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In unserer Zeit des Übergangs von der Moderne zum digitalen Zeitalter ist die Frage nach der Bilanz der Moderne naheliegend. Was war die Moderne? Welche Werte und Errungenschaften verdanken wir ihr? Was wird bzw. was sollte von ihr bleiben?

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <www.dnb.de> abrufbar.

ISBN: 978-3-86764-808-0 (Print)

ISBN: 978-3-7398-0335-7 (EPUB)

ISBN: 978-3-7398-0336-4 (EPDF)

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Inhalt

  1. Auf dem Weg zur Moderne
  2. Der Durchbruch der Moderne
  3. Die Neubelebung der Moderne
  4. Die Moderne in Zeiten des Wandels
  5. Das digitale Zeitalter

… wovon die Rede sein soll

Selten warf die kultur- und zivilisationsgeschichtliche Zuordnung der Gegenwart so viele Fragen auf wie heute. Wir gehen davon aus, dass weiterhin die Normen und Werte der Moderne gelten, und doch bestimmen Kommunikations- und Informationstechnologien unseren Alltag, die aus einer neuen Epoche zu stammen scheinen. Befinden wir uns noch in der Phase der späten Moderne oder leben wir bereits in jener neuen zeitgeschichtlichen Epoche, die vielfach als das digitale Zeitalter bezeichnet wird? Aber gesetzt den Fall, wir lebten in einer neuen Epoche: Haben wir deshalb die Moderne völlig verworfen oder stützen wir uns auch im digitalen Zeitalter weiterhin auf die Errungenschaften der Moderne? Was wiederum die Frage aufwirft: Was waren denn diese Errungenschaften? Oder noch allgemeiner: Was war denn die Moderne?

Um diesen Fragen nachzugehen, wird man sich zunächst daran erinnern müssen, was die Moderne ausmacht. Allzu leicht wird die eigene Zeit als selbstverständlich erachtet, ohne sich dessen bewusst zu sein, welche Errungenschaften wir dieser Epoche zu verdanken haben und wie schwierig der Weg war, um zu den Werten, Maßstäben und Normen zu gelangen, die wir der Moderne verdanken. Deshalb erscheint ein ausführlicher Rückblick auf die Geschichte der Moderne unverzichtbar zu sein, um am Ende nicht nur beurteilen zu können, wie sich das digitale Zeitalter von der Moderne unterscheidet, sondern auch um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, ob und was wir gegebenenfalls in die neue Epoche hinüberretten sollten.

Um dies mit der notwendigen Sorgfalt leisten zu können, wird die These vorangestellt, dass die häufig anzutreffende Verkürzung der Moderne auf künstlerische Ausdrucksformen bei weitem zu kurz greift. Noch in der online-Brockhaus-Ausgabe von 2008 heißt es, dass die Moderne eine Bezeichnung sei für „die Literatur- und Kunstströmungen am Ende des 19. Jahrhunderts, die durch den Bruch mit allen überkommenen ästhetischen Normen einem kritischen Dekadenzbewusstsein Ausdruck verlieh“. Diese Verkürzung wird der Moderne in ihrer grundsätzlichen und umfassenden Dimension nicht gerecht. Vielmehr – so lautet die These – stützt sich die Moderne in mindestens ebensolchem Maße auf Impulse der Naturwissenschaften, der Ökonomielehre, der Philosophie, der Psychologie und Soziologie sowie – nicht zuletzt – auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung. Als Folge dieser These erlangt der Rückblick auf die Moderne eine nicht unerhebliche thematische Breite, die hier aber nur in Form von Beispielen und Mustern wiedergegeben werden kann, in deren Auswahl – dies sei eingestanden – sich die thematischen Schwerpunkte und Vorlieben des Verfassers niederschlagen.

Doch selbst eine solchermaßen ausgerichtete Beschreibung der Moderne steht vor dem Problem einer zeitlichen Zuordnung und Abgrenzung. Hier wird die Lesart bevorzugt, das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der Moderne zu definieren und die vorausgegangenen Jahrzehnte – bis zurück zur Aufklärung – als den Weg zur Moderne zu begreifen. Folglich wird im ersten Teil berichtet von den philosophischen Wegbereitern aus der Zeit der Aufklärung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, aber auch von den politischen Bemühungen um Freiheit und Gleichheit seit der Französischen Revolution. Der obigen These folgend werden auch die Entwicklungen in Naturwissenschaft und Technik skizziert, die Voraussetzungen für die Industrialisierung in Deutschland waren. Bedingt durch die veränderten ökonomischen Verhältnisse leisteten auch neue Wirtschaftstheorien – vom Liberalismus bis zum Marxismus – ihren Beitrag zum Verständnis einer sich wandelnden Welt. Neue soziale Gruppen mit emanzipatorischen Ansprüchen kündigten eine gesellschaftliche Veränderung an. Kunst und Kultur suchten und fanden neue Wege, um dem Wandel der Zeit auch künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Trotz bisweilen heftiger Gegenwehr von politisch-konservativer oder kirchlicher Seite konnte sich die Moderne zum Ende des 19. Jahrhunderts als neue kultur- und zivilisationsgeschichtliche Epoche durchsetzen.

Während der Weg zur Moderne in seiner ersten Phase von der Philosophie geprägt worden war, stand der Durchbruch der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz im Zeichen der Naturwissenschaften. Vor allem Quantenphysik, Relativitätstheorie und Atomphysik veränderten das Bild von unserer Welt und brachten manche Grundfesten unseres Wissens ins Wanken. Von ähnlicher Bedeutung waren auch neue Theorien in Ökonomie, Soziologie und Psychologie, die zum Teil in enger Verbindung zu den naturwissenschaftlichen Fortschritten standen. All dies schlug sich auch in den Künsten nieder, so dass das erste Quartal des 20. Jahrhunderts zu einer Zeit beispielloser Experimentierfreude und künstlerischer Wagnisse wurde. Doch politische Instabilität und wirtschaftlicher Niedergang gefährdeten schon bald die Errungenschaften der Moderne. Mit der Herrschaft des Nationalsozialismus drohte die Moderne sogar zu einem vorzeitigen Ende zu kommen.

Doch glücklicherweise endete die Hitler-Diktatur nach zwölf Jahren, so dass eine Neubelebung der Moderne erhofft werden durfte. Anders als im Kaiserreich des späten 19. Jahrhunderts und auch anders als in der Weimarer Republik wurde der politische Neuanfang nach 1945 in starkem Maße von den Ideen und Zielen der Moderne geprägt. Dazu gehörte, nicht zuletzt auf Betreiben der Besatzungsmächte, im Westen die Verbindung von Demokratie und Marktwirtschaft. Im Osten dagegen, wiederum auf Betreiben der dortigen Besatzungsmacht, entschied man sich für eine Kombination aus Sozialismus und Planwirtschaft, was zumindest in den Anfangsjahren beider Staaten auch einen Wettbewerb zwischen Ost und West um die bessere Verwirklichung der Moderne zur Folge hatte. Trotz neuer Staatsformen und neuer Wirtschaftskonzepte blieb aber die gesellschaftliche Wirklichkeit in beiden Staaten von konservativen Ideen geprägt. Erst die künstlerischen Anstrengungen der jüngeren Generation, und hier vor allem die der Literatur in der BRD, hielten die Errungenschaften der Moderne auch in einem konservativen gesellschaftlichen Umfeld lebendig. Mit den Studentenprotesten 1968 kam es zu einer spürbaren und nachhaltigen Wiedergeburt der Moderne, die gleichzeitig auch von einer geistigen Erneuerung gestützt wurde. Der Existenzialismus, die Analytische Philosophie, der Strukturalismus und nicht zuletzt die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sorgten für eine auch intellektuelle Wiederbelebung der Moderne in der Bundesrepublik.

Zwar erlebte die Moderne in den 1970er und 1980er Jahren – zumindest bezogen auf die Bundesrepublik – in gewisser Hinsicht ihren Höhepunkt, doch sah sie sich auch mit großen Herausforderungen konfrontiert. Vor allem der RAF-Terrorismus war eine Bewährungsprobe, die die Moderne nur mit Mühe meistern konnte. Das Idealbild einer offenen Gesellschaft wurde verdrängt vom Schrecken des Terrors sowie von der polizeilichen Präsenz, die der Staat dieser terroristischen Gewalt entgegensetzen musste. Die Folge war ein Rückzug ins Private, der nicht zuletzt auch künstlerisch zum Ausdruck kam. Erst Mitte der 1980er Jahre war man bereit, sich den Werten, Normen und Zielen der Moderne wieder zuzuwenden. Doch ahnte man wohl schon, dass ein Zenit überschritten war, weshalb man von der Postmoderne sprach.

1990 wurde das zunächst nur für Forschungszwecke reservierte Internet auch für kommerzielle Zwecke geöffnet, was in Verbindung mit Internetdiensten wie World-Wide-Web und E-Mail zu einer völlig neuen Nutzung der bis dahin nur als bessere Schreibmaschine verwendeten Personal Computer führte. Innerhalb weniger Jahre bahnte sich eine der größten informations- und kommunikationstechnischen Veränderung der Menschheitsgeschichte an, weshalb mit großer Berechtigung von einem neuen, dem digitalen Zeitalter gesprochen werden darf. Während andere große technische Innovationen unser Alltagsleben oft nur indirekt und nicht selten nur mit Verzögerung erreichten, schlug sich die digitale Informationsund Kommunikationstechnologie sowohl im Wissenschaftsbetrieb, in Staat und Wirtschaft als auch in unserem Privatleben nieder. Seitdem hat sich unser Leben verändert, und fast täglich verändern sich weitere Dinge um uns herum, die wir als unabänderlich eingeschätzt hatten. Wir genießen die Vorteile der neuen Technologie, die permanente Erreichbarkeit, den leichten Zugriff auf Wissen und Information in aller Welt und reizen die Möglichkeiten sozialer Kontakte aus, die uns die neuen Medien bieten. Doch werden wir uns zunehmend auch bewusst, dass uns der Wechsel von der Moderne zum digitalen Zeitalter nicht nur die Bequemlichkeit eines scheinbar allwissenden Smartphones beschert hat, sondern damit auch Errungenschaften der Moderne in Frage gestellt werden. Es ist deshalb an der Zeit, sich einerseits wieder an die Werte, Normen und Ziele der Moderne zu erinnern und sie nach ihrer bleibenden Bedeutung auch für das digitale Zeitalter zu befragen, aber an anderer Stelle auch Abschied von der Moderne zu nehmen, um sich der neuen Epoche ganz zuwenden zu können.

Der Erörterung genau dieses Spannungsverhältnisses zwischen dem wertvollen Erbe der Moderne und der sich erst in Andeutungen abzeichnenden Veränderungen in einer neuen kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Epoche dient die vorliegende Abhandlung. Sie versteht sich ausdrücklich weder als eine Geschichte der Moderne noch als eine Vision von den Maßstäben und Werte, die im digitalen Zeitalter gelten sollten. Vielmehr handelt es sich um eine höchst unvollständige Auswahl von Ereignissen, Entdeckungen und Erfahrungen aus einem Teilbereich der relevanten Wissenschaften und Künste, welche geeignet sein dürften, die hier aufgeworfenen Fragen mit Gewinn zu durchdenken.

Ähnlich wie es ein Kaufmann zum Jahresende zu tun pflegt, heißt es also auch hier, am Ende eines Zeitabschnitts Bilanz zu ziehen, um sich selbst Rechenschaft darüber abzulegen, was erreicht wurde und welche Leistungen erbracht wurden. Eine solche Bilanz ist in erster Linie eine Retrospektive, weshalb auch hier der Rückblick auf die Moderne und die Vergewisserung des Erreichten im Mittelpunkt stehen. Zugleich ist eine Bilanz aber immer auch die Basis für die Planung des nächsten Zeitabschnitts und folglich in diesem konkreten Fall Ausgangspunkt der spannenden Frage, welche Errungenschaften der Moderne in das digitale Zeitalter einfließen sollten. Doch kann diese Frage wohl kaum aus der Warte einer einzelnen Person und noch weniger mit normativem Anspruch beantwortet werden. Es ist vielmehr die Herausforderung an die Gesellschaft, die Frage nach den Werten, Maßstäben und Zielen des digitalen Zeitalters im Bewusstsein des Erbes der Moderne sowie der Verantwortung für die Zukunft zu erörtern.

Mein besonderer Dank gilt meinem Sohn Matthias Heinrichs, Diplom-Physiker, der die naturwissenschaftlichen Teile des Manuskripts kritisch begleitet hat, sowie meiner Tochter, der Germanistin Verena Junghans M.A., die freundlicherweise das Lesen der Korrekturfahnen übernommen hat.

1    Auf dem Weg zur Moderne

Nach heutigem Verständnis ist die Moderne kein homogener Begriff, sondern differenziert sich als philosophische, ästhetische, gesellschaftliche, naturwissenschaftlich-technische und geschichtlich-politische Moderne. Dies hat nicht nur eine begriffliche Unschärfe zur Folge, sondern auch eine höchst unterschiedliche zeitliche Zuordnung. Während Wissenschaftshistoriker den Anfang der Moderne schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Veröffentlichung der Encyclopédie (1765) von Diderot und d’Alembert sehen, startete die Moderne aus der Sicht von Soziologen und Kunsthistorikern erst ein Jahrhundert später mit der Entstehung des industriezeitlichen Bürgertums bzw. mit dem Aufkommen des Impressionismus. Doch selbst innerhalb einer Fachdisziplin besteht keineswegs immer Einvernehmen hinsichtlich der zeitlichen Zuordnung. So wird in der Philosophie der Beginn der Moderne häufig schon in der Aufklärung gesehen, während andere Autoren Friedrich Nietzsche als den Urahn der Moderne feiern. Manche Musikhistoriker verbinden den Beginn der Moderne mit dem Werk Richard Wagners, während andere diesen Epochenauftakt bei der atonalen Musik Arnold Schönbergs ansetzen. Einen einzigen Anfang der Moderne gibt es folglich nicht; es gibt nur Anfänge, die sich je nach Disziplin zeitlich unterscheiden. Die Ungewissheit des Anfangs wird deshalb hier umgangen, indem von Vorphasen und Wegen zur Moderne die Rede ist, wohl wissend, dass dies aus der Sicht eines einzelnen Fachs nicht ohne Widerspruch hingenommen werden kann. Aber es darf zumindest erwartet werden, dass das 20. Jahrhundert allgemein als die zentrale Zeit der Moderne akzeptiert wird, gleich auf welche Fachdisziplin oder künstlerischen Sparte man sich konzentriert. Mit Blick auf eine Bilanz der Moderne wird das 20. Jahrhundert im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen müssen, so dass es vielleicht erlaubt ist, der Frage nach dem zeitlichen Beginn der Moderne eine nur begrenzte Aufmerksamkeit zu schenken.

Die Disparität der Anfänge der Moderne lässt bereits erahnen, dass es auch nicht das zentrale und über alle Fächer und Sparten hinweg gültige Charakteristikum der Moderne gibt. Philosophie, Kunst-, Literatur- und Musikwissenschaft, Soziologie, Politologie, Naturwissenschaften und Ökonomie haben je eigene Merkmale der Moderne definiert, weshalb man es mit einem ganzen Bündel von Kennzeichen zu tun hat. Das erscheint auf den ersten Blick befremdlich und unbefriedigend, da vor allem Kunstbildbände über Epochen wie die Romanik, die Gotik, oder das Barock suggerieren, jedes Zeitalter sei an nur wenigen Merkmalen wiedererkennbar.

Dass dies höchstens in der Verkürzung auf eine einzelne Kunstsparte zutreffen kann, zeigt beispielsweise das Barock. Während die Baukunst des Barock Fassaden und Räume von luxuriöser Festlichkeit und lustvoller Pracht entstehen ließ, zeichnen sich Literatur, bildende Kunst und Musik jener Zeit durch trennscharfe und keineswegs sinnenfrohe Kontraste wie Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit aus.

Was hier für das barocke Zeitalter skizziert wurde, gilt in gleichem Maße auch für andere Epochen und mithin auch für die Moderne. Jede Epoche entwickelte in einer Art von Verselbstständigung eine Vielgestaltigkeit, die eine Reduzierung auf das eine Merkmal fast unmöglich macht. Um dennoch das Charakteristikum einer Zeit zu finden, lohnt sich ein Blick zurück auf die Anfänge und damit auf erste Impulse, die zu einem Epochenwechsel führten. Befragt man hierzu die Moderne, so zeigt sich bald, dass während der Zeit der Aufklärung die Säkularisierung die Erkenntnis und damit die Abkehr von jeglicher Bevormundung als entscheidender Antrieb auf dem Weg zur Moderne auszumachen sind. „Die gesamte Entwicklung der Moderne, beginnend mit ihren spätmittelalterlichen Wurzeln, darf als eine Bewegung dargestellt werden, wodurch Politik, Kunst, Wissenschaft und Philosophie ihren selbständigen Status und ihre Unabhängigkeit von göttlichem und kirchlichem Überwachen stufenweise behaupten. Jede musste ihre eigenen Gültigkeitskriterien suchen, anstatt sie von biblischer Überlieferung und kirchlicher Lehre herzuleiten.“1 Allerdings muss nochmals betont werden, dass die Säkularisierung der Erkenntnis in der Zeit der Aufklärung nur der Impuls für die Entfaltung der Moderne war. Die eigentliche Entwicklung und spätere Ausformung der Moderne ging schon bald über diesen Antrieb hinaus und entfaltete weitere Eigenschaften, die mit dem ursprünglichen Auftakt nur noch indirekt in Verbindung stehen. Eine Beschäftigung mit der Moderne des 20. Jahrhunderts in all ihren Ausprägungen und Facetten macht es deshalb erforderlich, nicht nur den ursprünglichen Impuls in Erinnerung zu rufen, sondern auch den weiteren Weg bis zur vollen Entwicklung der Moderne nachzuzeichnen.

1.1    Die Aufklärung und die Idee von der Moderne

Während des Mittelalters und noch weit bis in die Neuzeit hinein war die christliche Lehre die alleinige Orientierung im Wissen um diese Welt. Noch Ende des 18. Jahrhunderts dominierte eine vom Christentum geprägte spekulative Metaphysik, die jede Erkenntnis auf empirisch-wissenschaftlicher Basis ausschloss. Das hatte umgekehrt zur Folge, dass jede Erkenntnis die Übereinstimmung mit dem nachzuweisen hatte, was die christliche Religion mit Hilfe der Bibel und der kirchlichen Lehre glaubte als Vernunft erkannt zu haben. Mit dieser Tradition brach die Aufklärung, die Ende des 17. Jahrhunderts in England ihren Ausgang nahm, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich zum wichtigen Vorbereiter der Französischen Revolution wurde und als geistige und kulturelle Strömung zum Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland zu herausragender Bedeutung gelangte. Am Beginn der Aufklärung stand der Rationalismus, der von der Vorstellung ausging, dass die Welt rational aufgebaut sei. Folglich sei sie nur mit den Mitteln der Vernunft und damit unabhängig von jeder Erfahrung (a priori) erkennbar. Diesen Denkansatz vertraten in Frankreich René Descartes (1596–1650), in den Niederlanden Baruch de Spinoza (1632–1677) sowie in Deutschland Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Christian Wolff (1679–1754) und Christian Thomasius (1655–1728). Dagegen propagierte der Empirismus die Auffassung, dass alles Wissen von der sinnlichen Erfahrung abhängig sei; eine a priori vorhandene Vernunftidee lehnten die Engländer John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) sowie der Ire George Berkeley (1685–1753) ab. Der damit verbundene Bruch mit dem Offenbarungsglauben zeigte bald beachtliche Wirkung; Deismus (Gott hat die Welt geschaffen, ohne aber weiterhin auf sie Einfluss zu nehmen) und selbst Atheismus fanden öffentlich Anhänger. Der freie und autonome Gebrauch der Vernunft sowie die von kirchlicher Dogmatik befreite Erkenntnislehre führten zu einem bis dahin nie gekannten Fortschrittsglauben, dem einerseits die Umwälzungen der Französischen Revolution, andererseits aber auch die Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik zu verdanken sind.

Die Überwindung der von Religion und Kirche vorgegebenen Grenzen der Erkenntnis und des Wissenserwerbs machten eine neue Ordnung und Dokumentation des Wissens erforderlich. Zwischen 1751 und 1780 veröffentlichten Denis Diderot (1713–1784) und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783) die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, die in Umfang und Ausführlichkeit alle anderen Sachwörterbücher übertraf:

„Von den Prinzipien der Wissenschaften an bis zu den Grundlagen der offenbarten Religion, von den Problemen der Metaphysik bis zu denen des Geschmacks, von der Musik bis zur Moral, von den theologischen Streitfragen bis zu den Fragen der Wirtschaft und des Handels, von der Politik bis zum Völkerrecht und zum Zivilrecht ist alles diskutiert, analysiert, aufgerührt worden.“2

In der Tat waren im 18. und 19. Jahrhundert alle Systeme und Dokumentationen des Wissens auf Vollständigkeit angelegt. Sie folgten damit noch dem christlichen Weltbild, das eine auf die Bibel, die Offenbarung und die christliche Tradition gestützte Ganzheit und Einheit der Welt lehrte; offene Fragen waren in einem solchen Verständnis von Wissen nicht vorgesehen.

Doch nicht nur die vollständige Erfassung des Wissens ihrer Zeit war das Ziel von Diderot und d‘Alembert, sondern sie verfassten das Werk auch in der Hoffnung – und hier waren sie mit ganzem Herzen Vertreter der Aufklärung –, dass

„[wir] unsere Mitmenschen soweit gebracht haben, sich zu lieben, sich zu dulden und endlich die Überlegenheit der allumfassenden Moral über alle jene Formen der Privatmoral anzuerkennen, die Hass und Zwietracht schüren und den allgemeinen Zusammenhalt zerstören oder lockern.“3

Der wichtigste deutsche Vertreter der Aufklärung, der weit über Deutschland hinauswirkte, war Immanuel Kant (1724–1804). In einem kurzen Aufsatz zur Beantwortung der Frage Was ist Aufklärung? (1784) schrieb er:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“4

Wer aber seinen eigenen Verstand „ohne Leitung eines anderen“ einsetzt, folgt nicht mehr den Erklärungen von Kirche oder Staat, und wer seinen eigenen Verstand und damit sich selbst in den Mittelpunkt stellt, findet zwangsläufig Interesse an seiner diesseitigen Zukunft. Diese Umorientierung von der jenseitigen zur diesseitigen Zukunft und die damit verbundene Selbstreferenz des Menschen (der Einzelne verlässt sich auf sein eigenes Urteil) waren in Deutschland die ersten Schritte in Richtung auf jene Moderne, die das 20. Jahrhundert prägen sollte. In der Tat ist die Moderne dadurch bestimmt, dass sie ihr Denken und Handeln auf eine diesseitige Zukunft ausrichtet und damit dem einzelnen, an seiner Zukunft mitwirkenden Menschen die Verantwortung für sein Handeln ermöglicht und überträgt.

Doch war der kurze Aufsatz von 1784 nur ein öffentlichkeitswirksamer Zwischenruf in einer Entwicklung, die weit mehr von den kritischen Schriften Kants bestimmt war, in denen er Grundfragen des Erkennens, des Handelns und des Urteilens einer prüfenden Analyse (Kritik) unterzog. 1781 veröffentlichte Kant die erste Ausgabe (A) seines Hauptwerks Kritik der reinen Vernunft (Ausgabe B 1787), in der er der Frage nachgeht, wie Erkenntnis möglich ist. 1788 folgte die Kritik der praktischen Vernunft, eine Sittenlehre, in der Kant u.a. den kategorischen Imperativ als ethisches und moralisches Fundament des menschlichen Zusammenlebens formuliert. Als dritte und letzte Kritik erschien 1790 die Kritik der Urteilskraft, in der sich Kant ästhetischen Fragen widmet.

Von überragender Bedeutung – gerade auch mit Blick auf die Moderne – ist die Kritik der reinen Vernunft. Dazu sei nochmals daran erinnert, dass sich im 17. und 18. Jahrhundert zwei Erkenntnislehren gegenüberstanden, nämlich der Rationalismus, für den Erkenntnis allein durch rationales Denken und von jeder Erfahrung unabhängig (a priori) möglich ist sowie der Empirismus, nach dem Erkenntnis nur durch Erfahrung gewonnen werden kann. Erst Kant gelang es, diese Opposition von Rationalismus und Empirismus durch eine Synthese zu überwinden. Demnach ist es die Hauptaufgabe der Erkenntnislehre, zu synthetischen Urteilen a priori zu kommen. Urteile a priori sind allgemeingültige und notwendige Erkenntnisse, wie beispielsweise die Sätze der Mathematik, weil sie „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden“5. Doch um zu erweiternden, also zu synthetischen Urteilen und damit zu Erkenntnissen zu gelangen, bedarf es auch der reinen Anschauung. Die reine Anschauung ist nicht zu verwechseln mit der Erfahrung, denn die Erfahrung lehrt uns, dass etwas irgendwann auch anders sein kann, als wir es bisher erfahren haben. Reine Anschauungsformen sind Raum und Zeit; sie stehen vor jeder Erfahrung und sind damit a priori. Denken in Begriffen und reine Anschauung gehören also zusammen; beide sind a priori möglich.

„Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann […]. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“6

Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, wie der Verstand Begriffe und Anschauungen miteinander verbindet und zu Erkenntnissen weiterverarbeitet. Dies ist nach Kant eine Leistung der Logik, deren erster Schritt die Synthese ist. „Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“7 Welcher Art diese Verknüpfungen sind, ist aber nicht willkürlich, sondern beschränkt sich auf zwölf Kategorien (die reinen Verstandesbegriffe), die Kant in vier Gruppen (Quantität, Qualität, Relation und Modalität) gliedert. Wenn Raum und Zeit für die Anschauungsformen die sichere Basis bilden, so erfüllen die Kategorien diese Aufgabe für den Verstand. Allerdings ist eine Erkenntnis allein aus den Verstandesbegriffen nicht möglich, es bedarf auch der Erfahrung oder um es moderner auszudrücken: Eine durch Denken gewonnene Erkenntnis muss experimentell bestätigt werden. Das schließt Phantasiegebilde oder Science Fiction als Erkenntnisse aus, da sie sich einer Bestätigung durch die Erfahrung entziehen. Auch hier besteht Kant wieder darauf, dass beide Seiten, der denkende Verstand und die anschauende Erfahrung, zusammenpassen.

Es kann also festgehalten werden, dass Kant sowohl der rationalen Verstandesleistung als auch der empirisch bestätigten Anschauung ihren Platz in der Erkenntnislehre zugesteht. Doch verlangt er von beiden Seiten strenge Selbstbeschränkung, sei es durch die Kategorien, sei es durch die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit. Dieses strenge Gerüst erst macht eine Erkenntnis möglich, die sich nicht in spekulativen Begriffen und auch nicht in vordergründiger Empirie verliert. Daraus ergeben sich zwei wichtige Merkmale der Moderne, gerade auch im Unterschied zum vorausgegangenen Rationalismus und Empirismus der Neuzeit. Kant, „der alles Zermalmende“8, wie Moses Mendelssohn (1729–1786) ihn einmal nannte, lehnte jede Metaphysik als Erkenntnismethode ab, weil sie als ein rein spekulatives Denken ohne Erfahrung und Anschauung zu Erkenntnissen unfähig ist. Dennoch erkannte er ihren Platz in der Sittenlehre9 und in der Naturlehre an, nicht aber als „Wissenschaft von den ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis“.10 Diese Ablehnung der spekulativen Metaphysik, die in der Tradition des christlichen Mittelalters der Kirche die Deutungshoheit über alle Erkenntnisfragen zugestand, wurde auf dem Weg zur Moderne als große Befreiung von jeder kirchlichen Bevormundung wahrgenommen und führte im 19. Jahrhundert zur Autonomie und Ungebundenheit des Denkens in Kunst und Wissenschaft. Zweitens gab Kants Erkenntnislehre den Anstoß zu den naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden des 19. und 20. Jahrhunderts. „Kant hat […] die letzte Quelle aller überhaupt möglichen Erkenntnisse in Natur und Geistesleben, im alltäglichsten wie im kompliziertesten Denken entdeckt und damit eine ungeahnte Perspektive eröffnet. Nicht nur Mond- und Sonnenfinsternisse können auf Jahrtausende vorausgesagt werden, sondern ebenso sicher ist, dass in Tausenden und Millionen von Jahren jedes vernünftige Wesen ebendieselben Denkvoraussetzungen machen wird, die wir als denkende Wesen heute machen und die durch die Kantischen Anschauungen und Denkformen scharf und eindeutig umschrieben sind.“11 Es ist unbestritten, dass die Erkenntnislehre Kants zu einem Aufblühen der Wissenschaften außerhalb der Theologie führte, was aus wissenschaftlicher Sicht den besonderen Unterschied der Moderne zu den ihr vorausgegangenen Epochen ausmacht.

Allerdings kann man die Aufklärung und Kants Lehre noch nicht als Durchbruch der Moderne sehen, sondern eher als einen Aufbruch in die Moderne. Dies zeigte sich vor allem in der Philosophie des deutschen Idealismus, wie er um 1800 von Fichte, Schelling und Hegel formuliert wurde. „Die Philosophen der idealistischen Bewegung vollbringen eine unbegreiflich dichte Folge genialer Denkleistungen, die durch Kühnheit der systematischen Konstruktion, durch Kraft der Abstraktion und durch mitreißenden Enthusiasmus der denkerischen Phantasie ihresgleichen suchen. Im idealistischen Denken hat der Begriff der Freiheit, die führende Parole der großen Französischen Revolution und das Grundpathos der kantischen Moralphilosophie, eine Auszeichnung erfahren, die die Philosophie zu einer echten geschichtlichen Macht über mehr als ein Jahrhundert werden ließ.“12 Übereinstimmend waren die Philosophen des Idealismus der Auffassung, dass sich die gesamte Wirklichkeit aus einem geistigen Prinzip, aus einer Idee, ableiten lasse. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) stellt in den Mittelpunkt seiner Philosophie das Ich, weil die kritische Selbstbeobachtung der schöpferisch-ethischen Aktivität der Persönlichkeit für ihn das Zentrum philosophischen Denkens ist. „Es ist von nichts, was außer dir ist, die Rede, sondern lediglich von dir selbst“13, heißt es in seiner Ersten Einleitung zur Wissenschaftslehre (1797). Doch lässt sich das Ich (These) nicht denken ohne ein Nicht-Ich (Antithese). Da aber beides, das Ich und das Nicht-Ich in uns selbst gedacht werden, entsteht als Aufhebung des Widerspruchs eine Einheit, ein gleichsam höheres Ich (Synthese).

Während Fichtes subjektiver Idealismus letztlich nur ein vom Subjekt gezeugtes, ein aus der Handlung des Ichs erzeugtes Objekt zulässt, weist Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) darauf hin, dass auch ein Weg vom Objekt zum Subjekt führen müsse. Während für Fichte die Natur nur ein Selbsterleben des Ichs ist, betont Schelling die Eigenständigkeit des Objekts. Dies kommt in seiner Kunstphilosophie zum Ausdruck, dem dritten Teil seines System[s] des transzendentalen Idealismus (1800), wo er schreibt, dass der Betrachter eines Kunstwerks nicht nur die Gedanken und Ideen des Künstlers erfassen will, sondern auch die unmittelbare Körperlichkeit des Werks. Zwar klingt hier – wenn man den Gegensatz zu Fichte in den Vordergrund rücken will – ein objektiver Idealismus14 an, doch findet Schelling die Synthese zwischen Subjekt und Objekt nur im Absoluten, also keineswegs auf der objektiven Seite.

Damit kommt Schelling seinem Studienfreund Hegel sehr nahe, mit dem er – gemeinsam mit Hölderlin – am Tübinger Stift studierte. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war der bei weitem systematischste der drei idealistischen Denker. Er griff den von Fichte eingeführten dialektischen Dreischritt auf und machte ihn zum Grundprinzip seiner Wissenschaft der Logik (1812–16; überarbeitet 1831). Diese Logik ist spekulativ, weil sie zwar im Rückblick manch überraschende und einleuchtende Schlussfolgerung enthält, aber nicht die Möglichkeit bietet, einen dialektischen Dreischritt für die Zukunft zu generieren. Eine Logik sollte aber geeignet sein, aus bestimmten Vorgaben Schlussfolgerungen für etwas noch Unbekanntes zu ziehen, die eindeutig und widerspruchsfrei sind, wie dies die klassische, vor allem aber die moderne, an der Mathematik orientierte formale Logik zu leisten in der Lage ist. Auf der anderen Seite bringt der dialektische Dreischritt die überraschende Einsicht mit sich, dass dem Alten zwangsläufig etwas Neues folgen muss. Die mittelalterliche Vorstellung von den unveränderlichen Wahrheiten wurde von Hegel radikal beiseitegeschoben. Vielmehr war für Hegel klar, dass jede vermeintliche Wahrheit sich irgendwann einer Antithese stellen müsse und dann in eine Synthese und damit auch in eine neue Wahrheit aufgehen werde. Oder wie es Friedrich Engels (1820–1895) treffend beschrieb: „Die dialektische Philosophie löst alle Begriffe endgültiger absoluter Wahrheit und eines endgültigen absoluten Zustandes des Menschen auf, die damit Hand in Hand gehen. Somit ist nichts endgültig, absolut, heilig.“15 So überraschend es klingen mag, aber die Logik des dialektischen Dreischritts hat der Moderne ganz wesentlich den Weg bereitet, weil sie das Neue nicht nur zulässt, sondern fortwährend fordert. Das Neue aber, und ständig das Neue fordernd und suchend, ist ein wesentliches Merkmal der Moderne.

Der deutsche Idealismus war sowohl zu seiner Zeit als auch in den folgenden Jahrzehnten von großer Wirkung. Die Vorstellung, aus einer Idee heraus sich selbst und die Welt erfassen zu können, fand besonders in der Literatur der Klassik und der Romantik großen Nachklang. Aber auch die politischen Ideen von Freiheit und Nation waren letztlich Ergebnisse des philosophischen Idealismus; sie wurden nicht aus einer empirischen Analyse der Wirklichkeit abgeleitet. Allerdings lud die Unschärfe mancher Denkkonstruktionen auch dazu ein, den deutschen Idealismus mal so und mal anders zu verstehen. Am Ende konnten sich sowohl der konservative und restaurative preußische Staat (Hegel’sche Rechte) als auch der revolutionäre Marxismus (Hegel’sche Linke) auf Hegel und den deutschen Idealismus berufen.

Die Bedeutung der Hegel‘schen Rechten für den Freiheitsbegriff des 20. Jahrhunderts wird häufig übersehen. Demnach ist der Staat ein an sich gutes Gebilde, das damit auch nur Gutes bewirkt, vor allem, wenn es um die Sicherung der Freiheit der Bürger geht. In Hegels Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte (1830) heißt es:

„Die wesentliche Bestimmung der Staatsverfassung bei der Mannigfaltigkeit der Seiten des Staatslebens spricht sich in dem Satze aus, daß der beste Staat der sei, in dem die größte Freiheit herrscht. Hier aber erhebt sich die Frage, worin die Freiheit ihre Realität habe. Man stellt sich die Freiheit so vor, daß der subjektive Wille aller Einzelnen an den wichtigsten Staatsangelegenheiten teilnehme. Der subjektive Wille wird hier als das Letzte, Entscheidende betrachtet. Die Natur des Staates aber ist die Einheit des objektiven und des allgemeinen Willen; der subjektive Wille ist dahin erhoben, daß er seiner Besonderheit entsagt.“16

Für Hegel und für die ihm folgenden preußischen Staatstheoretiker ist Freiheit folglich die „Freiheit durch den Staat“, denn nur der Staat kann mit seiner Staatsmacht die Freiheit der Bürger sicherstellen. Demgegenüber versteht der Liberalismus – vor allem in der angelsächsischen und US-amerikanischen Prägung – Freiheit immer nur als „Freiheit vom Staat“. In Deutschland aber blieb das Prinzip der „Freiheit durch den Staat“ bis heute prägend, weshalb die Kunstfreiheit nach deutschem Verständnis nur dann gewährleistet ist, wenn der Staat Kunst und Kultur „behutsam in seine Obhut nimmt“17. Das Ergebnis ist ein staatlich getragener und gesteuerter Kulturbetrieb von beeindruckendem Umfang. Ähnliches gilt für das Gesundheitswesen oder für die Rentenversicherung; auch dort wird Freiheit im Sinne einer Befreiung von Risiken dadurch gesichert, dass der Staat die Dinge „in seine Obhut“ nimmt. Dem entgegen kann sich das Prinzip der „Freiheit vom Staat“ weit überzeugender auf die Gedankenfreiheit im Sinne Kants, auf die politische Freiheit im Verständnis der Französischen Revolution sowie auf den ökonomischen und bürgerrechtlichen Liberalismus britischer Tradition berufen. Bei Lichte betrachtet will eine Freiheit, die unter der Obhut des Staates steht, nicht so recht zu den Zielen der Moderne passen. Es war deshalb durchaus im Sinne der Moderne, dass in der Bundesrepublik Deutschland die soziale Marktwirtschaft eingeführt wurde, die ein gewisses liberales Gegengewicht zu dem weithin vorherrschenden Prinzip der „Freiheit durch den Staat“ bildet.

Trotz dieses wichtigen Hinweises auf die Rechte, ist die überragende Bedeutung der Hegel’schen Linken unbestritten. Dieser Linkshegelianismus ist zuallererst mit Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels zu verbinden, deren Lehren wohl kaum den Intentionen Hegels entsprachen, die aber doch in seinem Werk angelegt sind. Marx beschäftigte sich intensiv mit den Folgen der Industrialisierung in England und hier vor allem mit der Ausbeutung der Arbeiter. Um dieser Situation politisch, ökonomisch und gesellschaftlich entgegenwirken zu können, plädierte Marx für einen Sozialismus, der sich auf die Wirtschaftstheorie Ricardos (Arbeitswerttheorie), auf den Materialismus Feuerbachs sowie in methodischer Hinsicht auf die Dialektik Hegels stützt (vgl. Kapitel 1.4). Darunter ist mit Blick auf die Moderne hier vor allem der Materialismus Feuerbachs von Interesse, während das Thema Arbeitswerttheorie einem späteren Kapitel vorbehalten bleibt.

Während Hegel die Religion noch gemeinsam mit Philosophie und Kunst als Erscheinung des absoluten Geistes sieht, sucht Ludwig Feuerbach (1804–1872) in seinem Hauptwerk Das Wesen des Christentums (1849) die Religion als eine Vermenschlichung Gottes zu entlarven: „Die Religion ist der Traum des menschlichen Geistes.“18 Alle Vorstellungen, die wir von Gott haben, sind letztlich Vorstellungen von uns selbst, lediglich gesteigert zur Vollkommenheit:

„Das göttliche Wesen ist nichts andres als das menschliche Wesen oder besser: das Wesen des Menschen, abgesondert von den Schranken des individuellen, d.h. wirklichen, leiblichen Menschen […].“19

Dieser „Anthropomorphismus“, wie Feuerbach die menschliche Vorstellung von Gott nennt, ist letztlich auch der Kern des Glaubens an die Existenz Gottes. Daraus schließt Feuerbach, dass „Gott als Gott, d.h. als nicht endliches, nicht menschliches, nicht materiell bestimmtes, nicht sinnliches Wesen […] nur Gegenstand des Denkens“20 ist und folglich in Wahrheit nicht existiert.

Beachtenswert sind auch Feuerbachs Bemerkungen zu methodischen Fragen. Er selbst bezeichnete sich als „ein geistiger Naturforscher“21 und nahm folglich für sich die methodische Stringenz und forschende Präzision in Anspruch, die die Naturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert auszeichnet. Genau dieses wissenschaftliche Selbstverständnis hat es wenige Jahrzehnte später der Psychologie, der Soziologie und der Ethnologie ermöglicht, sich von der Philosophie abzusetzen und eigene Wege mit naturwissenschaftlichen Methoden zu gehen. Der Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919) konnte deshalb mit einiger Berechtigung über eine ganze Generation von Naturforschern sagen, sie standen „auf den Schultern Feuerbachs.“22

Das Wesen des Christentum fand große Verbreitung und war für den Weg zur Moderne von nicht geringer Bedeutung. Richard Wagner (1813–1883) war anfangs ein leidenschaftlicher Verehrer Feuerbachs, bis er sich etwa um 1850 Schopenhauer zuwandte. Der Schweizer Gottfried Keller (1819–1890) setzte Feuerbach in seinem Roman Der grüne Heinrich sogar ein literarisches Denkmal. Auch eine geistige Verbindung von Feuerbach zu Friedrich Nietzsche (1844–1900) ist bekannt; Nietzsche hat vor allem in jungen Jahren mehrere Schriften von Feuerbach gelesen. Den größten Einfluss aber hatte Feuerbach auf Karl Marx, der sich sowohl in dessen Religionskritik als auch in dessen Materialismus in seiner eigenen Position bestärkt sah. Allerdings kritisiert Marx in seinen Thesen über Feuerbach (1845), dass Feuerbach seinen Materialismus zu sehr anthropologisch und an der Natur des Menschen ausrichte, während Marx einen politischen Materialismus wollte, denn es war sein Ziel, die Gesellschaft zu verändern, nicht nur, sie anders zu deuten. Dennoch schätzte Marx Feuerbach außerordentlich und machte ihm in einem persönlichen Brief ein überschwängliches Kompliment: „Sie haben – ich weiß nicht, ob absichtlich – in diesen Schriften dem Sozialismus eine philosophische Grundlage gegeben […].“23

Marx sah sich durch Feuerbach auch in seiner Kritik Hegels bestätigt, in dessen Staats- und Rechtsphilosophie er eine Legitimation der bürgerlichen Gesellschaft und auch der Restaurationspolitik nach 1815 zu sehen glaubte. Marx schien es deshalb unverzichtbar, Hegel „vom Kopf auf die Füße zu stellen“, indem er die idealistische Bestimmung des Objekts durch das Subjekt in eine materialistische Bestimmung des Subjekts durch das Objekt umkehrte. Nach Marx bestimmt die Materie das Bewusstsein, weshalb auch sein an Hegel angelehnter dialektischer Materialismus nicht das Fortschreiten des Geistes verfolgt, sondern die Entwicklung von der Urgesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern.“24

„‘Die Welt ist meine Vorstellung:‘ – dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt […].“25 Mit dieser provozierenden Feststellung beginnt Arthur Schopenhauer (1788–1860) sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (3. Aufl. 1859). Für ihn ist alles in dieser Welt Objekt des anschauenden Subjekts oder Vorstellung des Subjekts. Hier folgt Schopenhauer seinem Lehrmeister Kant, für den die Dinge auch nur Erscheinungen waren. Doch anders als Kant und der Idealismus, die hinter den Erscheinungen ein „Ding an sich“ bzw. die Idee von einem Ding vermutete, deutet Schopenhauer sie als Ausdruck des Willens des Menschen.

„Nicht allein in denjenigen Erscheinungen, welche seiner eigenen ganz ähnlich sind, in Menschen und Thieren, wird er als ihr innerstes Wesen jenen nämlichen Willen anerkennen; sondern die fortgesetzte Reflexion wird ihn dahin leiten, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetirt, ja, die Kraft durch welche der Krystall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpol wendet, […] ja, zuletzt sogar die Schwere, welche in aller Materie so gewaltig strebt, den Stein zur Erde und die Erde zur Sonne zieht, – diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem innern Wesen nach aber als das Selbe zu erkennen, als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt.“26

Der solchermaßen umfassende und alles ermöglichende Wille ist auch bei Schopenhauer ein metaphysisches Grundprinzip, doch ist er der Welt immanent und damit kein Gott der Religionen oder absoluter Geist wie bei Hegel. Der Wille, der alles vermag, ist allerdings auch widersprüchlich, denn er schafft nicht nur das Gute, sondern auch das Leiden in der Welt. Für den Menschen ist damit ein besonderer Zwiespalt verbunden, denn da die Objektivation durch das Subjekt erfolgt, erlebt er das Leiden nicht nur im Objekt, sondern auch in sich selbst und zwar im Stadium der Objektivation. An dieser Stelle fragt sich der Mensch, ob ein solches Streben nach weiterer Objektivation überhaupt noch einen Sinn macht. Und so schlussfolgert Schopenhauer: „Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden.“27 Der Mensch, durch dessen Willen Vorstellungen zum Objekt werden können, erweist sich mithin als höchst gefangen im selbst geschaffenen Käfig seiner Objektivationen. Auf diese Erkenntnis reagiert der Mensch mit Pessimismus; er leidet schwer an der Welt. Eine Befreiung aus dieser Gefangenschaft des Willens ist nach Schopenhauer nur durch eine Verneinung des Willens möglich, um auf diese Weise der ständigen Objektivation zu entgehen. Diese Verneinung des Willens gelingt nur durch eine interesselose Betrachtung, wie sie die Künste bieten oder aber im Nirwana des Buddhismus zu finden ist.

„Welche Erkenntnißart nun aber betrachtet jenes außer und unabhängig von aller Relation bestehende, allein eigentlich Wesentliche der Welt, den wahren Gehalt ihrer Erscheinungen, das keinem Wechsel Unterworfene und daher für alle Zeiten mit gleicher Wahrheit Erkannte, mit einem Wort die Ideen, welche die unmittelbare und adäquate Objektivität des Dinges an sich, des Willens, sind? – Es ist die Kunst, das Werk des Genius.“28

In seiner pessimistischen Grundhaltung, die nur durch die Kunst überwunden werden kann, war Schopenhauer Anreger für viele Dichter und Musiker. Richard Wagner, Wilhelm Busch, Leo Tolstoi, Thomas Mann, Hermann Hesse und auch noch Thomas Bernhard haben sich auf Arthur Schopenhauer berufen. Die Welt als Wille und Vorstellung zählte vorübergehend zu den am häufigsten gelesenen Büchern. Die von Schopenhauer aufgezeigten Möglichkeiten des menschlichen Willens einerseits, das Gefangensein im Pessimismus andererseits sowie vor allem die Rolle der Kunst als die Rettende in diesem Dilemma waren bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts unbestrittene Bausteine in der Kunsttheorie der Moderne.

Die Kraft des subjektiven Willens und die Dominanz des Individuums heben den Menschen in seinen Möglichkeiten empor, machen ihm aber gleichzeitig auch deutlich, wie weit er sich von der Geborgenheit durch ein externes göttliches Wesen entfernt hat. Für Schopenhauer führte diese Einsicht zum Pessimismus, für Kierkegaard zu Angst und Leid. Søren Kierkegaard (1813–1855) war ein tief religiöser Mensch, doch stand für ihn nicht das Heilsversprechen auf eine ewige Seligkeit im Mittelpunkt, sondern die Sünde. Die Aufklärung war noch der Ansicht, dass das Wissen vom Guten automatisch zum richtigen Handeln führen würde, doch Kierkegaard war der Überzeugung, dass der Mensch durch seine Sündhaftigkeit das Böse tun werde, auch wenn er weiß, was gut ist. Folglich kann es keine unpersönliche objektive Wahrheit geben, sondern nur eine subjektive Wahrheit, die man als Individuum zu verantworten hat. Der Einzelne wird nicht länger gehalten von einem objektiven Rahmen oder System, sondern wird auf seine eigene Existenz zurückgeworfen. Doch hier die richtige Entscheidung zu treffen und den richtigen Weg zu gehen, ist dem Menschen schier unmöglich:

„Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen […]. Lach‘ über die Narrheit der Welt, du wirst es bereuen; wein‘ über sie, du wirst es gleichfalls bereuen […]; entweder du lachst über die Narrheit der Welt oder du weinst über sie, du bereust beides. […] Hänge dich auf, du wirst es bereuen; hänge dich nicht auf, du wirst es gleichfalls bereuen […]; entweder du hängst dich auf oder du hängst dich nicht auf, du wirst beides bereuen. Dies, meine Herren, ist aller Lebensweisheit Inbegriff.“29

Für Kierkegaard gibt es kein Sowohl-als-auch oder Einerseits-Andererseits der spekulativen Dialektik, sondern nur ein – so der Titel seines bekanntesten Werks: Entweder-Oder