Zum Thema Die Erzählung vom Auszug aus Ägypten hat das kollektive Gedächtnis Israels zutiefst geprägt. Dieser Grundmythos von der Unterdrückung in ägypten, von der Befreiung aus der Sklaverei und der Gabe des Landes wird bereits in der biblischen Literatur vielfach aufgegriff en und je neu für die eigene Gegenwart ausgelegt. Der vorliegende Band stellt exemplarische Deutungen des Exodus vor und zeichnet den Weg der Rezeptionsgeschichte nach – beginnend in der Hebräischen Bibel über die Literatur des antiken Judentums (hellenistische Literatur, Neues Testament, rabbinische Auslegung) und bis in die Kunst und Musik der Gegenwart hinein.

Herausgegeben von Prof. Dr. Barbara Schmitz, Professorin am Lehrstuhl für Altes Testament und biblisch-orientalische Sprachen, Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

PD Dr. Matthias Ederer, Akademischer Oberrat (a. Z.) am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments, Universität Regensburg.

978-3-460-00741-3 (Print)
978-3-460-51039-5 (E-Book)
www.bibelwerk.de

Der »Sinai auf der Wanderung«

Zur Symbolik des priesterlichen Heiligtums

BERND JANOWSKI

In vielen Exodus-Kommentaren und Bibellexika finden sich Abbildungen, die die sog. »Stiftshütte« von Ex *25,1–40,38 detailgenau wiedergeben und in eine karge Wüstenlandschaft versetzen.1 Das ist eine spezielle Form der Rezeption, die zuweilen mehr über die Rezipienten als über die Autoren dieser Texte aussagt. Ob es dieses Bauwerk allerdings jemals gegeben hat oder ob es fiktional ist2 – mit B. Jacob tendiere ich zum Letzteren3 –, entscheidend ist der Sachverhalt, dass der Textkomplex Ex *25,1–40,38 ein Heiligtum beschreibt, das zwar »keinen historisch fassbaren örtlichen oder zeitlichen Bezug«4 hat, aber dennoch kein realitätsfernes Konstrukt, »kein reines Phantasiegebilde in dem Sinne (ist), dass der Verfasser losgelöst von jeder Wirklichkeit, sich alle diese Dinge ausgedacht habe«5. Vielmehr rekurriert die Priesterschrift auf traditionelle Elemente wie die Lade, die Keruben oder den Altar, denen sie im Rahmen ihrer Heiligtumskonzeption eine neue Bedeutung beilegt.6 Im Übrigen entscheidet sich die Frage des Realitätsbezugs von Ex *25,1– 40,38, wie Chr. Dohmen zu Recht betont hat,

»nicht an historischen und/oder materiellen Möglichkeiten der Verwirklichung dieses Konzepts, sondern kann und muss allein vom Kontext der Sinaiperikope her angegangen und entschieden werden«7.

Und sie sollte, wie ich hinzufüge, auch das Symbolsystem der priesterlichen Heiligtumskonzeption in die Betrachtung einbeziehen. In diesem Sinn wende ich mich zunächst der Komposition von Ex *24,15b– 40,38 (I) und danach der Frage nach ihrer symbolischen Bedeutung (II) zu. Am Schluss soll die Frage nach dem Realitätsbezug des priesterlichen Heiligtums noch einmal aufgenommen werden (III).

I. Zur Komposition von Ex *24,15b–40,38

»Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. Und sie lagerten in der Wüste« (Ex 19,1.2aβ). Mit dieser Itinerarnotiz beginnt die priesterliche Sinaigeschichte Ex *24,15b–40,38,8 in der sich viermal die theologisch gewichtige Wendung šākan (»sich niederlassen, wohnen«) + Subj. JHWH / »Herrlichkeit JHWHs« / »Wolke« findet (Ex 24,16; 25,8; 29,45 f.; 40,35).9 Im Zentrum dieses großen Textkomplexes stehen, gerahmt von den beiden Berichten über das Erscheinen des kebôd JHWH auf dem Sinai (Ex 24,15b–18a) und seiner Gegenwart auf dem Zeltheiligtum (Ex 40,17.34 f.), die Anweisungen zum Bau des Heiligtums (Ex *25,1–31,18) sowie der Ausführungsbericht des Heiligtumsbaus (Ex *35,1–40,38). Die vier šākan-Texte stehen dabei an markanten Punkten des Erzählzusammenhangs:

24,15b–18a: Erscheinen des kebôd JHWH auf dem Sinai

24,15b Und die Wolke bedeckte den Berg,
16 und die Herrlichkeit JHWHs ließ sich auf dem Berg Sinai nieder (šākan),
und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage lang.
Und er (JHWH) rief Mose am siebten Tag mitten aus der Wolke.
17 Und die Erscheinung der Herrlichkeit JHWHs war wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Augen der Israeliten.
18a Und Mose ging mitten in die Wolke hinein, und er stieg auf den Berg hinauf.

*25,1–39,43: Bau des Heiligtums

*25,1–31,18: Anweisungen + Ankündigung (Gottesrede)

25,8 Sie sollen mir ein Heiligtum machen,
und ich werde in ihrer Mitte wohnen (šākan).
9 Entsprechend allem, was ich dir zeige, das Modell der Wohnstätte und das Modell all ihrer Geräte,
so sollt ihr (es) machen.
29,43 Dort werde ich den Israeliten begegnen, und er wird geheiligt werden10 durch meine Herrlichkeit.
44 Ich werde das Zelt der Begegnung und den Altar heiligen, und Aaron und seine Söhne werde ich heiligen, um mir Priester zu sein.
45 Und ich werde inmitten der Israeliten wohnen (šākan)
und ich werde ihnen Gott sein,
46 damit sie erkennen, dass ich JHWH, ihr Gott bin, der sie aus dem Land Ägypten herausgeführt hat, um in ihrer Mitte zu wohnen (šākan).
Ich bin JHWH, ihr Gott.

*35,1–40,33: Ausführung + Billigung + Segnung (Bericht)

39,32 So wurde die ganze Arbeit an der Wohnstätte des Zeltes der Begegnung vollendet.
Die Israeliten hatten (sie) gemacht, entsprechend allem, was JHWH dem Mose geboten hatte, so hatten sie (es) gemacht.
43 Und Mose sah die ganze Arbeit, und siehe, sie hatten sie gemacht, wie JHWH geboten hatte, so hatten sie (sie) gemacht.
Und Mose segnete sie.

40,*34–38: Gegenwart des kebôd JHWH auf dem Zeltheiligtum

40,34 Und die Wolke bedeckte das Zelt der Begegnung, und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte.
35 Und Mose konnte nicht in das Zelt der Begegnung hineingehen, denn die Wolke hatte sich auf ihm niedergelassen (šākan), und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte.

Während sich die šākan-Aussagen Ex 24,16 und Ex 40,35 jeweils in den Rahmenstücken 24,15b–18a und Ex 40,34 f. finden, gehören Ex 25,8 und Ex 29,45 f. zum Mittelstück (Ex *25,1–39,43) der priesterlichen Sinaigeschichte. Hier wiederum bildet die JHWH-Rede Ex 29,43–46 den sachlichen Höhepunkt:

Begegnen JHWHs

Wohnen JHWHs

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Siglen: BF = Bundesformel, EF = Erkenntnisformel, HF = Herausführungsformel, SF = Selbstvorstellungsformel.

Diese JHWH-Rede stellt »eine pointierte Zusammenfassung der Gedanken von P über den Sinn des gesamten Heiligtums samt seiner Priesterschaft dar«11 und kann deshalb als Mitte der priesterlichen Sinaierzählung bezeichnet werden.12 Denn dieses Zeltheiligtum, dessen himmlisches »Modell« (tabnît)13 Mose auf dem Sinai gezeigt wird (Ex 24,15b–18a) und dessen Herstellungsanweisungen Ex 26,1–27,21 detailliert entfalten, ist nach Pg der irdische Ort, an dem JHWH inmitten seines Volkes »wohnen« (Ex 25,8) oder – wie Ex 29,43–46 formuliert – an dessen Eingang er den Israeliten »begegnen« will (jʿd nif. V. 43). Dabei führt in Ex 29,43–46 die thematische Linie vom jʿd nif. »begegnen, sich offenbaren« (V. 43) über das qdš pi. »heiligen« (V. 44) zu den šākan-Aussagen in V. 45a und V. 46aγ, denen mit ihren formelhaften Wendungen (Bundes-, Erkenntnis-, Selbstvorstellungs-, Herausführungsformel) eine rahmende Funktion zukommt. Mit diesem Stilmittel hat die Priesterschrift erreicht, dass das Wohnen JHWHs in Israel nicht als solches akklamiert wird, sondern dass es – und damit wird das Wohnen JHWHs auf seinen tiefsten Bedeutungsgehalt zurückgeführt – Ausdruck des Bundesgedankens von V. 45b (»und ich werde ihnen Gott sein«) ist:

»Dieser Bund ist eben keine abstrakte Idee, sondern Teil des Geschehens, das Israel an den Sinai gebracht hat. Nur deshalb kann und muss JHWH sich selbst – wie bei der Dekalogeröffnung – als Gott Israels durch die ›Herausführungsformel‹ (›der ich sie aus dem Land Ägypten herausgeführt habe‹) vorstellen. Wenn das Ziel der Herausführung aus Ägypten im Wohnen in der Mitte der Israeliten (so V. 46) – mittels des Heiligtums – besteht, dann entsteht daraus eine tiefe Fundierung für den künftigen Gottesdienst, insofern er die Freiheit der von JHWH Befreiten feiernd weiterträgt.«14

Schlägt man von dieser Sinnmitte der priesterlichen Sinaigeschichte einen Bogen zu der die Sinaierzählung abschließenden Darstellung in Ex 40,34 f., so wird deutlich, dass mit dieser ›Besitzergreifung‹ des Heiligtums durch die »Herrlichkeit JHWHs« das auf dem Sinai begonnene Geschehen der Gottesbegegnung (Ex 24,15b–18a) zu seinem (vorläufigen) Abschluss kommt:

40,34 Und die Wolke bedeckte das Zelt der Begegnung, und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte. vgl. 24,5b
35 Und Mose konnte nicht in das Zelt der Begegnung hineingehen,
denn die Wolke hatte sich auf ihm niedergelassen, vgl. und die Herrlichkeit JHWHs erfüllte die Wohnstätte. 24,16aα

Mit diesem ›Ortswechsel‹ vom Sinai zum Zelt der Begegnung (ʾohœl môʿed) repräsentiert dieses von nun an – gleichsam als der ›Sinai auf der Wanderung‹ – den Ort der Gegenwart JHWHs in Israel. B. Jacob (1862–1945) hat diesen Zusammenhang erstmals in seinem Pentateuch-Kommentar von 1905 beschrieben und das Begegnungszelt als »wandelnden Sinai« bezeichnet:

»Das Stiftszelt ist ein wandelnder Sinai. Aber die dauernde Wohnung Gottes war auch der Sinai nicht gewesen, dorthin war er erst vom Himmel hinabgestiegen, um zu Mose und dem Volke zu reden. Also ist das Stiftszelt ein Stück auf die Erde mitten unter ein Volk versetzter Himmel.«15

Diese Perspektive soll im Folgenden aufgenommen und durch zusätzliche Beobachtungen weitergeführt werden.

II. Zur Symbolik des priesterlichen Heiligtums

Wie der Überblick zur Komposition von Ex *24,15b–40,38 zeigt, konstruiert die priesterliche Sinaigeschichte einen heiligen Raum, in dem sich die Gottespräsenz als »Einwohnung« (Terminus šākan »sich niederlassen, wohnen«) ereignet und »durch die für diese Präsenz eine Möglichkeit geschaffen ist«16. Die mit dieser Gottespräsenz verbundene Symbolik ist komplex und lässt sich, wie die folgende Übersicht zeigt, anhand der intertextuellen Beziehungen zwischen Gen *1,1–2,3 und Ex *24,15b– 40,38 erschließen:17 >

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Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist die am Motiv »Sechs Tage/Siebter Tag« (Ex 24,16) ablesbare schöpfungstheologische Dimension der priesterlichen Sinaigeschichte. Ihr wenden wir uns zunächst zu.

1. Das Motiv »Sechs Tage/Siebter Tag«

Dass es Entsprechungen zwischen Sinai und Schöpfung gibt, ist seit längerem gesehen worden.21 Dazu gehört zum einen die Korrespondenz zwischen der Vollendung der Schöpfung und der Errichtung des Heiligtums, wie sie durch die Verben »sehen« in Ex 39,43a // Gen 1,31a, »vollenden« in Ex 39,32a // Gen 2,1 und in Ex 40,33b // Gen 2,2a, »segnen« in Ex 39,43b // Gen 2,3aα und »heiligen« in Ex 40,9b // Gen 2,3aβ angezeigt wird. Gegenüber Gen 1 f. ist die Reihenfolge in Ex 39 f. allerdings verändert:

39,43a Und Mose sah die ganze Arbeit, und siehe, sie hatten sie gemacht, wie JHWH geboten hatte, so hatten sie (sie) gemacht 1,31a Und Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut
39,32a Und er (Mose) vollendete die ganze Arbeit der Wohnstätte des Begegnungszeltes (2, 1Rp Vollendet wurden der Himmel und die Erde und all ihr Dienst)
40,33b Und Mose vollendete die Arbeit 2,2a Und Gott vollendete am siebten Tag seine Arbeit, die er getan hatte
39,43b Und Mose segnete sie (sc. die Israeliten). 2,3aα Und Gott segnete den siebten Tag
40,9b du sollst sie (sc. die Wohnstätte) heiligen und alle ihre Geräte, dass sie heilig seien 2,3aβ und heiligte ihn

Zum anderen wird die Korrespondenz zwischen Sinai und Schöpfung am Motiv »Sechs Tage/Siebter Tag« deutlich, das die Offenbarung JHWHs am Sinai (Ex 24,*15b–18a: 6 Tage/7. Tag) in Analogie zum Schöpfungshandeln Gottes am Anfang (Gen 1,*3–31: 6 Schöpfungstage / Gen 2,2 f.: Ruhen Gottes am 7. Tag) bringt:22

2 Und Gott vollendete am siebten Tag seine Arbeit, die er getan hatte, und er hörte am siebten Tag auf mit all seiner Arbeit, die er getan hatte.
3 Und Gott segnete den siebten Tag und er heiligte ihn:
denn an ihm hörte er auf mit all seiner Arbeit, die Gott geschaffen hatte, indem er (sie) tat. (Gen 2,2 f.)
15b Und die Wolke bedeckte den Berg,
16 und die Herrlichkeit JHWHs ließ sich auf dem Berg Sinai nieder, und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage lang.
Und er (JHWH) rief Mose am siebten Tag mitten aus der Wolke.
(Ex 24,15b–16)

Dieser Sachverhalt weist darauf hin, dass mit Ex *24,15b–40,38 offenbar das Ziel der priesterlichen Schöpfungsgeschichte konkretisiert und das Wüstenheiligtum »Teil des Schöpfungsgeschehens«23 wird. G. von Rad hatte den »ungeheuren theologischen Anspruch dieser Darstellung«24 folgendermaßen beschrieben:

»Man kann von Israels Gottesdienst offenbar nur dann sachgemäß reden, wenn man ihn vor diesem Hintergrund her versteht; erst dann ist alles in das ihm gebührende Maß gerückt. P will allen Ernstes zeigen, daß der im Volke Israel historisch gewordene Kultus das Ziel der Weltentstehung und Weltentwicklung ist. Schon die Schöpfung ist auf dieses Israel hin angelegt worden.«25

So bedeutsam dieser Zusammenhang von Weltschöpfung und Heiligtumsbau ist, so wenig lässt er sich auf die Formel bringen, dass am Sinai der Urzustand der Schöpfungswoche wiederhergestellt und die Schöpfung »vollendet« wird.26 Denn zwischen jener Welt des Anfangs und dem Geschehen am Sinai liegen die Flut, die Unterdrückung in Ägypten und die Ereignisse am Meer, aus der Noah und die Arche bzw. aus denen die Israeliten durch göttliches Eingreifen errettet wurden. Zwischen Schöpfung und Sinai verläuft die Geschichte Israels deshalb nicht einfach linear, sondern sie wird mehrfach gebrochen und jeweils durch das rettende Eingreifen JHWHs weitergeführt, indem dieser »auf die ›Störungen‹ der guten Schöpfung durch seine Geschöpfe, zumal durch die Menschen«27 reagiert – und zwar durch ein Handeln, das den Brüchen des Geschichtsverlaufs das Schöpfungswidrige nimmt und so jeweils einen Neuanfang setzt. Diesen Neuanfang fasst die priesterliche Sinaigeschichte in die Metapher vom »Wohnen« (šākan) des Schöpfergottes inmitten der Israeliten (Ex 25,8; 29,45 f.) und bringt damit zum Ausdruck, dass die in der Schöpfung grundgelegte Hinwendung Gottes zur Welt am Sinai ihr Ziel erreicht, und zwar als Gemeinschaft des Schöpfers mit Israel. Mit diesem seinem Volk

»(schafft) sich der Schöpfer wieder eine ›Heimat‹ in seiner Schöpfung, eine Gemeinschaft, in deren Lebensvollzug (z.B. Speisegesetze; solidarische Ethik) und Ergehen (vgl. die Segensperspektive in Lev 26) die schöpfungswidrige Gewalt in ihre Schranken gewiesen werden soll, die aber gleichwohl der noachitischen Menschheit angehörig bleibt«28.

In tempelloser Zeit (Exil) kehrt die Priesterschrift also gedanklich an den Sinai zurück und geht von dort den langen Weg durch die Wüste bis ins gelobte Land – in Gegenwart des Zeltes der Begegnung und seines dort erscheinenden Gottes.

2. Die Metapher der »Begegnung«

Mit Ex 24,15b–18a ist ein zweiter Aspekt verbunden, der für das Symbolsystem der priesterlichen Heiligtumskonzeption konstitutiv ist. Mose, so heißt es in Ex 24,16b, wird am siebten Tag von JHWH mitten aus der Wolke gerufen und, so setzt Ex 24,18a fort, »er ging mitten in die Wolke hinein, und er stieg auf den Berg hinauf«. Dieser Szene kommt aufgrund ihrer Erzählstruktur eine programmatische Bedeutung zu. Denn die beiden aufeinander zugehenden Bewegungen – das »Sich Niederlassen« (šākan) der Herrlichkeit JHWHs auf den Sinai und das »Hineingehen« (bôʾ) Moses in die Wolke – führen zu einer Begegnung zwischen Gott und Mensch, die den für die priesterliche Heiligtumskonzeption bezeichnenden Terminus »Zelt des Sich-Treffens/der Begegnung« (ʾohœlmôʿed)29 der Sache nach (!) vorweg nimmt. »Das einmalige Ereignis vom Sinai«, so hat es C. Westermann ausgedrückt,

»wird zum schlechthin Stetigen im Tempelgottesdienst, der heiliges Geschehen allein durch den, Ex 24,15 dargestellten Vorgang wird: Gott läßt sich auf den heiligen Ort herab, um zu seinem Volk zu reden; auf den Ruf Gottes hin (der jetzt im Gottesdienst institutionalisiert wird) geht der Priester als Mittler des heiligen Geschehens in das Heiligtum hinein«30.

Es ist diese im Sinaiereignis begründete Relation von Einmaligkeit und Dauer der Präsenz Gottes, die nach Ex 24,16 auch die dynamische Struktur des göttlichen »Wohnens« (šākan) als ein auf eine »Begegnung« (jʿd nif.) zielendes Verweilen JHWHs bestimmt. Das zeigt sich auch in der zentralen JHWH-Rede Ex 29,43–46, derzufolge JHWH den Israeliten »dort«, d.h. am Eingang des Begegnungszeltes / am Brandopferaltar »begegnen« wird,31 so wie er Mose nach Ex 24,15b–18a – ohne Rekurs auf das Verb jʿd nif. »begegnen, sich offenbaren« – auf dem Sinai und nach Ex 25,22 auf der kapporæt begegnet ist.32 Dieser Sachzusammenhang wird von der Septuaginta aufgelöst und durch alternative Perspektiven ersetzt.

Exkurs: Akzentverschiebungen in der Septuaginta

Die erste Akzentverschiebung in der LXX-Auffassung des priesterlichen Heiligtums besteht darin, dass im gesamten griechischen Pentateuch (Pentateuch-LXX) die Aussage vom »Wohnen« (šākan) Gottes fehlt. Gott »wohnt« nicht im Heiligtum, sondern er »erscheint« dort. »Das ist«, wie
M. Rösel zu Recht anmerkt, »insofern interessant, als die Ex-LXX an allen Stellen, an denen es der MT vorsieht, die Rede vom Wohnen Gottes vermeidet und andere Äquivalente wählt: ϰαταβαίνω [herabsteigen] in 24,16; ἐπιϰληϑήσομαι [angerufen werden] in 29,45 f.; ἐπισϰιάζω [beschatten] in 40,35«33. Damit werden Aussagen über die unmittelbare Präsenz Gottes auf Erden / im Heiligtum vermieden und stattdessen die »Idee des kontingenten Erscheinens«34 formuliert. In Ex 25,8 f. sieht das folgendermaßen aus (die Änderungen gegenüber MT sind im Folgenden kursiv gesetzt):

8 Und du sollst mir ein Heiligtum machen, und ich werde unter euch erscheinen (ὀφϑήσομαι ἐν ὑμῖν).
9 Und du sollst mir bei allem genau das machen, was ich dir auf dem Berg zeige, das Urbild (παράδειγμα) des Zeltes (σϰηνή)35 und das
  Urbild (παράδειγμα) aller seiner Ausstattungsgeräte, so sollst du (es) machen.

Eine zweite Akzentverschiebung ergibt sich in Ex 25,9 bei der Übersetzung des hebräischen tabnît »Modell, Bauplan«36 durch παράδειγμα »Urbild« (und in Ex 25,40 durch τύπος »Urbild, Form«). Dadurch verstärkt sich der Eindruck, dass die Septuaginta »offensichtlich von der Vorstellung eines himmlisch-präexistenten Heiligtums aus(geht)« und dabei möglicherweise »Kategorien eines platonischen Urbild-Abbild-Schemas«37 im Hintergrund stehen, die in der Folge Ansatzpunkte für Philos Verständnis des himmlischen/irdischen Heiligtums (in seiner Schrift De Vita Moysis II 146 ff.) geliefert haben.38

Eine dritte, mit den genannten Änderungen zusammenhängende Akzentverschiebung liegt bei der Übersetzung vonʾohœl mô ʾed »Zelt der Begegnung« mit σϰηνὴ τοῦ μαρτυρίoυ »Zelt des Zeugnisses« vor. Das bedeutet, dass das Heiligtum nicht der Ort der Begegnung zwischen JHWH und Mose/Israel, sondern der »Bezeugung Gottes durch seine Gebote«39 ist. Dazu passt, dass in der Ex-LXX jʿd nif. »begegnen, sich offenbaren« in Ex 25,22; 29,42; 30,6 und 30,36 mit passivischem γινώσϰω »sich bekannt machen« übersetzt wird. Statt der Begegnung zwischen Gott und Mensch steht die Bezeugung Gottes durch seine Tora im Mittelpunkt der Ex-LXX.

3. Das »Modell« des Heiligtums und seiner Geräte

Nachdem Mose »am siebten Tag« in die Wolke hineingegangen war, die sich sechs Tage lang auf dem Sinai niedergelassen hatte (Ex 24,15b–18a), ergeht die JHWH-Rede mit den ausführlichen Anweisungen zum Bau des Heiligtums und aller seiner Geräte an ihn (Ex *25,1–31,18). Gleich im »göttlichen Spendenaufruf«40 von Ex 25,1–9 begegnet dabei nicht nur der theologische Leitbegriff vom »Wohnen« (šākan) JHWHs inmitten der Israeliten, sondern auch der für die priesterliche Heiligtumskonzeption aufschlussreiche Terminus tabnît:

8 Sie sollen mir ein Heiligtum machen, und ich werde in ihrer Mitte wohnen (šākan).
9 Entsprechend allem, was ich dir zeige, das Modell (tabnît)
  der Wohnstätte (miškān) und das Modell (tabnît) all ihrer Geräte, so sollt ihr (es) machen.

Der zweite tabnît-Beleg innerhalb von Ex *25,1–40,38 findet sich am Schluss der Anweisungen zur Herstellung des siebenarmigen Leuchters in Ex 25,31–40. Wichtig dabei ist der Rückverweis auf Ex 25,8 f.:

Und sieh zu und mach (es) nach ihrem Bauplan (tabnît),

der dir auf dem Berg gezeigt wurde. (Ex 25,40)41

Was ist hier und in Ex 25,9 mit dem Begriff tabnît gemeint: ein himmlisch-präexistentes Heiligtum nach dem Vorbild der LXX-Übersetzung42 oder eher ein göttlicher Bauplan? Von der Wortbildung her ist tabnît eine taqtil-Nominalbildung von bānāh »bauen«, die »die Beziehung eines künstlich geschaffenen Gebildes zu einer ihm entsprechenden gestalthaften Wirklichkeit als formale Entsprechung und Ähnlichkeit akzentuiert«43. Die allgemeine Bedeutung »Gebilde, Gestalt«44 kommt dem am nächsten. Konkret gibt es bei den 20 alttestamentlichen tabnît-Belegen allerdings Bedeutungsnuancen, die mit dem jeweiligen Kontext zusammenhängen und die sich folgendermaßen zuordnen lassen:45

Vorbild zu etwas noch zu Schaffendem

»Modell, Bauplan, Entwurf«

Ex 25,9 (Heiligtum, 2mal).40 (Leuchter mit Lampen); 2 Kön 16,10 (Altar); Ps 144,12 (Palast); 1 Chr 28,11.12 (jeweils Heiligtum); 1 Chr 28,18 (Wagen mit Keruben).19 (alle aufgrund des Plans auszuführenden Arbeiten)

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Abb. 1: Sitzfigur des Gudea mit Griffel und Bauplan

Nachbildung einer gestalthaften Wirklichkeit

»Abbild, Ebenbild, Figur«

Jos 22,28 (Altar); Dtn 4,16–18 (Götzen- und Tierbilder, 5mal); Jes 44,13 (Bild eines Mannes // »prächtiges Bild« eines Menschen«); Ez 8,10 (Wandreliefs von Gewürm und Vieh); Ps 106,20 (Rind, das Gras frisst)

Ähnlichkeit zwischen zwei Größen

»Entsprechung, etwas wie«

Ez 8,3; 10,8 (Hand)

Für das Verständnis von Ex 25,8 f., wo mit der Wendung »entsprechend allem, was ich dir zeige« (V. 9) auf die Urszene von Ex 24,15b–18a zurückverwiesen wird, ist nicht nur die Bedeutung von tabnît »Modell, Bauplan«46 ausschlaggebend, sondern auch der Sachverhalt, dass das Heiligtum von den Israeliten gemacht werden soll, und zwar aus den freiwilligen Gaben »von jedem, den sein Herz dazu treibt« (Ex 25,2).47

B. Jacob hat zu Recht angemerkt, dass die Adressierung an die Israeliten als Tempelerbauer ein Proprium der priesterlichen Heiligtumskonzeption im Unterschied zu 1 Kön 5,15–32; 6,1 ff. sowie zu altorientalischen Tempelbauberichten ist.48 Dort ist der König der Tempelerbauer. Als Beispiel sei die Sitzfigur des Stadtfürsten Gudea von Lagasch (ca. 2144–2124 v. Chr.) mit einem von ihm erstellten Bauplan auf den Knien (s. Abb. 1) sowie seine große Tempelbauhymne angeführt. Danach hatte der Hauptgott Ningirsu von Girsu (Tello) Gudea im Traum den Gott Ninduba (den Herrn der Tafel) sehen lassen, der eine Tafel aus Lapislazuli in der Hand hielt und auf diese den Grundriss des Tempelhauses eingravierte:

2 Desweiteren war dort ein Held.
3 Er beugte den Arm (und) hielt eine Lapislazulitafel in der Hand.
4 Darauf legte er den Plan des Hauses. (Zylinder A V 2–4)49

Der Gott Ningirsu ist der Bauherr, der Gott Ninduba der Architekt und der Fürst Gudea von Lagasch ausführendes Organ. Er hat, wie die Sitzfigur zeigt (Abb. 1), den Bauplan gezeichnet, aber im Auftrag der Gottheit.50

Im Unterschied dazu drückt der priesterliche Heiligtumsentwurf eine durch Mose vermittelte Beziehung der Israeliten zu Gott aus, der

»selbst nicht nur an(gibt), was für Materialien zu liefern seien, sondern auch, was für Gegenstände angefertigt werden sollen und in welcher Gestalt. Nur so konnte Israel sicher sein, dass das Werk in allen Stücken dem Wesen Gottes als des Heiligen gemäß sei, also auch die erziehlichen Aufgaben erfüllen und zu dem Endziel leiten könne, um deretwillen ER diese Veranstaltung angeordnet habe: ›Sie sollen mir ein miqdāš machen, und ich werde in ihrer Mitte mich niederlassen‹ (25,8)«51.

Diese Perspektive wird in Ex 25,10–16 (Anweisungen zum Bau der Lade) und vor allem in Ex 25,17–22 (Anweisungen zum Bau der kapporæt) aufgenommen und konkretisiert.

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Abb. 2: Grundriss des priesterlichen Begegnungszeltes

a) Lade und kapporæt

Von einer Gottesbegegnung ist nach Ex 24,15b–18a das erste Mal in Ex 25,17–22 die Rede und zwar in Bezug auf Mose, mit dem JHWH reden wird »von (dem Ort) zwischen den beiden Keruben, die auf der Lade des Zeugnisses sind« (Ex 25,22). Diese Lade steht im Zentrum des Allerheiligsten und bildet in der Anlage des Heiligtums das Gegenstück zum Brandopferaltar im Vorhof (s. Abb. 2).

Die kapporæt genannte, auf einem offenen Kasten (ʾārôn »Lade«) platzierte Goldauflage, die ihrerseits zwei aus den Plattenenden getriebe ne Keruben trägt, verdankt ihren Namen nicht ihrer äußeren Position, sondern der »Funktion im Rahmen des Ritualsystems zur Sühne (vgl. Lev 4,3–21; 16)«52. Sie ist deshalb und aufgrund des etymologischen Zusammenhangs mit kippær »sühnen, Sühne schaffen« oder »Versöhnung erwirken«53 am besten mit »Sühnmal, Sühneort« zu übersetzen. Mit einem »Deckel« auf der Lade, so manche Bibelübersetzungen, hat dieser Kultgegenstand nichts zu tun.54 Seine Anfertigung wird in Ex 25,17–22 (Ps) angeordnet:

Wie dieser Text (und dazu Ex 25,10–16) zeigt, ist die Lade nur ›technisch‹ mit der kapporæt verbunden, um die Transportabilität dieses unberührbaren Kultgegenstands zu ermöglichen, d. h. sie fungiert als tragbarer (Ex 25,13–15), kastenförmiger Sockel oder Untersatz der kapporæt. In theologischer Hinsicht markiert diese den Ort der Gottesnähe, an dem JHWH nach Ex 25,22 Mose begegnen und mit ihm alles reden wird, was er ihm für die Israeliten auftragen wird. War die Bedeutung der beiden Keruben im salomonischen Tempel – als Tragtiere des »Kerubenthroners« (jošeb hakke rûbîm)56 markieren sie die Grenze zur göttlichen Sphäre – wesentlich darauf zurückzuführen, daß an diesem Ort himmlischer und irdischer Bereich ineinander übergehen (vgl. 1 Kön 6,23–28 = 2 Chr 3,10–13),57 so wird die Art der Gottesgegenwart im Begegnungszelt nach Ex 25,22 anders bestimmt: nicht als ein »Thronen« (jāšab) auf / über den Keruben, sondern als ein »Begegnen« (jʿd nif.) und als ein »Reden« (dibbær) JHWHs mit Mose von der kapporæt aus, genauer »von (dem Ort) zwischen den beiden Keruben aus, die auf der Lade des Zeugnisses sind«.

Schlägt man von hier einen Bogen zur Ritualüberlieferung des Großen Versöhnungstages in Lev 16,58 so rückt die priesterliche Theologie der Begegnung zwischen Gott und Mensch noch einmal in ein besonderes Licht. Denn in dem zeichenhaften Blutritus von V. 14 f. wird das schuldig gewordene Israel in Kontakt mit dem sich auf der kapporæt offenbarenden Gott gebracht, der hier Aaron, dem kultischen Repräsentanten seines Volks, »begegnet«. Von ihm heißt es:

Das ist das Herzstück des Rituals des Großen Versöhnungstags, denn:

»In einer Zeremonie (sc. dem Blutritus), die das Nahekommen zu Gott bis zur letzten materiellen Berührung verdichtet und doch die äußerste Sublimität der Berührung in der Sprengung des Tropfens wahrt, wird das Urphänomen der heiligenden Gottesbegegnung vollzogen, der Kontakt des sich offenbarenden Gottes und des sich ganz und gar hingebenden Menschen.«60

Die kostbarste Gabe, die JHWH seinem Volk zur Versöhnung gegeben hat, ist das tierische Blut, in dem, wie Lev 17,11 konstatiert, das »Leben« bzw. die »Lebenskraft, Vitalität« (næpæš) ist.61 Im Zentrum des Begegnungszeltes findet damit eine Gottesbegegnung statt, deren kultsymbolische Bedeutung nicht zu überschätzen ist.

b) Der hohepriesterliche Ornat

Kultsymbolische Bedeutung kommt auch den übrigen Geräten und Sakralgegenständen des priesterlichen Heiligtums zu. Dazu zählen neben der Lade, der kapporæt, dem Schaubrottisch und dem siebenarmigen Leuchter (Ex 25,10–40) die Zeltdecken und Bretter der Wohnung, die Vorhänge, der Räucheraltar (Ex 26–27) sowie die Kleider für den Hohenpriester und die gewöhnlichen Priester (Ex 28).62 Von besonderem Interesse ist dabei der hohepriesterliche Ornat mit seinen drei Hauptbestandteilen63 Ephod, Brusttasche und Kopfbund mit Diadem:64

– Der aus farbigem Mischgewebe hergestellte Ephod (ʾepôd Ex 28,6) ist eine Art Lendenschurz, an dessen beiden Trägern in Schulterhöhe zwei Karneolsteine mit den eingravierten Namen der 12 Stämme Israels angebracht sind. Diese Edelsteine werden »Steine der Erinnerung an die Israeliten« genannt und vom Hohenpriester »vor JHWH zum Gedenken« getragen (Ex 28,9–12). Durch diese Bezeichnung soll JHWH daran erinnert werden, dass es die Israeliten waren, die das Heiligtum erbaut haben.

– Die Brusttasche (ḥošæn) ist ebenfalls aus Mischgewebe gefertigt und auf ihrer Vorderseite mit 12 Edelsteinen besetzt, in die jeweils der Name eines der 12 Stämme Israels eingraviert ist (Ex 28,15–21). Die Brusttasche soll Aaron »auf dem Herzen tragen, wenn er in das Heiligtum hineingeht, zur ständigen Erinnerung vor JHWH« (Ex 28,29). In der Brusttasche befinden sich (die ehemaligen Orakelinstrumente) Urim und Tummim. Sie sollen, so heißt es in Ex 28,30, »auf dem Herzen Aarons sein, wenn er vor JHWH tritt. So soll Aaron das Recht (mišpāṭ) für die Israeliten vor JHWH ständig auf seinem Herzen tragen« (vgl. V. 15). Mit der »Brusttasche des Rechts« (Ex 28,15.29 f.) repräsentierte der Hohepriester »das gerechte, im Gesetz niedergelegte, der göttlichen Weltordnung gemäße Verhalten der Israeliten«65.

– Schließlich trägt der Hohepriester einen Kopfbund, an dem sich ein goldenes Diadem, die sog. »Blüte« (ṣîṣ), befindet (Ex 28,36–38). Auf der Blüte stehen die Worte: »Heilig für JHWH«.

So ist der hohepriesterliche Ornat ebenso wie die Ausstattung des Heiligtums und seiner Geräte integraler Bestandteil des priesterlichen Symbolsystems. Durch seine Farbgebung, die der Farbgebung des Heiligtums entspricht, erscheint sein Träger, der kultische Repräsentant Israels, »als Teil der göttlichen Sphäre«66. Wenn er das Heiligtum betritt, ereignet sich »eine Begegnung zwischen Gott und dem Volk (Ex 25,22), in der die Verpflichtung des Volkes auf die göttliche Weltordnung, aber auch der Anspruch des Volkes als Stifter des Heiligtums vergegenwärtigt werden«67.

III. Das Heiligtum als Symbol der Gottesnähe

Kommen wir am Schluss noch einmal auf die Ausgangsfrage nach dem Realitätsbezug von Ex *24,15b–40,38 zurück. Für ihre Beantwortung ist die These B. Jacobs leitend, dass »das Heiligtum der Tora … nur aus der Tora erklärt werden (kann)«68. Diese These trifft sich mit der Überzeugung Chr. Dohmens, dass die Frage des Realitätsbezugs von Ex *24,15b– 40,38 nicht von den materiellen Möglichkeiten der Umsetzung des Tempelbauplans in historische Wirklichkeit – wie kommt man in der kargen Sinaiwüste an die kostbaren Baumaterialien, von denen im göttlichen Spendenaufruf von Ex 25,3–7 die Rede ist? –, sondern allein vom Kontext der Sinaiperikope her entschieden werden muss.69

Im Blick auf diese Frage stehen sich in der Regel zwei Positionen gegenüber: die fundamentalistische Behauptung, dieses Bauwerk habe es während Israels Wüstenwanderung tatsächlich gegeben, und die rezeptionsästhetische Hypothese, dass es sich um ein »Heiligtum im Kopf der Leser«70 handle. Während es für jene Behauptung keinerlei Plausibilität gibt,71 hat die rezeptionsästhetische Hypothese einiges für sich. Sie wird etwa von F. Bark vertreten, die das Wüstenheiligtum als »Möglichkeitsraum« versteht, der »durch den Prozess des Lesens immer wieder aktualisierbar und damit ahistorisch und radikal diasporisch«72 ist. Und H. Liss argumentiert, dass die Priesterschrift mit dem Begegnungszelt

»weder ein Abbild bestehender Zustände noch einen idealen Entwurf, eine Utopie, zeichnen wollte. Mit dem Rückgriff auf bereits vergangene oder noch bestehende kultische Institutionen und ihrer Ausstattung sowie ihrer gleichzeitigen konsequenten Verfremdung etabliert P einen Kultus im Text. Kultische Einrichtungen und darin die Begegnung mit YHWH werden so gleichsam aus ihrem Geschichtsraum heraus in einen ›Text-Raum‹ hinein transportiert, weil nur durch die Aufgabe des Konzeptes eines ›Gottes in der Geschichte‹ Israel seinem Gott nicht in der Geschichte, sondern (weiterhin!) trotz der Geschichte begegnen kann. Eben darin wird das eröffnet, was ich einen›Auslegungs–Raum‹ nennen möchte, für den der ›Kanon‹ zwingend notwendig ist. Gottes ›Sich–Treffen–Lassen‹ findet im Text statt«73.

Ist diese Sicht plausibel oder zu abstrakt? Einwände dagegen kommen etwa von O. Keel, der am Beispiel des hohepriesterlichen Ornats darauf hinweist, dass manche Entwürfe der Priesterschrift real ausgeführt worden sind und der »von der Geschichte völlig abgekoppelte ›Text-Raum‹ … ein etwas zu literaturwissenschaftliches Verständnis der P sein dürfte«74. Überdies hatten, wie J. Assmann ergänzt, »die Autoren (sc. der Priesterschrift) eine sehr konkrete Vorstellung vor Augen (…), die sie ihren Lesern mit äußerster Detailgenauigkeit vermitteln wollten«75.

Assmanns Hinweis auf Konkretion ist, wie man sich am Beispiel der Anweisungen zur Herstellung der Lade (Ex 25,10–16, vgl. Ex 37,1–5) klar machen kann, allerdings noch kein hinreichender Einwand gegen das literaturwissenschaftliche Verständnis der priesterlichen Heiligtumstexte. Denn, so noch einmal B. Jacob, »die gedachte Lade ist dasselbe wie die reale«76. Ihr Realitätsgehalt besteht nicht in einer außertextlichen Wirklichkeit – also in einem Kasten aus mit Gold überzogenem Akazienholz, der für die Herstellungsanweisungen von Ex 25,10–16 Modell gestanden hätte –, sondern in einer Wirklichkeit, die allein der Text imaginiert und in aller Materialität und Detailgenauigkeit vor Augen stellt. »Gottes ›Sich-Treffen-Lassen‹ findet im Text statt«77 – so H. Liss u.a. –, sie reicht aber über den Text hinaus und bestimmt die geschichtliche Situation derer, die die Heiligtumstexte lesen und nachvollziehen, um eine Antwort auf die Frage nach ihrer Identität als Volk Gottes zu erhalten. Insofern ist das priesterliche Heiligtum das Realsymbol der Gottesnähe, das als »Sinai auf der Wanderung«78 dem exilierten Gottesvolk die Möglichkeit bot,

»in der glaubenden Vergegenwärtigung des Wanderheiligtums der Nähe seines Gottes auch fern der Heimat versichert zu bleiben. (…) So hat der Priester den Heimatvertriebenen die Kultgemeinschaft des Geistes erschlossen und ihr gleichzeitig für die Stunde der Heimkehr, deren man harrte, die Möglichkeit ihrer realen Neubegründung eingesenkt durch die liebevolle Bewahrung aller Einzelheiten des Tempels und des einst dort gepflegten kultischen Brauches«79.

Dass es dann anders kam und der zweite Tempel weder nach den Anweisungen von Ex *25,1–31,18 noch nach dem Entwurf von Ez 40–48 erbaut wurde, steht auf einem anderen Blatt. Der inner- und nachbiblischen Rezeptionsgeschichte der priesterlichen Heiligtumstexte80 tat das aber keinen Abbruch.

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Notizen

1 S. dazu die Hinweise bei ASSMANN, Exodus, 343 ff. und UTZSCHNEIDER, Raum, 19 f.23 ff. Zum quellensprachlichen Ausdruck »Zelt der Begegnung« (statt Luthers »Stiftshütte«) s. unten.

2 Vgl. hierzu die Rekonstruktion des priesterlichen Begegnungszeltes bei PROPP, Exodus 19–40, 499 Fig. 17.

3 S. dazu JACOB, Pentateuch, 342 ff.; JACOB, Exodus, 756 ff.855 ff. und unten. Zur Konzeption B. Jacobs s. zuletzt HECKL, Text, 185 ff.

4 UTZSCHNEIDER, Raum, 23.

5 JACOB, Pentateuch, 343.

6 Daneben gibt es Kultobjekte wie den siebenarmigen Leuchter in Ex 25,31–39, die keine Vorgeschichte haben (im 1. Tempel waren es zehn Leuchter, s. 1 Kön 7,49, zu Ex 25,31 ff. s. KEEL, Geschichte Jerusalems, 924 ff.). Am Beispiel von Lade (im 1., nicht aber im 2. Tempel) und siebenarmigem Leuchter (nicht im 1., aber im 2. Tempel) zeigt D. Markl, dass im priesterlichen Begegnungszelt »der vorexilische und der nachexilische Tempel hinsichtlich zentraler Objekte gemeinsam ›aufgehoben‹ (sind) in ihrem Ursprung. Eine der Funktionen der Heiligtumstexte dürfte daher darin bestehen, den garstigen Graben, den die Katastrophe des Exils in die Geschichte des Jerusalemer Tempels gerissen hatte, zu überwinden. Das Heiligtum (sc. von P) schafft ursprüngliche Kontinuität zwischen vor- und nachexilischem Tempel« (MARKL, Funktion, 78).

7 DOHMEN, Exodus 19–40, 240. Diesem methodischen Hinweis versucht EDERER, Tamid umfassend nachzukommen.

8 S. dazu ALBERTZ, Exodus 19–40, 12 ff. und ALBERTZ, Beobachtungen, 37 ff. Zur Frage nach dem Ende von Pg s. ZENGER u. a., Einleitung, 190 ff. (Zenger/Frevel).

9 S. dazu JANOWSKI, Sühne, 303 ff.356 f.; Janowski, Tempel, 224 ff.; Janowski, Versöhnung, 134 ff., ferner Dohmen, Exodus 19–40, 273 f.399 ff.; WEIMAR, Sinai, 269 ff.; NIHAN, Torah, 31 ff. u. a.

10 Zum Brandopferaltar als Subjekt von V. 43b (Anschluss an V. 36a.37) s. NIHAN, Torah, 36 f.; ALBERTZ, Exodus 19–40, 226 f. und ALBERTZ, Beobachtungen, 43 ff.

11 KOCH, Priesterschrift, 31.

12 S. dazu JANOWSKI, Sühne, 317 ff., ferner DOHMEN, Exodus 19–40, 273 f.; ALBERTZ, Exodus 19–40, 226 ff.; ALBERTZ, Beobachtungen, 43 ff.; EDERER, Tamid, 247 ff. u. a.

13 S. dazu unten.

14 DOHMEN, Exodus 19–40, 274, vgl. GÖRG, Art. jʿd, 706 u. a.

15 JACOB, Pentateuch, 155 (Hervorhebung im Original), s. auch JACOB, Exodus, 756 f.1031 f. (»wandernder Sinai«) und die Rezeption bei GÖRG, Zelt, 74; JANOWSKI, Sühne, 336 ff.; JANOWSKI, Tempel, 230; UTZSCHNEIDER, Heiligtum, 230 f.; DOHMEN, Exodus 19–40, 273; PROPP, Exodus 19–40, 687 f.; ALBERTZ, Exodus 19–40, 378 f.; ALBERTZ, Beobachtungen, 38 f.; MARKL, Funktion, 65 ff. u. a.

16 BARK, Heiligtum, 88. Bark spricht deshalb vom priesterlichen Heiligtum als »Möglichkeitsraum«, s. dazu unten.

17 S. dazu auch JANOWSKI, Sühne, 306 ff.

18 S. dazu die Hinweise unten Anm. 20.

19 Zum Zusammenhang der »Leuchten« (meʾôrot) der Schöpfung in Gen 1,14–19 und der Menora als »Leuchter« (māʾôr) in Ex 27,20 f. s. EDERER, Tamid, 57 ff.

20 Über die genannten Beziehungen hinaus wird von METTINGER, Abbild, 403 ff. auch eine intertextuelle Beziehung zwischen Gen 1,26.28 (Mensch als »Bild Gottes«) und Ex 25,9.40 (»Modell« der Wohnstätte) behauptet, s. dazu aber bereits die Kritik von ZENGER, Gottes Bogen, 84 Anm. 110, widersprüchlich dagegen BLUM, Komposition, 292 Anm. 17 (kritisch) und 307 mit Anm. 79 (zustim-mend?). Eine »funktionale Entsprechung« zwischen Menschenschöpfung und Heiligtumsbau nimmt dagegen WEIMAR, Sinai, 283 f. an. Anders steht es mit der Analogie zwischen der P-Fluterzählung Gen *6,9–9,29 (speziell dem Bau der Arche Gen 6,*14–16) und der P-Sinaigeschichte (speziell dem Bau des Heiligtums), s. dazu WEIMAR, Sinai, 285.303 ff.

21 S. dazu JACOB, Pentateuch, 157 f.245; WEIMAR, Sinai, 297 ff.; JANOWSKI, Tempel, 223 f.; BÜHRER, Anfang, 126 f.; ALBERTZ, Exodus 19–40, 371 ff., weitere Hinweise bei Bührer, Anfang, 127 Anm. 455. Auch die sieben Entsprechungsformeln in Ex 40,*19–32 dürften an die Weltschöpfung erinnern, vgl. ALBERTZ, Exodus 19–40, 376.

22 S. dazu JANOWSKI, Tempel, 223 ff. und WEIMAR, Sinai, ferner BARK, Heiligtum, 74 ff. u. a.

23 BARK, Heiligtum, 77.

24 VON RAD, Theologie des Alten Testaments I, 246.

25 VON RAD, Theologie des Alten Testaments I, 246 f., s. dazu auch JEREMIAS, Theologie des Alten Testaments, 252 ff. Das 7 Tage-Schema begegnet ein zweites Mal, und zwar in Ex 40,17 bei der Notiz von der Errichtung der Wohnstätte am 1.1. (Neujahrstag!) des 2. Jahres nach dem Auszug aus Ägypten (vgl. Ex 12,1–13.40–42) und in Lev 9,1 (Ps?) bei der Anweisung für den ersten Opfergottesdienst am 8. 1. des 2. Jahres, s. dazu JACOB, Exodus, 1029 und ALBERTZ, Exodus 19–40, 376.

26 S. dazu auch BÜHRER, Anfang, 127.

27 BLUM, Komposition, 330, vgl. JANOWSKI, Tempel, 242 f.

28 BLUM, Komposition, 331, vgl. JANOWSKI, Schöpfung, 521.

29 Zu diesem Syntagma s. JANOWSKI, Sühne, 306 Anm. 175.

30 WESTERMANN, Herrlichkeit Gottes, 120, vgl. JANOWSKI, Sühne, 306.

31 S. dazu oben Anm. 9.

32 Zum Zusammenhang der jʿd nif.-Belege in Ex 25,22 und 29,42.43 s. EDERER, Tamid, 199.239 ff.245 ff. Zu Ex 25,22 s. unten.

33 RÖSEL, Tempel, 453, vgl. SCHWAGMEIER, Exodos/Exodus, 130.134.

34 RÖSEL, Tempel, 454.

35 Da in der Ex-LXX σϰηνή auch für ʾohæl »Zelt« und nicht nur für miškān »Wohnstätte« steht, wird die Differenzierung beider Bezeichnungen für das P-Heiligtum aufgegeben, vgl. RÖSEL, Tempel, 454.456.

36 S. dazu im Folgenden.

37 RÖSEL, Tempel, 454, vgl. SCHWAGMEIER, Exodos/Exodus, 130.

38 S. dazu die Hinweise bei JANOWSKI, Sühne, 311 Anm. 210 und RÖSEL, Tempel, 454 f. Auf diesen Sachverhalt hat bereits JACOB, Exodus, 855 f. aufmerksam gemacht.

39 RÖSEL, Tempel, 456.

40 So ALBERTZ, Exodus 19–40, 153 ff.

41 Zur exakten Ausführung des Heiligtums gemäß der Vision auf dem Sinai s. noch Ex 26,30 und 27,8.

42 S. dazu oben.

43 SCHROER, Bilder, 336.

44 So auch DCH 8, 590 (»construction, form«) und HAL 1554 (»Gebilde, Gestalt«), jeweils s.v. tabnît.

45 S. dazu auch JANOWSKI, Sühne, 311 mit Anm. 210; SCHROER, Bilder, 336 f.; DOHMEN, Exodus 19–40, 247 f., ferner DCH 8, 590 f.; Ges18 1424 und HAL 1554, mit jeweils unterschiedlichen Zuordnungen. Zu tabnît in Texten des rabbinischen Judentums s. EGO, Himmel, 27 ff.36 ff.56 ff.169.

46 Nach DOHMEN, Exodus 19–40, 247 steht im Vordergrund des Interesses von Ex 25,9, dass »die nachfolgenden Instruktionen nur ›Umschreibungen‹ einer Gesamtkonzeption sind, die Mose als Ganze ›vor Augen‹ hat. So werden die Leser davor bewahrt, sich in den Details der nachfolgenden Beschreibungen zu ver lieren«, vgl. DOHMEN, Exodus 19–40, 241 ff., ferner UTZSCHNEIDER, Heiligtum, 211 ff.; EDERER, Tamid, 23 f. u. a.

47 S. dazu ALBERTZ, Exodus 19–40, 153 ff.

48 S. dazu JACOB, Exodus, 857 und zu 1 Kön 5,15–32; 6,1 ff. KNAUF, 1 Könige 1–14, 187 ff.

49 Zitiert nach JANOWSKI / SCHWEMER, Hymnen, 14, vgl. FALKENSTEIN / VON SODEN, Hymnen, 142.

50 Vgl. KEEL, Bildsymbolik, 13.

51 JACOB, Exodus, 857 f., vgl. ALBERTZ, Exodus 19–40, 155 f.

52 GÖRG, Art. Sühnestätte, 727 f., s. dazu ausführlich JANOWSKI, Sühne, 277 ff.443 f. (Lit.).

53 So der Vorschlag von HIEKE, Kult, 144 f.

54 S. dazu außer den Kommentaren JANOWSKI, Sühne, 274 f.340; NIHAN, Torah, 44 ff.; KEEL, Geschichte Jerusalems, 918 und EDERER, Tamid, 216 ff.

55 Zu den textlichen und literarkritischen Problemen s. im einzelnen JANOWSKI, Sühne, 339 ff. und NIHAN, Torah, 48.

56 1 Sam 4,4; 2 Sam 6,2; 2 Kön 19,15 = Jes 37,16; Ps 80,2; 99,1 und 1 Chr 13,6.

57 S. dazu KEEL, Geschichte Jerusalems, 294 ff.305.

58 S. dazu JANOWSKI, Versöhnung, 117 ff. und HIEKE, Levitikus, 557 ff.

59 Wörtlich: »auf die Vorderseite der kapporæt nach Osten/ostwärts«, d.h. auf die Ostseite der kapporæt.

60 GESE, Sühne, 104, vgl. JANOWSKI, Sühne, 129 f.

61 S. dazu JANOWSKI, Sühne, 242 ff.

62 S. dazu außer den Kommentaren auch UTZSCHNEIDER, Raum, 24 ff.

63 Vgl. die Rekonstruktion der Kleidung des Hohenpriesters bei PROPP, Exodus 19–40, 434 Fig. 16.

64 S. dazu KEEL, Brusttasche, 379 ff.; KEEL, Geschichte Jerusalems, 929 ff.; BENDER, Sprache, 228 ff.; STAUBLI, Kleider, 64 ff.; UTZSCHNEIDER, Raum, 28 ff. und EDERER, Tamid, 70 ff.

65 UTZSCHNEIDER, Raum, 30, vgl. EDERER, Tamid, 110 f.

66 UTZSCHNEIDER, Raum, 29.

67 UTZSCHNEIDER, Raum, 30.

68 JACOB, Exodus, 856.

69 Vgl. DOHMEN, Exodus 19–40, 240 und oben.

70 So BARK, Heiligtum, s. dazu im Folgenden.

71 Das hat bereits JACOB, Pentateuch, 342 ff. mit hinlänglicher Deutlichkeit dargelegt.

72 BARK, Heiligtum, 163, vgl. 85 ff.

73 LISS, Kanon, 32 f. (Hervorhebung im Original).

74 KEEL, Geschichte Jerusalems, 913.

75 ASSMANN, Exodus, 382.

76 JACOB, Pentateuch, 346. Der Kontext des Zitats lautet folgendermaßen: »Im zweiten Tempel gab es bekanntlich keine Lade. Das Allerheiligste war leer. Aber war damit nicht das ganze Heiligtum hinfällig und z.B. die Sühnefeier am Versöhnungstage gegenstandslos? Im Gegenteil! Es ist das glänzendste Zeugnis für den Geist des nachexilischen Judentums, dass es einen Tempel baute, obgleich es keine Lade und keine steinerne Tafeln samt der Kapporet mehr hatte. Die gedachte Lade ist dasselbe wie die reale. Die Versöhnung ist nicht abhängig von dem substantiellen Kasten und den Steintafeln. So denkt eine Religion des Geistes. Ihre Tempel können in Trümmer zerfallen, ihre Ideen leben ewig.«

77 LISS, Kanon, 33.

78 S. dazu oben.

79 HENRY, Jahwist, 37 f. Statt vom »Geist« spricht EDERER, Tamid, 573 vom »Text«: die Heiligtumstexte »sind Texte, die darauf angelegt sind, gelesen und studiert zu werden, und die den Leser zum Nachvollziehen der intertextuellen Bezüge und der in diesen aufscheinenden theologischen Sinnlinien animieren wollen« (Hervorhebung im Original).

80 Leider gibt es keine umfassende Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Ex *24,15b–40,38, s. dazu aber HEITHER, Schriftauslegung, 188 ff. und die Beiträge in HOPF u.a., Raum.

Literatur

ALBERTZ, RAINER, Exodus 19–40 (ZBK.AT 2/2), Zürich 2015.

ALBERTZ, RAINER, Beobachtungen zur Komposition der priesterlichen Texte Ex 25– 40, in: HOPF, M./OSWALD, W./SEILER, S. (Hg.), Heiliger Raum: Exegese und Re zeption der Heiligtumstexte in Ex 24–40 (Theologische Akzente 8), Stuttgart 2016, 37–56.

ASSMANN, JAN