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Der Autor

 

Timo Storck, Prof. Dr. phil., Jahrgang 1980, ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin und Psychologischer Psychotherapeut (AP/TP). Studium der Psychologie, Religionswissenschaften und Philosophie an der Universität Bremen, Diplom 2005. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Bremen (2006–2007), Kassel (2009–2015) sowie an der Medizinischen Universität Wien (2014–2016). Promotion an der Universität Bremen 2010 mit einer Arbeit zu künstlerischen Arbeitsprozessen, Habilitation an der Universität Kassel 2016 zum psychoanalytischen Verstehen in der teilstationären Behandlung psychosomatisch Erkrankter. Mitherausgeber der Zeitschriften Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung und Forum der Psychoanalyse sowie der Buchreihe Im Dialog: Psychoanalyse und Filmtheorie, Mitglied des Herausgeberbeirats der Buchreihe Internationale Psychoanalyse. Forschungsschwerpunkte: psychoanalytische Theorie und Methodologie, psychosomatische Erkrankungen, Fallbesprechungen in der stationären Psychotherapie, Kulturpsychoanalyse, konzeptvergleichende Psychotherapieforschung.

Timo Storck

Sexualität und Konflikt

Verlag W. Kohlhammer

 

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033752-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-033753-4

epub:    ISBN 978-3-17-033754-1

mobi:    ISBN 978-3-17-033755-8

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Freuds Konzeption einer infantilen Psychosexualität
  4. 2.1 Die psychosexuellen Entwicklungsphasen
  5. 2.1.1 Autoerotismus und primärer Narzissmus
  6. 2.1.2 Die orale Phase
  7. 2.1.3 Die anale Phase
  8. 2.1.4 Die phallisch-ödipale Phase
  9. 2.1.5 Die Latenzzeit und die genitale Phase
  10. 2.1.6 Weitere Konzepte zur Genese des Psychosexuellen: Urszene, Zweizeitigkeit, Nachträglichkeit
  11. 2.2 Sexualität und Neurose
  12. 2.3 Fallbeispiel Christian
  13. 3 Die Theorie des ödipalen Konflikts
  14. 3.1 König Ödipus
  15. 3.2 Freuds Auffassungen zum Ödipuskonflikt
  16. 3.2.1 Freuds Ausgangspunkte: Verlust des Vaters, Selbstanalyse, klinische Erfahrung
  17. 3.2.2 Ödipale Konflikte als »Gefühlseinstellung«
  18. 3.2.3 Freuds Überlegungen zum »Urvater«
  19. 3.2.4 Zur Universalität und Kulturinvarianz des Ödipuskonflikts
  20. 3.2.5 Der »kleine Hans«
  21. 3.2.6 Die Frage nach der »Bewältigung«
  22. 3.3 Die Konzeption einer »frühen« Ödipalität
  23. 3.4 Ödipus heute
  24. 3.5 Fallbeispiel Jakob
  25. 4 Der unbewusste Konflikt
  26. 4.1 Entwicklungspsychologische Grundlagen allgemeiner psychischer Konflikte
  27. 4.1.1 Beruhigung und Stimulierung im Kontext der Triebtheorie
  28. 4.1.2 Liebe und Hass
  29. 4.1.3 Die Unbewusstheit psychischer Konflikte
  30. 4.1.4 Trieb, Konflikt und motivationale Strukturen
  31. 4.2 Neurotische Konflikte
  32. 4.2.1 Konflikte in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik
  33. 4.3 Andere Konflikte und das Verhältnis zur psychischen Struktur
  34. 4.4 Fallbeispiel Frau E.
  35. 5 Sexualitäten in der Psychoanalyse
  36. 5.1 Psychoanalytische Theorien zur weiblichen Sexualität
  37. 5.1.1 Weibliche Sexualität bei Freud
  38. 5.1.2 Psychoanalyse und Weiblichkeit im Anschluss an Freud
  39. 5.2 Psychoanalytische Theorien zur Homosexualität
  40. 5.2.1 Freuds Blick auf Homosexualität
  41. 5.2.2 Aktuelle Themen
  42. 5.3 Psychoanalyse und Gender
  43. 6 Sexualität und Konflikt interdisziplinär
  44. 6.1 Sexualität und Konflikt in anderen psychologischen Entwicklungstheorien
  45. 6.1.1 Sexualität
  46. 6.1.2 Konflikt
  47. 6.1.3 Ödipalität
  48. 6.1.4 Die Spezifität der psychoanalytischen Theorie
  49. 6.1.5 Konflikt und Neurobiologie
  50. 6.2 Konflikte in anderen Psychotherapie-Theorien
  51. 6.2.1 Kognitive Verhaltenstherapie
  52. 6.2.2 Systemische Therapie
  53. 6.2.3 Gesprächspsychotherapie
  54. 6.3 Konzeptvergleichende Psychotherapieforschung
  55. 6.3.1 Konflikte im Schulenvergleich
  56. 6.3.2 Skizze eines Forschungsprogramms
  57. 7 Ausblick
  58. Literatur
  59. Verzeichnis der zitierten Medien
  60. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Beim vorliegenden Band handelt es sich um eine bearbeitete Mitschrift von fünf öffentlichen Vorlesungen, die ich im Sommersemester 2017 an der Psychologischen Hochschule Berlin gehalten habe. Die Vorlesungsreihe ist Teil eines langfristig angelegten Projekts zu den Grundelementen psychodynamischen Denkens, in dem es unter der dreifachen Perspektive »Konzeptuelle Kritik, klinische Praxis, wissenschaftlicher Transfer« darum geht, sich mit psychoanalytischen Konzepten auseinander zu setzen: Trieb (Band I), Sexualität und Konflikt (Band II), dynamisch Unbewusstes (Band III), Objekte (Band IV), Übertragung (Band V) und einige weitere. Ziel ist dabei, sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch im vorliegenden Format einer Reihe von Buchpublikationen eine Art kritisches Kompendium psychoanalytischer Konzepte zu entwickeln, ohne dabei den Anschluss an das Behandlungssetting oder den wissenschaftlichen Austausch zu vernachlässigen. Die Buchreihe, deren zweiter Band hier vorliegt, wird ergänzt durch Videomaterial zu den Vorlesungen. Wenn es um Grundelemente psychodynamischen Denkens gehen soll, dann soll damit auch der Hinweis darauf gegeben werden, dass aus Sicht der Psychoanalyse jedes Denken, also auch das wissenschaftliche, selbstreflexiv ist: Das Denken über Psychodynamik ist unweigerlich selbst psychodynamisch, d. h. es erkundet die Struktur der Konzeptzusammenhänge auch auf der Ebene der Bedeutung von Konzeptbildung selbst.

Für ein solches Vorgehen ist das Werk Freuds der Ausgangs- und ein kontinuierlicher Bezugspunkt. Mir geht es um eine genaue Prüfung dessen, was Freud mit seinen Konzepten »vorhat«, d. h. welche Funktion diese haben und welches ihr argumentativer Status ist. Dabei soll nicht eine bloße Freud-Exegese geschehen, sondern eher ein Lesen Freuds »mit Freud gegen Freud«. Es wird deutlich werden, dass der grundlegende konzeptuelle Rahmen, den Freud seiner Psychoanalyse gibt, es auch erlaubt aufzuzeigen, wo er hinter den Möglichkeiten seiner Konzeptbildung zurück bleibt.

Über den Ausgangspunkt der Vorlesungen erklärt sich die Form des vorliegenden Textes, der nah an der gesprochenen Darstellung bleibt. Auch sind, wie in jeder Vorlesung, eine Reihe von inhaltlichen Bezugnahmen auf Arbeiten anderer Autorinnen und Autoren eingeflossen, die mein Denken grundlegend beeinflussen, ohne dass dazu durchgängig im Detail eine Referenz erfolgen kann.

Bedanken möchte ich mich bei den Teilnehmenden der öffentlichen Vorlesungen für ihr Interesse, sowie beim Kohlhammer Verlag, namentlich Ruprecht Poensgen, Ulrike Albrecht und Annika Grupp, für die Unterstützung bei der Vorlesung und ihrer Veröffentlichung. Außerdem danke ich Judith Krüger, Janna Otten und Caroline Huss für die Anfertigung von Transkripten zur Audio-Aufzeichnung und Katharina Sindlinger für Unterstützung in der Literaturrecherche. Katharina Schmatolla gebührt Dank für die planerische, emotionale und technische Unterstützung bei der Durchführung der Vorlesungen. Der Psychologischen Hochschule Berlin danke ich schließlich für die Möglichkeit, eine solche Vorlesungsreihe durchzuführen.

 

Heidelberg, März 2018

Timo Storck

1          Einleitung

 

 

 

Im zweiten Band dieser Buchreihe soll es also, im Anschluss an die Überlegungen zum Trieb und vorbereitend zur Erörterung des dynamisch Unbewussten, um Sexualität und Konflikt gehen, in einer konzeptuellen Darstellung und Prüfung.

Im ersten Kapitel werde ich den Anschluss an das in der ersten Vorlesungsreihe und dem ersten Band der Grundelemente zum psychoanalytischen Triebkonzept Erarbeitete herstellen. Im Anschluss daran setzt sich Kapitel 2 mit der Freud’schen Entwicklungstheorie der infantil-psychosexuellen Phasen auseinander und schlägt dabei insbesondere eine »thematische« Lesart dieser Phasen vor. Im dritten Kapitel werde ich aus der psychoanalytischen Entwicklungstheorie gesondert die Konzeption des ödipalen Konflikts herausgreifen und diesen, sowohl in der Freud’schen als auch in der Fassung als »frühe« Ödipalität wesentlich begreifen als die Entwicklungsaufgabe der Auseinandersetzung mit dem Geschlechter- und Generationenunterschied und damit, dass es in der Welt der Beziehungen auch solche gibt, von denen das Individuum relativ ausgeschlossen ist. Im vierten Kapitel geht es darauf aufbauend um die Psychoanalyse als Konflikttheorie, die sich zum einen aus dem Ineinander aus Lust und Erregung (bzw. Beruhigung und Stimulierung) in der frühen Entwicklung, zum anderen aus dem Zusammentreffen von Liebe und Hass (bzw. verbindenden und trennenden Impulsen) ergibt. Kapitel 5 nimmt sich psychoanalytisch »Sexualitäten« zum Gegenstand und öffnet den Blick der Darstellung auf die Konzeption von Homosexualität, weiblicher Sexualität und nicht-heteronormativer Sexualität, allesamt Bereiche, zu denen Freud selbst wenig Substanzielles zu sagen hatte – anders als nachfolgende Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, gerade im Hinblick auf einen Dialog mit der Sexualwissenschaft. Schließlich werde ich im sechsten Kapitel die Perspektive auf Sexualität und Konflikt in anderen entwicklungspsychologischen Zugängen einnehmen, sowie deren Bedeutung in anderen psychotherapeutischen Richtungen berühren. Kapitel 7 stellt eine Zusammenfassung und einen Ausblick dar.

Im vorliegenden Rahmen verstehe ich Konzepte als etwas, das Phänomene der Erfahrung begreiflich machen soll (vgl. Storck, 2018a, S. 12ff.). Das gilt für jedes wissenschaftliche Konzept, aber eben auch für wissenschaftliche Konzepte im Zusammenhang mit psychotherapeutischen Verfahren. Ein Konzept, ob es nun »Trieb« ist, »Schwerkraft« oder irgendein anderes, soll etwas von dem, was ich »beobachten« kann (in einem weit gefassten Sinn von »Beobachtung«), konzeptuell auf den Begriff bringen, der eine Antwort darauf liefern soll, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Das heißt aber auch, dass Konzepte keine Dinge in der Welt sind. Man kann zum Beispiel nicht »die Verdrängung« beobachten oder »das Über-Ich« und zwar deshalb nicht, weil es Konzepte sind, die versuchen, etwas Beobachtbares zu konzeptualisieren. Die Antwort auf die Frage »Warum ist die Welt so, wie sie ist?« liefert Konzepte auf der Basis eines methodischen Zugangs. Ob es das Experiment, die sozialwissenschaftliche Feldstudie oder jede andere Methode ist, Konzepte stehen in einer Wechselwirkung zum methodischen Zugang und werden auf diesem Weg (weiter-)entwickelt. Für die Psychoanalyse ist es die klinische Behandlungspraxis gewesen und das Anliegen, die Erfahrungen, die sich im Behandlungszimmer zeigten und die Freud und viele nach ihm versucht haben, auf den Begriff zu bringen. Dort etwas zu »beobachten« heißt gleichwohl, dass etwas als erfahrungsbezogenes Phänomen spürbar wird; »Beobachtung« ist nicht bloß der experimentell-prüfende Blick, sondern bezieht sich auf etwas, das sinnesmäßig erfahrbar ist. Psychoanalytische Konzepte werden als eine begriffliche Verallgemeinerung aus einem Verstehen und Begreifen von klinischen Einzelfällen gebildet. Das heißt nichts anderes, als dass Psychoanalytiker1 Patienten behandeln, dort auf klinische Phänomene stoßen und Konzepte daraus bilden, die den Anspruch haben, über den Einzelfall hinauszureichen. Andernfalls bräuchte man ja für jede einzelne Behandlung neue Konzepte – was nicht nur anstrengend wäre, sondern auch sinnlos. Konzepte haben also einen Anteil von Verallgemeinerung in sich, auch wenn sie auf den Einzelfall bezogen sind.

Diese konzeptuelle Arbeit ist bislang für den Triebbegriff erfolgt (s. den ersten Band dieser Reihe; Storck, 2018a). Dabei ist der Hinweis wichtig gewesen, dass das Triebkonzept – weil es kein ausschließlich biologisches Konzept ist, es unterscheidet sich vom Instinktbegriff – als ein psychosomatisches Konzept aufgefasst werden kann, das die psychosomatische Grundstruktur des Menschen beschreibt. Mit Freud gesprochen: Der Trieb ist ein »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem« (1915a, S. 214). Das versucht gerade zu beschreiben, warum Menschen geistige und biologische Wesen sind und was sich von unserer Körperlichkeit in unsere psychische Vorstellungswelt vermittelt – und dass wir demgegenüber auch keine andere Wahl haben. Es drängt etwas in unsere psychische Welt, so dass wir durch innere Bilder und Sprache damit umgehen müssen und können.

Bei Freud war ferner die Frage danach wichtig, ob man das Triebkonzept monistisch formuliert (ist damit doch nichts anderes als ein Drängen beschrieben, das eine quantitative Größe aufweist) oder ob es ein dualistisches Triebmodell gibt, in dem beispielsweise Sexualität und Selbsterhaltung oder Eros und Todestrieb einander gegenüberstehen. Oder ist es sogar ein polyvalentes Modell mit unterschiedlichen Antrieben und Motivationsstrukturen? Ein großes Problem dabei war die Frage, ob Freuds Vorstellung einer Triebenergie, für den Sexualtrieb: die Libido, brauchbar ist. Es gab einige Argumente dafür, dass die psychoanalytische Libidotheorie heute durch eine Affekttheorie ersetzt werden kann, wohingegen die Triebtheorie als solche nicht in einer Affekttheorie aufgeht, zum Beispiel angesichts der eben erwähnten Vermittlungsfunktion des Triebes.

Außerdem konnte hervorgehoben werden, dass es auch in einer triebtheoretischen Sicht um Beziehungen geht, dass ein Teil unserer Triebentwicklung durch frühe Beziehungserfahrungen vermittelt ist, durch Berührungen und andere sinnliche Erfahrungen. Psychoanalytisch gesprochen: Das »Objekt« (das Gegenüber, der Andere) hat entscheidenden Anteil an der Triebentwicklung, weil wir leiblich mit ihm interagieren.

Ein paar weitere Bereiche sind berührt worden: Freuds Gedanke hat eine Rolle gespielt, dass Kultur auf Triebverzicht aufgerichtet ist (Freud, 1930, S. 457). Mit Melanie Klein haben wir uns angeschaut, wie wichtig es für uns Menschen ist, sich Fantasiebilder zu machen, also etwas von dieser ganzen chaotischen Welt aus Körperlichkeit und Affektivität in innere, szenische Bilder umsetzen zu können – zur Angstbewältigung, zur Kreativität. Es wurde das Verhältnis von Trieb und Affekt betrachtet und auch dasjenige der Triebtheorie zu psychologischen Motivationstheorien, zur Neurobiologie und zu anderen psychotherapeutischen Verfahren. Die bisherige Darstellung ist im Befund geendet, dass der Trieb nicht im eigentlichen Sinne (oder nicht allein für sich genommen) die psychischen Motivationsstrukturen auf den Begriff bringt. Psychoanalytische Motivation ist nicht direkt triebhaft, sondern der unbewusste Konflikt ist es, was im Kern der psychoanalytischen Motivationstheorie steht. Das ist es, was uns motiviert – zur Kreativität, Symptombildung, zu psychischer Erkrankung, zum Erleben und Gestalten von Beziehungen. Als Grundlage dessen wirkt der Trieb, der mit dem unbewussten Konflikt entscheidend verbunden ist, jedoch ist nicht das Triebhafte selbst die Motivationsstruktur, sondern der unbewusste Konflikt – etwas, das psychisch aufeinander prallt und Motor dessen ist, dass wir damit irgendwie umgehen. Während die Triebtheorie eher eine allgemeine Theorie der Motivation beschreibt, lässt sich mit dem Konzept des Konflikts argumentieren, wie spezifische Motivationen zu denken sind. Es gibt also viele Argumente dafür, sich den unbewussten Konflikt genauer anzuschauen – und zwar ausgehend von der Sexualität, die, wie sich zeigen wird, den wesentlichen Anteil daran hat, dass unser psychisches Leben konflikthaft ist.

1     Ich verwende im Weiteren das generische Maskulinum, damit sollen jeweils alle anderen Geschlechter mitgemeint sein.

2          Freuds Konzeption einer infantilen Psychosexualität

 

 

 

Die TV-Serie Masters of Sex (vgl. Kadi, 2017) thematisiert – auf teil-fiktionalisierte Weise – die Forschungen von William Masters und Virginia Johnson ab 1957. Ein Ausschnitt aus der ersten Staffel der Serie, der die Anfänge der sexualwissenschaftlichen Forschung der beiden Protagonisten behandelt, zeigt, wie ein Proband und eine Probandin Anweisungen erhalten. Beide sind nackt und multipel verkabelt. Johnson erklärt beiden die vier Stufen der sexuellen Erregung, welche die Forscher postulieren; die Anziehung und Unsicherheit des Paares, das »für die Wissenschaft« miteinander möglichst leidenschaftlichen Sex haben soll, wird deutlich (»Pilot«, 2013).

Neben Kinsey oder Sigusch können Masters und Johnson wohl als die neben Freud wichtigsten und einflussreichsten Forschenden im Hinblick auf die menschliche Sexualität des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Gleichwohl geht es Freud, zumal bereits 60 Jahre früher als Masters und Johnson, um etwas anderes als die Ermittlung von Verläufen menschlicher Erregung im sexuellen Akt, nämlich um Psycho-Sexualität, also in erster Linie um das Erleben von Sexualität und darum, wie Sexualität als ein Organisationsprinzip des Psychischen gelten kann. Das macht die bis heute hohe Relevanz der Psychoanalyse aus.

Freuds Untersuchung und Konzeptualisierung der Sexualität betrifft besonders das »Sexualleben der Kinder«, genauer müsste man sagen: die infantile Sexualität, wie sie in der Kindheit und in der späteren psychischen Welt eine Rolle spielt. Allerdings musste sich das explizite Konzept einer infantilen Sexualität im Freud’schen Denken erst noch entwickeln. Er schreibt ziemlich früh in der Entwicklung seiner Theorie: »Man tut Unrecht daran, das Sexualleben der Kinder völlig zu vernachlässigen; sie sind, so viel ich erfahren habe, aller psychischen und vieler somatischen Sexualleistungen fähig. […] Es ist aber richtig, daß die Organisation und Entwicklung der Spezies Mensch eine ausgiebigere Betätigung im Kindesalter zu vermeiden strebt; es scheint, daß die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufgespeichert werden sollen, um dann bei ihrer Entfesselung zur Zeit der Pubertät großen kulturellen Zwecken zu dienen […] Aus einem derartigen Zusammenhange läßt sich etwa verstehen, warum sexuelle Erlebnisse im Kindesalter pathogen wirken müssen. Sie entfalten ihre Wirkung aber nur zum geringen Maße zur Zeit, da sie vorfallen; weit bedeutsamer ist ihre nachträgliche Wirkung, die erst in späteren Perioden der Reifung eintreten kann.« (1898, S. 511).

Es ist leicht vorstellbar, wie skandalös diese Bemerkung 1898 gewirkt haben muss. Eine ähnlich skandalöse Wirkung hatte das sieben Jahre zuvor erschiene Drama Frank Wedekinds Frühlings Erwachen, in dem es auch um eher konkrete kindliche und jugendliche Sexualbetätigung ging. Freud betritt Neuland, ähnlich wie Masters und Johnson etwas später auf andere Weise, indem er drei Dinge in den Mittelpunkt stellt: das Sexualleben der Kinder, mögliche »pathogene Wirkungen« dessen und eine »Nachträglichkeit« in der Sexualentwicklung. Damit ist angesprochen, dass Freud von einer Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung ausgeht: Vom Wirken eines infantilen, kindlichen Teils und eines ab der Pubertät einsetzenden, der den Weg in die erwachsene Sexualität ebnet. Um diese Differenzierung besser begreifen zu können, sind einige Bemerkungen zur Freud’schen Verführungstheorie nötig.

Zu Beginn seiner nervenärztlichen, beginnend psychoanalytischen Arbeit vertritt Freud die Auffassung, dass in der Ätiologie der Hysterie traumatische Szenen der Kindheit aufzufinden sind. Anfangs war es eine Annahme ohne Ausnahme: Erwachsene, hysterische Frauen haben ein missbräuchliches Erlebnis sexueller Art in der Kindheit gehabt, so Freuds Konzeption. Er schreibt aus der Erfahrung aus seinen Behandlungen und den sich dort zeigenden Fällen sexueller Traumata im Sinne von Übergriffen: »[O]benan [stehen] Kinderfrauen, Gouvernanten und andere Dienstboten«, »lehrende Personen«, »schuldlose kindliche Attentäter, meist Brüder« (Freud, 1896a, S. 382). Andernorts differenziert er drei Gruppen: »erwachsene[.] fremde Individuen«, »eine das Kind wartende erwachsene Person« und »die eigentlichen Kinderverhältnisse« (Freud, 1896b, S. 444). Als sexuelle Traumata gelten Freud hier »[s]exuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen der Genitalien, koitusähnlichen Handlungen usw. bestehen«. Sie »sollen also in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt werden, von denen die hysterische Reaktion gegen Pubertätserlebnisse und die Entwicklung hysterischer Symptome ausgeht.« (1896b, S. 443). Mit diesen Annahmen zur Ätiologie der Hysterie steht die Annahme einer »Perversion des Verführers« (Freud, 1985, S. 223; Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896) im Zusammenhang, zu dem für Freud zunächst immer deutlicher der Vater wird. Seine frühe Theorie hat so eine direkte Verbindung der später hysterisch erkrankten Frau zum perversen, sexuell übergriffigen Vater. Dabei muss man darauf achten, dass »Perversion« hier nicht genau das meint, was bei Freud etwas später unter dem Partialtriebhaften firmiert (vgl. Storck, 2018a, S. 29ff.), sondern eher im alltagssprachlichen Sinn gebraucht wird, also im Sinne einer sexuellen Grenzüberschreitung bzw. Pervertierung der Sexualität. Diese Annahmen Freuds über die sexuellen Traumata in der Ätiologie der Hysterie werden seine »Verführungstheorie« genannt.

Soweit, so skandalös. Jetzt gibt es eine auf eine andere Art und Weise skandalöse Bemerkung, die Freud kurze Zeit später an Wilhelm Fließ schrieb: »Und ich will dir sofort das große Geheimnis anvertrauen, das mir in den letzten Monaten langsam gedämmert hat. Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr.« (Freud, 1985, S. 283; Brief vom 21.9.1897). Freud spürt Zweifel an seiner bisherigen ausnahmslosen Annahme des Vorkommens sexueller Traumata im Sinne konkreter Übergriffe in der Ätiologie der Hysterie. Er hat dafür drei Gründe: Erstens die nur »partielle[n] Erfolge« der Analysen, zweitens die sich immer mehr zuspitzende nötige Folgerung, »daß in sämtlichen Fällen der Vater als pervers beschuldigt werden mußte«, sowie drittens die Einsicht, »daß es im Unbewußten ein Realitätszeichen nicht gibt« (a. a. O., S. 283f.).

Für die weitere Theoriebildung der Freud’schen Psychoanalyse ist der dritte Punkt der entscheidende und er ist es auch, der am meisten kontrovers diskutiert worden ist. Zunehmend hatte Freud sich mit dem Stellenwert der (unbewussten) Fantasie beschäftigt und über die »Lösung, daß die sexuelle Phantasie sich regelmäßig des Themas der Eltern bemächtigt« (a. a. O.), nachgedacht (vgl. genauer in Freud, 1906). Statt der leitenden Annahme, für die Ätiologie sei von einem Vorkommen sexueller Übergriffe auszugehen, kristallisiert sich ab 1897 für Freud stärker die Konzeption heraus, dass es die Wirkungen der infantilen Psycho-Sexualität sind (einschließlich des noch etwas später genauer ausformulierten Ödipus-Konflikts), die in der Ausbildung einer Neurose die entscheidende Rolle spielt. Er selbst formuliert im Rückblick: »Nach d[er] Korrektur waren die ›infantilen Sexualtraumen‹ in gewissem Sinne durch den ›Infantilismus der Sexualität‹ ersetzt.« (1906, S. 154) Es muss in Freuds Sicht nun also nicht notwendigerweise ein reales, konkretes, sexuelles Übergriffserlebnis in der Kindheit aller später hysterisch Erkrankten geschehen sein, sondern es gibt auch das Element einer Wirkung unbewusster Fantasien und unbewusster Wünsche – oder, wenn man so will: einer traumatischen Wirkung des Triebes.

Dies sind nun die Schnittstellen, an denen es in der Geschichte der Psychoanalyse viele Missverständnisse, Streit und auch einige etwas unglückliche Formulierungen Freuds gegeben hat. Was hier nicht gemeint ist, ist die Leugnung der Realität von sexuellen Übergriffen. Worum es Freud nicht geht, ist die pauschale Diskreditierung von Berichten von Patientinnen über erlittene Übergriffe und das Abtun dieser als unbewusste Fantasien. Es wäre ein Irrtum anzunehmen, es gebe heute Psychoanalytiker, die es, wenn jemand über Missbrauch spricht, ausschließlich als einen Ausdruck unbewusster Fantasien betrachten und die Realität dessen prinzipiell in Zweifel ziehen bzw. sich dafür nicht interessieren. Trotzdem ist es wichtig, sich genauer anzuschauen, wie diese Erweiterung der Verführungstheorie bei Freud, denn als eine solche sollte sie begriffen werden, gemeint ist. Der entscheidende Punkt ist, dass sich Freud von dem Allgemeingültigkeitsanspruch der Rolle sexueller Übergriffe weg bewegt. Er nimmt zwei Wege traumatisch wirkender Sexualität in der frühen Kindheit an. Der erste Weg sind die exogenen Traumata konkreter Übergriffe, die zu schwerwiegenden Entwicklungsbeeinträchtigungen führen. Der zweite Weg ist das Wirken unbewusster Fantasien – was belastend sein kann, aber zu eher »reiferen« psychischen Störungen (oder gar keinen) führt als es das Erfahren sexueller Übergriffigkeit tut.

Freud schreibt: »Es ist selbstverständlich, daß es der Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken, daß solche Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich gehen kann.« (1905, S. 91) Das ist ein wichtiges Argument, weil hier nun die kindliche Sexualität nicht nur für diejenigen Menschen entsteht oder wirksam ist, die einen sexuellen Übergriff erleben und später hysterisch erkranken, sondern für alle. Es ist hier ein allgemeiner Bestandteil der kindlichen Entwicklung (das ist Anlass für Laplanche, den Akzent einer »Allgemeinen Verführungstheorie« zu setzen; vgl. Laplanche, 1988; s. u.).

Dazu, dass diese Erweiterung der Verführungstheorie, die m.E. zu Unrecht oft als eine Abkehr oder ein Verwerfen wahrgenommen wurde, ein hohes Missverständnispotenzial aufweist, hat Freud selbst einiges beigetragen. Er stellt mit der Veränderung seiner Theorie zwar nicht das Vorkommen oder die Häufigkeit sexueller Übergriffe in Frage, aber es gibt Bemerkungen, die man in diese Richtung (miss)verstehen kann, wenn er von der Korrektur eines vermeintlichen Irrtums über die Häufigkeiten sexueller Übergriffe gegenüber Kindern spricht oder formuliert, er habe »erkennen« müssen, »diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte« (Freud, 1925, S. 59f.). Ähnliches kann man darüber sagen, dass Freud von der nötigen Unterscheidung schreibt, »die Erinnerungstäuschungen der Hysterischen über ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge sicher zu unterscheiden« (a. a. O.).

Nach 1897 geht es Freud vor allem um die Psychosexualität (d. h. die psychische Repräsentation von Sexualität), im Gegensatz zu Masters und Johnson, die den Geschlechtsverkehr nicht zuletzt in physiologischer Hinsicht untersuchen. Eine besondere Bedeutung dafür haben frühe Arbeiten in Freuds Werk: Die mit Breuer verfassten Studien über Hysterie von 1895 oder Zur Ätiologie der Hysterie von 1896. Einen großen Wendepunkt gibt es in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie von 1905 und insbesondere in Form der Theorie des Ödipus-Konfliktes. Der taucht in seinen Grundzügen schon in Briefen an Fließ Ende des 19. Jahrhunderts auf, sowie in der Traumdeutung von 1900, dann aber in ausgearbeiteter Weise in den 1920er-Jahren.

Der Sexualitätsbegriff der Psychoanalyse ist ein spezieller, Freud spricht von der »erweiterte[n] Sexualität der Psychoanalyse« (1905, S. 32; es handelt sich allerdings um eine Hinzufügung von 1920). »Erweitert« bedeutet, dass »Sexualität« in der Psychoanalyse in den allermeisten Fällen meint: infantile Psychosexualität, also die Untersuchung dessen, wie in der kindlichen Entwicklung Lust- (und Unlust-) Empfindungen und Befriedigungserfahrungen psychisch repräsentiert werden. »Erweitert« ist der Sexualitätsbegriff auch deshalb, weil es nicht nur um genitalen Geschlechtsverkehr geht, sondern »Sexualität« Lustempfindungen und Befriedigungserfahrungen meint, die auch im Zusammenhang mit anderen Interaktionen und Körperzonen auftauchen können. Psychoanalytisch gesprochen ist es ein sexuelles Erlebnis, wenn etwa die Mutter dem Kind über den Kopf streichelt oder über den Arm – also eine sinnliche Berührungserfahrung, die stimulierend ist, erregend oder beruhigend sein kann (und das auch zugleich). In diesem Bereich von Lust und Befriedigung bewegt sich der psychoanalytische Sexualitätsbegriff.

Das ist zu beachten, wenn man darüber spricht, dass Freud kindliche Sexualität untersucht. Wenn man sich darüber nicht im Klaren ist, muss man sich über Freud wundern: Hat er nun wirklich untersucht, ob fünfjährige Kinder mit ihren Eltern Geschlechtsverkehr haben wollen? Das ist noch nicht einmal so besonders interessant, sondern das Interessante ist, der Frage nachzugehen, wie lustvolle Gefühle in der kindlichen Entwicklung wirksam sind und wie sie mit einem Konfliktgeschehen im Zusammenhang stehen.

Zusammenfassend kann man Freuds Position genauer nachvollziehen, wenn er schreibt: »Wir haben den Begriff der Sexualität nur soweit ausgedehnt, daß er auch das Sexualleben der Perversen und das der Kinder umfassen kann.« Weiter heißt es direkt: »Das heißt, wir haben ihm seinen richtigen Umfang wiedergegeben. Was außerhalb der Psychoanalyse Sexualität heißt, bezieht sich nur auf ein eingeschränktes, im Dienste der Fortpflanzung stehendes und normal genanntes Sexualleben.« (Freud, 1916/17, S. 330) Freud will sich also damit auseinandersetzen, was zur Sexualität in einem nicht-eingeschränkten Sinn noch dazu gehört. Mit Freud’scher Kuriosität wird etwas ähnliches in der folgenden Formulierung zum Ausdruck gebracht: »Der landläufigen Auffassung nach besteht das menschliche Sexualleben im wesentlichen aus dem Bestreben, die eigenen Genitalien mit denen einer Person des anderen Geschlechts in Kontakt zu bringen.« (1940, S. 74f.) Für Freud gibt es drei »Hauptergebnisse« der Psychoanalyse:

•  Erstens: »Das Sexualleben beginnt nicht erst mit der Pubertät, sondern setzt bald nach der Geburt mit deutlichen Äusserungen ein.«

•  Zweitens: »Es ist notwendig, zwischen den Begriffen sexuell und genital scharf zu unterscheiden. Der erstere ist der weitere Begriff und umfasst viele Tätigkeiten, die mit den Genitalien nichts zu tun haben.«

•  Und drittens: »Das Sexualleben umfasst die Funktion der Lustgewinnung aus Körperzonen, die nachträglich in den Dienst der Fortpflanzung gestellt wird.« (a. a. O.).

Diese Merkmale sind auch wichtig für die Phasenlehre der psychosexuellen Entwicklung, nämlich vor allem dahingehend, dass das Vorhandensein anderer Lustbereiche als der primären Geschlechtsorgane angenommen wird, prägenitale Formen. Das Triebgeschehen – das wird weiter unten auch in der Darstellung der psychosexuellen Entwicklungsphasen deutlich werden – konstelliert sich im Zusammenhang von frühen Interaktionserfahrungen. Es gibt sozialisatorische Momente der Sexualitätsentwicklung. Es geht hier aus Sicht der Freud’schen Psychoanalyse nicht bloß um einen biologischen Reifungsprozess, sondern es ist die Auffassung eines Interaktionsgeschehens, in dem es nicht gegenüber sozialen Bedingungen invariant ist, dass es früh im Leben kleiner Kinder um Oralität geht und erst später um Sauberkeitserziehung. Zusammenfassend lässt sich sagen: »Infantile Sexualität« bedeutet Lustempfindungen im Zusammenhang körperlicher Berührung und deren Erleben.

Wichtig ist dabei nun ferner, dass Freud davon ausgeht, dass diese Arten von Lustempfindungen an verschiedenen Körperzonen zunächst nicht unmittelbar miteinander verbunden sind. Es geht um eine Partialität von Lustempfindungen. Das ist eine direkte konzeptuelle Konsequenz aus Freuds Postulat, dass »die Bezeichnung ›sexuell‹ auch auf die nach Organlust strebenden Betätigungen der frühen Kindheit« ausgedehnt werde (Freud, 1916/17, S. 336). Erst im Verlauf der Entwicklung wird für unser Erleben ersichtlich: Es ist derselbe Körper und dieselbe Lust – das bin alles »Ich«, der physiologienahe Empfindungen hat und verschiedene Arten von Lust, Befriedigung und Unlust erlebt (wenngleich es innerhalb der Psychoanalyse theoretische Positionen gibt, die den illusionären Charakter einer solchen Ich-Vorstellung herausstellen, vgl. z. B. Lacan, 1949). Das ist gemeint, wenn Freud die Sexualorganisation des Kindes als »polymorph pervers« bezeichnet (1905, S. 91f.). Darin geht es um eine andere Vorstellung von Perversion als in der Alltagssprache oder der Sprache der Pathologie, denn es ist nicht gemeint, dass Kinder in sexuell devianter Weise Grenzüberschreitungen begehen. »Polymorph pervers« heißt stattdessen erst einmal »vielgestaltig« (es gibt viele Formen kindlicher Sexualität) und weiter bedeutet »pervers« hier »partialtriebhaft«. Es geht um zunächst verschiedene, unverbundene Lustquellen, die mit unterschiedlichen Interaktionen und Körperzonen zu tun haben. Freud schreibt: »[D]ie konstitutionelle sexuelle Anlage des Kindes [ist] eine ungleich buntere, als man erwarten konnte, […] sie [verdient,] ›polymorph pervers‹ genannt zu werden« (1906, S. 156). Sie ist noch nicht unter dem vereinigt, was Freud »Genitalprimat« nennt (1905, S. 109ff.). Hier ist ferner das Konzept der erogenen Zonen von Bedeutung, die mit der Auffassung der polymorph perversen kindlichen Sexualität direkt konzeptuell verknüpft sind. Es sind Lustempfindungen und Befriedigungserfahrungen an unterschiedlichen Körperbereichen vorstellbar, also an unterschiedlichen »erogenen Zonen« als deren psychischer/psychosomatischer Repräsentation. Damit will Freud akzentuieren, dass es Körperbereiche sind, an denen Stimulierung und Befriedigung spürbar werden. Definiert wird eine erogene Zone als »eine Haut- oder Schleimhautstelle, an der Reizungen von gewisser Art eine Lustempfindung von bestimmter Qualität hervorrufen« (Freud, 1905, S. 83f.). Zu den erogenen Zonen gehören die Haut, weil sich dort Berührungserfahrungen abspielen, oder Lippen, Zunge, Afterregion u. a. So bilden sich erogene Zonen, die im Zuge von Interaktionserfahrungen psychisch repräsentiert werden und damit zu tun haben, wie es sich anfühlt, einen Körper zu haben und berührt zu werden und zu berühren. Weiter ist allerdings entscheidend, dass für Freud die »Sexualentbindung« in der Kindheit noch nicht so (genital) lokalisiert ist wie im Erwachsenenalter. Erst im Verlauf der Entwicklung kommt es zur »Auflassung von ehemaligen Sexualzonen« (Freud, 1985, S. 302; Brief an Fließ vom 14.11.1897). Mit der »Auflassung« ist hier gemeint, dass die erogene Zone (als Ort von partialtriebhafter, polymorph perverser Lust) ihre (bewusste) Bedeutung zugunsten der Genitalien verliert (und nurmehr der Vorlust statt der »Endlust« dient). Das heißt nun aber nichts weniger als dass genitale Sexualität einer Verdrängung der kindlichen (i. S. v. kindlichen Lustempfindungen) bedarf. In diesem Zusammenhang ist Freuds Bemerkung zur »infantilen Amnesie« (1905, S. 75ff.) zu betrachten.

 

2.1       Die psychosexuellen Entwicklungsphasen

Das führt zur Theorie der psychosexuellen Entwicklungsphasen. Deren Darstellung in nicht-psychoanalytischen Lehrbüchern der Psychologie klingt oft schematisch oder mechanistisch, da den Entwicklungsphasen verschiedene Lebensalter zugeordnet werden. Es wirkt dort ein wenig so, als wäre die kindliche Sexualität ein Maiskorn, das man in der Pfanne erhitzt, bis irgendwann ein Popcorn daraus geworden ist. Ich möchte im Weiteren dafür argumentieren, dass die Art und Folge der Phasen mit früher (leiblicher) Sozialisation zu tun hat.

Wenn man über psychosexuelle Entwicklungsphasen aus Sicht der Psychoanalyse nachdenkt, muss man eine Bemerkung von Freud voran schicken. Er geht von der »konstitutionellen Bisexualität« des Menschen aus (Freud, 1905, S. 40ff.), das heißt, es ist für uns nicht vorgezeichnet, welche Menschen bzw. Geschlechter wir lieben und mit welchen wir Sexualität haben – auch im genitalen Sinne. Freuds Homosexualitätskonzeption ist (aus heutiger Perspektive betrachtet) insgesamt ein wenig schwierig (Images Kap. 5.2.1). Es gibt unterschiedliche Bemerkungen, in denen sich oft auch ein eher normativer Sexualitätsbegriff finden lässt. Sieht man seine Auffassung vor dem zeitgeschichtlichen sexualwissenschaftlichen Hintergrund der vorletzten Jahrhundertwende, wird jedoch deutlich, dass es einigermaßen progressiv ist zu postulieren: Wenn jemand heterosexuell empfindet und lebt, dann ist das erst einmal genauso erklärungsbedürftig, wie wenn jemand homosexuell empfindet und lebt, denn beides sind Einschränkungen gegenüber der konstitutionellen Bisexualität. Sowohl Hetero- als auch Homosexualität bedeutet, dass wir auf etwas verzichten. Bei Freud heißt es dazu: »Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite der normale wie der Inversionstypus [Der von Freud verwendete Terminus für die Homosexualität; TS] entwickeln. Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit« (1905, S. 44).

Das kann als Vorrede zu den psychosexuellen Entwicklungsphasen genommen werden (auch bezüglich der Formulierung ödipaler Konflikte ist es von Bedeutung; Images Kap. 3.1