Cover

Über dieses Buch

Kay hat eine große Wut im Bauch. Die lässt ihn Dinge tun, die er eigentlich gar nicht will. Seine Lehrer haben sich damit abgefunden, dass er in der Schule nicht mitmacht. Doch als er wieder einmal Mist baut, droht er, von der Schule zu fliegen. Seine letzte Chance: Er soll sich um die neue Mitschülerin Greta kümmern – ein Mädchen, das ein wenig anders ist. Mit ihrer ehrlichen, direkten und emotionalen Art stellt Greta Kay vor eine echte Herausforderung. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

Die Autorin

Jutta Nymphius wurde 1966 in Bremerhaven geboren. In Köln und Florenz studierte sie italienische, deutsche und spanische Literatur und arbeitete anschließend viele Jahre als Lektorin für Kinder- und Jugendbücher, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie ist Mitbegründerin der »Elbautoren« und lebt mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und Katze Emma in Hamburg.

Die Illustratorin

Barbara Jung hat Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Illustration studiert. Seit ihrem Abschluss arbeitet sie als freie Illustratorin für verschiedene Kinder- und Jugendbuchverlage. Schräge Personalien und ein gewisser Humor sind ihr die liebsten Zutaten für ein gelungenes Buch. Sie lebt mit ihren Kindern in Frankfurt am Main.

Inhalt

Schmerz

Schule

Freunde

Papa

Nähe

Stille

Spaß

Wut

Freude

Musik

Sorge

Zweifel

Die Entscheidung

Das Ende

Der Anfang

Impressum

Schmerz

Es tut gut, als Pauline schreit. Kay ist, als würde Druck aus ihm entweichen wie aus einem viel zu prall aufgeblasenen Ballon. Er packt noch fester zu. Seine Hand presst Paulines Wange auf den von kleinen Steinchen übersäten Boden. Ihre Haut fühlt sich zart an, zart und weich. Er hasst das.

»Aua, aua, lass mich los, lass mich doch los«, wimmert Pauline.

Mit Kays Hand im Gesicht kann sie kaum sprechen, ihr Mund verzieht sich zu einer ulkigen Grimasse. Kay hatte mal einen kleinen Ball aus Knete mit einem aufgemalten Mund und Augen, den konnte er genauso verformen wie Paulines Gesicht. Er muss lachen, kniet sich auf das kleine Mädchen und drückt noch weiter zu, nimmt sogar die zweite Hand zu Hilfe.

Pauline heult laut auf. Plötzlich sind da Schleim und Glibber.

»Hey, verdammt!«, flucht Kay und lässt Paulines Kopf ruckartig los. »Du bist ja voller Rotze.« Er springt auf. »Na los, hau schon ab, du Baby, aber wehe, du erzählst irgendwem davon …«

Hastig richtet Pauline sich auf. Mit von Tränen verschmiertem Gesicht tastet das kleine Mädchen nach seinem Ranzen, der neben ihm auf dem Boden liegt. Zitternd greift es danach, kommt endlich auf die Beine und stolpert los. Zufrieden bemerkt Kay, dass es sich mit einer Hand die Wange hält, die bestimmt immer noch schmerzt.

»Hey, warte«, schreit er der Kleinen hinterher und hebt einen Teddybären auf. »Du hast was verloren!«

In sicherer Entfernung dreht sich Pauline zu ihm um. »Gib ihn mir wieder«, kreischt sie, als sie ihren Teddy erkennt. »Gib mir meinen Wuschel wieder!«

»Aber klar doch«, erwidert Kay. Der Teddy schaut ihn aus kugelrunden Knopfaugen friedlich an und streckt ihm seine kleinen Ärmchen entgegen. Langsam öffnet Kay die Hand und lässt den Teddy fallen. »Ups«, meint er, hebt seinen Fuß und tritt Wuschel mit der Schuhspitze in den Dreck, rollt ihn hin und her, bis der Teddy ganz schmutzig ist und eine Naht aufplatzt, aus der hilflos Füllwatte hervorquillt. Pauline schreit auf, rennt mit feuerrotem Gesicht zu Kay hin und schnappt sich schnell ihren Teddy, bevor sie wieder kehrtmacht und zu einer Gruppe von anderen erschreckten Erstklässlern läuft. Die hat die ganze Zeit am Wegrand gewartet und alles mit angesehen.

 

Kay beobachtet, wie die Kleinen alle zusammen wegrennen, einige haben sich sogar an die Hand genommen. Mit einem Mal ist seine Hochstimmung verflogen.

»Klasse!«, kommentiert in diesem Moment Sven, der wie aus dem Nichts neben ihm auftaucht. »Der hast du’s ganz schön gegeben!«

»Ja, ja, schon gut«, brummt Kay.

Sven ist sein Freund, oder zumindest so etwas Ähnliches. Niemand kann ihn leiden, immer ist Sven da, wo es Ärger gibt. Aber nie lässt er sich dabei erwischen. Früher hatte auch Kay nichts mit ihm zu tun, obwohl sie in eine Klasse gehen. Doch in letzter Zeit ist Sven immer dort, wo er auch ist, ständig taucht er wie aus dem Nichts an seiner Seite auf. Mittlerweile hat Kay sogar das Gefühl, ihn neben sich zu haben, auch wenn er gar nicht zu sehen ist. So als hätte Sven wie im Märchen eine Tarnkappe, die ihn unsichtbar macht und die er nur von Zeit zu Zeit abnimmt.

Kay geht los, Richtung Schule. Unter seinen dünnen Sommerschuhen spürt er die Steinchen, die sich eben noch in Paulines Wange gebohrt haben. Wütend versucht er sie wegzutreten.

Lust, zur Schule zu gehen, hat er nicht gerade. Aber was Besseres fällt ihm auch nicht ein. Eigentlich ist es doch egal, was er macht, ob er hier ist oder anderswo.

Als er mit Sven durch den Flur geht und an den ersten Klassen vorbeikommt, laufen die Kleinen bei ihrem Anblick ängstlich in ihre Räume und knallen schnell die Türen hinter sich zu. Wie eine Schar Vögel flattern sie aufgescheucht davon. Sven johlt vor Vergnügen, er geht jetzt so breitbeinig wie ein Cowboy im Film und haut Kay lachend auf die Schulter. Doch der geht einfach weiter, ohne nach rechts und links zu gucken.

»Hey, wie immer nachher am Schuppen?«, ruft Sven ihm nach dem Unterricht zu, als Kay, die Hände tief in die Taschen vergraben, aus dem Schulgebäude schlurft.

Ohne anzuhalten, zuckt Kay kurz mit den Achseln. Den Weg kennt er gut. Und doch wird er immer langsamer, als sei er sich nicht sicher, ob er hier noch richtig ist. Als er schließlich hinter der Ecke das kleine weiße Haus erblickt, bleibt er stehen. Er senkt den Kopf, zögert. Die letzten Meter schließlich schleicht er sich gebückt an das Haus heran, huscht zu einem Fenster links neben der Eingangstür und späht vorsichtig hindurch.

Mama hat schon auf ihn gewartet. Kaum dass sie ihn sieht, schüttelt sie heftig den Kopf und legt den Finger warnend auf die Lippen. Kay nickt kurz, duckt sich schnell wieder unter das Fenster und schleicht zur anderen Seite des Hauses, an die die Garage angebaut ist. In der Ecke zwischen Garage und Hauswand lehnt gut versteckt eine große Holzleiter.

Den Ranzen, den er bisher nachlässig über der Schulter getragen hat, schnallt sich Kay nun auf den Rücken und verschließt die Schnalle sorgfältig über seiner Brust. Dann setzt er vorsichtig den Fuß auf die erste Sprosse, die zweite. Die dritte überspringt er, der traut er nicht, die knackt so seltsam. Geschickt klettert er den Rest der Leiter hoch, lässt sich aufs Garagendach gleiten und greift in ein Fenster, das gekippt ist. Er entriegelt es von innen, öffnet es ganz und steigt in sein Zimmer.

Obwohl es Hochsommer ist und die Sonne scheint, ist es kühl und dunkel hier drin, wie in einer Höhle. Kay schnuppert. Es riecht nach Essen. Er knipst die alte Stehlampe in der Ecke an und sieht den Teller mit Suppe auf dem Tisch. Mama hat noch sein Lieblingsbrötchen, eines mit Sesam, dazugelegt und eine ganze Flasche Wasser hingestellt. Das ist gut, er hat von der Hitze ganz schön Durst. Erschöpft lässt sich Kay auf den Stuhl sinken und beginnt zu essen.

Ein ungewohntes Geräusch lässt ihn herumfahren. Es kommt von draußen. Wie ein Dieb in der Nacht löscht Kay schnell die Stehlampe und tritt leise an das immer noch geöffnete Fenster.

Im Haus gegenüber, das eigentlich seit vielen Monaten leer steht, sind heute alle Fenster geöffnet. Auch das im ersten Stock, aus dem Musik mit einem aufdringlich stampfenden Rhythmus herüberweht. Neugierig beugt Kay sich weiter vor. Tatsächlich, das ist Schlagermusik, deutsche Schlagermusik, so eine, wie Papa sie früher gern gehört hat. »Dich zu lieben, dich zu kriegen …«, stampft es unablässig weiter, laut und dröhnend.

Aber nicht nur das: Ein ziemlich dickes Mädchen mit noch dickeren Beinen, die in knallroten Strumpfhosen stecken, tanzt mit weit ausgebreiteten Armen zur Musik durchs Zimmer. Eigentlich hüpft es mehr, als dass es tanzt. Kay ist sich nicht sicher, ob es der Musik dabei überhaupt zuhört, im Takt bewegt es sich jedenfalls nicht. Aber das scheint es keineswegs zu stören, im Gegenteil: So ausgelassen dreht es sich und springt so wild umher, dass seine Freude sogar hier vom Fenster aus zu sehen ist. Kay steht und staunt, während sich seine rechte Hand langsam zu einer Faust formt und sich die Fingernägel in den Handballen bohren.

Da geht drüben die Tür auf und eine Frau kommt herein. Sie wedelt mit den Armen, um die Aufmerksamkeit des dicken Mädchens zu erregen, doch das kriegt nichts mit. Die Frau fuchtelt immer heftiger und geht dann auf das Mädchen zu.

›Aha‹, stellt Kay zufrieden fest, ›jetzt gibt es Ärger wegen der lauten Musik. Na also, geschieht der Dicken recht.‹ Der Druck der Fingernägel in seinem Fleisch löst sich ein wenig.

Aber das Mädchen schüttelt nur den Kopf, als die Frau auf sie einzureden beginnt. Und dann, Kay kann es kaum glauben, dann nimmt das Mädchen einfach beide Arme der Frau und schwenkt sie wild herum. Die Frau will sich erst losmachen, muss aber dann laut lachen und macht schließlich bereitwillig mit. Jetzt tanzen beide durch den Raum und scheinen schrecklichen Spaß daran zu haben.

Schließlich verstummt die Musik. Die Frau bleibt stehen, und das Mädchen schmiegt sich in ihre Arme. In enger Umarmung wiegen sie sich sanft hin und her.

Da hebt das Mädchen plötzlich den Kopf und schaut zum Fenster hinaus, genau zu ihm hin. Kay weicht sofort zurück in die schützende Dunkelheit. Seine alte Gitarre, die verlassen in einer Ecke lehnt, wehrt sich mit einem anklagenden Dröhnen, als er gegen sie stößt.

Eine Weile bleibt Kay reglos stehen. Als es in seinem Gesicht zu kitzeln beginnt, öffnet er seine Faust und streicht mit der Hand über seine Wange. Erstaunt stellt er fest, dass er weint.

Schule

»Hast du Mathe?« Kay schleudert seinen Ranzen auf den Tisch. Die Frage klingt eher wie eine Drohung.

Stumm schiebt ihm Finn sein Heft herüber. Kay schnappt es sich und beginnt ohne Eile, die Rechenergebnisse abzuschreiben. Er hört nicht mal damit auf, als Frau Weniger, ihre Mathe- und Kunstlehrerin, den Raum betritt und an ihm vorbei zur Tafel geht.

»Du könntest wenigstens versuchen zu verbergen, dass du deine Aufgaben mal wieder abschreibst, Kay«, meint sie nur bissig und wendet sich dann an die Klasse. »So, dann wollen wir mal! Wer will vorrechnen?«

Genervt sieht Kay zu, wie die Finger der anderen in die Höhe schnellen. Was ist nur so toll daran, vorn an der Tafel den Streber zu geben? Er schließt die Augen und beginnt mit seinem Stuhl zu kippeln. Klar, früher fand er das auch klasse, das weiß er noch. Richtig gute Noten hatte er mal, vor allem in Mathe und Musik.

Stundenlang konnte er sich in knifflige Rätsel und Knobeleien vertiefen, so lange, bis er auf die Lösung kam. Richtig spannend fand er das. Zum Geburtstag wünschte er sich von seinen Eltern Rätselhefte und Denkspiele und brachte sie mit zum Unterricht, womit er den anderen Kindern ziemlich auf die Nerven ging. Kay muss lachen, als er jetzt daran denkt.

Und dann war da die Musik, vor allem die Musik. Kay spürt einen Stich, als er jetzt daran denkt, eine dunkle Welle droht, ihn zu erfassen. Schnell öffnet er die Augen und guckt auf die Zahlen, die für ihn inzwischen nur noch sinnlos die Tafel füllen.

Frau Weniger hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass er nicht mehr mitmacht. Anfangs hat sie noch versucht, ihn einzubeziehen, doch das ist lange her. Jetzt lässt sie ihn vollkommen in Ruhe. Gut so.

Kay stützt seinen Kopf ab und sieht zu, wie Sven, der nach vorn geholt wurde, verzweifelt versucht, cool zu wirken. Dabei hat er es einfach nicht drauf, da kann er machen, was er will. Er ist und bleibt nun mal nicht der Hellste.

»Also, Sven, versuch es noch einmal! Guck dir die Zahlenfolge an: 9000, 7000 und 2000. Wie muss die nächste Zahl lauten?« Frau Weniger klingt mittlerweile ziemlich gereizt.

Sven wendet sich grinsend zur Klasse und macht das Victory-Zeichen. Dann antwortet er betont lässig: »Ist doch klar. 5000.«

Oh Mann. Kay stöhnt, alle anderen kichern.