Winter

Den Feigen tritt jeder Lump!

Frank Winter

Den Feigen tritt jeder Lump!

Roman

Dieses Buch widme ich meinem Deutschlehrer
Walther Beilhack (1931–2017),
der exzellenten Unterricht machte.

Inhalt

VORWORT

Lansing Hecker:
Kurze Kritik von »Den Feigen tritt jeder Lump!«

ROMAN

I.) Erhebung
Großherzogtum Baden

II.) Exil
Eidgenossenschaft Schweiz

III.) Freiheit
Demokratische Republik Amerika

NACHWORT

Über die Entstehungdes Buchs

Prof. William Keel:
Deutsche Freiheitskämpfer und Frank Winters Buch

Kurze Kritik von »Den Feigen tritt jeder Lump!«

Von Frank Winters Frage war ich fasziniert: Er wollte wissen, ob ich einen umfangreichen Auszug seines neuen Buches besprechen würde. Eine größere Herausforderung, als Friedrich Hecker, diese verhältnismäßig obskure, süddeutsche historische Person unterhaltsam und zugleich historisch korrekt darzustellen, konnte ich mir kaum vorstellen.

Hecker war mein Ururgroßvater und badischer 1848er-Revolutionär. Als Deutsch-Amerikaner der vierten Generation war ich vage mit meinem Vorfahren vertraut, kannte die bedeutenden Ereignisse im Deutschland des 19. Jahrhunderts aus Geschichtsbüchern und von einer Handvoll alter Familienbriefe.

In Baden war er berühmt für seine stürmischen politischen Reden und das ernste Verlangen, aktiv an der Gründung der ersten deutschen Republik teilzunehmen, dem Beispiel Frankreichs und der USA folgend. Einfacher ausgedrückt, selbst sein Vater sagte ihm als Kind, dass er ein großes Mundwerk habe und zu viel rede.

Frank Winter ist es gelungen, den stürmischen, rothaarigen Heißsporn als interessante Figur zu schildern, indem er seine Perspektive ergriff und authentische Dialoge mit treuer Familie und gleichgesinnten politischen Kollegen einwob. Für mich schildert das Buch Hecker und seinen Platz in der süddeutschen Geschichte besser als jedes historische Werk. Friedrich Hecker mag mit der ersten deutschen Revolution nicht gesiegt haben, doch Frank endet mit seinem Roman auf der Gewinnerseite.

Lansing Hecker, St. Louis, Missouri/USA

I.) Erhebung
Großherzogtum Baden

Algerien, Frühjahr 1847

»Himmelhergott noch mal! Ein Kasperletheater sondergleichen! Erwachsene Männer reißen sich am Riemen!« Friedrich Hecker strich Staub von den Hosen und warf seine Jacke von sich. »Nun, was gibt es zu murmeln, zu feixen?« Sein Bekannter schob den Kopf hin und her, aber Hecker verstand den Hinweis nicht. Butz hätte manches vorbringen können, etwa dass unsaubere Reitmontur zu einem Hotelsalon nicht passte. »Gut erholt, Herr Abgeordneter, beim Ritt durch das Atlasgebirge?«

»Ehemaliger Abgeordneter, wegen zaudernder Kollegen dem badischen Parlament ferngeblieben! Einswerden mit Pferd und Natur – nicht die schlechteste Idee, um all den Ärger zu vergessen! Wahren Kameldurst haben wir uns allerdings zugezogen!« Neben ihnen schüttelte ein Offizier den Kopf. »Algerien gehört den Unterdrückern genauso wenig wie uns beiden! Franzosen sind die wirklichen Barbaren, nicht die Algerier. Da muss auch keiner den Hals verrenken wie im Laien-Ensemble!«

»Ist es unter diesen Umständen ratsam, sich hier aufzuhalten?«

»Völlig gleich. Diktaturen allerorten, mit Ausnahme der Schweiz und Großbritanniens!«

»Amerika doch auch?«

»Die United States, natürlich! Doch in der Nähe befindet sich das Land nicht. Eine Auswanderung muss vorbereitet werden: Papiere unterzeichnen, unwichtigen Ballast aussondern, Reisekisten packen.«

»Schlüssig sollte man sich auch werden …«

Hecker verschränkte die Arme. »Woran hapert es denn?«

»Vor allen Dingen an Informationen.«

»Schriftliche Zeugnisse liegen ausreichend vor! Zu empfehlen ist vor allem Brommes ›Hand- und Reisebuch für Auswanderer und Reisende‹, mit exakten Beschreibungen der amerikanischen Bundesstaaten und Auswanderungshäfen, nicht zu vergessen eine Liste der Berufe, an denen drüben Mangel herrscht. Man sollte nicht glauben, wie viele Tröpfe drauflossegeln, um in den Staaten ihr Los zu beklagen. Das Werk kann er in jeder guten Buchhandlung erwerben!«

Butz lehnte sich zurück. »Klingt sehr durchdacht.«

»Wie lange soll man noch Geduld haben mit dem verkrusteten Europa? Eine Republik muss her! Die Amerikaner brachten das bereits 1776 zustande, dreizehn Jahre vor den Franzmännern! Auch prosperiert der Staat nicht schlecht! Mit der Freiheit geht das logischerweise einher. Nun wird gebadet und großherzoglich geruht! Vielleicht setzen wir die Konversation fort? Gesprächsstoff wird nicht fehlen!«

Zwei Zeitungen hatte er durchgesehen und zur Seite gelegt. Überflüssig, diese Frankreich belobigenden Kolonistenblättchen zu lesen!

Butz trat lächelnd an seinen Tisch und fragte, ob es gestattet sei.

»Ausreichend Platz vorhanden! Keine Umstände gemacht und hingesessen.«

»Nichts Interessantes in den Blättern?«

»Man könnte den Eindruck bekommen, der Algerier verdiene es, geknechtet zu werden«, sagte Hecker und haute mit der flachen Hand auf die Zeitungen.

»Wie das?«

»Diese Gallier treten mit dem Anspruch auf, den so genannten Barbaren Zivilisation zu bringen. Eine fast preiswürdige Arroganz!«

»Schmeckt der Kaffee nach langem Ausritt?«, fragte Butz schläfrig und in geringer Hoffnung, seinen Tag beschaulicher zu beginnen.

Hecker schwenkte den pechfarbenen Kaffee in der Tasse hin und her. »Kann man trinken. Weißbrot passt allerdings mehr zur Gourmetfresserei gelangweilter Adliger. Schon der Geruch ihrer Speisen dreht einem den Magen um. Rustikales Frühstück – Brot, Eier und Wurst – bekommt dem Menschen besser.«

»Vielleicht sollte man einen Ritt übers Atlasgebirge auch manch Verwöhntem zur Pflicht machen?«

»Zweifelhaft, ob ein zartes Grafenhinterteil dem gewachsen wäre. Hochwohlgeborene brechen außerdem niemals ohne teure Entourage auf. Nein, sie bleiben lieber in ihren Rumpelburgen hocken, wo sie bis zur Abdankung am wenigsten schädlich sind! Warum das verdrießliche Gesicht, Herr Butz? Ranzige Milch im Kaffee?«

»Nein, aber sehr bedauerlich ist es, dass ein engagierter Politiker wie Herr Hecker das badische Parlament verließ.«

»Nicht aus Lust oder Spielerei geschah das. Hin und her, vor und zurück, dann seitwärts, ekelhafter Veitstanz, den Hutabzieher und Bücklingmacher veranstalten. Bloß keine radikalen Schritte machen und am Sonntag brav ins Kirchhaus pilgern! Zu mehr reicht es nicht!«

»Deshalb die ungewöhnliche Reise?«

»So ist es! Um die dräuenden Gedanken abzuschütteln.«

»Verlängert man den Plausch mit einem Spaziergang zum Markt? Später wird die Sonne das zu verhindern wissen.«

Hecker sprang vom Stuhl auf. »Los geht’s!«

Butz sah amüsiert zu ihm hoch. »Unter Umständen lässt sich das Frühstück noch beenden?«

»Freilich, nur geruhsam gehandelt. Da bleibt uns Zeit, auf dem Postamt nach Briefen zu fragen.« Im Stehen wischte er sich mit einer Damastserviette den Mund ab, setzte den Hut auf. Butz beendete sein Frühstück und strich sich die Kleidung glatt. Handlungsreisende mussten eine gute Figur machen. Er hatte nicht die Absicht, den Beruf ein Leben lang auszuüben, für den Moment aber kam er ihm gelegen, die Geschäftsreisen in exotische Länder vor allem. Hecker stand in der Halle und unterhielt sich mit dem Rezeptionisten. Butz fragte, ob er seine Post im Flug geholt habe.

»Ein Plausch mit dem Herrn schien wichtiger. So lernt man fremde Länder am besten kennen.« Als sie aus dem Hotel auf die Gasse traten, schob Hecker seinen breitkrempigen Hut in die Stirn. »Erstaunliche Wärme, wie im Backrohr!«

»Bitte was?«

»Immerhin schreibt man erst April. Doch leuchtet es wie am schönsten Sommermorgen!«

»Ein Morgen in Afrika allerdings.«

Hecker sah in die Ferne.

»Der richtige Weg zum Postamt?«

»Spielt keine Rolle. Itzstein, Kollege in der zweiten Kammer, hat sicher nichts Neues zu berichten. So schnell ändert sich in unserem Parlament nichts.«

»Geht es in Mannheim liberaler zu?«, fragte Butz.

»Darauf darf er sein letztes Hemd wetten! Die Bürger der Stadt sind weltoffen. Handelsleute, so wie er auch, können anders nicht sein! In Karlsruhe dagegen leben verschnarchte Staatsdiener, glücklich mit ihren Vorschriften, und dazu haben wir noch eine ignorante Bürgerschaft.«

»Wer kritische Gedanken veröffentlicht, soll wenig lachen und vor Angst bibbern.«

»Macht er das?«

»Ganz im Gegenteil!«

Hecker nickte. »Als Kind fragte uns der Vater einmal, wo wir das lose Maul herhaben. Na, wer erzählte denn immer vom Bundestag und abscheulicher politischer Wirtschaft im deutschen Reich. Da stieg uns schon damals die Galle hoch!«

»Wir sind hoffnungslose Fälle!«

»Exactement, wie Herr Mittermaier selig im badischen Parlament sagen würde. Wer quält schauerlich Streichinstrumente?«, fragte Hecker und hetzte los. Butz konnte kaum Schritt halten. Vor etwa zweihundert Menschen, weiß gekleideten Algeriern und Europäern in modischen Anzügen, bespielte ein Orchester ein Reiterstandbild.

»Herzog von Orleans, in pompöser Pracht und weit oben auf seinem Sockel«, meinte Butz.

»Es muss einen Grund geben für die gemütlich-patriarchalische Darbietung …?«

Sein Bekannter streckte die Arme in die Luft.

»Dann müssen wir jemanden fragen!«

Ein zwei Meter großer Maure in Kapuzenumhang gab ihm Auskunft: »Bon jour, monsieur. Unsere Betreuer, edelste Franzosen, wollen den steinernen Soldaten vertreiben. Jeden Mittwoch versuchen sie sich darin. Erfolglos. Bleibt er doch einfach stehen.«

Hecker lachte und klopfte ihm freundschaftlich auf die Brust. »Schön, dass ein Algerier die Unterdrückung humorvoll nimmt! Man könnte ja pfeifen, zischen, höhnen und wäre dennoch kein Unhold. Auch Großherzog Leopold ist ein Schafskopf, drangsaliert aber nur Landsleute.«

Butz bewegte sich gut gelaunt auf den Eingang des Souks zu. »Besser nun den Gang anpassen …«

»Warum, bitte?«

»Ein Neuling muss der vielen Gerüche, Farben und Töne gewahr werden.«

»Weiter unterhalten kann man sich, ja?«

Butz lachte freundlich. »Unbedingt.«

Händler fuchtelten mit den Armen, warteten, bis eine bestimmte Person eintraf oder auch nicht, und Hecker bestaunte das Angebot: Oliven, Artischocken, Salz, Fisch, Gerste, Weizen, Fleisch von Gazellen, wilden Schweinen und Sträußen, die meisten der Tiere noch am Leben. »Hausfrauen in Baden, dem sonnigsten deutschen Land, können von solcher Fülle nur träumen! Sind das Feigen da drüben?«, fragte er und wies mit gestrecktem Arm auf einen Stand.

»Solche Früchte bekommt man nicht alle Tage«, bejahte Butz. »Orangen auch?«

»Nicht maßlos werden! Nur Feigen, bitte.«

Der Besitzer des Obststandes, mit rundem Käppchen auf dem Kopf, nickte. Auf eine Seite der Waage packte er Feigen, auf die andere das Gewicht, zeigte mit den Fingern eine Zahl an. Butz war einverstanden und sie schlängelten sich weiter durch enge Gänge. Ein Mann folgte ihnen, bewegte die Hand in wippenden Bewegungen vor dem Mund.

»Was will er denn?«

»Absinth veräußern«, erklärte Butz.

»Schnaps am helllichten Tag! Sehen wir wie Trunkenbolde aus?«

»Lieber eine Tasse Tee im Café dort drüben? Im Sitzen unterhält man sich in den meisten Fällen besser als im Gehen.«

Butz begrüßte den Besitzer auf Französisch und bestellte Minztee. Wie die Einheimischen nahmen sie auf dem Boden Platz. Der Algerier brachte eine silberne Kanne und zwei Gläschen. Hecker wollte einschenken, doch Butz hielt ihn zurück. »Wir sollten den Blättern Zeit geben, sich zu setzen.«

»Wie im badischen Parlament! Ohnehin fragt sich, wer die Muße hat, tagsüber im Teehaus zu sitzen.«

»Handelsleute, Einheimische und besonders Vergnügungsreisende.«

»Touché!«, antwortete Hecker und grinste ihn an.

»Am Nachmittag wird es noch belebter werden. In welcher Sprache soll man sich unterhalten?«

»Auf Deutsch. Badische Betonung kann der Herr aus Hagen einem nachsehen?«

»Natürlich. Allerdings wird unser persönlicher Spion, der sich gegenüber niederließ, dann jedes Wort notieren …«

»Da erfährt dieses Männchen nur Wahres. Üblicherweise ruinieren solche Schergen Wehrlose mit boshaften Lügen. Wovon soll ein Rechtsanwalt leben, wenn Mandanten ausbleiben?«

Der Spitzel rutschte auf seinem Kissen hin und her, hielt eine Landkarte als Rüstung vor den Körper.

»Vielleicht sucht er nach legendären Schätzen«, meinte Hecker. »So plump, wie er sich anstellt, wird er aber nichts zu Tage fördern. Sein Metier ist eindeutig, Menschen nach unten zu expedieren, in ein Kellerverlies oder zum Grab.«

»Sollen wir Monsieur zum Tee einladen?«

Der Mann beglich seine Rechnung und eilte gebeugt zum Ausgang.

»Gute Reise zurück ins Despotenreich!«

»Am Ende bittet er noch den Statthalter, uns auszuweisen«, meinte Butz im Spaß.

»Bis er die Erlaubnis aus Karlsruhe erhält, sind wir längst zu Hause. Bitte, nicht falsch verstehen. Schmeichelhaft, dass man sich vor Friedrich Hecker fürchtet. Frisch, fromm, fröhlich und frei, wie der alte Jahn sagt. Man ist zwar nicht fromm und andauernd fröhlich, doch meistens frisch und frei, wenn auch als badischer Untertan nur im Geist. Wie alle Menschen in den 38 deutschen Fürstentümern! Man kann nicht alles aussitzen, wie die meisten Kollegen in der zweiten Kammer es anstreben. Unzählige Male forderten wir für Baden richtige Wahlen, ohne sie zu bekommen, Freiheit des Glaubens ebenso wenig wie die Selbständigkeit der Gemeinden. Nach fünf Jahren fruchtloser Diskussionen sollte der Rücktritt auch ein Zeichen setzen für fortschrittlichere Volksvertreter. Selbst auf der Urlaubsreise folgen die Spitzel einem! Leicht regiert der Monarch, wenn sämtliche Kritiker zum Hades befördert werden. Gäbe man dieses Treiben wenigstens zu! Nein, über Sicherheit der Bürger wird geplappert, wo es um Fortbestand der Diktatur geht!«

Mannheim, Frühjahr 1847

Vom Mannheimer Bahnhof ritt Hecker und konnte sich vor Müdigkeit kaum im Sattel halten, schaukelte hin und her. Ein Pferd wollte er vorerst nicht mehr sehen. Langsam wurde die dicke, knarzende Eichentür geöffnet. Josefine hielt eine zylindrische Öllampe in Armlänge von sich. Sie trug ihr schlichtes Hauskleid, das sie größer und schlanker machte, und fragte, ob das vielleicht ihr Ehemann sein könne?

»Nein, vor dem Tor lungert der ungewählte Herrscher von Baden.«

»In dem Fall bekommen die Kinder morgen alle Reste des Hasenbratens aufgetischt. Großherzog kann man nicht zu Tisch bitten, denn unser Hausherr ist sehr gegen ihn eingestellt.«

Er lächelte breit und ritt auf den Hof.

»Glücklicherweise ähnelt der Herr auf dem Ross mehr Friedrich Hecker als Großherzog Leopold.«

»Wie ist sie vorgestern schon auf die Idee gekommen, einen Hasen in Essig zu marinieren?«

»Reine Intuition.«

»So? Der begegnet man in Algerien auch oft!«

»Im Grunde ist es kaum von Bedeutung, oder? Vor dem Braten wird es noch eine Suppe geben.«

»Ein Mann, den solche Festmähler erwarten, kann getrost nach Hause kommen! Die Kinder?«

»Bei seiner Ankunft wachte Arthur auf, und wenn er weiter in dieser Heftigkeit deklamiert, werden Erwin und Malwina ebenfalls aus ihren Bettchen krabbeln. Sie schienen bereits gestern etwas geahnt zu haben.«

»Noch einmal die Intuition?«, sagte er und senkte das Kinn. »Es fragt sich, wer wen angesteckt hat. Kinder ihre Mutter oder umgekehrt.«

Josefine lächelte ihn herausfordernd an. »Gutes Fleisch verschmäht der Verstandesmensch aber nicht?«

Sie ging ins Haus zurück und er versorgte das Pferd mit Wasser und Heu. Bis in den Flur duftete die Grießsuppe. Er betrachtete die Einrichtung: Dielenboden aus Ahorn, elfenbeinfarbene Kronleuchter, dicke Teppiche. Nach seinem Geschmack hätte man sich spartanischer möbliert, aber Josefine brachte ohnedies genug Opfer. Ein Vollbad wäre angenehm gewesen, doch stürmten die Kinder bereits die hölzerne Treppe herunter. Er nahm Erwin auf den linken und Malwina auf den rechten Arm, wo sie um die Wette schaukelten. Arthur drückte sich an Vater und Geschwister. »Brave Kinder sollten längst im Bett sein. Heute jedoch machen wir eine Ausnahme.«

Malwina nickte und Arthur schüttelte den Kopf.

»Wenn ihr keine mündigen Staatsbürger werdet! Jeder vertritt seinen Standpunkt.«

»Lässt sich der Unterricht eventuell auf den kommenden Tag verschieben? Sonst wird man eine Bewirtung des Großherzogs überdenken müssen«, rief Josefine aus der Küche.

»Mit der politischen Erziehung kann man kaum zu früh beginnen. Allerdings kommt es nach langer Pause auf einen Tag nicht an. Vor allem, wenn eine Grießsuppe so gut riecht.«

Arthur fand seinen Platz alleine, streckte die Arme aus und freute sich, dass die Hemdsärmel nach hinten rutschten wie beim Vater. Josefine setzte die Geschwister auf ihre Stühle und band ihnen Servietten um. Den Tisch hatte sie mit einer Seidendecke geschmückt, schöpfte aus goldgerandeter Schüssel die Suppe. »War die Reise erfreulich?«

»Kurzweilig, ja. Bereits auf der Überfahrt von Marseille nach Algerien begegneten wir einem jungen Norddeutschen mit vernünftigen Ansichten. Er wird uns in den nächsten Tagen besuchen.«

Josefine nickte. An spontane Gäste ihres Mannes hatte sie sich gewöhnt.

»Auch der Ritt über das Atlasgebirge war passabel. Algerien ist eine Exkursion wert. Wie war es, alleine mit den Kleinen?«

Josefine nickte mit leichter Verzögerung: »In Ordnung.«

»Aber …?«

»Es wäre angenehmer, den Ehemann öfter zu sehen.«

»In der Zukunft werden wir uns nicht mehr allzu weit von Mannheim entfernen.«

»Versprochen?«

»Fest vorgenommen.«

Sie lächelte: »Bei ihm bedeutet das sehr viel.«

Malwina und Erwin aßen kaum, blickten lieber zum Vater. Josefine trug die Teller ab und kümmerte sich um den Braten. Er zwinkerte den Kindern zu und während des Hauptgangs erzählte er Geschichten von opulenten Palästen, Löwen und hungrigen Hyänen. Arthur und Malwina klatschten in die Hände. Zweimal musste er seine Kamelabenteuer wiederholen. Als Erwin am Tisch einschlief, brachte seine Mutter alle Kinder zu Bett. Hecker schenkte sich noch etwas Hallgartener Wein von Itzsteins Gut ein. Josefine kehrte mit einem Brief ins Esszimmer zurück. »Auf dem Sekretär liegt der Rest der Post. Dieses Schreiben ist uns besonders ans Herz gelegt worden!«

Er sah sich den absenderlosen Brief an. In krakeligen Lettern war sein Name aufgemalt.

»Überreicht von einem Herrn mit wirrem Haarkranz und steinernem Blick …«

Heckers Freund Struve war sechs Jahre älter und hatte auch Juristerei studiert. Seiner kritischen Publikationen wegen setzten die Zensoren ihm beständig zu.

»Dieser … Herr platzte ins Essen. Natürlich bat man ihn zu Tisch, doch weder Fisch noch Fleisch akzeptierte er, geschweige denn ein Glas Wein. Kein Wunder, dass er heiser klingt wie ein Rabe. Nein, oh nein, er wolle doch nur das Kuvert abgeben!«

»Überzeugter Abstinenzler und Vegetarier. Daran ist leider nicht zu rütteln«, erklärte Hecker.

»Prinzipien in Ehren. Zur Geselligkeit tragen sie jedoch nicht bei. Wortkarg, das Wasserglas wie eine Standarte umklammernd, jagte er den Kindern Angst ein. Warum nimmt ein Mann, der sich so unwohl fühlt, überhaupt Platz?«

»Vielleicht hatte er Durst? Gustav ist ein wenig schrullig, ja, doch wenn man sich an seine Art gewöhnt hat, alles halb so schlimm.«

»Wie lange dauert es bitte, bis dieser Zustand eintritt?«

»Jahre mitunter.«

Weil Struve seine Nachricht selbst zugestellt hatte, konnte er auf die Sicherheit ein Liedchen pfeifen. Ein Briefgeheimnis gab es weder im badischen Großherzogtum noch in den anderen Fürstendespotien. Großherzog Ludwig unterhielt eigene Kabinettstunichgute, die den lieben langen Tag Briefe öffneten, wieder verschlossen und weitersendeten, als ob es das Normalste der Welt wäre! In anderen Ländern war es nicht besser und die Zusammenarbeit mit Louis Philippes Polizei gestaltete sich glanzvoll: Für die Reise nach Algerien benötigte er eine Genehmigung der Marseiller Beamten, die sonderlich auftraten. Als er später seine Reisedokumente untersuchte, entdeckte er zwei winzige Buchstaben: f.o. für »fait opposition«, macht Opposition. Unglaublich war, dass die meisten Bürger es guthießen, getreu dem dummen Ausspruch, ein rechtschaffener Bürger habe nichts zu befürchten. Demokraten schlugen die Inquisition jedoch mit ihren eigenen Waffen. Der Staatspost setzten sie Volkspost entgegen, überbrachten viele Briefe etappenweise selbst, mitunter in der Kutsche eines Fürsten. Er wählte eine Gänsekielfeder, die sich, ungleich den neumodischen Metallfedern, beständig ausbessern ließ. Viel hatte er Struve nicht zu berichten. Ein kleiner Bogen im Registerformat würde genügen, und schwarze Tinte, die sich vom weißen Grund am besten abhob. Hecker wusste, wie empfindlich der Mann auf vermeintliche Zurücksetzungen reagierte, und entschuldigte sich für die lange Wartezeit, er sei in der Tat erst zu dieser Stunde aus Algerien zurückgekehrt. Struve wollte wissen, was er von einer außerparlamentarischen Versammlung in Offenburg hielt. Dort könnte man in einem Gasthof die weitere Marschrichtung festlegen. Hecker nickte beim Lesen. Südbaden war näher als Nordafrika und er musste Josefine und die Kinder nicht lange alleine lassen. Seine Antwort verfasste er vage, sodass nur Struve sie verstehen konnte. Er las den Text durch und trocknete ihn mit rotem Löschpapier. Aus einem Döschen zog er Katzenhaare, die er in kleine Teile spaltete und zwischen den Fingern in das Schreiben rieseln ließ wie Salz in eine Suppe. Öffneten die Spitzel den Brief, fielen die Härchen zu Boden und der vorgesehene Empfänger wusste, dass kontrolliert worden war. Struve würde sich bald melden. In Demokratiefragen waren sie beide ruhelos. All die Regeln, Protokolle und Zeremonien im Karlsruher Parlament hatten ihn fast wahnsinnig werden lassen! Vertröstete man sie weiterhin, würde er sich auf radikale Wege begeben und Abgeordnetengestalten wie Mathy und Bassermann einen demokratischen Marsch blasen!

Offenburg, September 1847

Hecker saß spätabends im Gasthofzimmer und schrieb Briefe. Struve verstand seine vielen Verpflichtungen – Frau, drei kleine Kinder, Anwaltskanzlei und Volksvertreter – nicht, stellte sich alles holzschnittartig vor, kannte nur die Sache, für die zu kämpfen war und der man alles unterordnen musste. Sie hatten gemeinsam ihr Abendessen zu sich genommen. Struve redete ohne Unterlass, einen dicken Stapel Papier vor sich. Sein Bart wurde von Pellkartoffelresten und »bitte absolut frischem« Kräuterquark beehrt. Hecker aß ein Kotelett mit breiten Nudeln und trank den örtlichen Rotwein. Vegetarismus akzeptierte er nicht, wimmelten doch in Kraut und Grünem ebenfalls Tausende lustiger, kleiner Wesen. Selbst die Luft war reich an Lebenskeimen. Sollte man deswegen das Atmen unterlassen?

»Natürlich, wer alles auf die leichte Schulter nimmt, lebt länger! Das ist begreiflich«, sagte Struve und schnupperte. »Ein Mief in dieser Räumlichkeit! Rauch, Alkohol und mittelmäßiges Essen! Kaum auszuhalten.«

Hecker kratzte sich den Bart, doch Struve verstand nicht, dass er Kartoffelsplitter meinte. »Auch wenn nicht alle Gäste erscheinen, geht unsere Welt kaum zugrunde, Gustav. Entscheidend ist, dass wir etwas unternehmen, und Fickler wird auf jeden Fall anreisen.«

»Was bedeutet zugrunde gehen?«, fragte Struve, immer ums Prinzip streitend.

»Bitte nicht zappeln wie das Kind vor der Bescherung! Unsere Versammlung ist nur ein Steinchen in der Mauer.«

»Lose Steinchen können Mauern zu Fall bringen!«

»Fabelhaft, bloß keinen Gemeinplatz auslassen! Nein, simple Ansprachen müssen niemandem den Schlaf rauben!«

»Schon gut!« Struve griff mit gestreckten Armen nach seinem Konvolut. »Ohnehin haben wir Wichtigeres zu tun. Die dreizehn Forderungen überarbeiten sich nicht von alleine! Herr Wirt, eine unsägliche Luft! So kann es nicht weitergehen.«

Hecker nahm tags darauf am langen Eichentisch Platz, gegenüber von Struve, und streckte die Beine von sich. Sein Freund sagte kein Wort, nicht einmal guten Morgen, aß wenig, trank nur Wasser – »handwarm bitte« – aus einer Karaffe, die der Gasthofbesitzer noch gebracht hatte.

»Gut geschlafen, Gustav?«

Struve antwortete nicht.

Hecker bestellte Kaffee und schmierte sich ein Butterbrot mit Erdbeermarmelade. »Unser Befinden heute?«

»Danke der Nachfrage! Manch einer arbeitete die halbe Nacht hindurch!«

»Sehr tüchtig und auch bewundernswert.«

»Ach?«, sagte Struve zänkisch.

»Freilich, und nun nehmen wir ein ordentliches Frühstück zu uns.«

Struve sprang in die Höhe und auf den Boden schepperte sein Stuhl. Der Wirt kam gerannt und sah ihn bang an, hatte geahnt, dass abgestandenes Wasser ein böses Omen sein musste. Struve baute sich bedrohlich auf und tippte ihm den Zeigefinger auf die Brust. Weil ihn als kleiner Bub einmal eine Wespe gestochen hatte, bekam er Fracksausen.

»Ein Stehpult muss her! Wie oft noch sollen wir darum bitten? Ist das ein Gasthof oder nicht?«

»Zur Stunde ist kein, äh, Stehtisch da.«

»So geht es nicht! Ein Wirt hat Pflichten seinen Gästen gegenüber. Stehpult heißt es!«

»Aber natürlich«, antwortete der Mann und zeigte in Richtung Küche. »Drum hat man auch den Ochsen geschlachtet für das Bankett. Wer weiß, vielleicht taucht im Laufe des Tages noch so ein Stehdings auf, und nun muss die eigens für den Herrn gekochte Sondersuppe abgeschmeckt werden. Fleischbrühe ohne Fleisch. Man will es doch allen Gästen recht machen, gell?«

Struve stöhnte, setzte sich im Nebenraum an den puppenkleinen Tisch und kontrollierte wieder die Namensliste. Hecker konnte es nicht mitansehen, trat ins Freie und inhalierte die frische Herbstluft. Warum nur machte Struve sich das Leben so schwer? Der gerade ankommende, gedrungene Mann, sein Pferd zügelnd, hatte ein gänzlich anderes Gemüt. Großherzog, Hofkamarilla und Beamte hassten ihren wüsten Anarchisten Fickler, Herausgeber der »Konstanzer Seeblätter« und Verfechter demokratischer Republik.

»Wird man hier auf die Versammlung der süddeutschen Schützenvereine treffen?«, fragte er.

»Die Letzten werden die Ersten sein! Im Angesicht gedrückter Stimmung vor Ort ist es aber wohl umgekehrt«, antwortete Hecker.

»Die Ersten werden die Letzten sein? Zum Teufel, was soll das denn bedeuten? Uns hat sowieso der olle Struve eingeladen. Wie fühlt er sich denn?«

»Gestern wollte er den Kopf einer Magd vermessen.«

»Um Gottes willen! Wem soll das helfen?«

»Fortführung seiner phrenologischen Studien. Wissenschaftler ruhen nie, pflegt er zu sagen.«

»Kam er weiter bei ihr? Schöner Schädel?«

»Die Frau wollte ihm mit dem Nudelholz die Leviten lesen, und wäre der Wirt nicht dazwischengegangen, hätte ihm das Sitzen für eine Weile große Mühe bereitet.«

»Solange sie nur auf den Allerwertesten zielte!«

»Manch einer hält große Stücke auf die Schädelkunde.«

»Aber er doch nicht?«, spottete Fickler.

»Nein, zu trivial erscheint uns diese sogenannte Lehre.«

»Gustavs Ansicht zu der Magd, ohne Messung?«

»Wir wollen den Mann nicht reizen. Neben einem Pulverfass zündet man sich keine Zigarre an.«

»Gott sei Dank alles beim Alten«, sagte Fickler und entkorkte einen Flachmann. Während der Versammlung würde Hecker ihn bremsen müssen, notfalls mit der Pistole. Mehr als einmal hatte der Konstanzer die Republik ausrufen wollen. Aber militärisch waren die Demokraten unterlegen. Ohne Waffen und gelernte Soldaten war an eine Erhebung nicht zu denken.

»Schnaps hilft am besten gegen Durst«, erklärte Fickler. »Wie auch ein Glas saftiges Bier!«

»So früh bitte keinen Alkohol.«

»Herr Doktor muss gläubig geworden sein. Oder der Umgang mit dem Adventskollegen färbt ab!«

»Adventskollege?«

»Advokat, Advent! Das macht keinen Unterschied. Solange die Sonne jeden Morgen aufgeht.«

»Wahrscheinlich könnte ein Gläsle Wein nicht schaden, am besonderen Tag, als Frühschoppen sozusagen? Struve verwaltet derweil die Liste. Trotz aller Schrullen ist er ein pflichttreuer Mann.«

»Schnell dem Schriftführer schönen Tag wünschen«, verkündete Fickler und wischte sich Bierschaum vom Mund. »Joseph Fickler, Abgeordneter im badischen Parlament und Herausgeber der ›Konstanzer Seeblätter‹.«

Struve lächelte mehr sauer als süß und blickte von seiner Liste kaum auf. Vom Alkoholdunst, der ihm entgegenwehte, war er nicht angetan. Um ein Uhr waren fast zweihundert Männer versammelt und Hecker eröffnete die Versammlung. Struve, erster Redner, trat hinter das Pult, erbat sich Ruhe und redete sehr monoton, worauf die gute Stimmung verschwand. Hecker überlegte, wie seine Schädelforscherkollegen ihn einschätzten. Fickler stellte Fragen und Struve ließ ihn gewähren. Auf das Missverhältnis zwischen Arbeit und Kapital zu sprechen kommend, duldete dieser aber keinerlei Einwand mehr: »Dringend muss ein Ausgleich zwischen beiden geschaffen werden! Die einen schuften und andere verprassen!« Struve schüttelte den Kopf und verschwand in der Menge. Hecker war der Meinung, dass Applaus angebracht sei, ging nach vorne und machte es vor, bevor er anhob: »Meine Freunde, hart sind die Entbehrungen des Volkes, vor allem auf dem Land. Dem steht ungesunder Luxus von 38 Fürstenhäusern gegenüber. Wer dieses Missverhältnis auch nur erwähnt, landet hinter Gittern! Die deutschen Lande müssen dieselben Rechte bekommen wie Amerika: Pressefreiheit, Gewissensfreiheit, Lehrfreiheit, Vereidigung des Militärs auf eine Verfassung sowie ordentliche Geschworenengerichte. Dreizehn Forderungen sind es, nicht mehr, nicht weniger! Fickler wird sie in seinen ›Seeblättern‹ und Struve im ›Deutschen Zuschauer‹ publizieren. Wir beschreiten unseren außerparlamentarischen Weg weiter und verbreiten demokratische Gedanken wie ein Feuer!«