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Die Autoren

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Peter Hansbauer, Prof. Dr., ist seit 2004 Professor für Soziologie an der Fachhochschule Münster und koordiniert den Master-Studiengang Jugendhilfe. In Projekten und Veröffentlichungen befasst er sich insbesondre mit den Bereichen Jugendhilfe, Vormundschaft und Partizipation.

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Joachim Merchel, Prof. Dr. phil., ist nach Tätigkeiten in der Heimerziehung, in der Fortbildung und beim Paritätischen Wohlfahrtsverband NRW seit 1992 Professor für »Organisation und Management in der Sozialen Arbeit« an der Fachhochschule Münster, Fachbereich Sozialwesen (bis 2/2019), seit 9/2019 Leiter des Forschungs- und Diskursprojekts »Profil und Profilentwicklung im ASD« (Fachhochschule Münster in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD e. V.). Außerdem ist er Mitglied im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft ASD e. V. und forscht u. a. zur Kinder- und Jugendhilfe, zum Sozialmanagement und zur Qualitätsentwicklung in der Sozialen Arbeit.

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Reinhold Schone, Prof. Dr. phil. und Dipl. Pädagoge, war bis 2019 Professor für das Lehrgebiet »Organisation und Management in der Sozialen Arbeit« an der Fachhochschule Münster. Seit dem Wintersemester 2019/20 ist er dort im Rahmen einer Seniorprofessur für den Bereich Kinder- und Jugendhilfe und Jugendhilfeplanung tätig. Im Rahmen vielfältiger Praxisforschungsprojekte hat er besonders zu Fragen der Kinder- und Jugendhilfe (u. a. Kindeswohlgefährdung zwischen Jugendhilfe und Justiz, Kinder psychisch kranker Eltern, Schutzkonzepte in den Erziehungshilfen u. a. m.) geforscht.

Peter Hansbauer, Joachim Merchel, Reinhold Schone

Kinder- und Jugendhilfe

Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033503-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033504-2

epub:   ISBN 978-3-17-033505-9

mobi:   ISBN 978-3-17-033506-6

Vorwort des Herausgebers

 

 

 

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)- freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

 

 

 

Wie der Titel bereits andeutet: Das vorliegende Buch soll Leserinnen und Leser in die Kinder- und Jugendhilfe einführen, ihnen grundlegendes Wissen und grundlegende Orientierungen vermitteln zu dem, was sich in Deutschland als Vielfalt von Institutionen und Handlungsfeldern herausgebildet hat und im Begriff »Kinder- und Jugendhilfe« gebündelt wird. Man kann sich auf verschiedenen Wegen die Kinder- und Jugendhilfe zu erschließen versuchen: über die Rekonstruktion der geschichtlichen Grundlagen, über die Darstellung der rechtlichen Grundlagen (insbesondere des SGB VIII), über die additive Erläuterung von Handlungsfeldern und der darin wirkenden Einrichtungsformen u. a. m. Unsere Darstellung stellt einen anderen Faktor in das Zentrum: die Anforderungen an professionelles Handeln.

Die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe sind dadurch zu einem gesellschaftlich relevanten Institutionensystem geworden, dass sie Erziehungsanforderungen, die in der Familie und in anderen pädagogischen Institutionen (z. B. Schulen) nicht durchgängig und ausreichend bewältigt werden (können), mit einer einigermaßen glaubwürdigen Bearbeitungs- und Erfolgsoption angehen. Die Akteurinnen und Akteure der Kinder- und Jugendhilfe – so die Erwartung – handeln nicht zufällig und nicht primär ›aus dem Bauch heraus‹, sondern methodisch strukturiert. Aber was macht diese »methodische Strukturierung« aus? Wodurch erweisen sich die in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Personen als »Fachkräfte« und die Einrichtungen als »kompetente, vertrauenswürdige Organisationen«, also als Teile eines Institutionensystems, dem man zutraut, Erziehungsanforderungen gut zu realisieren und die die Gesellschaft dementsprechend finanziert? Wie ist die spezifische Form von »Professionalität« zu beschreiben, bei deren Realisierung die Kinder- und Jugendhilfe die für ihren Bestand erforderlichen materiellen und immateriellen Ressourcen zugesprochen bekommen und die sie auch künftig aufrechterhalten kann?

Die Erläuterung der Anforderungen an professionelles Handeln bildet den thematischen Ausgangspunkt und die inhaltliche Klammer des Buches. Kapitel 4 charakterisiert die Handlungslogik für die Bearbeitung und Bewältigung komplexer Anforderungen, wie sie für sozialpädagogische Aufgaben und Kontexte typisch sind. Ferner wird in diesem Kapitel verdeutlicht, dass professionelles Handeln sich nicht allein in interaktiven Bezügen (Fachkraft – Leistungsadressat bzw. Leistungsadressatin) abspielt, sondern diese Interaktionen sich in einem organisationalen Rahmen vollziehen, der sich fördernd oder hinderlich auf die Herausbildung von Professionalität auswirkt. Professionalität in der Interaktion und Organisation stehen somit in einer engen Verbindung, und Organisation als professionalitätsbedingender Faktor ist wiederum nicht zu denken ohne die Einbindung in interorganisationale Bezüge und in eine (regional und überregional) gewachsene Infrastruktur. Professionalität als methodische Handlungsstrukturierung und deren organisationale und infrastrukturelle Rahmung, wie sie in Kapitel 4 charakterisiert werden, markieren also das thematische Zentrum der Darstellung (image Kap. 4).

Organisationssystem und Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, wie wir sie heute vorfinden, sind nicht zu verstehen ohne ihre geschichtliche Basis und ohne die konzeptionellen Leitlinien, die sowohl jeweilige gesellschaftliche Anforderungen und deren Dynamik als auch deren Verarbeitung in professionsinternen Debatten widerspiegeln. Insofern bedarf es zum Verständnis heutiger Kinder- und Jugendhilfe einer kurzen Darstellung des ›Geworden-Seins‹ dieses Institutionensystems (image Kap. 1) und einer Erläuterung der zentralen Leitorientierungen und Leitkonzepte, die die Vielfalt der Konzeptionen in den Handlungsfeldern rahmen und die aktuell für die Legitimation von handlungsfeldorientierten Konzeptionen eine erhebliche Bedeutung haben (image Kap. 2). Eine Einführung in die Kinder- und Jugendhilfe würde ferner ihren orientierenden Anspruch nur unzureichend einlösen, wenn darin nicht die tätigen und für alle sichtbaren Träger (öffentliche, freie gemeinnützige und freie gewerbliche Träger) und deren Verhältnisse zueinander angesprochen und erläutert würden (image Kap. 3). In den »Trägern« und in deren Bezügen zueinander konkretisieren sich diejenigen formalrechtlichen und trägerpolitischen Konstellationen, innerhalb derer die »Organisation« als Rahmung professionellen Handelns (image Kap. 4.2) wirkt.

In Kapitel 5 wird der im vierten Kapitel dargestellte allgemeine Rahmen professionellen Handelns in die verschiedenen Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe ›übersetzt‹ und für diese konkretisiert. Dabei werden sowohl tradierte, innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe herausgebildete und im SGB VIII benannte Handlungsfelder (z. B. Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung, Kindertageseinrichtungen) als auch solche einbezogen, die sich im Schnittbereich zu anderen institutionellen Kontexten bewegen (z. B. Schulsozialarbeit). Bei der Darstellung der Handlungsfelder werden jeweils Aufgaben bzw. die sozialpädagogische Funktion des Handlungsfeldes, spezifische Anforderungen an professionelles Handeln der Fachkräfte und Entwicklungsperspektiven des Handlungsfeldes erläutert. Ferner werden die für jedes Handlungsfeld zentralen Spannungsfelder markiert, mit deren Bewältigung die Organisationen und die Fachkräfte in ihrem Handeln konfrontiert sind. Denn – so die These – die Anforderungen in einem Handlungsfeld sind i. d. R. nicht einlinig und gut miteinander kompatibel, sondern Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe erweist sich vielfach gerade darin, widersprüchliche und in Spannung zueinanderstehende Anforderungen wahrzunehmen und diese balancierend zu handhaben (image Kap. 5).

Kapitel 6 widmet sich abschließend den Entwicklungsperspektiven. Vielfältige Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe sind zu beobachten. Einige, in unserer Beobachtung besonders augenfällige und für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe besonders bedeutsame haben wir in diesem Kapitel gekennzeichnet: zum einen Herausforderungen, die wir für bedeutsam erachten im Hinblick auf die Herausbildung und Weiterentwicklung von Professionalität als Grundlage einer fachlich tragfähigen Kinder- und Jugendhilfe, zum anderen einige thematische Herausforderungen, mit denen aktuell und voraussichtlich künftig Organisationen und Fachkräfte in mehreren Handlungsfeldern konfrontiert sind oder sein werden (image Kap. 6). Mit diesem abschließenden Kapitel spannt sich ein Bogen zurück zu den Ausführungen in Kapitel 1: Kinder- und Jugendhilfe erscheint als historisch geworden, als in einem gesellschaftlichen Kontext stehender Institutionsbereich mit einer dynamischen Entwicklung, die von den Akteurinnen und Akteuren beobachtet, bewertet und verarbeitet werden muss. Ob und wie dies gelingt, macht einen Teil der Professionalität in der Kinder- und Jugendhilfe aus.

Die Argumentationslogik des Buches eröffnet zwei unterschiedliche Lese-Optionen. Interessierte Leserinnen bzw. Leser können mit der Lektüre des Kapitel 4, der Kennzeichnung zum professionellen Handeln, beginnen und sich dann die historischen Hintergründe, konzeptionellen Orientierungen und trägerbezogenen Aspekte erschließen. Aber auch der andere Weg ist sinnvoll: sich zunächst mit den historischen, konzeptionellen und trägerpolitischen Rahmungen zu beschäftigen und mit diesem Vorwissen an die Frage der Professionalität heranzugehen.

Mit dem Abschlusskapitel verbinden wir einen Appell an die Leserinnen und Leser: die Entwicklungen im gesellschaftlichen Umfeld und in der Kinder- und Jugendhilfe wach zu beobachten, diese zu interpretieren und daraus Schlussfolgerungen für eine Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Professionalität zu ziehen. Wir haben die Hoffnung, dass wir mit unserem Buch einige Kategorien und Zusammenhänge markieren können, um Beobachtungen zu schärfen und Interpretationen zu ermöglichen. Wir können dies nur hoffen, die Entscheidung darüber treffen letztlich die Leserinnen und Leser und diejenigen, die unsere Ausführungen vielleicht – so unser Wunsch – für Zwecke der Ausbildung und Fortbildung verwenden.

 

Prof. Dr. Peter Hansbauer, Prof. Dr. Joachim Merchel und Prof. Dr. Reinhold Schone

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort des Herausgebers
  2. Zu diesem Buch
  3. 1  Ein historischer Abriss über die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem eigenständigen System mit rechtlich- institutionell garantierter Zuständigkeit
  4. 1.1  Erste organisatorische Differenzierungen – Fürsorge im ausgehenden Mittelalter (bis ca. 1500)
  5. 1.2  Ausgrenzung und Sozialdisziplinierung – Armenpolitik und Kinderfürsorge am Beginn der Neuzeit (1500–1650)
  6. 1.3  Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)
  7. 1.4  Staatlicher Rückzug aus der Fürsorge und private Rettungshausbewegung (1820–1870)
  8. 1.5  Das System der Kinder- und Jugendhilfe formiert sich (1870–1915)
  9. 1.5.1  Das Wiedererstarken öffentlicher Fürsorge
  10. 1.5.2  Jugendbewegung und Jugendpflege
  11. 1.5.3  Das Jugendamt als generativer Kern der Kinder- und Jugendhilfe
  12. 1.6  Die Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (1915–1925)
  13. 1.7  Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus (1933–1945)
  14. 1.8  Fortsetzung und Neubeginn in BRD und DDR (1945–1990)
  15. 1.9  Das Kinder- und Jugendhilfegesetz – SGB VIII
  16. 2  Kinder- und Jugendhilfe heute – Selbstverständnis und konzeptionelle Leitorientierungen
  17. 2.1  Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe – zwischen Infrastrukturleistung, Ansprüchen auf Hilfe und Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche
  18. 2.2  Konzeptionelle Entwicklungslinien der Kinder- und Jugendhilfe
  19. 2.2.1  Zur Bedeutung konzeptioneller Orientierungen für professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe
  20. 2.2.2  Umfassendere theoretische Orientierungen
  21. 2.2.3  Konzeptionelle Leitbegriffe heute
  22. 3  Trägerstrukturen in der Kinder- und Jugendhilfe
  23. 3.1  Öffentliche, freie gemeinnützige und gewerbliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe
  24. 3.2  Zum Verhältnis öffentlicher und freier Träger in der Kinder- und Jugendhilfe
  25. 3.3  Gewährleistungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe
  26. 3.4  Finanzierungsmodalitäten
  27. 4  Professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe
  28. 4.1  Professionelles Handeln
  29. 4.1.1  Kinder- und Jugendhilfe als Feld »komplexer Tätigkeit«
  30. 4.1.2  Diagnose, Inferenz und Behandlung als Kern professionellen Handelns in komplexen Situationen
  31. 4.1.3  Professionalität und die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe
  32. 4.2  Organisation als Kontext professionellen Handelns
  33. 4.2.1  Definition und Merkmale von Organisation
  34. 4.2.2  Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe in ihrem Bezug zur Umwelt
  35. 4.3  Professionelles Handeln in interorganisationaler Kooperation
  36. 4.4  Infrastruktur als Bedingungskonstellation für professionelles Handeln
  37. 4.5  Professionelles Handeln und Kompetenz
  38. 4.5.1  Fallkompetenz als Voraussetzung professionellen Handelns
  39. 4.5.2  Systemkompetenz als Voraussetzung professionellen Handelns
  40. 4.5.3  Selbstkompetenz als Voraussetzung professionellen Handelns
  41. 5  Handlungsfelder der Kinder und Jugendhilfe
  42. 5.1  Kinder- und Jugendarbeit
  43. 5.1.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  44. 5.1.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  45. 5.1.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  46. 5.1.4  Entwicklungsperspektiven
  47. 5.2  Jugendberufshilfe/arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit
  48. 5.2.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  49. 5.2.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  50. 5.2.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  51. 5.2.4  Entwicklungsperspektiven
  52. 5.3  Schulsozialarbeit
  53. 5.3.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  54. 5.3.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  55. 5.3.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  56. 5.3.4  Entwicklungsperspektiven
  57. 5.4  Kindertageseinrichtungen/Kindertagespflege
  58. 5.4.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  59. 5.4.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  60. 5.4.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  61. 5.4.4  Entwicklungsperspektiven
  62. 5.5  Förderung der Erziehung in der Familie
  63. 5.5.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  64. 5.5.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  65. 5.5.3  Spannungsfelder
  66. 5.5.4  Entwicklungsperspektiven
  67. 5.6  Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD)
  68. 5.6.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  69. 5.6.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  70. 5.6.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  71. 5.6.4  Entwicklungsperspektiven
  72. 5.7  Hilfen zur Erziehung
  73. 5.7.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  74. 5.7.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  75. 5.7.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  76. 5.7.4  Entwicklungsperspektiven
  77. 5.8  Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung
  78. 5.8.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  79. 5.8.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  80. 5.8.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  81. 5.8.4  Entwicklungsperspektiven
  82. 5.9  Mitwirkung in familiengerichtlichen Verfahren
  83. 5.9.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  84. 5.9.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  85. 5.9.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  86. 5.9.4  Entwicklungsperspektiven
  87. 5.10  Vormundschaft/Pflegschaft
  88. 5.10.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  89. 5.10.2  Handlungsanforderungen an die Akteure
  90. 5.10.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  91. 5.10.4  Entwicklungsperspektiven
  92. 5.11  Mitwirkung in jugendgerichtlichen Strafverfahren – Jugendgerichtshilfe
  93. 5.11.1  Funktion und sozialpädagogischer Auftrag
  94. 5.11.2  Handlungsanforderungen an die Fachkräfte
  95. 5.11.3  Spannungsfelder im Handlungsfeld
  96. 5.11.4  Entwicklungsperspektiven
  97. 6  Perspektiven: Kinder- und Jugendhilfe – ein professioneller Institutions- und Handlungsbereich in kontinuierlicher Entwicklung
  98. 6.1  Aspekte zur Beobachtung und Weiterentwicklung von Professionalität
  99. 6.1.1  Haltung: Ambivalenz-Toleranz und balancierender Umgang mit Widersprüchen
  100. 6.1.2  Herausbildung und Festigung eines auf Reflexivität ausgerichteten Verständnisses von Planung und Steuerung in der Kinder- und Jugendhilfe
  101. 6.1.3  Förderung von Kompetenzen zur Kooperation mit anderen Organisationen (Kooperationskompetenz)
  102. 6.1.4  Bereitschaft und Fähigkeit zur systematischen Bewertung von Qualität, einschließlich der Thematisierung von »Wirkung«
  103. 6.2  Thematische Herausforderungen für die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe
  104. 6.2.1  Umgang mit kultureller Vielfalt
  105. 6.2.2  Medien und Digitalisierung
  106. 6.2.3  Inklusion als struktureller Einbezug von jungen Menschen mit Behinderungen in die Kinder- und Jugendhilfe
  107. 6.3  Schlussbemerkungen
  108. Abkürzungsverzeichnis
  109. Literatur

1          Ein historischer Abriss über die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem eigenständigen System mit rechtlich-institutionell garantierter Zuständigkeit

 

 

Auch wenn von Jugendhilfe im engeren Sinne erst ab dem 19. Jahrhundert gesprochen werden kann (vgl. Struck/Schröer 2015, 805), so liegen deren Anfänge bereits mehr als ein halbes Jahrtausend zurück – mindestens seit dieser Zeit existieren Formen von Anstaltserziehung. Während dieses Zeitraums unterlag die Wahrnehmung des eigentlichen Bezugsproblems – als ›problematisch‹ geltende Kinder und Jugendliche bzw. solche, die in ›problematischen‹ Situationen aufwachsen – einer Vielzahl unterschiedlicher, oftmals lokal uneinheitlicher und zeitgebundener Deutungsweisen. Und ebenso unterschiedlich wie die Wahrnehmung des Phänomens im Zeitverlauf waren auch die Ansätze für dessen Bearbeitung. Für das Verständnis des Systems der heutigen Kinder- und Jugendhilfe ist es gleichermaßen notwendig, sowohl organisatorische Differenzierungs-, Spezialisierungs- und Verflechtungsprozesse genauer zu betrachten als auch diese Prozesse auf Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beziehen, die in ihrer Dynamik oft weit über konkrete Veränderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hinausweisen. Erst vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, sich wechselseitig beeinflussenden und bedingenden Entwicklungen – d. h. nur im Zusammenspiel von internen Dynamiken und extern gegebenen ›Möglichkeitshorizonten‹ – wird deutlich, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe sukzessive als System etablieren konnte, das sich durch einen eigenständigen, rechtlich-institutionell garantierten Exklusivitätsanspruch auszeichnet. Dabei wird deutlich werden, dass diesem Prozess keine Zwangsläufigkeit oder ein bestimmtes Telos zugrunde liegt. Vieles an dieser Entwicklung ist zufällig, abhängig von einzelnen Personen und ihren Ideen, von Kämpfen, Siegen und Niederlagen, von den Interessen der Mächtigen und deren Verwobenheit in größere Zusammenhänge. An zentralen Wegscheiden wären deshalb oftmals Alternativen denkbar gewesen – Entwicklungspfade, die aus heutiger Sicht vielleicht einsichtiger oder funktionaler gewesen wären und erst in der Retrospektive und der Rekonstruktion der beteiligten Interessen verständlich werden. Jedoch wird beim Blick zurück ein Muster erkennbar, das vielleicht typisch ist für ein Staatsgebiet, das einstmals eine Ansammlung weitgehend unabhängiger Staaten auf dem Boden des deutschen Reiches war und heute in einer föderal strukturierten Bundesrepublik weiterlebt: Immer wieder folgt die Praxis Eigengesetzlichkeiten, die Antworten auf lokale Erfordernisse oder das Ergebnis mikropolitischer Prozesse darstellen. Die Heterogenität des Staatswesens und der politischen Strukturen machten und machen Deutschland in der Kinder- und Jugendhilfe, wenn man es denn so nennen will, zu einem ›Innovationsinkubator‹ par excellence. Hingegen sind die Beispiele, bei denen sich belegen lässt, dass Gesetzesnovellen zu Innovationen geführt haben, äußerst rar gesät. Die Regel ist eine andere: Immer wieder schreitet die Praxis voran, während der Gesetzgeber diese Praxis hinterher zusammenfasst, systematisiert, vereinheitlicht und manchmal erst legalisiert. Kennzeichnend für die Entwicklung der deutschen Kinder- und Jugendhilfe ist daher, dass Strukturen i. d. R. schon bestanden, bevor sie formal, in kodifizierter Form als Gesetz, umfassenden Erwartungscharakter annahmen.

1.1       Erste organisatorische Differenzierungen – Fürsorge im ausgehenden Mittelalter (bis ca. 1500)

In der mittelalterlichen Feudalgesellschaft erfolgte die Versorgung hilfsbedürftiger Kinder – vor allem der Waisen – noch überwiegend im Rahmen verwandtschaftlicher Bindungen. Eine Ausnahme bildeten lediglich diejenigen Kinder, deren Sippe oder Familie nicht zu ermitteln war, sog. »Findelkinder«, also verlassene, ausgesetzte oder verlorene Kinder mit unbekannter Abstammung. Wenn man diese Kinder nicht erbärmlich zugrunde gehen lassen wollte, was oft genug geschah, mussten sie durch das Gemeinwesen versorgt werden (Sauer 1979, 8). Ihre Versorgung erfolgte im Allgemeinen in der universellen Fürsorgeeinrichtung des Mittelalters: dem Hospital. Dort wurden Findelkinder, meist gemeinsam mit anderen hilfsbedürftigen Gruppen – z. B. alte Menschen, Kranke sowie körperlich und geistig Behinderte – abgesondert von der übrigen Bevölkerung untergebracht (Scherpner 1979, 18). Aus heutiger Sicht mag diese unspezifische organisatorische Wahrnehmung von Kindern im Kontext allgemeiner Hilfsbedürftigkeit überraschen, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der Kindheit und Jugend als eigenständige Lebensphase praktisch unbekannt war (vgl. Ariès 1985), erscheint sie jedoch nur konsequent:

»Sobald ein Kind sich allein fortbewegen und verständlich machen konnte, lebte es mit den Erwachsenen in einem informellen natürlichen ›Lehrlingsverhältnis‹, ob dies nun Welterkenntnis oder Religion, Sprache oder Sitte, Sexualität oder Handwerk betraf. Kinder trugen die gleichen Kleider, spielten die gleichen Spiele, verrichteten die gleichen Arbeiten, sahen und hörten die gleichen Dinge wie die Erwachsenen und hatten keine von ihnen getrennten Lebensbereiche« (von Hentig 1985, 10).

Erst als das mittelalterlichen Spitalwesen anfing, sich allmählich organisatorisch auszudifferenzieren, und erst, als vor allem infolge epidemisch sich ausbreitender Krankheiten gesonderte Krankenanstalten geschaffen wurden, wurde auch die Kinderfürsorge zunehmend aus dem allgemeinen Spitalwesen ausgelagert.

Die in dieser Zeit im Entstehen begriffenen »Findel- und Waisenhäuser« waren jedoch zunächst reine Versorgungseinrichtungen, in denen die Kinder i. d. R. so lange aufgezogen wurden, bis sie selbständig genug waren, um wie andere Arme Almosen zu erbetteln. Von einem eigentlichen Erziehungsauftrag, der unserem heutigen Verständnis von Erziehung gerecht würde, kann deshalb im Mittelalter keine Rede sein (Scherpner 1979, 26).

Vielmehr wurde die Kinderfürsorge bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein primär im Kontext der Armenfrage – und damit primär unter Versorgungs- und Sanktionsaspekten – gesellschaftlich wahrgenommen und öffentlich bearbeitet. Dennoch ist diese erste organisatorische Differenzierung beachtenswert, weil sie dazu beitrug, Kinder und Jugendliche dauerhaft aus dem Bereich der allgemeinen Fürsorge herauszulösen und in speziell dafür geschaffenen Organisationen zu versorgen.

1.2       Ausgrenzung und Sozialdisziplinierung – Armenpolitik und Kinderfürsorge am Beginn der Neuzeit (1500–1650)

Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war politisch, ökonomisch und sozial durch tiefgreifende Umbrüche charakterisiert und mit erheblichen Auswirkungen auf das damalige Fürsorgewesen verbunden (Sauer 1979, 10). Die Auflösung der relativ statischen mittelalterlichen Ständeordnung, Katastrophen, Hungersnöte und Kriege sowie insbesondere die großen Pestepidemien, die ganz Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchten, führten zur Herauslösung größerer Bevölkerungsteile aus tradierten Sozialbindungen und zu einem Anwachsen der Armut. Letzteres führte mittelfristig zu einer Überforderung des kirchlichen Almosen- und Spitalwesens in den Städten. Infolgedessen ging die Armenpflege nach und nach von kirchlichen Einrichtungen auf die Städte über, die allmählich die Aufsicht über die Gesamtheit aller die Stadt betreffenden Aufgaben, inklusive des Armenwesens, übernahmen (Amthor 2012, 53 ff.). Hatte das Betteln bzw. das Almosengeben in der katholisch geprägten Gesellschaftsordnung des Mittelalters noch eine klar umrissene Bedeutung für die jenseitigen Heilserwartungen der Reichen (Dort 2014), wurde es nun immer stärker als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen, und die Städte gingen sukzessive zu einer restriktiveren Armenpolitik über, bei der das Betteln verboten oder stark eingeschränkt wurde. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden in den hierzu erlassenen Bettelordnungen erstmals Kriterien entwickelt, um die tatsächlich Bedürftigen von den (vermeintlichen) Simulanten und (potenziell) arbeitsfähigen Armen, die zur Arbeit gezwungen werden konnten, zu unterscheiden. Bettelabzeichen, die offen zu tragen waren, dienten gleichfalls der Unterscheidung zwischen ortsansässigen und nicht ortsansässigen Bettlern (Schilling/Klus 2015, 26 f.), also der Unterscheidung zwischen legitimen und nicht legitimen Ansprüchen.

Im Gefolge religiöser Umbrüche im Zuge der Reformation und einem Erstarken humanistischer Ideen kam es praktisch zeitgleich mit der Reform des Armenwesens zu einer stetigen »Aufwertung« der Berufsarbeit. Selbst wenn der Einfluss dieser neuen Ideen auf das Fürsorgewesen nicht genau zu bemessen ist, so lag die Leistung der Reformation zuvorderst darin, »dass im Kontrast gegen die katholische Auffassung der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll« (Weber 1988, 74). Als Folge dieses weitreichenden gesellschaftlichen Einstellungswandels setzte sich nun auch in der Fürsorge zunehmend der Gedanke einer Arbeitspflicht für Arme durch (Scherpner 1979, 27 ff.), und bereits die zweite Nürnberger Bettelordnung von 1478 enthielt die Forderung, Kinder nicht mehr nur aufzuziehen, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern sie dazu zu befähigen, »sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten« (Schilling/Klus 2015, 26). Dazu wurden ihnen von der Stadt Arbeitsplätze vermittelt.

Umfassend theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position durch den spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner 1526 erschienenen Schrift De subventione pauperum entschieden den Gedanken einer systematischen Arbeitserziehung formulierte:

»Der einzige Weg ist die planmäßige erziehende Bemühung um den einzelnen Armen. Mit der Unterstützung und durch die Unterstützung soll der Arme erzogen und, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden. Der innere Kern allen fürsorgerischen Handelns ist die Erziehung zur Arbeit« (Scherpner 1979, 28).

Begreiflicherweise musste eine so verstandene Fürsorge, wenn sie Erfolg haben wollte, vor allem bei den Kindern einsetzen. Vives forderte daher, die Erziehung der Findel- und Waisenkinder, zusammen mit den Kindern der Armen, dem Gemeinwesen zu unterstellen, das diese Kinder in einer öffentlichen, internatsähnlichen Schule unterrichten sollte (Schmidt 2014, 81 ff.). Selbst wenn es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Findel- und Waisenhäusern gab, die darum bemüht waren, zumindest den Jungen eine Bildung und Ausbildung zu verschaffen, blieb die allgemeine Praxis der Armenkinder-Erziehung jedoch weit hinter diesen programmatischen Ansprüchen zurück (Röper 1976, 102).

Interessant ist die Reform der städtischen Armenfürsorge im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert aber noch aus einem anderen Grund: Sie beendete nämlich die Phase der bloßen Ausgrenzung und leitete, wie Sachße/Tennstedt (1980, 38) zusammenfassend feststellen, »den Prozess der ›Sozialdisziplinierung‹ der untersten Bevölkerungsschichten der spätmittelalterlichen Gesellschaft, ihre Erziehung zu Arbeitsdisziplin, Fleiß, Ordnung und Gehorsam« ein. Mit diesen frühen Ansätzen zur Disziplinierung der Armenbevölkerung durch Erziehung wird ein neues Muster in der organisierten Bearbeitung sozialer Probleme erkennbar: Bedeutete »Fürsorge« bis dahin zumeist die dauerhafte räumliche und soziale Entfernung aus der Gemeinschaft, so hat etwa Foucault am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit geistig Behinderten (1969) und Straftätern (1977) exemplarisch herausgearbeitet, dass Fürsorge und Sozialdisziplinierung im 17. und 18. Jahrhundert immer stärker einen inklusionsvermittelnden Charakter annahmen: Ausgrenzung, bis dahin Selbstzweck, wird nun zu einem Mittel, das die Voraussetzungen für eine erneute Inklusion in den Sozialzusammenhang der Gesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt schafft, indem der Ausgegrenzte sich bessern soll, während er ausgegrenzt ist.

Europaweit scheitert die breite Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitspflicht für Arme allerdings vor allem an dem vorhandenen Überangebot an verfügbarer Arbeitskraft, dem kein entsprechender Bedarf gegenüberstand. Mit dem Aufkeimen frühkapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Entstehen einzelner Manufakturbetriebe am Ende des 16. Jahrhunderts änderte sich dies allmählich:

Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in England, zur Behebung des Armutsproblems und zur Sicherung des einsetzenden Arbeitskräftebedarfs, bei gleichzeitigem Verbot des Bettelns vereinzelt Anstalten geschaffen, in denen umherziehende Arme unter Anwendung härtester Körperstrafen zur Arbeit gezwungen wurden. Nach und nach entwickelte sich in den damaligen Zentren des Kapitalismus – England, Frankreich und Holland – ein Anstaltstypus ganz neuer Art: das Zucht- oder Arbeitshaus (Scherpner 1979, 40 ff.).

Auch in den alten Handelsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck wurden bald Anstalten des ›neuen‹ Typs geschaffen. Diese waren, bedingt durch die engen Handelsverflechtungen mit den Niederlanden, vor allem an holländischen Vorbildern orientiert. Dort verlief die Entstehung der Zuchthäuser, anders als in Frankreich und England, teilweise unabhängig von der allgemeinen Armenfürsorge. Beeinflusst durch humanistische und reformatorische Glaubensvorstellungen sah der niederländische »Sonderweg« eine getrennte Behandlung jugendlicher Straftäter und verwahrloster Jugendlicher vor, die im »tuchthuis« durch strenge Zucht und schwere Arbeit moralisch gebessert und zu nützlichen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaft erzogen werden sollten. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Arbeitserziehung in den Niederlanden also vorwiegend an wirtschaftspolitischen und pädagogischen – nicht armenpolizeilichen und disziplinierenden – Überlegungen orientiert (ebd., 58 ff.). Insgesamt waren aber die Voraussetzungen im konfessionell wie politisch zersplitterten Deutschland für den ›neuen‹ Anstaltstyp eher ungünstig. Er setzte sich dort erst verspätet, mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, allmählich durch. Zu diesem Zeitpunkt war es vor allem der massive, kriegsbedingte Bevölkerungsrückgang und der notwendige ökonomische Neuaufbau, die das Interesse der Obrigkeit an der wirtschaftlichen Nutzung kindlicher Arbeitskraft anwachsen ließ. Dabei gingen häufig die Interessen einzelner Kapitalgeber Hand in Hand mit den Interessen der jeweiligen Landesherren an der Einführung und Entwicklung neuer Produktionszweige, während pädagogische Überlegungen in den Hintergrund traten.

1.3       Kommunale und private Kinderfürsorge unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung (1650–1820)

Neue Impulse erhielt die Anstaltserziehung in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg durch das Aufkommen des Pietismus. Der Pietismus, wurzelnd im lutherischen Protestantismus, betonte vor allem die persönliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit sowie die Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil. Dazu gehörte auch die aktive Befassung mit dem Wort Gottes. Auf diese Weise formulierte der Pietismus gleichzeitig die Programmatik für die grundlegende Bildung breiter Schichten, denn die individuelle Befassung mit der übersetzten Bibel erforderte Kenntnisse im Lesen und förderte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Ordnung und Pflichtgefühl. Die für die Kinder- und Jugendfürsorge wohl wichtigste Person des Pietismus war August Hermann Francke (1663–1727), der um 1695 damit begann, die späteren »Halleschen Anstalten« aufzubauen, in denen die Kinder, getreu seiner pietistischen Überzeugung, wonach erst Bildung den Zugang zu Gott ermögliche, auch eine Schulbildung erhielten, selbst wenn das vorrangige Ziel von Franckes Arbeit mit den Kindern das »Einpflanzen der wahren Gottseligkeit« war. Um einen Teil der Unterhaltskosten selbst bestreiten zu können, vor allem aber, um sie vor den »Verlockungen der Welt« zu schützen, sollten die Kinder in den Anstalten unter ständiger Aufsicht stehen und allzeit nützlich beschäftigt werden, um sie, früh an Arbeit gewöhnt, entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten auf die Berufsarbeit vorzubereiten (Röper 1976, 107 ff.).

Von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist Francke aber weniger wegen seines pädagogischen Programms und der vielfach auf ihn zurückgehenden Armenschulen, sondern vielmehr deshalb, weil mit ihm ein völlig neuer Organisationstyp in die Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge eintritt: Lag bisher die Verantwortung für die Versorgung von Schutzbedürftigen bei den Städten, den Landesherren oder kirchlichen Einrichtungen, so bemüht sich mit Francke erstmals ein Einzelner, angetrieben von religiösen Motiven, um die Beseitigung sozialer Notstände und gründet dafür eine besondere Einrichtung, wobei die finanzielle Unterstützung von Gesinnungsfreunden den Bestand der Einrichtung sicherstellte (Scherpner 1979, 72 f.). Francke war also, wenn man einen Begriff von Howard S. Becker heranziehen will, der erste erfolgreiche »Moralunternehmer« (Moral Entrepreneur) auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Einrichtung stand Pate für viele weitere, ähnlich geartete Institutionen. Das so entstandene Nebeneinander privater, überwiegend religiös motivierter Fürsorge und staatlicher bzw. kommunaler Fürsorge sollte bis in die Gegenwart hinein bestimmend bleiben für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe.

Allerdings blieben die »Halleschen Anstalten« eine – wenngleich in ihrer Modellwirkung nicht zu unterschätzende – Ausnahmeerscheinung im damaligen System der Fürsorge. Die überwiegende Mehrzahl der Waisenkinder war noch immer unter widrigsten Bedingungen in Einrichtungen untergebracht, deren vorrangiges Ziel die Ausbeutung und ökonomische Nutzung kindlicher Arbeitskraft war.

Bekannt geworden ist die Beschreibung Christian Gotthilf Salzmanns, der in der 1783–1787 in Leipzig erschienenen Schrift Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend die Zustände in einem dieser Waisenhäuser wie folgt beschreibt:

»Nie habe ich so anschauliches Gemälde vom menschlichen Elend gehabt, als in dieser Stube. Ein ganzes Heerdchen Kinder (…) Alle sahen sie bleich aus, wie die Leichen, hatten matte, viele triefende Augen, kein Zug von Munterkeit war an ihnen sichtbar, einige hatten verwachsene Füße, andere verwachsene Hände, und alle starrten vor Grätze, die alles Mark auszusaugen schien. Die Stube war schwarz vom Oeldampfe, und an den Wänden flossen die Ausdünstungen herab, die diese Elenden von sich gaben. (…) Und alle ihre Arbeit war Spinnen. Einige, besonders die Kleinen, sponnen sitzend, die anderen stehend.«

Der mit der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende »Waisenhausstreit« (Röper 1976, 140 ff.; Sauer 1979, 25 ff.) richtete sich daher in erster Linie gegen die unhygienischen und gesundheitsgefährdenden Zustände in den Anstalten sowie die inhumane Behandlung der Kinder und die Profitgier der Anstaltsbetreiber. Kritisiert wurde auch das Übermaß an religiöser Erziehung, das nicht mehr den Forderungen eines aufgeklärten Christentums entsprach. Indes wurden keine prinzipiellen Einwände gegen eine Erziehung durch und zur Arbeit erhoben (Eilert 2012, 533 ff.). Im Gefolge dieser Auseinandersetzung kam es jedoch zur Auflösung eines Teils der bestehenden Waisenhäuser, deren Insassen anschließend meist in Familienpflege überführt wurden.

Zwei Entwicklungen, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen, scheinen für die weitere Entwicklung der Anstaltserziehung folgenreich: erstens die weitere Ausdifferenzierung der Waisenhäuser, die bis dahin noch immer eine eher unspezifische Fürsorgeeinrichtung gewesen waren. So entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts »aus der Einsicht in die besonderen Erziehungsbedürfnisse bestimmter Gruppen von Kindern die ersten Sonderanstalten: die Blinden- und Taubstummenfürsorge findet von Frankreich ausgehend überall Nachahmung, die Anfänge von Idioten-(Kretinen-)Anstalten tauchen auf, denen später Krüppelanstalten und Epileptikeranstalten folgen. An die Stelle jenes einen Waisenhauses traten die verschiedensten Anstalten mit besonderen Aufgaben und eigenen Arbeitsformen« (Klumker 1931, 670). Erst durch die ›Auslagerung‹ von geistig- und körperbehinderten Kindern und Jugendlichen, für die nun eigene Spezialeinrichtungen geschaffen wurden, wurde für die verbleibenden Anstalten der Weg frei, sich nun sukzessive immer stärker Erziehungsaufgaben zu widmen. Die zweite folgenreiche Entwicklung, die sich mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi verbindet, mündete in die Forderung, Kindheit als eine eigenständige Lebens-, Lern- und Entwicklungsphase zu betrachten. Damit einher ging eine Aufwertung der Pädagogik, die nun konkurrierende Ansprüche, etwa das Interesse der Landesfürsten an möglichst rentablen Produktionsbetrieben, in spezifischer Weise überformte. Sichtbar wurde dieser Wandel an der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse in den noch bestehenden Waisenhäusern: Man bemühte sich z. B. nicht nur um eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Verpflegung, sondern versuchte auch die Kinderarbeit zu reduzieren und stattdessen den Schulunterricht auszuweiten und zu modernisieren.

»Bei Neubauten machte man sich jetzt Gedanken über einen pädagogisch geeigneten Standort und sorgte für Gärten und Spielplätze. Insbesondere aber versuchte man, die Vorteile der Familienerziehung mit denen der Anstaltserziehung zu verbinden und sprach sich für kleine Gruppen aus, die in voneinander getrennten Häusern oder doch in abgetrennten Abteilungen wohnen sollten, so dass die Kinder zu ihrem Hauselternpaar (eine ganz neue Vorstellung!) besser ein persönliches Verhältnis gewinnen könnten« (Sauer 1979, 32).

Parallel dazu entwickelte sich allmählich das allgemeine Schulwesen, das nun auch für Kinder aus den sozialen Unterschichten zunehmend die gesellschaftlich notwendigen Integrationsaufgaben übernahm.

In diesem Kontext muss auch die Hamburger Armenreform aus dem Jahr 1788 gesehen werden, die dort zu einer vollständigen Neuorganisation der städtischen Armenfürsorge führte (Scherpner 1979, 99 ff.): Durch ein feinmaschiges Netz städtischer Armenüberwachung wurden nicht nur unmittelbar hilfsbedürftige Kinder erfasst, sondern alle armen Kinder, um so vorbeugend auf deren Erziehung einzuwirken. Durch eine planvolle schulische Erziehung und das Erlernen handwerklicher Fertigkeiten sollten diese Kinder auf ihren Stand, den der »arbeitenden Armen«, vorbereitet werden (ebd., 100). Im Kern der Hamburger Armenkindfürsorge stand folglich ein umfassendes Armenschulsystem, das Arbeitsausbildung, Erwerbsarbeit und Lehrschule miteinander verband. Die Hamburger Armenreform ging damit weit über Reformen hinaus, die zur selben Zeit an anderen Orten Europas stattfanden, was vermutlich ihre Vorbildfunktion auch außerhalb von Deutschland erklärt:

»Man machte hier den ersten Versuch, die Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenpflege herauszulösen und als ein eigenes Gebiet gesellschaftlicher Hilfeleistungen zu erkennen und zu organisieren. Die Armenkinder waren (…), soweit sie in die Schule gingen, im Wesentlichen von der Schule erfasst und erzogen worden. Daneben aber stand von Anfang an die häusliche Beaufsichtigung aller von der Armenpflege versorgten Kinder durch die Armenpfleger in den einzelnen Armenquartieren« (ebd., 110).

Die Hamburger Reform ist also in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen nahm sie in Ansätzen bereits vorweg, die mehr als 130 Jahre später reichsweit durchgesetzt werden sollten – die kommunale Organisation der Kinder- und Jugendhilfe. Zum anderen wurde hier erstmals in Deutschland ein präventiver Ansatz – Kinderfürsorge als vorbeugende Armenpflege – verfolgt und notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt, indem der Armenpfleger die Kinder aus den Familien nehmen konnte. Im Grunde finden sich hier also bereits die ersten Vorläufer der späteren Jugendämter.

In der Kinder- und Jugendfürsorge zeichnen sich damit weit früher als in anderen Bereichen des organisierten Umgangs mit sozialen Problemen erste Umrisse einer »Pädagogisierung« ab. Mit Richard Münchmeier (1981, 9 f.) kann »Pädagogisierung« hier verstanden werden, als »die ›Umdefinition‹ sozialer und sozial verursachter Probleme in solche individuell zu konstatierende Defizite von Moral, Lernen und Erziehung. In dieser individualisierenden Deutung sowohl der Erscheinungsformen wie der Ursachen sozialer Not ergibt sich eine – politisch ungemein relevante – veränderte Lokalisierung der Probleme von Armut, Desintegration und Devianz: im Rückgang von der äußeren Not auf den ›inneren Menschen‹ wird das innere Leiden an der Armut zur ›eigentlichen‹ Not und die Bearbeitung des inneren Leidens an der äußeren Not zur genuinen Aufgabe einer sich pädagogisch verstehenden Fürsorge.« Erst diese »Pädagogisierung« der Kinder- und Jugendfürsorge öffnete den Blick auf Normalisierungsarbeit im engeren Sinne und wurde zu einem generativen Kern, um den herum sich das Selbstverständnis der Jugendhilfe bis in die jüngste Zeit kristallisiert.

1.4       Staatlicher Rückzug aus der Fürsorge und private Rettungshausbewegung (1820–1870)

Das Ende der napoleonischen Kriege bedeutete für die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge einen tiefgreifenden Einschnitt. Nicht nur wurden durch den Krieg, wie in Hamburg, viele ehemals pädagogisch genutzte Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen oder einer anderweitigen Verwendung zugeführt, sondern der völlige Zusammenbruch der Wirtschaft zog zugleich eine allgemeine Verarmung nach sich und brachte viele Städte an den Rand des finanziellen Ruins. Zeitgleich führten das Erstarken der Restauration und die daran geknüpften anti-aufklärerischen Tendenzen zu einer gesellschaftlichen Neubewertung der Armenfrage, die auch die Kinder- und Jugendfürsorge einschloss (Scherpner 1979, 117 f.). Gemäß der damals allgemein vorherrschenden Auffassung, die stark durch den englischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus beeinflusst war, galten nun staatliche Eingriffe zugunsten einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen als im höchsten Maße verfehlt.

Malthus hatte in seinem damals viel beachteten Essay on the Principle of Population (1798) die Theorie entwickelt, wonach die Bevölkerung sehr viel schneller wachse als die für ihre Ernährung notwendigen Subsistenzmittel. Die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung hätte damit zwangsläufig die Not der anderen zur Folge gehabt. Malthus war deshalb ein entschiedener Gegner jeder geordneten öffentlichen Armenpflege, denn jede öffentliche Fürsorge, die aus dem Steueraufkommen die Mittel zum Unterhalt der Armen entnahm, musste sie zu früher Eheschließung anreizen und so die Geburtenzahl erhöhen. Nur moralische Enthaltsamkeit konnte seines Erachtens das Los der Armen verbessern; eine Forderung, die sich im Laufe der Diskussion um die malthusischen Lehren so sehr in den Vordergrund schob, dass schließlich Not und Elend der untersten Bevölkerungsschichten als deren selbstverschuldetes Los erschien. Dabei korrespondierten die malthusischen Überlegungen mit dem individualistischen Geist des deutschen Frühliberalismus, nach dessen Staatsverständnis die Obrigkeit ausschließlich die Interessen der Gesamtheit der Bevölkerung zu schützen habe, es fehle ihr aber jedes Recht, in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben oder in das von Familien einzugreifen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es deshalb zu einem fast vollständigen Rückzug staatlicher und kommunaler Organe aus dem Bereich der öffentlichen Fürsorge: Allenfalls ein regelmäßiger Schulbesuch sollte gewährleistet bleiben, darüber hinaus beschränkten sich das Handeln von Staat und Kommunen auf die Durchführung polizeistaatlicher Maßnahmen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Betreiben von Gefängnissen und Besserungsanstalten.

Die Armen – ebenso wie ihre Kinder – waren damit unmittelbar den Bedingungen des einsetzenden Industriezeitalters ausgesetzt und auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen: Die Verelendung und Verwahrlosung der unteren Bevölkerungsschichten, von der besonders die Kinder betroffen waren, nahm deshalb bald dramatische Ausmaße an (Scherpner 1979, 117 ff.). Parallel zum Rückzug des Staates kam es im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge zu einer Zunahme privater, überwiegend religiös geprägter Hilfsorganisationen und zu zahlreichen Neugründungen von Erziehungsanstalten und Fürsorgeeinrichtungen. Im Zentrum ihrer erzieherischen Arbeit stand die »Seelenrettung« von »leidenden, entwurzelten und unerzogenen Kindern« (Sauer 1979, 39).