Nur der Hamster war Zeuge

Die Autorin

Heike Hoyer – Foto © privat

Heike Hoyer, geboren 1960 in Hannover, studierte Psychologie in Köln, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Schon seit ihrer Kindheit galt ihr Interesse auch den Tieren, ihrem artspezifischen Verhalten und ihren Kommunikationsformen. 2010 inspirierte ihr Goldhamster Louis sie zu ihrem ersten (Hamster-) Roman, dem jetzt ein Tierkrimi gefolgt ist. 

Das Buch

Hamster Filou steht unter Schock. Gerade war Elsbeth noch quietschfidel und hat sich mit ihrem Neffen Marcel gestritten, und jetzt liegt sie vollkommen reglos auf der Couch und Filou kann aus seinem Käfig heraus rein gar nichts machen. Er weiß, dass Marcel dahinter steckt. Doch die Polizei geht von einer natürlichen Todesursache aus, immerhin hatte Elsbeth Diabetes. Wie soll Filou denen nur beibringen, dass es Mord war? Zusammen mit einer Dohle, einer lesenden Ratte, einem sprungsicheren Kater und einem Kampfhund, der sich nach Zuneigung sehnt, gründet er die Soko Elsbeth. Gemeinsam unternehmen die Tiere alles, um den Täter hinter Gitter zu bringen. Wenn da nur die Sache mit der Kommunikation nicht wäre…

Heike Hoyer

Nur der Hamster war Zeuge

Soko Elsbeth ermittelt

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

Originalausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2018 (2)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95819-210-2

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Die Tiere

Die Menschen

Der erste Tag

Insulin

Am frühen Nachmittag schien die Sonne in das Wohnzimmer des gepflegten Mietshauses, in dem der Goldhamster Filou zusammen mit der alten Dame Elsbeth lebte. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag anders enden würde als die vorigen, die sich in gleichförmigem Fluss aneinandergereiht hatten.

Filou, der in seinem Häuschen lag und schlief, wurde durch laute Stimmen geweckt, die an seine empfindlichen Ohren drangen. Schlaftrunken registrierte er, dass Elsbeth mit einem Besucher im Zimmer saß. Als er prüfend die Witterung aufnahm, erkannte er Marcel, Elsbeths Neffen, der heute besonders schlecht roch. Beide redeten erregt aufeinander ein. Das war nichts Neues, seit einiger Zeit schienen sie sich nur noch zu streiten. Marcel bedrängte Elsbeth wegen irgendetwas, deswegen mochte Filou ihn noch weniger leiden als sowieso schon.

Er versuchte weiter zu schlafen. Aber eine Spannung, die die Luft elektrisierte und seine Fellhärchen aufstellte, hinderte ihn daran. Je wacher er wurde, desto deutlicher identifizierte er die Spannung als diffuse Gefahr; eine Gefahr, die von dem Besucher auszugehen schien. Filou rappelte sich auf und steckte die Nase aus seinem Häuschen, um Einzelheiten ausmachen zu können. Marcel verströmte eine unerträglich sauer-stechende Geruchsmischung aus Angst und Aggression.

Die beiden Menschen hatten aufgehört zu reden. Ein lastendes Schweigen breitete sich aus, bevor Elsbeth wieder das Wort ergriff:

»Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Du bekommst von deinem Erbe nichts vorzeitig ausgezahlt, und du weißt warum. Meinst du wirklich, ich nehme dir ab, dass du das Geld in die Renovierung deines Ladens stecken willst?! Ich glaube viel eher, dass du es für deine halbseidenen Geschäfte brauchst, und für die werde ich dir mein Geld nicht zur Verfügung stellen.«

Ihr Neffe gab einen Laut von sich, der wie ein unterdrücktes Fluchen klang.

Elsbeth griff nach ihrem leeren Wasserglas, stellte es wieder ab und ging in die Küche. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, verstärkte sich der üble Geruch von Marcel. Sauer-faulige Schwaden wehten durch den Raum. Filou rümpfte das Näschen. Nur schemenhaft – denn seine Augen waren nicht die besten – konnte er erkennen, wie der Mann in seine Jackentasche griff, ein kleines Fläschchen herausholte und daraus etwas in das Glas der alten Dame tropfte. Kurz darauf kehrte Elsbeth mit einer neuen Flasche Wasser zurück und goss sich nach.

»Und ich möchte über dieses Thema auch nicht mehr reden«, sagte sie erschöpft. »Heute nicht und überhaupt nicht mehr. Außerdem wäre es mir lieb, wenn du jetzt gehst. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Gut, gut«, sagte Marcel in gezwungen freundlichem Ton. »Das ist zwar bitter für mich, aber deswegen müssen wir ja nicht in Unfrieden auseinander gehen – von mir aus jedenfalls nicht. Wenn du erlaubst, esse ich noch mein Stück Kuchen auf.«

Der Hamster hatte den Eindruck, dass es Elsbeth nicht recht war, aber sie sagte nichts. Der Mann machte sich über seinen Kuchen her, den er mit großen Schlucken Apfelsaft herunter spülte. Auch Elsbeth griff erneut nach ihrem Glas und trank.

Angst durchflutete Filou. »Trink nicht mehr«, flehte er Elsbeth an, und er verfluchte innerlich einmal mehr, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Zu seinem Entsetzen registrierte er bereits kurz darauf, dass irgendetwas mit ihren Bewegungsabläufen nicht mehr stimmte. Der Arm, der sich neuerlich auf das Glas zu bewegte, geriet ins Stocken und sank schließlich herab. Jetzt kippte Elsbeth leicht nach links, fing sich ab und setzte sich wieder aufrecht hin. Doch sie schwankte sofort noch einmal und sackte langsam auf dem Sofa zur Seite.

Filou konnte ein angstvolles Fiepen nicht unterdrücken. Marcel, der sich gerade Handschuhe anzog, drehte sich um und warf einen flüchtigen Blick auf den Käfig. Der Hamster wich in sein Häuschen zurück, das mittlerweile auch schon von dem grauenvollen Geruch des Mannes verpestet war. Als er einen vorsichtigen Blick nach draußen wagte, sah er, wie Marcel eine Nadel auf eine Spritze setzte und aus einer kleinen Glasampulle Flüssigkeit aufzog. Filou kannte die Prozedur von Elsbeth, die sie jeden Tag ausführte. Im Laufe ihres Zusammenlebens hatte er mitbekommen, dass sie an einer Krankheit namens Diabetes litt und sich deswegen jeden Tag Insulin in Bauch oder Oberschenkel spritzen musste.

Marcel trat zu der alten Frau, schob ihren Pullover und das Unterhemd hoch und ergriff mit der linken Hand ihre Bauchfalte. Mit der anderen stach er die Nadel hinein und entleerte den Inhalt der Spritze in ihr Gewebe.

Soweit Filou es beurteilen konnte, tat er nichts anderes, als Elsbeth normalerweise selbst auch. Doch trotz der Gleichartigkeit der Handlung spürte er deutlich, dass hier etwas Böses geschah.

Marcel brachte Elsbeths Kleidung in Ordnung, nahm Glas, Kuchenteller und Apfelsaft und brachte die Sachen in die Küche. Kurz darauf hörte Filou, wie der Wasserhahn aufgedreht wurde. Als Marcel zurückkehrte, hatte er die Kapuze seines Sweatshirts aufgesetzt. Aufmerksam ließ er seinen Blick durch den Raum wandern, während er leise vor sich hin redete. Schnell verschwand Filou wieder in seinem Häuschen. Er hörte, wie sich der Mann in Richtung Wohnungstür begab, sie öffnete und wieder schloss. Marcel war weg.

Betäubt saß der Hamster in seinem Häuschen. Erst nach einer Viertelstunde kam er heraus und schnupperte in Richtung der alten Dame, die wie schlafend auf dem Sofa lag. Er roch die bekannte Elsbeth-Duftmischung aus Flieder, Kaffee und ein bisschen alter Frau. Doch in die vertraute Komposition begann sich etwas anderes unterzumengen, noch kaum riechbar, von Minute zu Minute jedoch stärker werdend: Es war der Geruch des Todes.


Als die Dohle Marie einige Stunden später den Balkon anflog, spürte sie sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.

Vor ungefähr einem Monat, als die Tage schöner geworden waren und die Balkontür öfter aufstand, war sie zum ersten Mal hier gelandet und hatte neugierig ins Wohnzimmer geschaut. Es war keiner da bis auf einen Hamster im Käfig, der gerade sein Frühstück zu sich nahm. So hatten sie sich kennengelernt. Filou reagierte erfreut über die Abwechslung in seinem eintönigen Leben und fragte Marie ein Loch in den Bauch über die unbekannte, abenteuerliche Welt da draußen. Sie plauderten angeregt, bis Elsbeth vom Einkaufen zurückkehrte.

Seit diesem ersten Treffen besuchte Marie den Hamster regelmäßig. Seine jugendliche Neugier und Lebensfreude vertrieben für den Moment die Schatten der Vergangenheit, die den Vogel oft niederdrückten. Besonders fasziniert zeigte sich Filou davon, dass Marie frei war und fliegen konnte, wohin sie wollte.

»Wenn ich das nur auch könnte«, sagte er oft sehnsüchtig. »Ich würde versuchen, um die ganze Welt zu fliegen.«

Anfangs kam Marie nur, wenn Elsbeth nicht zu Hause war, später auch, wenn sie schlafend auf dem Sofa lag oder in der Küche werkelte.

»Du kannst mich ruhig besuchen, auch wenn sie sich im Wohnzimmer aufhält. Elsbeth ist eine tierfreundliche Menschenfrau und wird dir nichts tun. Du siehst doch, dass sie mich gut behandelt«, hatte Filou gesagt.

»Ja, dich – aber ich habe vorgestern Abend durch das Fenster gesehen, dass sie einen Fisch gegessen hat. Wer garantiert mir, dass sie nicht eines Tages auf Vogelbraten umsteigt?«

»Sie hat noch nie Vogelbraten gegessen.« Filou unterbrach sich. Auf Maries Nachfrage gab er zu, dass Elsbeth vor kurzem Hühnerbrust verspeist hatte – war Huhn nicht auch ein Vogel?! »Wie auch immer, ich bin mir ganz sicher, dass Elsbeth an dir nicht kulinarisch interessiert ist«, schloss er überzeugt.

Marie blieb dennoch vorsichtig. Sie fand es unbegreiflich, dass Filou sich von der alten Dame auf die Hand nehmen und streicheln ließ.

Heute lag Elsbeth in merkwürdiger Haltung auf dem Sofa, und Filou saß mit gesträubtem Fell bewegungslos in einer Ecke seines Käfigs.

»Hey Filou«, rief Marie. »Was ist denn los? Ist Elsbeth etwas passiert?«

Beunruhigt registrierte sie, dass der Hamster nicht antwortete. Sie richtete ihren scharfen Blick zurück auf Elsbeth, doch vor ihren Augen verschwammen die Konturen der alten Frau zu einem schwarzen, glänzenden Fleck. Marie senkte den Kopf. Der Tod hatte sie gefunden, wieder gefunden, hier in dieser beschaulichen Wohnung, wo sie es am wenigsten erwartete. Alles kehrte wieder. Es gab kein Entrinnen.

Eine Beobachtung

Schräg gegenüber des Mietshauses, in dem Elsbeths Wohnung lag, saß Friedrich Schirrmacher in seinem Stammcafé, der Lotusblüte, und rührte in seinem zweiten Latte Macchiato. Als nächstes bestellte er besser einen Kräutertee, zu viel Kaffee war nicht gut für seinen Blutdruck. Seit seiner Pensionierung als Kriminalkommissar verbrachte er viel Zeit in Cafés, und die Lotusblüte war spätestens zu seinem Lieblingscafé avanciert, nachdem er hier vor einem Vierteljahr Elsbeth kennengelernt hatte.

So ganz sicher war er sich nicht, ob Elsbeth seine Gefühle in der gleichen Tiefe erwiderte. Bei aller Zuneigung, die sie ihm fraglos entgegenbrachte, schien sie gleichzeitig sehr auf ihre Selbständigkeit bedacht. Während er sie am liebsten jeden Tag getroffen hätte, verbrachte sie auch gern mal einen Tag für sich oder mit anderen.

Heute war so ein Tag. Friedrich seufzte. An den Elsbeth-freien Tagen kam er besonders gern hierher. So war er wenigstens in ihrer Nähe.

Müßig beobachtete er durch das Fenster eine Frau bei ihren erfolglosen Einparkversuchen. Männer und Frauen hatten eben unterschiedliche Eigenschaften und Begabungen, und deswegen war es sinnvoll, wenn sie sich zusammentaten.

Friedrich seufzte ein zweites Mal. Er konnte nur hoffen, dass Elsbeth das auch so sah. Vielleicht musste er ihr einfach mehr Zeit geben.

Vor dem Fenster hatte die Autofahrerin ihre Bemühungen doch noch erfolgreich abgeschlossen. Zumindest stand das Auto in der Parklücke, wenn auch fast einen Meter vom Bordstein entfernt.

Schräg hinter ihr schob sich gerade ein Mann aus der Tür von Elsbeths Wohnhaus, der sich die Kapuze seines Sweatshirts übergezogen hatte. Wie konnte man sich nur an einem warmen Frühsommertag eine Kapuze aufzusetzen! Aber so rannten ja viele Jugendliche heute herum. Komische Mode.

Friedrich fasste den Mann, der mit schnellen Schritten die Straße hinunter ging, schärfer ins Auge. Trotz der Kapuze konnte er einen Blick auf sein Gesicht erhaschen, dass ihm irgendwie bekannt vorkam. Konnte es Elsbeths Neffe sein?

Friedrich hatte ihn nur einmal kurz kennengelernt, als der Neffe zur letzten Theateraufführung des Seniorenkreises einen Sofatisch aus seinem Antiquitätengeschäft vorbeigebracht hatte. Der junge Mann – Martin, Marcel oder so ähnlich – war ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen, und Elsbeth hatte seinen Eindruck bestätigt: Sie befürchtete, dass er sein Geld nicht immer auf legale Weise verdiente, und machte sich Sorgen »um seinen Umgang«.

Wahrscheinlich hatte der nichtsnutzige Neffe seiner Tante gerade einen Pflichtbesuch abgestattet und deswegen musste er, Friedrich, heute auf ihre Gesellschaft verzichten.

Der Mann bog um die Ecke.

Friedrich wandte sich dem Kreuzworträtsel in der Zeitung zu und bestellte sich einen Kräutertee.

Nasiras Rückkehr

Caesar lag auf seiner Decke an der Wand und nagte an seinem Kauknochen. Die nächtliche Dunkelheit um ihn herum passte zu seiner Stimmung. Er machte sich Sorgen um sein Herrchen Marcel, das am Abend, erbärmlich nach Angstschweiß stinkend, nach Hause gekommen war.

Da drang ein leises, kaum hörbares Rascheln aus Richtung Badezimmer in seine Gedanken. Erwartungsvoll spitzte er die Ohren, und als tatsächlich nach kurzer Zeit seine Freundin, die Ratte Nasira, ins Wohnzimmer getrippelt kam, konnte er ein freudiges Aufjaulen nicht unterdrücken.

»Nasira, wie schön, dass du endlich wieder da bist! Ich habe dich richtig vermisst.«

»Hallo Caesar! Ich war doch nur zwei Wochen weg. Ab und zu müssen mich meine Verwandten ja auch mal zu sehen bekommen. – Wie geht’s dir, alter Junge, und was gibt es Neues?«

»Mir geht’s gut, aber Marcel nicht.« Caesar schnaufte. »Kaum, dass du verschwunden warst, ging es hier drunter und drüber.«

»Ja, ich habe schon gemerkt, dass etwas vorgefallen sein muss. Marcel stinkt extrem nach Angst.« Nasira begann sich zu putzen, um sich von dem Staub aus dem Mauerschacht zu säubern, den sie hinaufgeklettert war.

»Er hat auch Grund dazu.«

»Was ist passiert?«

»Zwei Tage, nachdem du weg warst, saß Marcel wie immer vormittags im Laden, und ich lag auf meiner Decke. Da ging die Tür auf, und drei Männer kamen herein. Sie rochen nach Aggression, Gefahr und Alphamännchengetue. Ich stand auf, um Marcel zu verteidigen.

›Pfeif deine Töle zurück, sonst ist sie tot‹, sagte der Anführer und zog eine – wie heißen diese Dinger – Pistole. Ich legte mich wieder hin, noch bevor mich Marcel mit zitternder Stimme zurückrief.«

»Du liebe Güte, Caesar« rief Nasira erschrocken und unterbrach ihre Putzaktion. »Zum Glück ist dir nichts passiert.«

»Die Männer gehörten zu der Gang von diesem Nico, die Autos klaut und in irgendwelche östlichen Länder verschiebt. Marcel ist ihr doch vor kurzem beigetreten.«

»Ja, aber wieso haben ihn seine eigenen Gangmitglieder bedroht?«

»Er hat anscheinend einen schweren Fehler gemacht bei seinem ersten Auftrag – so ganz habe ich es nicht kapiert. Der eine Mann sagte, Marcel habe sich für die gestohlenen Autos ›Blüten‹ andrehen lassen statt richtigem Geld.«

»Bist du sicher, dass du das richtig verstanden hast?«, fragte Nasira. »Man kann doch nicht Geld mit Blüten verwechseln. Blüten riechen wunderbar, während Geld stinkt und zudem völlig anders aussieht. Selbst ein Trottel wie Marcel – entschuldige Caesar – kann das nicht durcheinanderbringen.«

»Ich bin mir sicher; der Mann hat es zweimal wiederholt. Er konnte genauso wenig verstehen, wie sich Marcel hat täuschen können.«

Die Ratte wusch sich geistesabwesend das linke Ohr. »Wahrscheinlich war er mal wieder abgefüllt mit Whiskey.«

»Auf jeden Fall hat Marcel es nicht abgestritten. Der andere drohte ihm, wenn er nicht innerhalb von acht Wochen den Verlust ausgleiche, würden sie ihn so fertig machen, dass ihn hinterher selbst seine Mutter nicht mehr wiedererkenne. Seitdem stinkt Marcel nach Angst.« Caesar gab ein aufgeregtes Blaffen von sich.

»Wohl nicht zu Unrecht. Offensichtlich hat er sich etwas übernommen bei seiner Verbrecherkarriere; zu mehr als zu seiner Hehlerei und Wucherei langt es eben nicht. Wie viel Geld muss er denen zahlen und hat er eine Idee, wie er es beschaffen will?«

»Ich habe nicht mitbekommen wie viel, aber es ist wohl eine ganz schöne Summe. Marcel hat in den letzten Tagen mehrmals seine Tante Elsbeth besucht und angerufen und versucht sie zu überreden, dass sie ihm vorzeitig sein Erbe auszahlt. Seiner Reaktion nach zu urteilen, hat sie immer abgelehnt. Heute ist er auch zu ihr gegangen, und als er wiederkam, roch er so schrecklich wie nie. Wahrscheinlich hat sie ihm ein für alle Mal klar gemacht, dass er von ihr nichts zu erwarten hat.«

»Sehr nachvollziehbar«, kommentierte Nasira. »Ich würde ihm auch nichts geben.«

Caesar seufzte. »Ich weiß, dass er kein besonders guter Mensch ist, trotzdem ist er mein Herrchen und tut mir leid.«

»Hm. Was, meinst du, wird er jetzt tun?«

Caesar seufzte wieder. »Ich befürchte irgendwas Dummes. Aber jetzt lass’ uns dieses unerfreuliche Thema beenden. Erzähl’ lieber was von deiner Reise.«

Und Nasira erzählte. Im Osten begann sich schon der Himmel hell zu färben, als sie sich endlich verabschiedete.


Sie lief ins Badezimmer, zwängte sich hinter dem kleinen Schränkchen durch eine halb zersplitterte Kachel und kletterte im Mauerschacht an der Wasserleitung entlang nach unten ins Erdgeschoss.

Hier befand sich das Geschäft von Marcel, eine aus Menschensicht verwahrloste Ansammlung alter Möbel und staubiger Bücher, hochtrabend Antiquitäten & Antiquariat genannt. Für Nasira war es der schönste Lebensraum, den sie sich vorstellen konnte. Obwohl sie müde war, trippelte sie hinüber in die Antiquariatsecke und schnüffelte an einem auf dem Boden liegenden Buch.

Während sie tief den geliebten Geruch aus vergilbtem Papier und Leim in sich einsog, fragte sie sich einmal mehr, wie viele Ratten es in der Welt geben mochte, die wie sie lesen konnten. Einige mussten es wohl sein, denn selbst die Menschen kannten den Ausdruck »Leseratte«. Wie konnte er anders entstanden sein als durch die Entdeckung und Beobachtung entsprechender Artgenossen?! Auf jeden Fall löste die Vorstellung von anderen lesenden Ratten ein tröstliches Gefühl von Verbundenheit in Nasira aus.

Aber jetzt musste sie ins Bett. Nach einigen Bissen von dem mitgebrachten Stück Gurke rollte sich auf ihrem gewohnten Schlafplatz hinter der Kommode zusammen und fiel fast augenblicklich in tiefen Schlaf.