit abhandengekommen sind. Was man als Politikwissenschaftler versuchen kann, wenn man Hilfe leisten will, ist, diese Intuitionen vorab zu beeinflussen, indem man dafür sorgt, dass das, von dem zu wünschen wäre, dass es beim Auslaufen einer alten Gesellschaft in machtbewehrte Handlungsorientierungen einfließt, weniger exotisch erscheint, als es erscheinen würde, wenn es vorher noch nie gesagt worden wäre. Jedenfalls ist man als Autor eines Buches wie des vorliegenden immerhin frei sich einzubilden, dass man so vielleicht eine Schneise in das politische Gemeinverständnis schlagen kann, auf der sich in der Zeit bis zum Ausbruch der nächsten Krise Ideen vorarbeiten könnten, die, wenn sie es tatsächlich mit Glück bis nah an die Praxis schafften, Anderes und Besseres bewirken würden als eine bloße Weiterverfolgung historisch überholter, ortlos gewordener Politikpfade.

Das hier bevorwortete Buch ist am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln entstanden, wo ich als emeritierter Direktor das Privileg habe und nutze, meine wissenschaftliche Arbeit nach meinem Geschmack fortzusetzen, solange ich mir das zutraue. Indem ich den amtierenden Direktoren Lucio Baccaro und Jens Beckert dafür danke, möchte ich sie und das Institut zugleich von jeglichem Verdacht freisprechen, dass die von mir vorgetragenen, gelegentlich durchaus dezidierten Schlussfolgerungen irgendwie eine Linie »des Instituts« wiedergäben; eine solche Linie gibt es bei uns nicht, hat es nie gegeben und wird es nicht geben. Unabhängig davon trifft zu, dass ich ohne die laufende Beobachtung der am Institut betriebenen Forschung, insbesondere über »Europa«, und die kollegiale Diskussion derselben – stellvertretend für viele andere möchte ich vor allem Renate Mayntz, Fritz Scharpf und Martin Höpner erwähnen – dieses Buch so nicht hätte schreiben können. Dasselbe gilt für die vom Institut bereitgestellte exzellente technische Unterstützung, vor allem durch seine schlechthin unübertreffliche Bibliothek und ihre Mitarbeiterinnen. Ganz besonders zu danken habe ich schließlich einer Sukzession »wissenschaftlicher Hilfskräfte« – eine Bezeichnung, die dem Können und dem Engagement derer, die damit gemeint sind, Hohn spricht –, von deren Zuarbeit ich bis heute zehre; hinsichtlich des vorliegenden Buches sind das vor allem Salvatore Mancuso und Rex Panneman. Und schließlich danke ich meiner Lektorin Eva Gilmer, die das Lektorieren als Kampfsport betreibt und mir damit manche Mucken ausgetrieben hat – alles nur zu meinem Besten. Für das, was in diesem Buch trotzdem schiefgegangen sein könnte, ist, da hilft alles nicht, niemand anders verantwortlich als ich.