Ameneh Bahrami

Auge um Auge

Ein Verehrer schüttete mir Säure ins Gesicht.
Jetzt liegt sein Schicksal in meiner Hand

Mit Michael Gösele und Jutta Himmelreich


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2. Auflage 2011

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Manuskriptbearbeitung: Michael Gösele

Übersetzung: Jutta Himmelreich

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Umschlaggestaltung: Pamela Günther, München

Satz: HJR, M. Zech, Landsberg am Lech

ISBN 978-3-86882-155-0

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1. Einblick – Worte der Kraft und des Dankes

Im Namen des Herrn und Schöpfers der Seele, des Schöpfers des Wortes,
im Namen des Herrn über das Leben und über uns, im Namen des Herrn,
der uns nährt und uns leitet.�

Dieses Buch entsteht im Namen Gottes, der schön ist,
der die Schönheit erschaffen hat und der die Schönheit liebt.

Vor vier Jahren hat eine Katastrophe mein Leben verändert. Eine Katastrophe, an deren Folgen ich jedoch nicht zerbrochen bin.

Ich kam auf wundersame Weise wieder auf die Beine. Vier Jahre nach dem verheerenden Einschnitt habe ich genug Kraft, um endlich meine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die schmerzt. Eine Geschichte, die mich innerlich aufwühlt, traurig macht und an manchen Tagen fast verzweifeln lässt. Aber ich muss sie erzählen.

Tränen rinnen über mein Gesicht, während ich Dutzende von Bändern bespreche – die Tränen sind das Einzige, was meine Augen noch zu leisten vermögen. Aber ich muss mich von diesem Unglück befreien. Ich muss gegen dieses Schicksal ankämpfen. Es hat vor vier Jahren von mir Besitz ergriffen. Aber es hat mich nicht bezwungen. Und es wird mich auch in Zukunft nicht besiegen.

Dieses Buch soll dazu beitragen, dass es nie wieder einen Fall »Ameneh Bahrami« geben wird. Nie wieder soll eine Frau oder ein Mädchen das Opfer einer Säureattacke werden. Nie wieder sollen Frauen verätzt oder verbrüht werden, nur weil sie einen eigenen Willen haben. Nach mir soll kein Mensch mehr durchleiden müssen, was ich ertragen muss. Mein größter Wunsch ist es, unsere Gesellschaft dazu zu bewegen, ihren Egoismus zu überwinden sowie Missgunst und Stolz hinter sich zu lassen.

Wir dürfen die Kräfte, die Gott uns geschenkt hat, nicht dazu nutzen, unsere Mitmenschen zu quälen. Wir sollten nicht danach trachten, dem andern zu schaden. Niemand soll Macht über einen anderen Menschen haben dürfen. Niemand soll sich ungestraft nehmen können, was er besitzen möchte. Schon gar nicht das Leben, die Gesundheit oder die Schönheit eines freien Menschen.

Was ich durchgemacht habe, mag manchem unglaublich erscheinen. Selbst mir fällt es sehr schwer, zurückzuschauen und mir alles Geschehene in Erinnerung zu rufen. Wie oft stiegen mir in den vergangenen Monaten und Jahren bittere Tränen in die Augen – wie oft versagte mir die Stimme. Wie oft wollte ich aufgeben, weil mich die Schmerzen in meinem Gesicht, in meiner Speiseröhre, in meinem Magen, an meinen Händen und Armen fast verrückt werden ließen. Und wie oft war ich am Ende meiner Kräfte, wie oft drohten mein Wille und meine Entschlossenheit mich zu verlassen.

Vielen Menschen, die mir auf meinem Weg beigestanden haben, bin ich sehr dankbar. Mein größter Dank aber gilt meiner lieben Familie, die mit mir gelitten und mich auf meinem schweren Weg begleitet hat.

Meines Großvaters – wo immer er jetzt sein mag – möchte ich besonders gedenken. Ihn habe ich sehr geliebt, und seine Güte und Weisheit haben mir dabei geholfen, meinen unbändigen Zorn zu beherrschen.

Meinem lieben Freund Dr. Saburi bin ich dankbar. Seine beruhigende Stimme und seine Besonnenheit, die er auf mich übertragen hat, haben mir immer wieder Mut gemacht. Mein besonderer Dank geht an Doktor Ramón Medel Jiménez, der mir durch seine Freundlichkeit und seine geschickten Hände Selbstvertrauen gegeben hat und noch immer mehr davon gibt.

Herrn Yaghoubzadeh gilt mein Dank, der mich bis heute unterstützt. Dank an Mariam Rassulipanah, Ashraf Arab und allen Freunden und Kommilitonen für ihre Hilfe und ihren Beistand. Auch allen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen herzlichen Dank. Für sie und alle, die hier nicht namentlich genannt sind, will ich mich nach Kräften bemühen, meine Geschichte so zu erzählen, dass sie alle gewürdigt sein mögen.

Meine Erfahrung soll all jenen Menschen helfen, die einen schweren Schicksalsschlag zu bewältigen haben, und ihnen zeigen, wie man auch in der größten Dunkelheit wieder Zuversicht schöpfen kann. Schwere Zeiten machen uns zu dem, was wir sind. Wer schwere Zeiten erlebt, lernt die schönen Seiten des Lebens noch besser schätzen. Etwas zu verlieren fällt schwer, aber es setzt auch ungeahnte Kräfte frei.

Blind und gezeichnet, stehe ich heute doch wieder auf eigenen Füßen und kämpfe dafür, dass man jedem Menschen das Recht und die Freiheit gewährt, über sich selbst zu bestimmen. Jeder Mensch muss so leben dürfen, wie er es möchte, und soll auch die Mittel dazu haben.

Am Ende habe ich mein Antlitz eingebüßt – aber mein Gesicht habe ich nach all dem, das mir widerfahren ist, nicht verloren. Ich danke Gott, der mir diese Erkenntnis eröffnet und bisher jeden Weg, den ich gehen wollte, geebnet hat. Mit seiner Hilfe bin ich bis hierher gekommen, und in der Hoffnung auf ihn mache ich den nächsten Schritt: Ich beginne nun meine Geschichte.


2. Innenansichten – Wiederkehrende Schreckensvisionen

Manchmal kann ich wieder sehen. Und dann sehe ich ihn. Ihn, dessen Namen ich nicht aussprechen will. Ihn, der versucht hat, mein Leben zu zerstören. Ihn sehe ich fast jede Nacht, wenn ich schlafe. Und am Tage, wenn ich mich in meinen Träumen verliere. Er liegt da. Auf einer Bahre festgeschnallt. Er schläft, Schlingen um seine beiden Fußgelenke, seine Arme festgezurrt. Er liegt auf dem Rücken. Seine Augen sind geschlossen. Wenn er so daliegt – wie aufgebahrt –, sieht er friedfertig aus. Doch in ihm lauert der Teufel. Das Böse ist in ihm gefangen. Würde er jetzt seine Augen öffnen, könnte ich das Böse in ihm sehen. So wie damals, im Herbst 2004. Als ich mich umdrehte, weil ich etwas ahnte. Weil mich eine innere Stimme zu warnen schien. Ich höre heute noch die Schritte hinter mir. Madschid, dieser junge Kerl, der einfach nicht begreifen wollte, dass Liebe sich nicht erzwingen lässt. Ich konnte seine Anwesenheit spüren. Ich wusste, ohne ihn zu sehen, dass er mir wieder nachstellte.

Was mochte er vorhaben? Würde er mich wieder anbetteln? Oder würde er erneut Forderungen stellen? Mich, meinen Körper, meine Liebe zu ihm einfordern? Eine Liebe, die nur in seinem Kopf existiert. Eine Liebe, die ich ihm nicht bieten kann. Niemals.

Würde ich ihm das zum wiederholten Male erklären müssen? Würde ich ihm erneut sagen müssen, dass ich ihn nicht liebe? Ihn nicht kenne, ihn nicht kennenlernen möchte? Ihm klarmachen, dass er nicht auf mich warten, nicht auf meine Liebe hoffen darf? Wollte er denn nicht begreifen? Was, dachte ich verzweifelt, musste ich denn noch tun, damit dieser Mann endlich von mir ablässt?

Als ich mich damals umdrehte, sah ich seine Augen. Sie waren dunkel, ohne jedes Gefühl. Und entschlossen. Ich sah das Böse in seinen Augen – den Teufel. Und dann sah ich seine Hände. Sie hielten etwas umfasst. Ein rotes Gefäß, wie eine kleine Karaffe. Madschid starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Was war das in seinem Blick? Hass? Verzweiflung? Enttäuschung? Was ich da in ihm sah, war kalt. Vollkommen kalt.

Und dann wurde es heiß. Glühend heiß. In meinem Gesicht, in meinen Augen – in meiner Seele.

Jetzt kann ich ihn wieder sehen. Denn mein inneres Auge, meine Gedankenwelt, meine Phantasie konnte er mir nicht rauben. Ich sehe ihn daliegen. Nur er und ich. Er kann sich nicht wehren – er darf sich nicht wehren. Er gehört jetzt ganz alleine mir. Seine Augen gehören mir…

Sie haben ihn zum Schlafen gebracht. Mit einer Spritze haben sie ihm die Augen geschlossen, die er durch meine Hand nie wieder öffnen wird. Sie haben ihn unter Vollnarkose gesetzt, damit er den Schmerz nicht spüren muss, den ich ertragen musste, als er mir die beißende Säure ins Gesicht schleuderte. Aber er wird den Schmerz noch spüren. Er wird ihn danach überfallen. Den Schmerz der Dunkelheit – der ewigen Dunkelheit.

Ich ertaste seine Augen und öffne sie. Mit Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand ziehe ich seine Lider auseinander. Ich sehe im Geiste den dunklen Punkt auf dem weißen Rund. Meine rechte Hand nähert sich seinem Auge. Die Pipette ist voll. Mit Säure. Ich muss sie ihm ins Auge tropfen. Ich muss dieses Urteil vollstrecken. Für mich und alle Frauen, die gequält, geschlagen und zerstört werden, muss ich es tun. Hier im Iran – und überall auf der Welt. Dieser Richterspruch, den ich nach einem langen, harten Kampf erwirkt habe, steht für Gerechtigkeit. Davon zumindest bin ich überzeugt – meistens …

Es gibt Momente, da schreit Madschid. Er strampelt wie besessen, zerrt an den Gurten, die ihn auf der Liege festschnallen. Sein Körper bebt, sein Herz rast, seine Lungen ringen nach Luft. Sein Kopf schlägt wie wild von einer Seite auf die andere. Meistens jedoch rührt er sich nicht. Dann spürt er das zerstörerische Werk der Säure nicht. Er schläft und bemerkt nicht, wie diese wenigen Tropfen seine Augen auffressen. Das Licht in seinem Leben auslöschen – so, wie er es mit mir getan hat. Es ist nichts zu hören, außer diesem leisen bösartigen Zischen und Gurgeln in seiner Augenhöhle.

Aber irgendwann wird er schreien. Wenn er wieder aufwacht. So, wie ich jeden Morgen schreie. Lautlos schreie, wenn ich meine Augen öffnen möchte und es nicht kann. Es nie wieder können werde, weil er mir alles geraubt hat – meine Augen, mein Leben, meine Unschuld, meine Schönheit. Er wird schreien. Anfangs laut und durchdringend. Und er wird weinen. Ihm wird nicht mehr viel bleiben im Leben. Nur die Bilder in seinem Kopf und die Träume, die sich nie erfüllen werden. Diese ewig wiederkehrenden Träume werden ihm bleiben. Alles andere ist weggeätzt, verbrannt, zerstört.

Ich kann nichts mehr sehen, und ich kann mich nicht mehr sehen.

Manchmal bin ich froh und dankbar dafür, dass Allah es mir erspart hat, mein Spiegelbild zu betrachten. Sonst müsste ich Tag für Tag in ein Gesicht schauen, das nicht mehr meines ist. Ein Gesicht, das fremd, hässlich und entstellt ist.

Ihm wird sein Gesicht bleiben, auch wenn er es durch seine feige und grausame Tat längst verloren und durch eine hässliche Fratze ersetzt hat. Damit wird er leben müssen.

»… Ameneh, dein Blindenstock ist dir lästig, stimmt’s?« Die junge Bäckereiverkäuferin riss mich aus meinen Gedanken.

»Ich hasse ihn«, sagte ich zu der Frau, die ihre warme Hand auf meine Schulter gelegt hatte.

»Das sieht man dir an.«

»Ich kann ihn nicht ausstehen, aber ich bin auf ihn angewiesen. Er ist jetzt mein Auge. Ohne ihn könnte ich nicht einmal das kleine Stück bis zu deinem Laden gehen.«

»Warum schaffst du dir keinen Blindenhund an?«

»Ich wünschte, die Wissenschaft käme eines Tages dahin, mir mein Augenlicht wiederzugeben.«

»Ja«, sagte sie, »das wäre schön. Aber wer weiß, was morgen sein wird!«

Sie hatte recht. Wer wusste schon, was morgen ist? Vielleicht kommt ja tatsächlich der Tag, an dem ich wieder sehen kann. Als die Menschen einst vom Fliegen träumten, hätte auch niemand geglaubt, dass wir eines Tagen innerhalb weniger Stunden von einem Kontinent zum nächsten reisen können. Wie gerne würde ich Barcelona mit eigenen Augen sehen! Spazieren gehen, den Himmel sehen, die Menschen, die Erde zu meinen Füßen, Gärten, Bäume … Wenn ich könnte, würde ich sofort loslaufen, mich an den Strand setzen und den Wellen zuschauen. Oder ich würde auf den Tibidabo steigen, den Himmel und die Stadt von dort oben aus betrachten.

Zu schade, dass ich nicht in den Park Güell gehen kann, um Gaudís Mosaiken und Skulpturen zu bewundern, von denen alle so schwärmen. Stattdessen muss ich mich auf die allernächste Umgebung meiner Wohnung beschränken – gehe immer nur zwei Straßen hin, zwei Straßen her.

Ich verabschiedete mich von der jungen Verkäuferin, verließ die Bäckerei, kaufte in einem benachbarten Laden eine Handvoll Audiokassetten und kehrte in mein Zimmer zurück. Mein Buch wartete auf mich. Meine Geschichte, die ich endlich selbst erzählen wollte, nachdem so viele Zeitungen und Magazine weltweit über meinen Fall berichtet hatten. Und dabei nur ganz selten die wahre Geschichte erzählt haben. Es lag nun an mir selbst, mich mit meinem Leben auseinanderzusetzen und es schließlich zu Papier zu bringen.

Ich wohnte zu jener Zeit – im Juli 2009 – in Barcelona bei Maria-Rosa zur Miete, einer mürrischen alten Dame, die mich von morgens bis abends drangsalierte. Sie brachte mich an manchen Tagen an den Rand der Verzweiflung. Wenn der Zigarettenrauch in dicken Schwaden unter meiner Tür hindurch in mein Zimmer drang, weil sie wieder einmal schlecht gelaunt war. Dabei wusste sie natürlich, dass meine Lungen seit dem Angriff sehr empfindlich reagierten und ich von ihren Zigaretten heftige Hustenanfälle bekam. Das Fenster zu öffnen half gar nichts, zumal im Winter, wenn sie mir mit knappen Worten erklärte: »Gas ist teuer«, ihre Miete kassierte und die Heizung nicht anstellte. Dagegen konnte ich mich nicht wehren, schließlich wusste Maria, was auch mir klar war: Ohne Augenlicht und ohne Geld würde ich nie eine andere Unterkunft finden.

Aber es gab einen guten Grund für Maria-Rosas Verbitterung, schließlich hatte die alte Frau bei einem Unfall auf einen Schlag ihren Mann und ihren Sohn verloren. Und doch fragte ich mich in den vielen kalten Wintertagen, ob sie eines Tages verstehen würde, was sie mir angetan hat? Dass sie mich mitunter behandelte, als ob ich irgendeine geheime Mitschuld an ihrem Schicksal hätte …

Ich wandte den Kopf in Richtung Fenster. Dort hing ein blauer Vorhang. Ich wusste das, weil ich mir mein Zimmer einmal hatte beschreiben lassen. Die bunte Decke über dem Bett, die braune Tür, der graue Fußboden – all diese Dinge sah ich nur vor meinem inneren Auge. Der Himmel musste blau sein, das konnte ich fühlen. Wetter kann man spüren. Sonne, Wolken, Nieselregen, Wind fühle ich auf meiner Haut. Und ich kann das Wetter draußen riechen und hören – Sinneswahrnehmungen, die mich bis zu diesem Attentat nicht weiter interessiert hatten. Die vermutlich die meisten Menschen gar nicht registrieren, weil sie ganz viele Dinge in der Welt nur über die Augen wahrnehmen – und dann sofort wieder vergessen.

An jenem Tag im Juli musste ich den Anfang machen. Es war der Tag, an dem ich damit beginnen musste, mir alles, was geschehen war, wieder vor Augen zu führen. Und alles, was hinter mir lag, erneut zu durchleben. Ich hatte mir fest vorgenommen, mein Buch auf Band zu sprechen.

An diesem Morgen, wie jeden Tag, hatte ich geduscht, mich abgetrocknet, mein Gesicht mit Salbe eingerieben, Augentropfen in mein rechtes Auge geträufelt und meine schwarze Brille aufgesetzt. Ich zog die Jeans an, die mir so gut gefallen hatte, als ich noch ein wenig sehen konnte, und deren Farbe, hellgrau, mir noch lebhaft in Erinnerung war, streifte den weißen Trenchcoat über, den ich mir in Barcelona gekauft hatte, und ging mit dem Blindenstock in der Hand zum Bäcker um die Ecke, zu dem ich mich immer auf eine Tasse Tee und ein Stückchen Kuchen begab, wenn ich morgens nicht recht in Stimmung war.

Mir schwirrte so vieles durch den Kopf in dieser Zeit. Die Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehberichte, die Interviews und all die Fragen, die von außen und in meinem Innersten seit geraumer Zeit bohrten. Und nun saß ich da mit meinem Aufnahmegerät und den Kassetten, und die Fragen wurden noch quälender. Was war mit mir geschehen? Wie hatte es so weit kommen können? Warum ich? Wer war ich überhaupt? Wie würde es mit mir weitergehen? Würde es denn überhaupt weitergehen?

Mein Leben war bis dahin immer ein geruhsames gewesen. Es war friedlich, entspannt, glücklich und erfüllt. Heute aber ist es schwer, traurig und kompliziert. Heute muss ich über das Leben eines anderen Menschen entscheiden –
und ich muss jeden Tag erneut einen Weg finden, mich in meiner neuen Welt zurechtzufinden. Alles, was mir wichtig und wertvoll war, hat er mir einfach geraubt.

Und nun sprach die halbe Welt über mich. All diese Berichte, in denen mein Schicksal beschrieben und mein eiserner Wille diskutiert wurde. Manche hießen gut, was ich vollenden wollte, andere verurteilten mich. Die einen verstanden und bestärkten mich, andere schlugen auf mich ein. Unterstützung bekomme ich meist von Menschen, die mich kennen, die mit mir gelitten oder meine Geschichte über längere Zeit hinweg verfolgt haben. Sie verstehen, warum ich diesen Kampf aufgenommen und ein Gericht in Teheran zu einem ungewöhnlichen Urteil gedrängt habe. Sie wissen, warum ich hartnäckig geblieben bin, bis mir die iranische Justiz mein Recht auf Vergeltung zugesprochen hat.

Und nun war es so weit. Ich darf meinem Peiniger das antun, was er mir angetan hat. Ich darf ihn blenden. Ihm sein Augenlicht nehmen und ihn zu einem Leben in Dunkelheit verurteilen. So, wie er es mit mir getan hatte.

Ob ich das schaffe? Ob ich wirklich die Kraft dazu habe? Ich, die ich nie – wie man so sagt – einer Fliege etwas zuleide tun konnte? Ich, Ameneh Bahrami?

Ja, ich!

Ich werde es tun – davon bin ich überzeugt, wenn ich nicht gerade Zweifel hege. Was sollte mich daran hindern? Und falls ich zögern sollte, wenn ich an seine Seite trete, müsste ich mir nur vor Augen führen, was er aus mir gemacht hatte. Ich müsste mich nur erinnern an die schweren Minuten, Stunden, die ich durchlitten habe. Müsste mir nur den Augenblick vergegenwärtigen, als er mir Säure ins Gesicht geschüttet und sich mit seinem Herz aus Stein aus dem Staub gemacht hatte. Wie er an der nächsten Ecke stehen geblieben war und zugesehen hatte, wie ich qualvoll verbrannte. In jener Sekunde müsste ich mir nur in Erinnerung rufen, dass er mir meine schönen Augen genommen hat. Dass ich Tag für Tag vergeblich versuche, mir die Welt vorzustellen, in der ich seit Jahren lebe, ohne sie je gesehen zu haben. An die Zeiten ohne Geld, voller Schmerz, voller Kummer werde ich denken müssen, wenn ich mein Recht auf Vergeltung wahrnehmen werde.

Diese Vorstellung stärkt mich.

Niemand kann mir abnehmen, was ich tun werde, niemand soll es mir abnehmen müssen. Die Zeitungen schrieben: »Ameneh Bahrami will sich rächen.« Aber es geht nicht um Rache. Es geht um all die Frauen und Mädchen weltweit, die mit Säure verätzt oder mit kochendem Wasser verbrüht werden, ohne dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Das will ich mit meinem Urteil verhindern. Zumindest glaube ich, dass ich mit meiner Entscheidung etwas bewegen kann, auch wenn mich immer wieder Zweifel überkommen.

Ich muss mit diesem Urteil fertig werden, und ich muss mit der bevorstehenden Vollstreckung leben können. Eine Antwort auf diese bohrenden Fragen und Zweifel habe ich nicht. Ich weiß nicht, wie ich damit zurechtkommen werde, einen Menschen geblendet zu haben. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt, ein Glasauge zu berühren, um Tropfen daraufzuträufeln, damit sich das künstlich hinoperierte Lid schmerzfrei öffnen und schließen lässt.

Warum sollte ich versagen? So, wie ich meine Augen ertastet habe, werde ich seine erspüren und ihm die Säure hineinträufeln. Sollen doch alle sagen, ich sei eine Henkerin – eine Barbarin. Keiner von denen, die über mich richten, hat das durchgemacht, was ich erleiden musste. Keiner weiß, wie es sich anfühlt, wenn man verbrennt – innerlich und äußerlich. Keiner, der sich hier möglicherweise ein Urteil gebildet hat, musste sich von Madschid und seiner Familie vor Gericht demütigen lassen.

Oft genug fühle ich mich ganz und gar zerrissen. Der Augenblick, in dem ich das Urteil vollstrecken werde, wird ein schwerer sein. Aber ich denke, ich finde auf diesem Weg meine Ruhe wieder, die ich seit jenem Abend, an dem er mich hinterrücks überfallen hatte, verloren habe. Und alle Menschen, die wie Madschid Mowahedi ein Herz aus Stein haben, werden in diesem Moment jämmerlich zittern vor Angst. Sie werden sich künftig überlegen, ob man einen Menschen ungefragt besitzen und ungestraft misshandeln darf.

Die Lösung liegt auch nicht darin, dass unser jetziger Präsident Ahmadinedschad jungen Mädchen rät, noch vor dem Schulabschluss zu heiraten, weil Probleme meist erst danach beginnen. Was würde eine frühe Heirat ändern? Dass junge Frauen nicht reif und gebildet genug werden können, um einen eigenen Willen zu entwickeln? Nicht mündige Frauen sind dafür verantwortlich, was manche Männer mit ihnen anstellen, sondern die Täter sind es, die sich einem modernen, aufgeklärten Denken verschließen und verweigern.

Was ist das »Nein« einer Frau in einer Gesellschaft wert, in der schon bei kleinen Kindern größte Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gemacht werden und das Leben einer Frau nur halb so viel wert ist wie das eines Mannes? In manch einer Familie werden Jungs bevorzugt und von Kindesbeinen an verhätschelt. Schon die Kleinsten lernen, dass sie wichtiger sind als ihre Schwestern. Dass sie alles bekommen, was sie sich wünschen, während die Mädchen häufig schon sehr früh auf sich alleine gestellt sind. Sie erfahren schon in frühester Kindheit, dass ihre Mütter nicht die gleichen Rechte wie ihre Väter haben und auf Gedeih und Verderb von ihren Ehemännern abhängig sind. Dieses Ungleichgewicht prägt schon sehr früh das Frauenbild mancher jungen Iraner. Am Ende werden viele Eltern ihrer Jungs nicht mehr Herr, weil die kleinen Paschas nicht mehr zu bändigen sind.

Nach allem, was ich heute weiß, bin ich das Opfer solch eines kleinen Tyrannen geworden. Der Gefahr, der ich mich mit meiner ablehnenden Haltung ausgesetzt habe, war ich mir nicht bewusst, zumal es in meinem Leben auch andere Männer gab, die damit umgehen konnten, dass ich ihre Gefühle für mich nicht erwiderte.

Meine Freundinnen und ich ahnten zwar, dass wir eines Tages an einen Mann geraten könnten, der sich nicht mit ein paar freundlichen Worten zufriedengeben würde. Aber keine von uns dachte jemals daran, dass sie eines Tages ihren freien Willen möglicherweise mit dem Leben oder der Gesundheit bezahlen müsste. Zumal wir nicht zu jenen Frauen zählten, die auf Flirt oder Anmache aus waren.

Dieser junge Mann, der mein Leben verändert, ja auch zerstört hat, ist ein klassisches Produkt einer Gesellschaft, die auf massive Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern baut. Und er ist ein Mann, der – wie er es in den letzten Jahren schon bewiesen hat – wohl nicht mehr zur Vernunft kommen wird.

Von seiner Zelle aus hat Madschid seinen Gefängnisgenossen einmal geschrieben: »Was ich getan habe, hat mich sechs Monate lang in den Schlagzeilen gehalten.« Nicht nur das – Madschid ist noch auf etwas anderes stolz: Nach dem Attentat fand er mit einem Mal unzählige Nachahmer. Männer, die wie er glaubten, sie könnten sich als Herrscher über die Gefühle und das Leben junger Frauen aufschwingen.

Bevor er mich angegriffen hat, lag der letzte Säureanschlag auf eine iranische Frau acht Jahre zurück. Zwei Mädchen wurden damals schwer verletzt und der Täter nach einem Gerichtsverfahren umgehend hingerichtet. Acht Jahre war nach diesem Urteil Ruhe – bis Madschid diesen Bann wieder brach.

Ich, Ameneh Bahrami, werde etwas tun, das diesen Kerl bis an sein Lebensende in Atem hält und an seine Schlagzeilen, auf die er offenbar so stolz ist, für alle Ewigkeit erinnern wird. Nicht nur er – alle seinesgleichen werden sehen, dass eine einzelne Frau nicht klein und hilflos ist. Sie werden erkennen müssen, dass eine Frau ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen kann. Genau das werde ich ihm und seinen Brüdern im Geiste beweisen, wenn ich das Urteil vollstrecke. Nach dem Richterspruch, den ich in Teheran erstritten hatte, hörten die hinterhältigen Säureangriffe auf iranische Frauen plötzlich wieder auf. Vielleicht ein erster Erfolg.

Noch dem letzten Tyrannen sollte fortan klar sein, dass er nicht mehr machen kann, was ihm gerade gefällt. Jeder muss am Ende die Konsequenzen für sein Unrecht tragen. Wer eine Grausamkeit verübt, wird eines Tages zur Rechenschaft gezogen. Und nun liegt es an mir, Madschid seiner gerechten Strafe zuzuführen.


3. Rückblick – Eine Kindheit im Iran

Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Es war einige Zeit nach dem verhängnisvollen Attentat; ich lebte in Barcelona. Und ich geriet wieder einmal mit meiner älteren Schwester Schirin in Streit. Sie wurde gehässig: »Mama und Papa wollen dich nicht mehr. Sie haben Angst vor dir, so, wie du jetzt aussiehst. Keine Augenlider mehr, keine Pupillen. Dein Gesicht völlig entstellt … Noch dazu sind deine Hände verunstaltet, ganz verätzt, alle beide. Wie ein Monster siehst du aus! Frag dich doch selbst: Wie sollen unsere Eltern dich bei diesem Anblick überhaupt noch lieb haben können?«

Eine Welt stürzte für mich zusammen. Ich brach in Tränen aus und rief verzweifelt meinen Vater in Teheran an: »Stimmt das? Habt ihr mich wirklich nicht mehr lieb, weil ich meine Schönheit verloren habe?« Er beruhigte mich. »Wir hatten dich immer lieb und werden dich auch immer lieben. Du warst unser Wunschkind. Wir haben uns von Gott ein zweites Kind gewünscht – nicht nur, damit Schirin einen Bruder oder eine Schwester bekommt. Glaub mir, wir haben dich herbeigesehnt, Ameneh.«

Ich atmete auf und erinnerte mich daran, was mir meine Mutter einmal erzählt hatte: »Deine Geburt wird mir unvergesslich bleiben, Ameneh. Stell dir vor, du bist das einzige meiner fünf Kinder, das im Krankenhaus vertauscht wurde! Ich sah dich kurz, direkt nach der Geburt, bevor ich in Tiefschlaf fiel: ein kleines, überaus hässliches, dunkelhäutiges Ding mit schwarzen Kulleraugen und glattem, sehr dichtem Haar. Du warst so hässlich, dass wir alle lachen mussten ...« Meine Mutter hielt kurz inne und erzählte dann lächelnd weiter: »Das Kind, das man mir später brachte, war viel hübscher als das Baby, das ich geboren hatte. Ich rief die Schwester und erklärte ihr, dass dies nicht mein Baby sei und eine Verwechslung vorliegen müsse. Die Schwester prüfte das Erkennungsbändchen, und wirklich, jemand hatte das Kind vertauscht. Stell dir vor, mein Schatz, wenn mir das damals nicht aufgefallen wäre, hätten die anderen Eltern vielleicht gar nicht gemerkt, dass du nicht ihre Tochter bist. Sie hätten dich mit nach Hause genommen, und wir hätten dich vielleicht nie wiedergefunden. Und hätten nie miterlebt, was für ein schönes Kind aus dir geworden ist.«

Und heute? Heute war ich wieder hässlich. So entstellt, dass die Leute auf der Straße sich von mir abwandten.

Ich kam am 29. September 1978 als Tochter liebender und frommer Eltern zur Welt. Mein Vater arbeitete im Verteidigungsministerium, meine Mutter war Hausfrau. Beide stammten aus Hamadan, rund dreihundert Kilometer entfernt von Teheran, wo sie sich eines Tages kennenlernten. Meine Mutter war damals dreizehn, mein Vater zweiundzwanzig Jahre alt, als die Verlobung stattfand. Da meine Mutter nicht volljährig war, konnten meine Eltern noch nicht heiraten – schlossen aber einen nach muslimischem Recht gültigen Ehevertrag.

Meine Mutter war noch sehr jung, als Schirin geboren wurde. »Wir wussten damals kaum, wie uns geschah«, sagte mein Vater. »Uns war nur klar: Jetzt haben wir ein Kind. Deine Mutter war noch so jung, dass sie kaum wusste, was sie mit dem Winzling anfangen sollte.« Er schmunzelte. »Nun, die Zeit verging, und als deine Mutter achtzehn wurde, haben wir geheiratet. Und damals entschieden wir uns ganz bewusst für ein zweites Kind. Also für dich – und wir haben uns sehr auf dich gefreut.«

Zu viert bezog unsere Familie bald ein Haus in einer Militärsiedlung in Teheran. Und als ich zwei Jahre alt war, schenkte Gott meinen Eltern einen Sohn, meinen Bruder Mohammad. Trotz des Altersunterschieds wurden wir bald ein Herz und eine Seele. Wir waren unzertrennlich, heckten Tag und Nacht gemeinsam Streiche aus und wurden meist auch gemeinsam dafür bestraft.

Mein Vater kaufte uns ständig Bücher. Er las gerne und viel und hatte ganze Regale voll zu Hause. Auch uns drängte er immer wieder zur Buchlektüre. So mussten wir Gedichte lesen – die weltberühmten Dichter zum Beispiel, Hafez, Sa’adi, Maulana, Khayyam. Oder Vater las uns vor, auch aus dem Koran. Ich weiß noch, wie gern ich die zwölfte Sure über den Propheten Yusuf hörte und dass ich meinen Vater oft gefragt habe, ob Yusuf denn schön war. Er bestätigte mir jedes Mal: »Ja, Yusuf hatte viele Begabungen und war wunderschön. Der Prophet Mohammed hat einst über ihn gesagt: Gott hat die Hälfte aller Schönheit, die er der Menschheit gab, Yusuf zugedacht.«

Im Gegensatz zu unserem Vater interessierte sich Mutter nie besonders für Bücher. Sie hatte mehr Freude an Musik und Tanz und sorgte auf ihre Weise für Abwechslung. Aber aufgehorcht habe ich immer, wenn mein Vater uns von Gott erzählte. Dann fiel immer der Satz »Gott ist schön«.

»So schön wie meine Cousine Mahnaz oder wie die Frau unseres Nachbarn?«, wollte ich anfangs genauer wissen.

»Aber nein, Gott ist schöner als alles, was du dir vorstellen kannst.« Ich hakte nach. »Kann ich Gott denn sehen?«

»Ja, das kannst du. Wenn du keine Dummheiten machst, auf deine Eltern hörst, keine Widerworte gibst, andere Leute höflich grüßt, kleine Kinder nicht schlägst, kein Obst aus fremden Gärten stiehlst, wirst du Gott eines Tages sehen. Dann wirst du erkennen, wie strahlend schön er ist.«

Dass meine Hoffnung auch enttäuscht werden könnte, davon hat mein Vater mir nichts gesagt. Ich bemühte mich nach Kräften, brav zu sein, niemandem Kummer zu machen, um meiner Vorstellung von Gott so bald wie möglich ein Gesicht geben zu können. Noch stellte ich ihn mir ja ähnlich schön vor wie die Figuren, die ich aus Zeichentrickfilmen kannte. Oder wie Zorro, der allen Menschen half und so viel Gutes tat. In meinem Kinderkopf kam immer wieder eine Frage auf: Wenn Zorro seine Maske abnähme, käme dann wohl Gott zum Vorschein?

Die Zeit verging, ich wuchs heran. Meine Haut war mittlerweile nicht mehr ganz so dunkel, die Augen und Haare nicht mehr ganz so rabenschwarz wie früher, und ich wirkte weit weniger bedrohlich auf meine Spielkameraden, als es anfangs der Fall gewesen war. Allerdings hielt man mich damals nicht selten für einen Jungen: »Hey, junger Mann, mach mal Platz da!« oder »Na, na, na, nicht ganz so wild, junger Mann!«, bekam ich oft zu hören. Mein Protest traf auf taube Ohren. »Du siehst aus wie ein Junge, also bist du auch einer.«

Immerhin war ich nicht zu übersehen. Denn zu jener Zeit war ich so dick, dass meine Großmutter mich nie bei meinem Namen rief. Für sie war ich immer nur Topoli, ihr Pummelchen, und ich musste entsprechend viel Spott ertragen – beispielsweise wenn ich regelmäßig die Zweikämpfe mit meinem Bruder verlor. »Lauft mal wieder um die Wette, damit wir etwas zu lachen haben!«, forderten die Verwandten uns oft heraus. Irgendwann war ich die ewigen Sticheleien leid und nahm mir vor, es ihnen eines Tages schon noch zu zeigen!

Tatsächlich ging ich aus dem nächsten Wettlauf als strahlende Siegerin hervor! Auch wenn es Ärger mit Spielkameraden gab, zogen die meist den Kürzeren. Wer Streit mit mir suchte, musste mit Gegenwehr rechnen. Einen Jungen aus Omas Nachbarschaft schlug ich eines Tages so heftig, dass er am Kopf blutete. Meine Großmutter musste sich bei den Nachbarn entschuldigen und stellte mich gleich darauf zur Rede: »Was fällt dir ein, derart heftig auf andere Kinder loszugehen?«

Ich verteidigte mich. »Er war doch selbst schuld. Wer austeilen kann, muss auch einstecken können.«

Als wir Jahre später wieder einmal bei meiner Großmutter zu Besuch waren, ging dieser Junge – mittlerweile ein gut aussehender junger Mann – draußen vor dem Haus vorbei, und Großmutter fragte mich: »Weißt du noch, wie du ihn damals vermöbelt hast?«

Der Junge musste uns gehört haben, denn er hob den Blick und grüßte freundlich: »Salam!«

Ich, inzwischen eine junge Dame, erwiderte seinen Gruß artig und fragte ihn dann: »Weißt du noch, wie du mich geärgert und dafür ordentlich eins von mir auf die Nase gekriegt hast?«

»Ja, das hab ich noch lebhaft vor Augen, und ich möchte dich nachträglich um Verzeihung bitten«, sagte er und strahlte. Ich verzieh ihm natürlich – wir lachten beide und unterhielten uns noch eine Weile.

Es war eine schöne Zeit damals – wir hatten eine glückliche Kindheit. In den Sommerferien brachten unsere Eltern Mohammad und mich jedes Jahr nach Hamadan zu unseren Großeltern. So entkamen wir der öden Militärsiedlung in der Großstadt während der heißesten Zeit des Jahres. Wir genossen drei wundervolle Monate in der freien Natur und in Opas großem Garten, der voller Obstbäume stand. Wenn wir ihn zur Erntezeit gemeinsam mit meinem Großvater durchstreiften und er mit seinem Gehstock gegen die Baumstämme schlug, regnete es Obst für uns alle. Das sammelten wir in mitgebrachte Säcke und hatten jede Menge Spaß dabei. Wenn uns die Ernte in Großvaters Garten nicht genügte, holten Mohammad und ich unterwegs noch heimlich ein paar Früchte aus den Gärten der Nachbarn.

Die Besuche bei unseren Großeltern in Hamadan waren kleine Zeitreisen. Von der modernen und komfortablen Wohnung in Teheran ging es in das Haus meines Großvaters, wo der Fußboden noch aus gestampftem Lehm bestand und die Toilette in einem kleinen, unbeheizten Verschlag auf dem Hof untergebracht war. Hier standen die Uhren still – auch gesellschaftlich, aber das bemerkten wir Kinder zu jener Zeit natürlich noch nicht.

Mein Bruder und ich wollten in den großen Ferien in Hamadan möglichst viel Spaß haben, weil das Leben in der Militärsiedlung in Teheran oft eintönig war. Mein Vater, der Soldat, führte zu Hause ein strenges Regime. Kinderspiele hatten möglichst lautlos vonstattenzugehen. Lästig war uns auch, dass wir schon von klein auf in aller Herrgottsfrühe fürs Morgengebet aus den Betten kriechen mussten. Mutters Proteste – »Die Kinder sind doch noch viel zu klein!« – waren vergeblich.

»Je früher sie beten lernen, desto besser«, führte mein Vater ins Feld. Auch deshalb war Hamadan für uns ein fast paradiesischer Fleck. Kein Vater, der uns zu irgendetwas zwang, keine Mutter, die uns ständig in den Ohren lag: »Tut dies, tut jenes – eurem Vater zuliebe.« Die Großeltern ließen uns viel Freiraum. Und weil, wenn wir etwas angestellt hatten, zwischen Mohammad und mir selten der wahre Schuldige auszumachen war, gabs auch nie Prügel. Bis auf eine Ausnahme. Ein einziges Mal wurde meinem Bruder derart der Hintern versohlt, dass ihm Hören und Sehen verging.

Mein Großvater rauchte gern selbst gedrehte Zigaretten und besaß eine sehr schön mit Intarsien verzierte Tabakdose, auf der ein kleiner Vogel in einem großen Garten zu sehen war. Wir schauten ihm gerne zu, wenn er sich die Zigaretten drehte, und versuchten es auch einige Male vergeblich selbst.

Manchmal bettelten wir: »Bitte Opa, nur einmal ziehen ... bitte!«