Scheintot

Gerd Münscher


„Tja, das war's dann wohl." Der stämmige Zwerg mit den feuerroten Rauschebart stemmt sich hoch. „Sie ist tot. Mausetot. Und diesmal wohl endgültig."

„Hast du auch ihr Haar durchsucht?"

„Hab ich."

„Und ihr Mieder aufgeschnürt?"

„Hältst du mich für blöd oder was?"

Feuerbart und der Dünne mit dem Ziegenbärtchen funkelten sich einen Moment lang wütend an.

„Frieden, Frieden!", intervenierte Graubart, der Älteste von ihnen. „Immerhin stehen wir hier bei einer Toten! Benehmt euch!"

Feuerbart und Ziegenbart funkelten sich ein letztes Mal an, dann setzten sie bemüht traurige Mienen auf.

„Und was jetzt?", fragte einer, der für einen Zwerg recht lang gewachsen war. „Was machen wir jetzt mit ihr? Einbuddeln?"

„Bist du bekloppt?", grollte der Kleinste unter seinem Schnäuzer hervor. „Wo die Süße doch immer so Angst im Dunkeln hatte?"

„Aber einen Sarg braucht sie, egal, was wir mit ihr machen", entschied Graubart.

„Der ist auch dunkel!"

„Daran ist nun mal nix zu ändern."

„Aber sie fürchtete sich immer so!"

„Ich hab eine Idee", mischte sich der Zwerg mit dem Schmerbauch ein. „Bauen wir ihr doch einen Sarg aus Glas!"

„Biste bekloppt? Das ist viel zu teuer!", brüllten ihn unisono seine sechs Kumpel an.

„Ich dachte ja nur..."

„Obwohl...", überlegte der siebente und kratzte in seinen langen Koteletten. „Vielleicht reicht ja auch ein Fenster. Ein kleines Fenster. Das kostet nicht so viel."

„Blödsinn, kleine Fenster sind fast genauso teuer wie große", knurrte Graubart.

„Und wenn wir eines der Fenster aus dem Hühnerstall nehmen? Ich meine, den Hühnern ist das doch egal, ob sie zwei oder drei Fenster haben."

„Aber dann nicht das hintere", mischte sich Schnäuzer ein. „Ohne das hintere Fenster ist es zu dunkel, um alle Eier zu finden."

„Jaja, schon gut, nicht das hintere. Aber sonst- das mit dem Fenster aus dem Hühnerstall können wir machen. Abstimmen, Jungs! Wer ist dafür?"

Sechs Hände schossen in die Höhe. Sechs Augenpaare drehten sich dem siebten zu. Der Lange zuckte mit einem verlegenen Grinsen die Achseln. „Na ja, ich dachte nur – irgendwann sieht so eine Leiche nicht mehr gut aus. Wollt ihr das wirklich ansehen?"

Ratloses Schweigen.

„Aber die nächsten Tage noch nicht sofort", gab Ziegenbart schließlich zu bedenken. „Wir könnten sie ja noch ein paar Tage oberirdisch lassen. Solange sie noch frisch aussieht."

„Und sie hatte doch immer so viel Schiss im Dunkeln", hörte man die verloren klingende Stimme von Schnauzbart.

„Abstimmen!", kommandierte Graubart ein zweites Mal.

Diesmal gingen sieben Hände in die Höhe.


Wenige Stunden später war der Sarg fertig, mit Sichtfenster, mühsam befreit von 10 Jahren Hühnerkacke und Spinnweben. Mit alle Mann packten sie zu und hoben Schneewittchen hinein. Dann schloss Graubart den Deckel und nagelte ihn zu. „Fertig!," brummte er nach dem zwölften Nagel und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Und jetzt?"

„Keine Ahnung. Was macht man bei einer toten Prinzessin?"

Verlegenes Schweigen.

Schließlich trat Ziegenbart vor und nahm seine Zipfelmütze ab. Unbeholfen drehte er sie zwei, drei Male zwischen den Fingern.

„Tja, Schneewittchen, ich will nur sagen, dass mir das leid tut, wegen dir. Ich meine, du konntest zwar nicht richtig kochen, und auch nicht richtig putzen, aber nähen konntest du ganz gut, alle meine Knöpfe sitzen jetzt wieder fest an meiner Jacke, und du hast mir sogar noch einen schönen Rand gestickt. Also, ich finde, für eine Prinzessin warst du ganz in Ordnung. Ruhe in Frieden."

„Ruhe in Frieden!", pflichteten die anderen Zwerge im Chor bei.

Dann gingen sie wieder an ihre Arbeit.