Joel Whitebook

Freud

Sein Leben und Denken

Aus dem Englischen
von Elisabeth Vorspohl

Klett-Cotta

Impressum

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Freud. An Intellectual Biography« im Verlag Cambridge University Press

© Joel Whitebook 2017

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – Pictures from History

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96245-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11024-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Charlie

»Darum eile ich, meiner Befriedigung Ausdruck zu geben, daß Sie das Wichtigste an meinem Fall richtig erkannt haben. […] Sonst könnte ich es beanstanden, daß Sie das kleinbürgerlich korrekte Element an mir allzu ausschließlich betonen, der Kerl ist doch etwas komplizierter […].«

Freud an Stefan Zweig, 7. Februar 1931

»Aus den mühseligen Sammlungen der Kulturforscher kann man sich die Überzeugung holen, daß die Genitalien ursprünglich der Stolz und die Hoffnung der Lebenden waren, göttliche Verehrung genossen und die Göttlichkeit ihrer Funktionen auf alle neue erlernten Tätigkeiten der Menschen übertrugen. Ungezählte Göttergestalten erhoben sich durch Sublimierung aus ihrem Wesen, und zur Zeit, da der Zusammenhang der offiziellen Religionen mit der Geschlechtstätigkeit bereits dem allgemeinen Bewußtsein verhüllt war, bemühten sich Geheimkulte, ihn bei einer Anzahl von Eingeweihten lebend zu erhalten. Endlich geschah es im Laufe der Kulturentwicklung, daß so viel Göttliches und Heiliges aus der Geschlechtlichkeit extrahiert war, bis der erschöpfte Rest der Verachtung verfiel.«

Sigmund Freud,
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci

»Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. Jede partielle Dummheit eines Menschen bezeichnet eine Stelle, wo das Spiel der Muskeln beim Erwachsen gehemmt anstatt gefördert wurde. Mit der Hemmung setzte ursprünglich die vergebliche Wiederholung der unorganisierten und täppischen Versuche ein. Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. […] Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen – im Sinn der Ausfallserscheinung, der Blindheit und Ohnmacht, wenn sie bloß stagnieren, im Sinn der Bosheit, des Trotzes und Fanatismus, wenn sie nach innen den Krebs erzeugen. […] Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, daß alles Lebendige unter einem Bann steht.«

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno,
Dialektik der Aufklärung

Dank

An dieser Biographie habe ich in den vergangenen zehn Jahren gearbeitet, doch die Fragen, denen ich in ihr nachspüre, beschäftigen mich seit fast drei Jahrzehnten. Deshalb möchte ich nicht nur den Freunden und Kollegen danken, die einen unmittelbaren Beitrag zu diesem Buch geleistet haben, sondern auch all denen, die meine theoretische Entwicklung über die Jahrzehnte begleiteten. Einige von ihnen weilen nicht mehr unter uns. Ich danke Debbie Bookchin, Cornelius Castoriadis, Peter Dews, Stathis Gourgouris, Axel Honneth, Martin Jay, Joyce McDougall, Fred Pine, Christine Pries, Martin Saar, Inge Scholz-Strasser, Janine Chasseguet-Smirgel, Marcela Tovar, Marvin Wasserman, Albrecht Wellmer, Shoshana Yovel und Yirmiyahu Yovel.

Einen besonderen Dank schulde ich den Kolleginnen und Kollegen, die sich trotz voller Terminkalender die Zeit genommen haben, die verschiedenen Manuskriptfassungen vollständig oder auszugsweise zu lesen: Richard Armstrong, Richard J. Bernstein, Werner Bohleber, Raymond Geuss, Marsha Hewitt, Kevin Kelly und Robert Paul.

Ich habe die laufende Arbeit in den vergangenen zehn Jahren an verschiedenen Orten vorgestellt, und obgleich die Anzahl der Kollegen, die mir ein wertvolles Feedback gegeben haben, allzu groß ist, als dass ich sie hier allesamt namentlich nennen könnte, möchte ich ihnen für ihre Beiträge, die mir halfen, meine Position zu formulieren, herzlich danken.

Natürlich haben meine Studenten an der New School for Social Research und an der Columbia University eine wichtige Rolle gespielt. Teils in dem ödipalen Wunsch, ihrem Professor eine Niederlage beizubringen, teils mit genuiner intellektueller Leidenschaft haben sie mich regelmäßig mit anspruchsvollen Fragen traktiert, die mich zwangen, mein Denken weiterzuentwickeln und auszuformulieren.

Unbedingt zu erwähnen sind auch die Mitglieder zweier Gruppen, nämlich zum einen die Analytiker und Universitätsmitarbeiter, die an der Columbia University am Seminar on Psychoanalytic Studies teilgenommen haben, das ich sieben Jahre lang geleitet habe. Die unerschütterlichen Getreuen, die tapfer ein ganzes akademisches Jahr in das Studium von Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion investierten, haben mir in besonderem Maß dabei geholfen, aus diesem rätselhaften Text schlau zu werden. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um erfahrene Kliniker, die sich zweimal jährlich im Center for Advanced Psychoanalytic Studies (CAPS) in Princeton treffen. Sie haben die Diskussionen über die Texte, die ich ihnen vorstellte, um eine wichtige außertheoretische Dimension bereichert.

Susanna Margolis ist eine erfahrene Lektorin, die in einer späteren Arbeitsphase in das Projekt eingestiegen ist und mir mit ihrer Intelligenz und ihrem Geschick geholfen hat, es fertigzustellen. Ich bin froh und dankbar, sie gefunden zu haben, denn in einer Welt der Blogs und Tweets ist Susanne eine Ausnahme: sie nimmt das Schreiben noch immer ernst. Ich danke auch Ariel Merkel für ihren zuverlässigen redaktionellen Beistand, auf den ich mich viele Jahre lang verlassen konnte.

Es fällt mir schwer, angemessene Worte des Dankes für Hilary Gaskin, meine Lektorin bei Oxford University Press, zu finden. Sie hat meine Arbeit zehn Jahre lang geduldig begleitet und immer an das Gelingen geglaubt.

Ausdrücklich danken möchte ich auch meiner Übersetzerin Elisabeth Vorspohl, die mir mit Einwänden und Vorschlägen hartnäckig zugesetzt hat. Elisabeths wissenschaftliches Über-Ich ist eindeutig weiterentwickelt als mein eigenes, und ich bin ihr aufrichtig dankbar dafür, allerlei Fehlern und Irrtümern den Eingang in die deutsche Ausgabe des Buches verwehrt zu haben.

Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta danke ich für seine großzügige Bereitschaft, mein Buch übersetzen zu lassen.

Einleitung

Eine Wiederaneignung Freuds

Braucht die Welt eine weitere Sigmund-Freud-Biographie? Die Antwort ist ein nachdrückliches Ja. Eine neue Biographie, die von den Erkenntnissen der Freud-Forschung ebenso profitiert wie von den Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie, der feministischen Kritik an der Psychoanalyse, der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der seit einem halben Jahrhundert kontinuierlich wachsenden klinischen Erfahrung mit »unklassischen Patienten«1, ermöglicht es uns, wichtige offene Fragen über Freuds Leben zu klären und strittige Themen der zeitgenössischen Psychoanalyse und Philosophie zu erörtern.

Bevor ich an diesem Buch zu arbeiten begann, habe ich das hermeneutische Prinzip, dass sich jede Generation die Klassiker neu aneignen müsse, stets mit einer gewissen Skepsis betrachtet.2 Die relativistischen Implikationen, die es in meinen Augen besaß, erschienen mir inakzeptabel. Im Laufe meiner Recherchen für diese Biographie hat sich meine Einstellung allerdings gewandelt. Zwar hatte ich zuvor schon mehr als drei Jahrzehnte lang über Freud geforscht, über Freud geschrieben und Freud gelehrt und ebenso lang als Psychoanalytiker praktiziert; systematisch studiert aber hatte ich sein Werk seit den 1970er und 1980er Jahren nicht mehr, als ich an meiner Dissertation arbeitete und meine psychoanalytische Ausbildung absolvierte. Darüber hinaus hatte ich mich gelegentlich in die aktuellere biographische Literatur und in das florierende Feld der Freud-Forschung vertieft, ohne jedoch ernsthaft mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Als ich dann meine »zweite Fahrt« antrat und die systematische Lektüre von Freuds Texten wieder aufnahm, sprang mir buchstäblich etwas ins Auge, über das ich vorher hinweggesehen hatte: Wenn die (1)Mutterfigur – insbesondere die (1)frühe, prä-ödipale Mutter – in Freuds Denken nicht ganz und gar fehlt, spielt sie lediglich eine kleine Nebenrolle. Die Mutter taucht in Freuds Selbstanalyse und in der Traumdeutung, dem Werk, das aus ihr hervorging, praktisch nicht auf. Auch in seinen Fallgeschichten ist im Grunde kein Platz für sie vorgesehen, obwohl sie förmlich danach schreit, einbezogen zu werden. Gleiches gilt für Freuds Theorien der Entwicklung und der Pathogenese sowie für seine patriarchalen Kultur- und (1)Religionstheorien. In seiner von (1)Hans Loewald, einem philosophisch geschulten Psychoanalytiker, so genannten »offiziellen« Lehre richtete Freud das Augenmerk fast ausschließlich auf die Vaterfigur und erklärte, dass der (1)Ödipuskomplex der »Kernkomplex« nicht allein der Neurose, sondern auch der Kultur sei. Und insofern Freuds asketische Konstruktion des psychoanalytischen »Rahmens« und seine Theorie der Behandlungstechnik die Neutralität, Distanz, Abstinenz und Vernunft auf Kosten der Bezogenheit, der Befriedigung und des Erlebens betonen, kann man sogar sie als ödipal bezeichnen.

Indes wird diese Abwesenheit der Mutter in Freuds Werk an sich zu einer »Präsenz«. Die abwesend präsente Mutter, so die feministische Theoretikerin (1)Madelon Sprengnether in ihrer wichtigen Untersuchung The Spectral Mother, erfüllt eine »gespensterähnliche Funktion« und lauert in den Rändern, Schatten, Lücken und Zwischenräumen des Freud’schen Oeuvres.3 Tatsächlich steht die (2)frühe Mutter im Zentrum dessen, was Loewald als Freuds »inoffizielle« Position bezeichnet. Unsere Aufgabe wird es sein, sie auf die offizielle Bühne zu holen.

Nachdem mir das Fehlen der Mutter klar geworden war, musste ich mich fragen, weshalb ich es nicht schon drei Jahrzehnte zuvor bemerkt hatte. Ich kam zu folgender Antwort: Als ich meine Recherchen für diese Biographie in Angriff nahm, befand ich mich innerhalb eines anderen »hermeneutischen Horizonts« – in einem anderen historisch-biographischen Kontext – als in jenen fernen Jahren, in denen ich als Doktorand und Ausbildungskandidat Freuds Schriften las. Der Horizont von damals sah annähernd so aus4: Viele Lehrsätze der klassischen freudianischen Theorie besaßen weiterhin Gültigkeit. Das Ancien régime war noch nicht in Wanken geraten, auch wenn das psychoanalytische Establishment – insbesondere die New Yorker Ich-Psychologen – gleich aus mehreren Richtungen infrage gestellt wurde. Die zweite Welle des feministischen Angriffs auf die Psychoanalyse und ihre misogyne Schlagseite hatte sich zu voller Größe aufgebaut – mit Enragés wie (1)Kate Millett, Shulamith Firestone(1) und (1)Germaine Greer als Speerspitzen, die Freud als Erzideologen des Patriarchats dämonisierten. Die Säuglingsforschung steckte gewissermaßen in den Kinderschuhen; Psychoanalyse und Bindungstheorie hatten noch nicht zueinander gefunden. Die Frage, wie »der unklassische Patient« zu behandeln sei, stand ganz oben auf der klinischen Agenda, und die Theorien (1)Donald W. Winnicotts, (1)Margaret Mahlers sowie (1)Heinz Kohuts, die allesamt die (1)prä-ödipale Entwicklungsphase und die Bedeutsamkeit der (3)frühen Mutter, von der sich das Kind trennen muss, ins Zentrum rückten, wurden hitzig diskutiert. Kurzum, das gesamte Feld befand sich im Umbruch.

Um die Wende zum 21. Jahrhundert hatte sich die Aufregung wieder gelegt. Die Disziplin hatte einen tiefgreifenden Umbau hinter sich. (Was nicht heißt, dass die heutige Psychoanalyse all ihre großen theoretischen und klinischen Probleme gelöst hätte – weit gefehlt.) Unter dem Eindruck der feministischen Kritik und auch dank der Beiträge jener Feministinnen, die die Psychoanalyse mittlerweile selbst praktizierten – zum Beispiel (1)Juliet Mitchell, (1)Elisabeth Young-Bruehl, (1)Jessica Benjamin und (1)Nancy Chodorow –, waren die Vertreter des Fachs in eine ausgedehnte Phase intensiver Reflexion und Selbstkritik eingetreten. (Die Kritik aus den Schwulen- und Lesbenbewegungen, die auf die zweite Welle des Feminismus folgten, hat dem Feld ebenfalls sehr gut getan.) Infolgedessen verwarf die Mainstream-Psychoanalyse viele ihrer unangemessenen, irrigen Lehrsätze über die weibliche Psychologie und Sexualität und nahm radikale Veränderungen an ihren Auffassungen der Weiblichkeit vor. Erwartungsgemäß beließ diese Neukonzeptualisierung es nicht bei einer bloßen Korrektur der Abwesenheit der Mutter in der freudianischen Theorie; vielmehr rückte nun auch die (4)frühe Mutter ins Zentrum der Untersuchungen. Weil sich diese Veränderungen mit der Expansion der Säuglingsforschung zu einem breit gefächerten, fruchtbaren Feld ergänzten, bahnten sie der Wiederannäherung zwischen der Psychoanalyse und ihrer Nachbarwissenschaft, der Bindungstheorie, den Weg. Im Zuge dieser Entwicklungen erwarben Analytiker gründliche Kenntnisse über die frühen und frühesten Entwicklungsphasen sowie über die Mutter-Kind-Beziehung – Themen, mit denen sie sich bis dato wenig beschäftigt hatten.

Anlass zu der prä-ödipalen Wende der Psychoanalyse gab auch ein drängendes klinisches Problem, nämlich der sogenannte »erweiterte Anwendungsbereich der Psychoanalyse«5. Wie sollte man den vermeintlich »neuen«, nicht-neurotischen Patienten, die sich immer häufiger in den Praxen der Analytiker vorstellten, begegnen? Schon in den 1950er Jahren wurden Psychoanalytiker regelmäßig von Patienten konsultiert, die dem Bild des »klassischen« Neurotikers – Patienten, für die man die psychoanalytische Standardbehandlung entwickelt hatte – nicht entsprachen. Darüber hinaus war es oft schwierig, diese »unklassischen« Patienten mit einer unmodifizierten Version der klassischen Technik überhaupt zu erreichen, geschweige denn, ihnen zu helfen.6

Angeführt von Anna Freud, besetzten konservative Analytiker, die für den Erhalt und Schutz der klassischen Theorie und Technik eintraten, einen Pol der Diskussion über »den erweiterten Anwendungsbereich«.7 Sie plädierten dafür, dass Analytiker unbeirrt weiterhin das tun sollten, was sie am besten könnten, nämlich sich auf die Behandlung von Patienten im neurotischen Bereich des Psychopathologiespektrums zu konzentrieren und keine nicht-klassischen Patienten anzunehmen. Um den entgegengesetzten Diskussionspol versammelten sich Analytiker, die eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Psychoanalyse in zweierlei Hinsicht befürworteten: Sie setzten sich für die Erweiterung sowohl des psychoanalytisch zu behandelnden Patientenspektrums als auch des Theoriespektrums ein, das zum Verständnis dieser Patienten unabdingbar war.8 Analytiker, denen es gelang, die Ungewissheit, die in solchen Behandlungen herrscht, zu tolerieren, und die genügend Flexibilität, Neugier und Ausdauer besaßen, um durchzuhalten, fanden die Arbeit mit diesen Patienten oft ausgesprochen produktiv. Das Ergebnis war eine qualitative Erweiterung und Vertiefung des psychoanalytischen Verständnisses.

(2)Loewald schrieb, dass diese »unklassischen Patienten« bizarre psychotische und quasi-psychotische Eigenschaften aufweisen; weil sie die Realität, die den meisten von uns als selbstverständlich erscheint, entschieden ablehnen, kann die Arbeit mit ihnen extrem frustrierend – nachgerade zum Verzweifeln – sein. Aber wir können von ihnen, so (3)Loewald weiter, auch etwas über fundamentale Aspekte der menschlichen Natur lernen – »Themen, die diese Patienten lähmen« und mit »genetisch tiefreichenden und uralten Problemen zu tun haben«, die sich bei Menschen mit höherem Funktionsniveau nicht ohne Weiteres beobachten lassen. Dazu (4)Loewald: »Fraglos haftet ihrer Mentalität etwas Archaisches an – archaisch im Sinne von überlebt, aber auch in dem Sinne, daß dies zu den Ursprüngen menschlichen Lebens und damit zu seinem Lebenskern gehört.«9 Die nicht-klassischen Patienten »vermitteln einem oft das Gefühl, daß sie mit grundlegenden, primären Schwierigkeiten des menschlichen Lebens formal und inhaltlich kämpfen, die von den gewöhnlichen, uns vertrauten Wechselfällen des Lebens weniger verdünnt und gemäßigt, weniger eingeschränkt und überschattet zu sein scheinen, als dies im allgemeinen bei neurotischen Patienten der Fall ist«.10

Wenn diese Menschen fähig sind, ihr Erleben in Worte zu fassen, gewähren sie uns Einblick in den »psychotischen Kern« der Persönlichkeit, der bei Personen mit höherem Funktionsniveau fast unzugänglich ist, auch wenn jeder ihn in sich trägt.

Anders ausgedrückt: Die unklassischen Patienten lassen uns einen Blick in die ältesten, archaischen Schichten der Psyche werfen, in denen noch keine nennenswerte Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt stattgefunden hat und der Separations-Individuationsprozess bestenfalls eben erst anhebt. Anders als den meisten von uns sind individuelles Leben und Getrenntheit diesen Menschen keineswegs »selbstverständlich«. Die »Objektivität des Objekts und die Subjektivität des Subjekts«, die eine jede konsensuell validierte öffentliche Realität voraussetzt, bleiben für sie problematisch.11 Umgekehrt bedeutete dies, dass die Natur des Subjekts und die Natur des Objekts durch die Begegnung mit dem »postklassischen Patienten« zu einem problematischen Thema der psychoanalytischen Theorie wurden – mit erheblichen Implikationen insbesondere für die moderne subjektzentrierte Philosophie. Wichtiger noch scheint mir, dass »teilweise dank analytischer Forschung« und Untersuchung der archaischen Dimension der (1)Psyche eine wachsende Anerkennung »der Kraft und Berechtigung eines anderen Strebens« zu verzeichnen war: des Strebens »nach Einheit, Symbiose, Verschmelzung oder Identifizierung – wie wir nun dieses Verlangen nach Nicht-Getrenntheit und Nicht-Differenzierung nennen mögen«12. Freud hat sich aus Gründen, die wir eingehend untersuchen werden, für solche Strebungen wenig interessiert, im Gegenteil: Er hegte eine mächtige Aversion gegen sie.

All diese Entwicklungen zeigen, dass für den hermeneutischen Horizont, vor dem sich meine »Rückkehr zu Freud« vollzog, zwei Dinge prägend waren: die Assimilation und das Durcharbeiten der feministischen Psychoanalysekritik und die »prä-ödipale Wende« des Feldes. Und genau dies legt auch die Antwort auf eine weitere Frage nahe, nämlich wie es möglich war, dass frühere Analytikergenerationen die in Freuds Denken und Werk »(1)fehlende Mutter« skotomisierten (ausblendeten), während die Abwesenheit der Mutter heute geradezu danach schreit, kommentiert zu werden. Dass unsere Vorgänger in einem anderen hermeneutischen Kontext arbeiteten als wir Heutigen – einem Kontext, der nicht nur von Freud selbst abgesteckt wurde, sondern die Bedeutsamkeit der prä-ödipalen Mutter aus noch zu klärenden Gründen systematisch ausschloss, vermag eine solche Skotomisierung teilweise zu erklären.

Diese Antwort auf die Frage, weshalb etwas, das heute ins Auge sticht, von früheren Analytikern skotomisiert werden konnte, trug ebenfalls dazu bei, mich von der Korrektheit des hermeneutischen Prinzips zu überzeugen.13 Als mir im Zuge meiner Recherchen immer klarer wurde, dass die Konzepte der Endlichkeit und der Omnipotenz in Freuds wissenschaftlichem Weltbild zentralen Stellenwert besitzen, erkannte ich, dass das hermeneutische Prinzip mit Freuds eigener Position nicht nur vereinbar ist, sondern auch von ihr gefordert wird. Ich hoffe, zeigen zu können, dass die Anerkennung der Endlichkeit – »die Unterordnung unter die Realität der Welt, die Ananke«14 – ein wesentliches Desiderat des Freud’schen Projekts ist. Die Kontextgebundenheit des stets in einem spezifischen Kontext verorteten menschlichen Wissens zu leugnen heißt, die Endlichkeit der menschlichen Existenz zu leugnen. Nur ein unendlicher, entkörperlichter Geist könnte Absolutes, von jedem spezifischen Kontext unabhängiges Wissen erwerben. Und entgegen der gängigen Karikatur Freuds als eines dogmatischen Positivisten werde ich zeigen, dass Wissenschaft im präskriptiven Sinn für ihn eben nicht in der Gewissheit »Absoluten Wissens« besteht, sondern dessen methodologischer Gegenspieler ist.

Die »(2)fehlende Mutter« erklären

Hat man das Faktum der (3)fehlenden Mutter einmal erkannt, stellen sich zwei Fragen. Wie sollen wir es erklären? Und welche Konsequenzen hatte es für Freuds Leben, sein Denken und, weitergedacht, für die Entwicklung der Psychoanalyse? Mit beiden Fragen muss sich ein Freud-Biograph heute auseinandersetzen. Sie zu beantworten wird eine zentrale Aufgabe meiner Untersuchung sein.

Eine weitere relativ junge Entwicklung bringt uns einer möglichen Antwort auf die erste Frage näher. Im selben Zeitraum, in dem die Psychoanalyse die oben skizzierten Veränderungen durchlief, bildete sich die moderne Freud-Forschung als eigenständige wissenschaftliche Disziplin heraus. In der Vergangenheit waren es zumeist Analytiker, die Freuds Leben und die Geschichte der Psychoanalyse zu ergründen und zu beschreiben suchten – gewöhnlich Mediziner ohne streng wissenschaftliche Ausbildung. Da sie außerdem einer wegen ihrer Streitsucht berüchtigten Zunft angehörten, zogen interne Querelen und Zerwürfnisse ihre Arbeit oft in Mitleidenschaft.

Die Vertreter der neuen Freud-Forschung hingegen sind weit besser qualifizierte, wissenschaftlich ausgebildete Fachleute. Doch auch wenn die Entwicklung dieser neuen Disziplin und die Früchte ihrer Arbeit zweifellos als Fortschritt zu begrüßen sind, ist Vorsicht geboten. Das akademische Feld der Freud-Forschung erzeugt eigene charakteristische Gefahren – die nun aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Die Angehörigen des neuen Fachs mögen hervorragend qualifizierte Wissenschaftler sein, aber gewöhnlich fehlt ihnen die unmittelbare klinische Erfahrung, von der es gelegentlich heißt, dass sie für ein umfassendes Verständnis psychoanalytischer Phänomene und Ideen unabdingbar sei.15 Ihre Arbeit droht allzu professionell zu werden, allzu geordnet und aufgeräumt – will sagen, allzu intellektualisiert. Sobald dies passiert, läuft sie an der Unordnung, die im Unbewussten und im Triebleben herrscht, vorbei und verfehlt so den innersten affektiv-korporealen Kern der eigentlichen analytischen Erfahrung. Ironischerweise ist die Tendenz zum Intellektualisieren nirgendwo stärker ausgeprägt als in der spektakulären Theorieakrobatik der von Jacques Lacan inspirierten, eng mit dem Poststrukturalismus verwandten Entwicklungen der französischen Psychoanalyse, die doch gerade la jouissance, Unbestimmtheit, Verspieltheit, Begehren, Andersheit und so weiter feiert. Freilich bieten ihre theoretischen Feuerwerke die Möglichkeit, der Konfrontation mit dem, was Freud »die Lebensnot« nannte, aus dem Weg zu gehen.16

Wie dem auch sei – ein wichtiger Beitrag der modernen Freud-Forschung ist für unsere erste Frage besonders relevant. Während der vergangenen dreißig Jahre haben Historiker der Psychoanalyse Freuds ersten drei Lebensjahren beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet. Es waren die Jahre, in denen die Familie in der mährischen Stadt (1)Freiberg, etwa 250 km nördlich von Wien, lebte. Heute gehört Freiberg zur Tschechischen Republik. Bevor diese Historiographen ihre Arbeiten veröffentlichten, war über Freuds Kleinkindjahre nur wenig bekannt. Darüber hinaus ergänzten sich die aktuelleren sozio-historischen Untersuchungen über die Freiberger Phase mit einem weiteren neuen, durch die prä-ödipale Wende der Psychoanalyse und das Interesse an der (5)frühen Mutter angeregten Forschungsbereich, nämlich Sigmunds früher Beziehung zu seiner eigenen Mutter, (1)Amalie Freud. Die Zusammenführung der Erkenntnisse beider Felder weckte ernsthafte Zweifel an der herkömmlichen Schilderung von Freuds Entwicklung und seiner Mutterbeziehung in den ersten drei Lebensjahren. Überliefert worden war ein hochidealisiertes Bild seiner frühen Jahre, ein Bild, das ihn als den geliebten Sohn einer jungen, wunderschönen, ihn vergötternden Mutter zeigte – sozusagen der Mythos von Amalie und ihrem »goldenen Sigi«. Die neue Forschung lässt hingegen vermuten, dass Freuds erste Lebensjahre im Zeichen schwerer (1)Traumatisierung standen, die mit Eheproblemen der Eltern, dem frühen Tod seines kleinen Bruders Julius, finanziellen Schwierigkeiten, einer Depression und (4)Abwesenheit seiner Mutter, dem plötzlichen Verschwinden seiner geliebten Kinderfrau sowie dem Verlust der Großfamilie und des Zuhauses, in dem er seine ersten Jahre verbracht hatte, zusammenhing. All dies wiederum berechtigt zu der Annahme, dass das idealisierte Bild jener Zeit zu einem nicht geringen Grad eine Abwehrfunktion erfüllte, indem es den traumatischen Charakter dieser Jahre zu verleugnen half.17 Die Idealisierungen wurden zudem von Freud selbst verbreitet und dann von seinen Schülern übernommen.

Zwei seiner Biographen, (1)Max Schur und (1)Peter Gay, erwähnen, dass es in Freuds früher Beziehung zu seiner Mutter ernsthafte Schwierigkeiten mit »unergründliche[n] biographische[n] Implikationen«18 gegeben haben könnte; sie bringen diese Möglichkeit aber nur am Rande zur Sprache und messen solchen Schwierigkeiten und Implikationen in ihren Untersuchungen keine zentrale Bedeutung bei. So schrieb (2)Schur an (1)Ernest Jones, Freuds erstem offiziellen Biographen: »Alles in allem gibt es viele Hinweise auf komplizierte prägenitale Beziehungen zu seiner Mutter, die er vielleicht nie voll analysierte«19. Doch nicht nur vertraute (3)Schur seinen stark untertrieben formulierten Befund einem Brief an, statt ihn zu publizieren; er unterließ es auch, diese Schwierigkeiten selbst zu analysieren. Und während (2)Gay das Thema zwar aufs Tapet bringt, spielt es in seiner Lebensbeschreibung doch keine wesentliche Rolle, im Gegenteil. Es bleibt tief verborgen in dem gewaltigen Werk und taucht erst auf Seite 565 kurz auf.20

Eigentlich, so könnte man rückblickend vermuten, hätten Freuds extrem idealisierende Schilderungen die Alarmglocken schrillen lassen und aller Welt signalisieren müssen, dass etwas nicht stimmte. Die neuen Informationen über Freuds frühe Entwicklung ermöglichen es, eine These zu formulieren, um das Faktum der »(5)fehlenden Mutter« zu erklären. Die psychische Strategie, die Freud einschlug, um mit seinen (2)traumatischen frühen Erfahrungen fertig zu werden, beruhte auf der Verdrängung, Dissoziation oder Abspaltung nicht allein der Repräsentation der frühen Mutter, sondern – weit umfassender – der gesamten mütterlichen Dimension und des Gesamtbereichs der frühen Erfahrung. Das bedeutet nicht, dass die Erinnerungen, Bilder und Gefühle aus der Freiberger Ära einfach ausgelöscht worden wären. So funktioniert das Seelenleben nicht. Sie wurden vielmehr beiseitegeschoben – verbannt in die marginalen oder entlegenen Regionen von Freuds Psyche, wo sie fortan eine »extraterritoriale« Existenz fristeten. Aber sie übten von dort aus weiterhin einen gewaltigen Einfluss aus, auch wenn Freud sich dessen kaum bewusst war. So schreibt (1)Breger:

»Die traumatischen Erfahrungen aus Freuds ersten vier Lebensjahren verschwanden aus seinem bewussten Gewahrsein. Heute würden wir sagen, dass die Ereignisse und Bilder als körperliche und emotionale Empfindungen gespeichert wurden, die Erinnerungen an sie aber nicht ins Bewusstsein gelangten; sie blieben dissoziiert und wurden nicht in ein kohärentes Selbstgefühl integriert. In einem abgetrennten Teil [oder in abgetrennten Teilen – J. W.] seiner Persönlichkeit lebten sie fort.«21

Ein Psychoanalytiker kann seine Theorie normalerweise nur in dem Maße weiterentwickeln, in dem seine eigene Analyse Fortschritte macht. Was Freud in seinem Seelenleben abspaltete, wurde auch in seinem Denken abgespalten. Damit waren die Begrenzungen seiner »offiziellen« Position, die sich auf »den Vaterkomplex« konzentrierte, festgelegt. Doch während das Material, das in diese verleugneten und dissoziierten psychischen Regionen verbannt war, aus Freuds »offizieller« Lehre ausgeschlossen blieb, tauchte es in seiner »inoffiziellen Position« auf. Anknüpfend an Loewald, wird es unsere Aufgabe sein, es aufzuspüren und zu analysieren, um dann zu sehen, welche Weiterungen es für die psychoanalytische Theorie hat.

Mein zweites Thema

Das zweite Thema, das ich in dieser Untersuchung neben dem der »fehlenden Mutter« bearbeiten möchte, ist der »(1)Bruch mit der Tradition« – ein Thema, das auch für die großen Theoretiker der Moderne von zentralem Belang war. Freuds Interesse daran ergab sich unmittelbar aus seinen Lebensumständen, denn seine Familie erlebte die massiven sozialen und kulturellen Umbrüche mit, die den Modernisierungsprozess in Europa begleiteten. Im Laufe von nur drei Generationen verwandelten sich die Freuds von traditionellen Ostjuden aus Galizien, einer der östlichsten Provinzen des Österreichischen Kaiserreiches, in relativ moderne, säkulare Juden und Einwohner Wiens, der Hauptstadt. Die Art und Weise, wie Freud die Veränderung erlebte und sein spezifisches, doppeltes jüdisch-deutsches Erbe verarbeitete, hatte zur Folge, dass er sich als einen Vertreter der (1)Aufklärung verstand. Seine Einstellung zur Aufklärung war aber alles andere als unkompliziert und bedarf deshalb einer sorgfältigen Untersuchung. Mehr noch – die Komplexität seiner Position, die mit der Beschaffenheit seiner psychoanalytischen Entdeckungen zusammenhängt, ermöglicht es beiden Lagern, das heißt sowohl den Anhängern der Aufklärung als auch ihren Opponenten, ihn als einen der ihren zu vereinnahmen. Aufgrund dieser komplexen Situation wurde die Freud-Interpretation zu einem zentralen Streitpunkt zahlreicher Kontroversen über die Moderne und die Aufklärung.

Wie die Verteidiger der (2)Aufklärung Freud für sich reklamieren können, ist unschwer zu erkennen: Sie nehmen seine Selbstbeschreibung für bare Münze und verzichten auf jede weitere Überprüfung. (3)Peter Gays Versuch, Freud als einen Repräsentanten der Aufklärung schlechthin, als den letzten »philosophe« darzustellen, ist einseitig und wird den Nuancen seiner Position nicht gerecht.22 Die Aufklärung brachte von Anfang an oppositionelle Bewegungen hervor, die sich unter der Rubrik »Gegenaufklärung« zusammenfassen lassen und die mit ihrer Entwicklung konsequent Schritt hielten.23 Die Standardkritik der Gegenaufklärung – die sich vorwiegend gegen die kantianische Version der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wandte, der sie exzessiven Rationalismus, abstrakten Universalismus, Eurozentrismus und whiggistischen Progressivismus vorwarf – ist ernst zu nehmen. Und insoweit Freuds »offizielle« Lehre ebendieser »kantianischen« Position entspricht, was in vielerlei Hinsicht der Fall ist, trifft dieselbe Kritik auch auf sie zu.

Doch Freud entsprach keineswegs dem Standardbild eines Aufklärers des 18. Jahrhunderts. Er schloss sich der (3)Aufklärung in einem späteren Stadium ihrer Entwicklung an und lässt sich – zumal in seinem reifen Erwachsenenalter – treffender als Vertreter der von (1)Yirmiyahu Yovel so genannten »dunklen Aufklärung« beschreiben, einer tiefer reichenden, in höherem Maß konflikthaften, trostlosen, sogar tragischen und dennoch emanzipatorischen Tradition innerhalb der breiteren aufklärerischen Bewegung:

»Von Machiavelli und Hobbes über Spinoza bis zu Darwin und Marx und weiter zu Nietzsche, Freud und Heidegger hat dieser Prozess der dunklen Aufklärung […] ein unsanftes Erwachen aus religiösen und metaphysischen Illusionen gezeitigt und dabei Schmerzen und Konflikte verursacht. Denn er stellte gewohnte Selbstbilder und geheiligte kulturelle Identitäten in Frage und gefährdete damit eine ganze Reihe verfestigter psychologischer Interessen. Doch gerade aus diesen Gründen war dieser Prozess auch eine Emanzipationsbewegung, die dazu diente, im Menschen eine intensivere und klarere Selbsterkenntnis zu evozieren, selbst um den Preis wenig schmeichelhafter Folgen, die oftmals schockieren und erschrecken. Das ist der wahre ›ödipale Trieb‹ – nicht des Freudschen Ödipus, sondern des ursprünglichen Protagonisten der Tragödie des Sophokles, einer von dessen eifrigsten Nachfolgern eben Freud selbst gewesen ist.«24

Als Vertreter der dunklen (4)Aufklärung setzte sich Freud mit den Wahrheitsansprüchen der Gegenaufklärung entschlossen auseinander und versuchte, sie in eine geläuterte, aber radikalisierte Verteidigung der Aufklärung zu integrieren. Im Gegensatz zu der hypomanischen »postmodernistischen« Feier des »Endes der Vernunft« und des »Endes des Subjekts« griff dieser Ansatz die Kritik der Vernunft und des Subjekts auf, um eine »erweiterte« Konzeption der Rationalität und Subjektivität zu formulieren, die breiter, reicher und geschmeidiger war als ihre Vorgängerin. Ebendiese Strategie befolgte Hegel, als er dem Wahrheitsgehalt der Romantik gerecht zu werden versuchte, um den einseitigen Rationalismus der kantianischen Aufklärung zu überwinden. Und dieselbe Strategie empfahl (1)Theodor W. Adorno der Kritischen Theorie mit der Begründung, dass die Psychoanalyse den Versuch exemplifiziere, sich mit »dem Irrationalen« auseinanderzusetzen und es in ein umfassenderes und weniger reifiziertes Verständnis der Rationalität zu integrieren.25

Worin besteht, so könnte man fragen, die Verbindung zwischen meinen scheinbar disparaten Themen »(6)Die fehlende Mutter« und »(2)Der Bruch mit der Tradition«? Ich habe die Ansicht vertreten, dass Freud in Reaktion auf sein Erleben des Bruchs mit der Tradition zu einem dunklen Aufklärer wurde und seine theoretische Aufgabe darin sah, das Irrationale zu untersuchen und in eine umfassendere Konzeptualisierung der Vernunft zu integrieren. Psychoanalytisch gesehen, ist das Irrationale nicht nur Teil des Unbewussten, sondern auch des Bereichs unseres archaischen prä-ödipalen und präverbalen, auf die frühe Beziehung zwischen Säugling und Mutter konzentrierten Erlebens. In dem Maße, in dem sich der »offizielle« Freud aufgrund seiner eigenen frühen Geschichte nicht auf die mütterliche Dimension des Seelenlebens einlassen konnte, war er auch nicht in der Lage, das Irrationale zu untersuchen und sein theoretisches Programm abzuarbeiten.

(1)Biographische Wahrheit

Freuds Diktum: »[…] die (2)biographische Wahrheit ist nicht zu haben«, gilt den meisten seiner Biographen als sakrosankt. Sie zitieren es pflichtbewusst in den Einleitungen ihrer Biographien des Mannes, der behauptete, wahrheitsgemäße Biographien seien unmöglich.26 (So viel zum Problem der Selbstreferenz.) Doch Freuds Behauptung ist keineswegs so unproblematisch, wie man gemeinhin annimmt, sondern bedarf der kritischen Prüfung. Einen entscheidenden Grund, weshalb die Bemühungen der Biographen zum Scheitern verurteilt sind, sieht Freud darin, dass sie das Bedürfnis, ihren Gegenstand zu idealisieren, gewöhnlich nicht hintanstellen können:

»(3)[…] Biographen [sind] in ganz eigentümlicher Weise an ihren Helden fixiert […]. Sie haben ihn häufig zum Objekt ihrer Studien gewählt, weil sie ihm aus Gründen ihres persönlichen Gefühlslebens von vornherein eine besondere Affektion entgegenbrachten. Sie geben sich dann einer Idealisierungsarbeit hin, die bestrebt ist, den großen Mann in die Reihe ihrer infantilen Vorbilder einzutragen […]. Sie löschen diesem Wunsche zuliebe die individuellen Züge in seiner Physiognomie aus, glätten die Spuren seines Lebenskampfes mit inneren und äußeren Widerständen, dulden an ihm keinen Rest von menschlicher Schwäche oder Unvollkommenheit […].«27

Freuds Skepis gegenüber der Biographik beruht, mit anderen Worten, auf seiner Vermutung, dass (4)Biographen ihr Idealisierungsbedürfnis nicht hinreichend unter Kontrolle bringen und deshalb keine mehr oder weniger reife Sicht auf ihren Gegenstand entwickeln können. Infolgedessen fallen ihre Porträts tendenziell eher vorteilhaft aus. Der Begründer der Selbstpsychologie, (2)Heinz Kohut, vertrat ebenso wie etliche andere Autoren die Auffassung, dass Freud – der noch bis in seine 50er Jahre hinein zu veritablen Idealisierungen neigte – aufgrund des Unbehagens, das sein eigenes frühes, narzisstisches Erleben ihm bereitete, über ein sehr begrenztes Verständnis der Idealisierung und ihrer analytischen Bearbeitung nicht hinausgelangte. Hier liegt die Quelle seiner (5)(6)(1)