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JOSEF PIEPER

ÜBER DIE LIEBE

KÖSEL

Copyright © 2014 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Weiss Werkstatt München

ISBN 978-3-641-13760-1

www.koesel.de

Für Michael und Barbara Pieper

INHALT

VORWORT
von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

I

»Liebe« – ein Gegenstand? – Die angebliche »Armut« der deutschen Sprache. Das Schicksal von »Minne« und »Karitas« – Das griechisch-lateinische Liebes-Vokabular. Fehlanzeige: sex – To like und to love; I am fond of. – Affection, Angetansein: wer ist das Subjekt? – Zwei russische Besonderheiten

II

Das Gemeinsame in allen Gestalten der Liebe: Gutheißung – Keine Konstatierung, sondern ein Willensakt – Die aktivis-tische Missdeutung des Wollens; Bejahung als Ur-Akt und Prinzip – »Schöpfertum ist der Komparativ des Ja-Sagens« (G. Simmel) – Menschliche Liebe als Fortsetzung und Vollendung der creatio

III

Das Bestätigtwerden durch Liebe – Die »Milch« und der »Honig« – Sich-geliebt-Wissen und Ur-Vertrauen – »Ich will nichts geschenkt«; das Beschämende im Geliebtwerden – Die Diskreditierung des Geliebtwerdenwollens; »Angst vor dem Liebesverlust« (S. Freud) – Gottwohlgefälligkeit und gloria

IV

Liebe zürnt, Übelwollen redet nach dem Munde (Augustinus) – Entschuldigen und vergeben – Die »Unerbittlichkeit« der Liebe – Woher den »Mut zum Sein« nehmen? – Wohlwollen ist noch nicht Liebe; Wohltun ohne Liebe – Woher weiß man, dass es »gut« ist, zu sein? – Liebe als Auswählen; dennoch Universalität der Zustimmung. Eifersucht – Grade der Gutheißung – Bejahung der Existenz und Schätzung von »Qualitäten«

V

»Gut, dass es dich gibt«: gut für wen? – Habenwollen und Schenkenwollen – Anders Nygrens Konzeption von »Eros und Agape«. Absolute Selbstlosigkeit? Die Diffamierung des Eros. – Ist Eros »das genaue Gegenspiel der christlichen Liebe« (K. Barth)? – Der Mensch ist weder nichtig noch souverän; »das hungrige Wesen schlechthin« (G. Simmel); dennoch: wir selbst sind das Subjekt der Liebe

VI

Kreatürliche und menschliche Liebe; das naturhafte Ja vor aller bewussten Bejahung und Verneinung – »Wir können nicht wollen, nicht glückselig zu sein« (Thomas von Aquin) – Liebe und Freude. Wir lieben es, zu lieben – Die Hölle als Schmerz über das Nicht-lieben-Können (Dostojewski) – Selbst der »unglücklich« Liebende ist glücklicher als der Nicht-Liebende – Liebe heißt Mitfreude (Franz von Sales; Leibniz)

VII

Eros und Glücksverlangen – Selbstliebe als Beginn und Maßstab aller Liebe sonst. »Für sich selbst hegt man mehr als Freundschaft« (Thomas von Aquin) – Der Schritt von der Eigenliebe zur Selbstlosigkeit; »das wahre Glück besteht in der Teilnahme« (Goethe) – Liebe um des Lohnes willen: der »Lohn« ist der Geliebte selbst – Die unaufhebbare Paradoxie »selbstloser Selbstliebe«

VIII

Die erotische Liebe von Mann und Frau als Paradigma von Liebe überhaupt – Eros verknüpft, als mittlerische und humanisierende Kraft, Sexualität und Agape – Eros und Schönheit. Der Versprechenscharakter des Schönen – Eros: reinste Verwirklichung des Ja-Sagens – Falsche Divinisierung des Eros – Erotische Liebe als Gleichnis der Gottesliebe

IX

Die Überzeugung, dass »alles dazugehört« – Die Geschlechtskraft als selbstverständliches Gut – Die Missdeutbarkeit alles Mittlerischen, also auch des Eros – Die Absolutsetzung einer isolierten Sexualität: als Praxis und als Programm seit je möglich – Was heißt »unverdorbene Jugend«? – Sex will das Neutrum des Genusses, nicht personale Vereinigung – »Das Feigenblatt, vor das Gesicht gerückt« – Der trügerische Charakter des bloß Sexuellen. Belangloswerden durch Leichtmachen; sex ohne Lust – Zwangscharakter des sex-Konsums; »totalitäre Kälte« – Dämonie und »Exorzismus«. Die Rolle der Sophistik

X

Summarisches über Freundschaft, mütterliche und väterliche Liebe – Nachvollzug der kreatorischen Ur-Bejahung: Ansatzpunkt für ein Verständnis der caritas – Mutter Teresa in Kalkutta und ihr »Hospital der Sterbenden« – Das Neue in dieser Liebe. Was heißt »um Christi willen«? – Den Mitmenschen lieben als »Gefährten künftiger Glückseligkeit«. Das Gemeinsame von caritas und erotischer Liebe. – Das Naturhaft-Natürliche in der Liebe zwar vorausgesetzt, aber auch vollendet. Vollendung heißt immer auch Verwandlung. Das Feuer als Symbol der Liebe

ANMERKUNGEN

REGISTER

VORWORT
von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz

Quellen und Horizont von Piepers Denken

Begonnen sei mit einer Anekdote: Im Jahr 1994, als Josef Pieper seinen 90. Geburtstag feierte, fand in Münster ein großes Symposium statt, zu dem ich mit einigen Dresdner Studierenden fuhr. Angekündigt war ein Vortrag Piepers selbst zur Liebe als einer Form der platonischen mania. Als der 90-Jährige den Saal betrat, gestützt auf den Arm von Freunden, und gebrechlich zum Katheder ging, sagte einer der Dresdner Studenten neben mir mit einem (verbotenen) Witz der alten DDR: »Das Politbüro wird hereingetragen.« Und es war ja fast auch lächerlich, von einem Greis einen Vortrag über die Ekstase der Liebe zu hören. Pieper hielt seinen Vortrag. Und nach dem Vortrag brach unter den Studenten schiere Bewunderung aus. Man hatte Alter und Gebrechlichkeit vergessen vor der kraftvollen Stimme, dem Schwung, der spürbaren Geistigkeit dieses Mannes.

Josef Pieper (1904–1997) stellte in der deutschsprachigen Philosophie eine Ausnahmeerscheinung dar. Als Zeitgenosse fast des ganzen 20. Jahrhunderts kannte er viele Strömungen, gehörte aber weder dem Neukantianismus noch der Phänomenologie, weder dem Neuthomismus noch der Existenzphilosophie oder später der analytischen Philosophie an. Vielmehr entwickelte Pieper eine »Philosophische Anthropologie« – so der Titel seiner Münsteraner Professur –, in der er aufgrund profunder Kenntnis der antiken und mittelalterlichen Philosophie Platon, Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin für die Gegenwart fruchtbar machte. Weniger bekannt ist, dass Pieper auch Aufklärung (Kant) und Deutschen Idealismus (Schelling) kritisch verarbeitete und seine Thesen von zeitgenössischen, auch soziologischen Konzepten (Heidegger, Sartre, Gadamer, Gehlen) konstruktiv absetzte. Als Anreger seines Denkens können Erich Przywara, aber auch Romano Guardini und Stanislaus von Dunin-Borkowski gelten.

Bemerkenswerterweise begann Pieper selbst als Theoretiker von Soziologie und Sozialphilosophie1, bis ihm das Dritte Reich den Boden des Arbeitens weitgehend entzog. Seine sozialphilosophische Reflexion lässt sich auch immer wieder in den späteren Abhandlungen zu Tugenden finden.

In der Mitte der kardinalen und der göttlichen Tugenden: die Liebe

Wie folgerichtig Pieper seine Erkundungen des »Guten« anlegt, zeigt sich in seinem Durchgang durch die gesamte klassische Tugendlehre, die nichts anderes meint als das Ethos menschlicher Haltungen und Kräfte im Blick auf die Wirklichkeit. Ethos heißt wörtlich »Weidezaun«, wie überhaupt viele griechische Begriffe aus der Bauern- und Fischersprache stammen. Im Ethos, im Weidezaun, bleibt die Herde in Schutz, außerhalb herrschen Verwirrung und Bedrohung. Das Ethos schafft also den Raum einer Wirklichkeit, worin sich leben lässt; es markiert die Grenze zum Unbestehbaren, schützt vor der Auflösung des Wirklichen durch die Lüge, die in etwas Unwirkliches leitet. Zu solchen Zerstörungen führen auch Extreme, und es gibt sie sogar, ja gerade dort, im Bereich der Liebe oder der falsch verstandenen Verpflichtung zur Liebe.

»Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße«2, lautete die den jungen Pieper ergreifende, bis ins Tiefste treffende Formulierung Romano Guardinis (1885–1968) auf Burg Rothenfels. Das Gute ist das Maß und das Maßvolle, worin der Mensch leben kann, worin Wirklichkeit Gestalt gewinnt. Nach dem Viergespann3 der Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß unternahm Pieper die Deutung der Dreiheit von Glaube, Hoffnung und Liebe, die in der klassischen Überlieferung die göttlichen Tugenden heißen, weil sie den Menschen an die Gottheit heranführen, indem sie ihn »göttlich« zu leben lehren. All diese Freilegungen entbehren jedes frömmelnden Untertons, wie überhaupt Piepers Sprache sowohl nüchtern wie zugleich immer wieder überraschend vom »Flügelschlag des Geistes« bewegt ist.

Mit der Untersuchung Über die Liebe von 1972 traf es erneut zu, dass Pieper kritisch, wach, klärend in eine Zeit hineinsprach, die in Sprache und Verhalten vom Eros zur forcierten Sexualität wechselte – ein Umsturz, der bis zum heutigen Tag andauert und die Neuauflage des Buches 2014 sinnvoll macht. Was Pieper an intellektuellen Missverständnissen und gewalttätigem Umgang mit der Liebe aufzeigt, wie er an die Diagnose ein therapeutisches Erhellen und Umdenken anschließt, kurz wie er in die Freiheit des richtigen Liebens führt, kann in zehn meisterhaften Kapiteln mitvollzogen werden. Nach 40 Jahren sexueller Revolution wirkt die Analyse taufrisch, umfassend, wirklichkeitsnah.

Wesensbestimmung von Liebe
Sprachliche Unterscheidungen, sachliche Einheit

Der erste Schritt des Nachdenkens lautet: Was ist Liebe? Als Zentralgebot des Christentums schließt diese Liebe ja auch das Verhalten zum Nächsten ein, der als Bild Christi wahrgenommen werden soll. Um aber keinen Verwechslungen aufzusitzen, muss der vielgefächerte Charakter der Liebe deutlich werden.

Der souveräne Umgang mit dem verflochtenen, übergroßen, weitverzweigten Thema liegt an der merklichen Freude des Autors an gedanklichen Herausforderungen. Sie mitzudenken wird zum reichen Gewinn. Denn das Übergroße wird nicht kleingeredet, verengt, ins Einseitig-Handliche gezwängt, sondern der Horizont tut sich immer größer auf, wächst im Fortgang in die Höhe wie in die Breite – denn nicht allein das Erotisch-Sexuelle, das Bedürfen und Begehren kommen zu Wort, auch die Liebe zum Kind, zum Freund, zum Schönen, zu Gott – und zum eigenen Selbst. So gibt es die zentrale Unterscheidung von eros (dem Begehren, Habenwollen) und agape (dem Uneigennützigen, Bewundern, Seinlassen) und einer dritten Spielform, der philia, der Freundschaft in der Spannung auf ein drittes, gemeinsam Geliebtes; im Lateinischen lauten die Begriffe: amor, caritas und amicitia.

Und bei all den so unterschiedlichen Weisen der Spannung auf das Gesuchte, Ersehnte hin fließen die vielen Gewässer des Liebens doch am Ende in einen Strom zusammen, sodass sich die angebliche »Armut« der deutschen Sprache, die vom Irdischen, sogar vom Vulgären, bis zum Göttlichen nur ein einziges Wort zu sagen weiß, doch rechtfertigt. Auch wenn – wie das erste Kapitel bereits augenöffnend entfaltet – die romanischen Sprachen, das Englische und das Russische mehrere Wörter zur Unterscheidung von »Liebe« anbieten, so ist doch die eine große Zusammenfassung der Tönungen und Farben selbst eine Aufforderung, das solcherart Unterschiedene zu unterfangen. Und als Randbemerkung bleibt hängen, dass die Antike, sowohl die griechische wie die römische, den sexus zwar sehr wohl kannte und zelebrierte, dass aber weder im Begriff eros noch im Begriff amor erstrangig der Sex mitschwinge, sondern Sex durchaus dem weit ausholenden Feld von Begehren, Sehnsucht, Begeisterung = mania ein- und untergeordnet sei.

Statt spannungsloser Verschmelzung:
spannungsvolles Einssein von Zweien

Als bewundernder Leser des Symposiums greift Pieper einige Bestimmungen des platonischen Eros auf. So das Empfinden einer »Wiedervereinigung« durch die Liebe, ihr »immer schon«, wie es Aristophanes in seinem Mythos vom ursprünglichen Kugelmenschen erzählt, nach dessen Teilung die beiden Hälften sehnsüchtig zusammenstreben. Wichtig aber ist Piepers Folgerung: Liebe schafft nicht nur Einheit, sondern setzt sie schon voraus. Dabei ist Einheit nicht als Unterschiedslosigkeit gedacht, sondern als Einssein von Zweien, als lebendige Spannung, und nicht als totes Eines.

Diese Augenöffnung wird wichtig: Liebe ist nicht Sehnsucht nach Ganzheit, sondern nach erregendem Unterschied (in der Ganzheit). Der Satz der Liebe heißt nicht: Ich bin du, oder: Du bist ich. Der Satz lautet vielmehr: Du bist mein; ich bin dein. Einswerdung heißt nicht Verschmelzung (obwohl dieser fatale Irrtum beständig wiederholt wird). Das Glück der Einswerdung würde ja sofort mit den beiden untrennbar Verschmolzenen verschwinden. Ebensowenig wie Liebe blind, vielmehr sehend macht, ebenso wenig wird der Geliebte, die Geliebte aufgelöst, sie werden bestätigt, festgehalten – wer oder was sollte sonst geliebt werden? Liebe ist nicht Vernichtung von Identität (des einen wie des anderen), sondern Stiftung von Identität, so dicht wie nie zuvor. Liebe schafft überhaupt den, der liebt, und das Gegenüber, das geliebt wird. Sie ist so erfasst ein unerhörter schöpferischer Akt, sie ruft ins Dasein, was noch nie so war. Von daher ist Verschmelzung eine irreführende, undurchdachte Vorstellung; sie will das Einswerden betonen, löscht aber unversehens die Einswerdenden dabei aus.

Der Grund-Satz der Liebe lautet nach Pieper, nach dem Sichten aller Arten der Zuneigung, des Gönnens und des Wollens: »Es ist gut, dass es dich gibt.«4 Wie könnte dann »dass es dich gibt« verschwinden sollen? Erst hier käme dann wirklich ein Egoismus des Liebens zum Vorschein, eine egomanische Besitzergreifung, sogar ein Auffressen des anderen, das nur dadurch gemildert wird, dass das eigene Ich wiederum vom anderen verzehrt wird. Aber ist gegenseitiger Kannibalismus der Höhepunkt der Liebe? Es ist offenbar, dass damit der Kern der Liebe merkwürdig empfindungslos verfehlt wird.

Schöpferisches Lieben und Fordern von Gegenliebe:
die Signatur Gottes in der Schöpfung

Worin verklammern sich die vielzähligen Abstufungen von Liebe? Hat die Einzahl des Wortes Liebe doch recht? Pieper geht am Ende seines Traktats ausdrücklich an die Grenze der Philosophie, wie das bereits durch den theologischen Entwurf der Schöpfung eingeleitet ist, setzt er doch einen Schöpfer voraus. Allerdings wird dieser Gedanke nicht naiv eingeführt, sondern ergibt sich folgerichtig aus dem schon Entwickelten. Denn Schöpfung ist Ruf und Begabung zum Mitsein, sie wünscht condiligentes. Sich vorzufinden, geschaffen zu sein umschließt ja schon die Erfahrung, gewollt zu sein. Dasein ist Sich-gegönnt-Sein – als eigenes Dasein, nicht als Eigentum eines anderen. Dass aber jemand ist, der gönnt, dieser geheimnisvolle, aller Zustimmung entzogene Urwille ist das Wasserzeichen aller Schöpfung. Anders gewendet lässt sich sagen: Eros ist das Wasserzeichen der Schöpfung. Dasein, Geliebtsein und Wert-Sein gehören zutiefst zusammen.

Aber der Gedanke strahlt noch weiter aus: Einen anderen Menschen lieben heißt teilnehmen am Schöpfungswillen Gottes, heißt diesen Urwillen noch einmal wiederholen und bestätigen. Daher weist die Liebe auch das nur romantische Gefühl ab – durch ihre »harte«, unaufgebbare Forderung nach dem wahren Gesicht des anderen, das ihm nicht erlaubt sich zu unterschreiten. Der andere wird in seinem »Ursprung« gesehen, in seinem Sprung aus dem Willen des Schöpfers. Piepers Folgerung lautet: Wenn zwei sich lieben und zusammenschlagen im Brand der Liebe, dann heißt das im Kern: mit Gott auf den anderen Menschen zugehen und mit dem anderen auf Gott; jeder ist Mittler, keiner ist Mittel.

Dies ist die Hochform von Liebe, die Hochform ihrer Erfahrung. Für andere Formen bedarf es noch der Unterscheidungen.

Eros oder Agape?
Piepers Kritik an Anders Nygren

So muss unterschieden werden zwischen Eros (amor) als der begehrenden Liebe und Agape (caritas) als der helfenden, uneigennützigen Liebe. Aber diese Unterscheidung enthält selbst eine Versuchung, die es abzugrenzen gilt.

Denn aktuelle Frische erhält Piepers Untersuchung dadurch, dass sie unklare Vorstellungen beseitigt und dabei auch bekannte Vorbilder herausfordert, die unterschwellig oder erkennbar in die öffentliche Meinung eingegangen sind und sie bis heute prägend bestimmen.

Das gilt für die seinerzeit berühmte Studie des schwedischen Theologen und lutherischen Bischofs Anders Nygren über Eros und Agape von 1930 / 37.

Nygren wollte in bester reformatorischer Absicht einen unüberbrückbaren Gegensatz aufmachen zwischen der erotischen Liebe, die den anderen begehrt, und agape oder caritas, die ihm zufolge vollkommen selbstlos handelt – und eben das sei Liebe im christlichen Sinn, ja ausschließliche Liebe Gottes gemäß dem Neuen Testament. Zwischen der menschlichen, in jeder Weise bedürftigen Natur und der unbedürftigen, selbstvergessenen, absichtslosen Liebe des Geistes bestehe ein gewaltsamer Bruch und Abschied, den das dem Evangelium gemäße Christentum einfordere. Pieper vermutet von daher die verbreitete idealistische Meinung, Liebe sei in ihrer höchsten, also fast unerreichbaren Erscheinung nur noch selbstlos, nur noch absichtslos. Die Spitze von Nygren gilt dabei dem katholischen Verständnis einer Natur, die von der Gnade nicht zerstört, sondern vollendet werde, so der tiefgründige scholastische Satz: Gratia perficit naturam, non destruit. Nygren dagegen vermutet in dieser Einbeziehung der natürlichen erotischen Liebe in die Agape Verrat: ein Haftenbleiben an sich selbst, eine nicht genügende Entkleidung von naturhaftem Schwerpunkt, einen Rest von Heidentum im Christentum.

Die Passagen, in denen Pieper die Trennung von bedürftiger, eigennütziger Natur und angeblich unbedürftiger, uneigennütziger Liebe als unsinnig aufdeckt, sind meisterhafte Augenöffnungen. Hinter der Trennung von Eros und Agape entrollt er eine verquere Weltsicht im Ganzen, nicht nur einen Teilbereich von Anthropologie. Vielmehr steckt darin die Frage, wie der Mensch zur Schöpfung steht: Ist sie (protestantisch gesehen) eine »unreine«, gefallene Mitgift, die zugunsten der wahren sittlichen Menschwerdung überwunden werden soll, um gänzlich im Wohlwollen für den anderen aufzugehen und der eigenen Natur abzusterben? Oder ist Natur, genauer: göttliche Schöpfung (katholisch gesehen) Grund und tragender Boden einer Umwandlung, die zweifellos durch ein »Feuer« hindurchmuss, das Feuer der Liebe nämlich, aber als Umwandlung zu stärkerer Wirklichkeit derselben Natur? Pieper bietet gute Zeugen auf: Er liest Liebe in den Erfahrungen der Antike und auf dem Boden des Christentums. Beiden gilt Natur / Schöpfung nicht naiv als unbeschadet gut, vielmehr sogar als spezifisch gebrochen; dennoch aber bleibt sie Ausgang einer Dynamik, dennoch gewaltiger Motor einer Lebendigkeit, die nicht gegen sich selbst wüten kann. Immer wieder erstaunlich berührt die zuversichtliche Unbefangenheit eines Thomas von Aquin, den Pieper auch solcher Sätze wegen so liebt, weil Thomas sagen kann, dass aller Liebe die Selbstliebe zugrunde liege.5

Mit solchen Klärungen wird Pieper in hohem Maße hilfreich gegen Ideologisierungen wie den Hochmut des Geistigen, der sich in eine Abwehr der Natur und des Fleisches hineinsteigert und letztlich dem christlichen Mitte-Ereignis der Fleischwerdung Gottes nicht mehr zustimmen kann. Denn die angebliche Verteidigung der Agape Gottes wird bei Nygren zur weltlosen, schöpfungsfernen Theorie, die Frühlinge der Welt ersterben im Vorwurf heidnischer Verfallenheit. Es ist nach Pieper umgekehrt: Schöpfung und ihre Gutheißung (sogar Erlösung) durch Liebe gehören wesenhaft zusammen. Im Menschlichen ausgedrückt: Ohne Natur keine Vollendung, auch keine Vollendung des Liebens. Im Gegenteil: Die gesamte Natur, auch und gerade ihr Bedürfen und ihre Selbstbezogenheit, wird in das Lieben hinein- und damit hinaufgerissen – so der ursprüngliche Sinn von mania, der Ekstase.

Begehren oder Freilassen?
Piepers Kritik an Erich Fromms Unterscheidung

Eine andere Akzentuierung der Fragestellung von Nygren findet sich in dem noch berühmteren Werk von Erich Fromm über Die Kunst des Liebens von 19526. Fromm, den Pieper – im Unterschied zu Nygren – durchaus schätzt, spricht von der notwendigen Überwindung des »Habenwollens« zugunsten eines »Freilassens«, eines Verzichts auf das geliebte Gegenüber. Unschwer lässt sich im Hintergrund die gleichfalls berühmte These Fromms von Haben oder Sein erkennen. Danklos, echolos müsse Liebe sein können, dürfe den anderen nicht für sich begehren.

In jüngster Zeit hat Jacques Derrida analog von der »reinen Gabe« gesprochen, die vom Geber uneigennützig sofort zu vergessen sei, ohne Dank zu erwarten.7 In der absurden Steigerung dürften weder Geber noch Empfänger von der Liebe wissen, die in der Gabe steckt, um sich nicht gegenseitig zur Gegenliebe / Gegengabe zu »erpressen«.

Die tiefste Verdächtigung, heute neurologisch unterbaut, lautet: Ist Glück über das Glück des anderen nicht selbstsüchtig, unterschwellig ein Mittel egoistischer Selbstfindung und Selbststeigerung? Denn neurologisch lassen sich heute eindeutige Reaktionen im Gehirn nachweisen, die auf das Glück und die Freude eines anderen erfolgen. Zugespitzt lässt sich sogar behaupten, es gebe Glück nur im Sinn der Resonanz, also als »unreines« Glück. Wenn also jemand – so das ironische Beispiel von Robert Spaemann – einer Dame einen Blumenstrauß bringe, möge sie sich in Zukunft mit den Worten bedanken: »Wie reizend, dass Sie sich eine Freude machen wollen …«

Pieper hält dagegen fest: Alle Liebe ist auch Selbstliebe, und das ist nicht allein legitim, es ist auch sinnvoll und erfüllend. Im Glück des anderen zugleich rückgespiegelt sich selbst genießen, sich an sich selbst freuen – dagegen ist nichts wirklich einzuwenden. Zumal ja dieser Doppel-Genuss des einen im anderen gewollt, gewünscht, verursacht ist, denn auch der Liebend-Geliebte will ja, dass sich der andere freut. Es gibt kein isoliertes, einseitiges Glück, dies wäre unmittelbar ein Widerspruch in sich selbst – vielmehr besteht Glück in der gegenseitigen Teilhabe und Steigerung durch Resonanz. Dante sprach von der Liebe, die »dem Geliebten das Wieder-Lieben nicht erlässt«.

Goethe, wahrlich ein Kenner des Eros, stützt diese Annahme: »Das wahre Glück besteht eigentlich nur in der Teilnahme. Auf solche Weise lässt sich auch ein schwieriger Knoten lösen: wie es nämlich eine interesselose Liebe geben könne. Denn das Glück derjenigen, an deren Förderung wir Freude haben, bildet einen Teil unseres eigenen Glückes.«8 Noch schöner: »Du bist mein, und nun ist das Meine meiner als jemals.«9 So gesehen ist Liebe sogar Vervielfältigung der Habe.

Denn in der Liebe besteht immer zugleich ein Gespanntsein auf jemanden, das zurückschwingt. So sehr ist diese Intention und gleichzeitige Resonanz ihr Wesen, dass sie auch liebt und das Eigene entfaltet, wenn sie das Geliebte nicht erreichen kann. Selbst die »unglückliche« Liebe sammelt und steigert alle Kräfte des Liebenden, weiß sie doch endgültig, wen sie begehrt, und vertieft damit die eigene Wirklichkeit.

Liebe ist Glück, oder:
Alles Glück ist Liebesglück

Gegen die von zwei Autoritäten, Nygren und Fromm, aufgeladene Doppelthese von der reinen Uneigennützigkeit der Liebe entfaltet Pieper mit guten Gründen eine wunderbar ausholende Gegendarstellung, von der Antike über Thomas von Aquin bis zur klassischen Moderne (Goethe!): Das Glück des Liebenden besteht eben nicht im Freigeben, sondern vorrangig im Habenwollen, im Gewinnen, im Genießen des Geliebten. Daher ist Lieben ohne die Intentionalität, selbst glücklich zu sein, eine Missdeutung. Liebe ist auch Hunger und Durst – selbst wenn sie den anderen beglücken will. Sie ist nicht einfach selbstlos, sondern bedürftig, brauchend; sie ist schenkend, wertschätzend, fordert aber gerade deswegen für sich eine Reaktion ein.

Liebe ist damit keineswegs zwecklich, sie ist vielmehr etwas anderes: sinnvoll. Mit dem ganzen Selbst ausgerichtet sein auf das geliebte Gegenüber führt zur Hochform von Liebe: »hingerissen sein von« oder »leben und sterben für«, in jedem Fall: sich ergreifen lassen von einem anderen (medial). Letztlich ist es der Widerfahrnis-Charakter, der den Liebenden von sich wegreißt, womit Pieper Platons mania, ihre Affektion und Passion bestätigt. Aber dieses Weggerissenwerden ist nicht im geschilderten Sinn selbstlos, da es dem tiefsten Selbst des Liebenden entspricht.

Liebe will das Wohl des anderen, aber vollzieht damit eine innerste Selbstwerdung. Und das ist gerechtfertigt, denn Dank, Anerkennung, Resonanz sind der Schöpfung und dem Geschöpf eingeschrieben. Zu dieser Rücksicht auf die schöpfungshafte Natürlichkeit nochmals Thomas von Aquin, der ebenso lakonisch wie klug als Grundsatz aller gelingenden Ethik formulierte: »Die Tugend vervollkommnet uns dahin, unserer natürlichen Neigung zu folgen, auf die rechte Weise.«10

Pieper öffnet einen Spielraum zwischen Eros und Agape, der keine der beiden Seiten ausschließt oder ins Extrem treibt. Das Selbstverständliche und Natürliche, nämlich die Selbstliebe, bleibt in dem Spielraum erhalten, sie wird sogar vorausgesetzt und durch die Beziehung kultiviert. Es gibt keine ethische Pflicht zur Verausgabung, zum Selbstverlust – ebenso wenig wie egoistische Selbstverwahrung und unbeteiligte Kühle in die Mitte des Liebens führen. Dieser Spielraum zwischen Hingerissensein zum anderen und Selbstliebe ist der Gestaltung überlassen; er entscheidet über Gelingen oder Misslingen des ganzen Lebens, er entscheidet über Glück. Wunderbar verdichtet: »Alles Glück ist Liebesglück.«11

Liebe ist das Ur-Geschenk. Alles, was uns sonst
noch unverdient gegeben werden mag,
wird erst durch sie zum Geschenk.