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INHALT

DER LEICHENKELLER

“Ja, Schätzchen, wir sehen uns heute Abend wieder”, rief er noch aus dem Aufzug hinaus, als die metallenen Schiebetüren sich bereits aufeinander zu bewegten. Ihr Name war Sandra Hessel, eine junge Arzthelferin, mit der er sich für heute Abend zum Essen verabredet hatte. Wirklich ein hübsches Mädchen. Er war sich sicher, dass sie nicht abgeneigt sein würde, nach dem Essen noch mit zu ihm zu kommen. Schwärmerisch sah er ihr hinterher. Es war ihm gerade noch vergönnt, ihr liebreizendes Zuzwinkern zu erheischen, dann schloss sich der Fahrstuhl, holte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück und setzte sich für den Weg nach unten in Bewegung.

Es war Montagmorgen, der beste Tag, um übler Laune zu sein, doch irgendwie hatte er es geschafft, seine Wohlgestimmtheit über das Wochenende hinaus zu behalten. Ein Akt, der ihm nur selten gelang. Wahrscheinlich war es die nette Krankenschwester, die ihm das Leben heute um einiges versüßt hatte. Endlich hatte er mal die Aussicht auf einen gemütlichen Abend zu zweit. Er hasste das Alleinsein, besonders dort, wo ihn dieser Metallkasten jetzt hinbrachte.

Der Aufzug knirschte bedrohlich, als hätte er die verwerflichen Gedanken seines Insassen vernommen. Mark zuckte zusammen. Wie oft hatte er dieses abscheuliche Geräusch schon gehört? Er vermochte es nicht zu sagen, noch nicht einmal grob schätzen konnte er es. Dennoch war es jedes Mal das Gleiche, wenn er das Knirschen hörte. Eigentlich hätte er nach all den Jahren, die er nun schon hier arbeitete, ein Gespür dafür haben müssen, an welcher Stelle der Aufzug grundsätzlich zu meckern anfing, wie er es immer nannte. Aber es wunderte ihn nicht sonderlich, dass er dieses Gespür nicht hatte, denn schließlich hatte er sich auch nicht an seine Arbeit hier unten gewöhnen können. Er war eben ein gebranntes Kind.

Schon in jungen Jahren hatte er immer panische Angst davor gehabt, sich in engen Räumen zu befinden. Es war ihm schier unmöglich gewesen, in einen Aufzug einzusteigen, ohne gleich die haarsträubendsten Phantasien zu haben. Anfangs hatte er lediglich gedacht, der jeweilige Lift könne abstürzen und er würde mitsamt dem Gehäuse in unendliche Tiefen gerissen. Das waren wahrscheinlich ganz normale Gedanken eines Kindes, dem eingebläut worden ist, dass es, wenn es nicht artig sei, in die dunkle Kammer käme. Doch im Laufe der Zeit waren diese Wahnvorstellungen immer schlimmer geworden, bis er schließlich einen Psychiater hatte aufsuchen müssen, der ihm Tabletten gegen seine Trugbilder verschrieben hatte. Allerdings war ein Teil von dem, was er sich als Kind immer ausgemalt hatte, noch bis heute geblieben. Ein Teil, der sich mit aller Gewalt dagegen sträubte, ausgelöscht zu werden. Ein Teil, der die Angst vor der dunklen Kammer verkörperte, die sich im Geiste eines jeden Menschen befand.

Im Hause seiner Eltern hatte sich die dunkle Kammer im Keller befunden, ein Terrain, das ihm nie ganz geheuer gewesen war. Mark konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, dass ihn mit dieser eigentümlichen, unvorhergesehenen Wucht überfallen hatte, als er von seiner Mutter zum ersten Mal in die Kammer gesperrt worden war. Es war ein entsetzliches Gefühl gewesen. So, als sei auf einmal kein Sauerstoff zum Atmen mehr vorhanden, als würden eiskalte Finger den Rücken hinauf fahren, den Nacken zärtlich und sanft umspielen, um schließlich mit brutaler Kraft die Kehle umgreifen und zuzudrücken.

Eine plötzliche Hitze breitete sich in seinem Gesicht aus, was ein zuverlässiger Indikator dafür war, dass er emotional ziemlich erregt war. Allein die Vorstellung, dass er jemals wieder in eine solche Situation gelangen könnte, in der er völlig seiner Bewegungsfreiheit beraubt wäre, auf perverse Art in einer unerträglichen Passivität gefesselt, raubte ihm den letzten Nerv.

Der Aufzug kam mit einer abrupten Bewegung zum Stillstand. Kalter Schweiß trat auf seine Stirne. Er war gefangen. Der Aufzug war steckengeblieben. Mit unglaublicher Anstrengung rang er nach Luft, die viel zu dünn war. Er musste um Hilfe rufen.

Mit einem Male war er um etliche Jahre in seine Vergangenheit zurückversetzt worden. Er war nun nicht mehr Doktor Mark Decker, er war jetzt wieder der kleine Mark, der sich in der dunklen Kammer befand, weil er böse gewesen war. Es war seine Strafe, er hatte sie verdient. Aber dennoch war es immer noch eine viel zu harte Strafe.

Erdrückende Dunkelheit um ihn herum. Er versuchte zu schreien. Kein Laut drang aus seiner Kehle heraus. Niemand war in seiner Nähe, der ihm hätte helfen können. Nur er und die Dunkelheit des finsteren Wandschrankes. Jener Wandschrank, der seiner Mutter als Bestrafungsmittel für kleine, böse Jungs diente. Die dunkle Kammer.

Voller Panik merkte er, wie sein Herzschlag beschleunigte, als sein Verstand ihm vorgaukelte, dass nicht mehr genug Luft zum Atmen vorhanden sei. Er würde ersticken müssen. Allein in dieser abscheulichen Dunkelheit. Allein mit den unzähligen Monstren, die sich hier verstecken mochten - hinterhältig lauernd, immer bereit ihn anzugreifen. Sie wollten seine Seele. Sie wollten ihn für alle Ewigkeit. Er würde für immer in dieser Dunkelheit wohnen müssen, würde nie wieder Tageslicht erblicken können, in ständiger Angst, ihn könnte aus der Finsternis etwas angreifen.

Plötzlich erfüllte ein seltsames Geräusch den Wandschrank. Ein Geräusch, das eigentlich gar nicht hier hergehörte. Fast hätte er es in seiner ohnmächtigen Angst nicht wahrgenommen, doch jetzt vernahm er es überdeutlich. Es war etwas Schiebendes, doch so sehr er seine Augen auch anstrengte, so sehr er sie auch aufriss, es war ihm nicht möglich, die Ursache des Geräusches auszumachen. In seinem Inneren war er auch ein bisschen froh darüber. Er würde die Gestalt nicht vor Augen haben, die ihm noch zusätzlich die Luft abdrücken wollte. Er würde nicht sehen, wie sich die alte, verfaulte Leiche Stück für Stück zu ihm hinüber schob. Er würde sterben und es einfach so hinnehmen müssen.

Gleißendes Licht traf in sein Gesicht, das von einem dünnen Schweißfilm überzogen war. Die Aufzugtüren hatten sich beiseitegeschoben und vor ihm lag ein langer, grüner Korridor. Er war nicht in der dunklen Kammer gewesen, und er war auch kein kleiner Junge mehr. Er war Doktor Decker, der nun seinen Pflichten nachzukommen hatte - schließlich war es Montagmorgen und es gab einiges zu tun. Etwas schwankend trat er aus dem Lift heraus und blieb auf dem grünen Linoleum stehen. Langsam wand er sich wieder dem Inneren des Fahrstuhles zu.

Was war denn eigentlich heute mit ihm los? Weshalb hatte er sich in solch einen Panikanfall zurückversetzen lassen? Jetzt, da die letzten Reste des puren Entsetzens von ihm wichen, stellte sich die Verwunderung über seinen albernen Ausbruch ein. Er hatte sich genauso gefühlt, wie er sich als kleiner Junge immer gefühlt hatte, wenn er irgendwo eingesperrt gewesen war. Kein Zweifel, es handelte sich hier um einen akuten Rückfall in seine Kindheitsparanoia, wie er es immer nannte. Konnte das aber wirklich zutreffend sein? Sicher, er hielt sich immer noch ungern in engen Räumen auf, allerdings hatte er mit der Zeit gelernt, seine Angst zu kontrollieren und auf ein Minimum herunterzuschrauben. Seit diesem Punkt war er immer in der Lage gewesen, sich in solchen Situationen zu beherrschen und nicht seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Was ihm aber gerade in diesem kleinen Metallkasten geschehen war, sprach eine ganz andere Sprache. Es war so realistisch gewesen. Er hatte wirklich geglaubt, er befände sich wieder in der von ihm so verabscheuten dunklen Kammer. Aber das war geradezu absurd. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei nur um eine harmlose Sinnestäuschung.

Der Aufzug vor ihm stand immer noch offen. Sein Innenleben sah steril aus, was einen kalten und freudlosen Eindruck im Kopf des Betrachters hinterließ. Der Boden war mit dem gleichen grünen Linoleum ausgelegt, das auch mit dem Flur, auf dem er sich nun befand, bedacht worden war. Die Wände waren mit einfach strukturierten Metallplatten verkleidet und unter der Decke war eine Neonröhre angebracht, die ein unangenehm hartes Licht verströmte. In all den Jahren hatte er weder Zeit noch Grund gehabt, sich diese Beförderungs-maschine näher anzusehen. Es war doch interessant, wie blind man manchmal durch die Welt ging. Bis auf den Hausmeister und dem Reinigungstrupp der Stadt war er der Einzige, der dieses Gefährt benutzte. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, das verdammte Ding so umzugestalten, dass es nicht mehr ganz so zweckmäßig aussah. Vielleicht hätte er dann auch immer bessere Laune, wenn er hierher kam.

Ein leichter Schauer überfuhr seinen Rücken und er spürte, wie sich dort eine Gänsehaut bildete. Was spann er sich da eigentlich zusammen? Jetzt dachte er schon über die Umgestaltung eines dämlichen Aufzuges nach. Vielleicht hatte ihm das kleine Gespräch mit seiner Angebeteten heute Morgen doch nicht so gut getan. Wie dem auch sei, sagte er sich, ich werde mich von nun an etwas zusammenreißen müssen, meine Arbeit machen und mich dann zu Hause ausruhen, vielleicht bin ich nur etwas überreizt.

Er wollte sich gerade umdrehen, als die Fahrstuhltüren mit einem geräuschvollen Zischen aufeinander zu glitten. Nervös verharrte er in seiner Bewegung. Es waren nur die Schiebetüren gewesen. Doch seine Beine fühlten sich wie weiches Wachs an, nicht mehr in der Lage, das ihnen auferlegte Gewicht noch länger zu tragen. Die Tür hatte sich geschlossen, das war alles, Herr Doktor, es war nur die Türe.

Ein zaghaftes Lächeln zog sich über sein Gesicht. Es war wirklich zu lächerlich. Das durfte er niemandem erzählen. Doktor der Medizin, praktizierender Leichenbeschauer, gerade er als Obduktionsleiter ließ sich an seinem vertrautem Arbeitsplatz von einem Aufzug irritieren, um nicht zu sagen, ängstigen.

Fassungslos über sich selbst und seine unangemessene Reaktion angesichts dieses Geschehnisses drehte er sich um und schritt langsam den Gang hinab. Ein ungläubiges Lachen drang ihm aus der Kehle und hallte ihm voraus. Sein neu gewonnenes Grinsen verschwand aber schnell wieder von seinem Gesicht und machte einer Mine Platz, die Bedrängung widerspiegelte.

Ja, er war Arzt in einer angesehenen Klinik und sein Arbeitsplatz waren der Leichenkeller und der Obduktionssaal. Von einem erschreckend beklemmenden Gefühl geplagt setzte er seinen Weg nicht mehr all zu zielstrebig fort. Am Ende des langen Flurs befand sich eine Glastüre, deren Scheiben so milchig waren, dass man nicht in den Raum einsehen konnte, den sie verbargen. Etwa in Augenhöhe waren schwarze Buchstaben angebracht, die, wenn man sie aneinandergereiht las, die Bezeichnung OBDUKTION ergaben.

Seine Schritte verlangsamten sich zunehmend, je näher er dieser Türe kam. Wie oft war er schon durch sie hindurchgegangen, um seine Arbeit in Angriff zu nehmen? Er hatte sich nie wirklich Gedanken über das alles hier gemacht. Unzählige Tage war er einfach seinem Job nachgegangen, ohne sich überhaupt richtig bewusst zu sein, was er überhaupt tat. Schließlich stand er. Seine Füße hatten sich unbewusst geweigert, ihn weiter voranzutragen. Ausgerechnet heute musste er auch diese dämlichen Überlegungen anstellen, als wenn es für so etwas genügend Zeit gäbe. Er wollte doch mit seiner Arbeit schnell fertig werden. Vielleicht könnte er seine Arbeitsstelle auch schon vor dem eigentlichen Dienstschluss verlassen. Dann müsste er jetzt aber auch beginnen. Doch die Gedanken, die ihn nun einmal befallen hatten, ließen sich nicht so leicht wieder abschütteln. Sie hatten sich in seinen Kopf festgebissen, wie eine hungrige Hyäne, die sich in ein Stück Aas verbeißt.

Die schwarze Schrift auf der milchweißen Glastüre drängte sich ihm auf. Er stand etwa zwanzig Meter von ihr entfernt in der Mitte des Ganges. Hatte er sich wirklich nie Gedanken darüber gemacht, was er hier eigentlich für eine Arbeit verrichtete? Hatte er sich vielleicht keine Gedanken darüber machen wollen? Vielleicht fürchtete er sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Er wollte sich vielleicht nicht eingestehen, dass er als Arzt kläglich versagt hatte und nun dort arbeitete, wo ein vernünftiger Mensch nie hinkommen wollte - zumindest nicht lebendig. War das der Schlüssel? War er nicht vernünftig - nicht normal? Welcher Mensch nahm schon eine Stelle an, bei der er alleine im Keller eines Krankenhauses arbeiten musste, umgeben von Leichen?

Er befand sich hier im dritten Kellergeschoss. Das war vielleicht acht oder neun Meter unter der Erde. Er war hier begraben - mit einer Vielzahl von Leichen. Schaudernd sah er auf die Stahltüren, welche die Flächen der grünen Wände unterbrachen. Es waren sechs Stück an jeder Seite. Die ersten Türen des Flurs, die sich bei dem Aufzug befanden, enthielten lediglich Gerümpel aus den oberen Ebenen des Spitals. Gut und gerne fünf Kammern vollgepackt mit altem Krankenhausbedarf, das zu schade war, um es einfach wegzuwerfen, aber auch zu wertlos, um es zu verkaufen oder weiterhin zu verwenden. Dann folgten drei Türen, hinter denen sich völlig leerstehende Räume befanden - wahrscheinlich bis unter die Decke verstaubt. Die letzten Türen, die dem Obduktionssaal am nächsten lagen, verbargen zwei große Lagerhallen, in denen sich die Leichenschränke befanden. Das war die Aufbewahrungsstätte der leblosen Körper, die hier so lange deponiert wurden, bis sie endlich unter die Erde durften. Eine nicht ganz angenehme Sache, dachte sich Decker, er wollte bei Leibe nicht in ein Krankenhaus, unter dem sich neben den Obduktionsräumen noch ein Leichenkeller befand. Natürlich waren sämtliche Befürchtungen, welche die Leichen hier unten betrafen, gänzlich unbegründet. Aber dennoch war es kein angenehmer Gedanke, wobei es keinen Unterschied machte, ob man nun Patient war und sich einige Meter über den leblosen, gekühlten Körpern befand, oder ob man nun Mark Decker hieß und sich den ganzen Arbeitstag in ihrer Nähe aufhielt.

Er schüttelte gerade die Vorstellung ab, dass er hier unten doch nicht sicher war, und dass vielleicht nicht alle Körper in den Leichenschränken tot waren, als er langsam wieder aus seiner Gedankenwelt auftauchte. Seine Augen waren die ganze Zeit über geschlossen gewesen, als sei er in einen kurzen Schlaf gefallen. Er öffnete sie und musste plötzlich feststellen, dass er nichts als weiß sah. Weiß mit schwarzen Schlieren am Rande des Sichtfeldes. Und plötzlich begriff er, was dieses verschwommene Weiß vor seinen Augen zu bedeuten hatte und er nahm die Kälte an seiner Nase war, die von der Glasscheibe ausgesandt wurde. Er stand unmittelbar der Türe gegenüber. So dicht, dass seine Nasenspitze das milchige Glas berührte und er die Buchstaben lediglich als schwarze, verschwommene Teilflecke wahrnahm, die nahtlos in das Milchweiß der Scheibe übergingen. Mit einem Mal war ihm, als würde sich die Kälte des Glases auf seinen gesamten Körper ausbreiten.

Erschrocken sprang er von dem Eingang zur Obduktion zurück. Die Buchstaben schienen ihm zuzuzwinkern. OBDUKTION. Soweit er sich daran erinnern konnte, hatte er sich doch gerade noch in der Mitte des Ganges befunden. Er hatte seine Schritte verlangsamt, bis er schließlich gestanden hatte, doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass er auch die Augen geschlossen hatte. Wie war es überhaupt möglich, dass er so plötzlich dermaßen in seine Gedankenwelt versinken konnte, dass er gar nicht mehr imstande war, überhaupt nachzuvollziehen, was er tat. Oder was mit ihm getan wurde?

Decker schüttelte den Kopf. Nein, das war absurd, er war selbst hier hingegangen. Er musste wohl so gedankenverloren gewesen sein, dass er es gar nicht bemerkt hatte, wie sich seine Füße langsam aber sicher der Türe näherten. Wahrscheinlich hatte sein Unbewusstsein gegen seine Tagträumerei rebelliert und ihn dazu gezwungen, seiner Tätigkeit jetzt endlich entgegenzugehen, schließlich war er ein pflichtbewusster Mann.

Diese Erklärung, die er sich selbst gab, schien ihm plausibel und versetzte ihm gleichzeitig einen Stoß. Pflichtbewusst, das war es gewesen. Er lungerte hier schon viel zu lange herum und zermarterte sich über die haarsträubendsten Geschichten den Kopf, dabei hätte er schon längst seine heutige Arbeit aufnehmen müssen. Entschlossen trat er auf die Türe zu, legte seine Hand an den Griff und schob sie auf.

Der Saal war bereits beleuchtet und Decker sah sofort, dass man ihm seine Arbeit schon bereitgestellt hatte. In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch, über dem eine große Leuchte angebracht worden war. Ein weißes Leinentuch war über den Tisch gelegt worden, auf dem sich die Konturen des darunter liegenden Leichnams abzeichneten. Man hatte ihm gesagt, die Leiche hätte einen Kopfschuss erlitten und man sei sich nicht sicher, ob es Tod durch Fremdeinfluss oder Selbstmord sei. Eigentlich gingen ihn die Tragödien, die sich in den Toten verbargen, die zu ihm gebracht wurden, nichts an, doch ab und zu bekam er schon etwas mit - so wie heute. Aber im Großen und Ganzen hatte er nie eine genaue Vorstellung von dem, was die Polizei mit den Ergebnissen anfing, die er für sie herauszufinden hatte.

Völlig routiniert begab er sich an seinen Obduktionstisch. An der Stelle, an welcher der Kopf des Toten liegen musste, war dunkles Blut durch den weißen Stoff gedrungen. Es handelte sich um einen jungen Studenten, der nach Angaben seiner Kommilitonen aus den oberen Etagen, in der Nähe seiner Studentenwohnung aufgefunden worden war. Er hatte wohl einen Revolver in der Hand gehabt, mit dem auch geschossen worden sei, doch es gab weder Anzeichen dafür, dass sich der Junge selbst umgebracht hatte, noch solche, die darauf hinwiesen, dass er ermordet worden war. Jetzt sollte Decker zum Zuge kommen und der Kugel herausfinden, in welchem Winkel das Geschoss eingetreten war.

Geschäftig suchte sich Decker sein Besteck zusammen, das er für die Bergungsarbeiten des Geschosses benötigen würde, und legte alles sorgfältig auf einen kleinen Rolltisch. Die Vorfälle aus dem Aufzug und dem Flur waren in weite Ferne gerückt. Er hatte gelernt, solche Ereignisse, wie sie ihn in seiner Kindheit immer bedroht hatten, geschickt zu verdrängen und in die tiefen Abgründe seines Gedankenapparates zu verbannen. Nichts konnte ihn nun mehr von seiner Arbeit abhalten, da war er sich sicher.

Pfeifend kehrte er mit seinem Tischlein in die Mitte des Saales zurück und richtete sich am Kopfende des Leichnams auf. Jetzt wollte er sich das Unglück doch mal ansehen. Schwungvoll zog er das Laken zurück, das den Anblick des Toten verhüllt hatte und erstarrte.

Der Kopf des jungen Mannes war leichenblass und sein braunes Haar hing ihm blutverschmiert ins Gesicht. An der rechten Schädelseite befand sich das Einschussloch. Knochensplitter waren in den verklebten Haaren zu erkennen. Dunkles, bereits vertrocknetes Blut bildete zwei Rinnsale, die sich ihren Weg aus dem zerstörten Hirn durch die Nasengänge ins Freie gebahnt hatten und jetzt für ein noch groteskeres Aussehen sorgten. Der Kiefer hing schlaff nach unten, so dass der Mund offen stand, als sei er zum Schreien geöffnet worden. Die blutunterlaufenen, toten Augen blickten stumpf in das grelle Licht.

Kein schöner Anblick, doch das war für Decker nichts Neues, sondern Alltag. Was ihm den Atem nahm, war die Tatsache, dass er die Person kannte, oder gekannt hatte, denn sie war schon etliche Jahre vor ihrem Tod gestorben. Entsetzt ließ er das Leinentuch, das er bis jetzt noch festgehalten hatte, aus seiner Hand gleiten und wich einige Schritte zurück.

Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Die Leiche, die hier vor ihm lag, war Ralf Sangert, sein ehemaliger Mitschüler und Mitbewohner seiner Wohnung im Studentenwohnheim. Sie waren jahrelang gute Freunde gewesen, hatten immer viel Spaß gehabt und hätten auch beide einen verdammt guten Abschluss gemacht, wenn nicht irgend so ein Irrer mit seiner Knarre aufgetaucht wäre und alles kaputtgemacht hätte. Ralf war vor sechzehn Jahren an einem Kopfschuss gestorben. Decker hatte nie in Erfahrung bringen können, weshalb die Dinge so gelaufen waren, doch er war für sich immer der Überzeugung gewesen, dass sein Kumpel sich nie etwas zu Schulden hätte kommen lassen, das eine solche Reaktion eines anderen hätte erklären können.

Es war eine schreckliche Zeit gewesen. Doch es hatte ihn nicht allzu sehr belastet, denn seine Gabe, einfach alles zu verdrängen, was ihm schmerzlich war, gab ihm einen Großteil seines früheren Lebens zurück, und er konnte sein Studium beenden. Es war vielleicht nicht so gut, wie es hätte sein können, wenn Ralf nicht erschossen worden wäre, aber das spielte jetzt im Nachhinein keine Rolle mehr. Was ihn jetzt viel mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass sein toter Schulfreund hier vor ihm auf dem Tisch lag und darauf wartete, von ihm obduziert zu werden. Aber wozu sollte er die Kugel denn noch herausholen? Er wusste doch, dass Ralf sich nicht selbst erschossen hatte, und alle anderen wussten das doch auch. Schon seit sechzehn Jahren wussten sie das. Er wurde ermordet. Kaltblütig hingerichtet.

Er merkte, wie sein Herz begann, immer schneller zu schlagen. Panik stieg in ihm auf. Wie konnte eine seit sechzehn Jahren tote Leiche auf seinen Arbeitstisch gelangen? Wie war es möglich, dass eine sechzehn Jahre alte Leiche …

Sein Atem setzte aus, er rang nach Luft. Alles wurde schwarz um ihn herum. Er drohte ohnmächtig zu werden. Wahnsinnige Gedanken fuhren ihm durch den Kopf wie große, lärmende Güterzüge. Es war so laut, dass er sich selbst nunmehr kaum verstehen konnte. Doch er wollte dagegen ankämpfen. Gegen alles. Dann gewann er schließlich die Herrschaft über sich wieder zurück.

Es war nicht Ralf Sangert. Er konnte es einfach nicht sein. Die Leiche des Studenten, der vor ihm lag, sah seinem ermordeten Freund zwar zum Verwechseln ähnlich, doch es war einfach unmöglich, dass eine Leiche nach sechzehn Jahren noch so gut aussah. Decker musste über seine Wortwahl schmunzeln, denn diese Leiche sah bei Gott nicht gut aus, und diese Tatsache wiederum sorgte dann auch dafür, dass sein zaghaftes Grinsen genauso schnell verschwand, wie es aufgetreten war. Er hatte sich nun wieder vollkommen unter Kontrolle. Es war einfach ein Trugbild, ein Blendwerk gewesen, das ihm sein Gehirn gezeigt hatte. Doch die Ähnlichkeit des Erschossenen mit dem damaligen Aussehen seines besten Kumpels war verblüffend - man konnte sagen perfekt.

Forschend trat er wieder an den Tisch heran, um sich den Toten noch mal genauer anzusehen. Es musste einfach ein Merkmal geben, dass seiner horrenden Phantasie, es könne sich bei dieser Leiche um seinen längst verstorbenen Freund Ralf handeln, widersprach. Irgendein kleines Zeichen, ein Muttermal vielleicht, das ihm völlige Sicherheit gab. Doch auf den ersten Blick fand er nichts, und die augenscheinliche Gleichheit der beiden Verstorbenen gab ihm weiterhin ein bedrohliches Gefühl.

Langsam aber entschlossen zog er sich Gummihandschuhe über die Hände. Er war bereit, da er auf Anhieb keinen Unterschied sah, einen solchen zu suchen – er musste einen finden.

Die tote Haut fühlte sich durch das dünne Material der Handschuhe kalt an. Eine Gänsehaut zog sich über seine Arme hinauf bis zu den Schultern und lief schließlich eiskalt über seinen Rücken hinab. Das durfte nicht wahr sein. Was tat er hier? Er hätte mit seiner Arbeit an dieser Leiche schon längst fertig sein können. Nein, anstatt dessen stellte er hier schwachsinnige Nachforschungen darüber an, ob diese Leiche denn auch tatsächlich die war, für die sie ausgegeben wurde.

Zweifelnd blickte er noch einmal den Kopf des Toten an. Die vom Tode verblichenen Augen starrten ausdruckslos zurück. Das Gesicht, es war dasselbe, das er vor Jahren gesehen hatte, als man ihm ein Foto von Ralfs Leiche gezeigt hatte. Es konnte allerdings nicht sein, das war ihm klar. War ihm das klar? Einen Moment lang überlegte er. Es musste eine Täuschung sein, sein Verstand spielte ihm einen Streich. Es war einfach unmöglich, dass er nach all den Jahren noch sagen konnte, dass Ralf haargenau so ausgesehen hatte. Ein unglücklicher Zufall, mehr nicht, und er projizierte nun lediglich seine Vorstellungen auf das Äußere dieses Körpers, das war alles. Doch als er nochmals sein Augenmerk auf den Erschossenen richtete, verschwand diese Annahme wieder. Dieser Körper gehörte eindeutig Ralf Sangert, niemandem anderes.

Zitternd betastete er die blutleeren Lippen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, als er sie mit seinen Fingern voneinander trennte und über die Zähne fühlte. Das Gummi des Handschuhs glitt über eine kleine Erhöhung und mit einem Male sah Decker das Grinsen seines Schulfreundes vor seinen Augen. Das Grinsen, das immer eine Reihe von schiefen Zähnen zum Vorschein gebracht hatte und dadurch Ralfs Gesicht einen witzigen, bubenhaften Ausdruck verliehen hatte. Diese Zähne fanden sich jetzt im Mund des Toten. Das war der Beweis, es handelte sich hier um seinen toten Freund.

Erneut versuchte eine Welle der Angst, ihn zu packen und an einen unbestimmten Ort zu spülen. Doch er kämpfte erfolgreich dagegen an. Die Theorie, dass es sich bei dieser Sache um eine Verschwörung handele, hielt ihn gefangen und sorgte dafür, dass sich sein Herzschlag wieder normalisierte. Das war es. Eine Verschwörung gegen ihn, jemand wollte ihn in den Wahnsinn treiben. Vermutlich ein paar dieser hochtrabenden Ärzte, welche die Abschaffung des Leichenkellers gefordert hatten, da dieser bei den Patienten für Unbehagen sorge. Man wollte aber nicht nur die Toten loswerden, sondern ihn auch. Er sollte als hysterischer Leichenbeschauer in die Klapsmühle wandern, damit die Obduktion endlich stillgelegt werden könne. Oder vielleicht wollte man einfach …

“Doktor Decker?”

Ja, man wollte ihn wahnsinnig machen, damit man ihn anschließend besser erpressen konnte. Sie wollten sein Geld …

“Doktor Decker, geht es Ihnen nicht gut?”

Geld war immer ein Motiv – für alles. Selbst für eine so mysteriöse Verschwörung wie diese. Wenn er erst einmal anfing, hier unten Amok zu laufen, dann würde es ein Leichtes sein, ihn dazu zu bringen eine Menge Geld abzuzweigen, nur damit dieser Spuk hier aufhörte. Und wenn er es genau überdachte, so wäre er schon jetzt dazu bereit …

“Mark! Was ist los?”