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Der Wessex-Dolch

Martina Schäfer

Krimi

 

In honorem Agatha Christie

 

 

 

 

 

©Martina Schäfer 2017

Machandel Verlag

Cover: Elena Münscher

Bildquelle: Chris Talbot (cc by sa/2.0)

Hintergrund: www.pixabay. com

Illustrationen. Wikimedia.org, Lindenschmit,1858, gemeinfrei

Haselünne

2018

ISBN 978-3-95959-118-8

Über die Autorin Martina Schäfer

1952 wurde ich in Düsseldorf geboren, um dort auch zur Schule zu gehen und dann das Abitur mit Bestnoten in Deutsch, Biologie und Geschichte zu vollenden.

Zum Schrecken meiner Vormundstante studierte ich solch angeblich brotlose Künste wie Literatur- Musik- und Theaterwissenschaft in Düsseldorf, Frankfurt, München und Bremen.

Lies mich aber dann doch dazu erweichen, ein anständiges Staatsexamen in Heil- und Sonderpädagogik, sowie den Diplompädagogen in Frankfurt abzuschliessen um dann wacker im Jahre Tschernobyl in Bremen zu promovieren.

Hernach hatte ich das Gefühl, ich hätte wirklich noch nichts Richtiges gelernt, obwohl ich als selbstständige Trainerin und Coach für Kampfsport und Empowerment nicht am Hungertuch nagte und stürzte mich in das Studium der Ur- und Frühgeschichte in Köln, um als Magistra derselben wieder aufzutauchen, mit der Krone meines Bildungsganges, einem Master of Theology auf dem Haupt, in der Schweiz weiter zu schwimmen.

Entsprechend diesem Lebenslauf als poeta docta füllte ich viele Seiten mit belletristischen aber auch fachwissenschaftlichen Texten, die teilweise in unendlichen Ordnerreihen auf dem Dachboden dahin vegetieren, teilweise sich in unergründlichen Tiefen meines Computers aufhalten und nach dem Tageslicht der Veröffentlichung gieren, teilweise tatsächlich an die Oberfläche eines allgemeineren Bewusstseins gelangten, teilweise als Fachliteratur zur Gewaltprävention und interreligiöser Kommunikation, teilweise als schillernde Fischlein aus Fantasy- und Kriminalroman.

Mehr dazu findet sich auch auf meiner Website

www.martinaschaefer.ch/

Von der Autorin bereits im Machandel Verlag erschienen:

 

 

Pfahlbaudorfmord

Mord im Pfahlbaudorf

Krimi

262 Seiten, Taschenbuch und Ebook

Archäologen beschäftigen sich mit Toten. Allerdings sind diese für gewöhnlich schon sehr lange tot. Und auf keinen Fall aus ihren eigenen Reihen.

Genau das ändert sich, als Dr. Johanna Schmid und Prof. Joachim Drahm bei einer Tagung einen ihrer Kollegen ermordet auffinden. Pikanterweise genau jenen Kollegen, der gerade in seinen Ausgrabungen einen Mord in der Steinzeit festgestellt hat.

Kann es sein, dass diese beiden Morde über Jahrtausende hinweg miteinander zu tun haben?

 

 

Speerschleuder

Die Speerschleuder

Krimi

164 Seiten, Taschenbuch und Ebook

Ein Mord im archäologischen Institut. Dummerweise hat sich der Mörder einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht und kann das Haus nicht verlassen – und die mit ihm darin Eingeschlossenen wissen das. Bis die Polizei kommt, kann es noch Stunden dauern.

Die Nerven aller liegen blank mit einem unbekannten Mörder unter einem Dach. So entschließen sich Dr. Johanna Schmid und Prof. Joachim Drahm, selbst die Fährte aufzunehmen.

Aber auch wenn Archäologen mit allen Schattierungen des Todes vertraut sind, heißt das nicht, dass er ihnen nichts anhaben kann.

 

 

www.machandel-verlag.de

Der Machandel Verlag bietet Ihnen Regional-Krimis, Fantasy, moderne Märchen und einige Sachbuchtitel.

In der Abteilung Lesesaal auf unserer Webseite finden Sie außerdem Leseproben und Gratis-Kurzgeschichten als pdf-Downloads.

 

 

 

Eine Übersicht der handelnden Personen finden Sie im Anhang.

 

Anreise

 

Das Wasser floss von der Windschutzscheibe wie eine zweite, leicht opake Fläche, rhythmisch beiseite geschoben von den eher hilflosen Scheibenwischern und sofort wieder vorgezogen wie ein kleiner boshafter Vorhang, der partout die Sicht auf dieses nasse, nebelige England verhindern wollte. Seit sie von Dover abgefahren waren, hatte es „Kühe und Pferde“ geregnet, wie Professor Joachim Drahm murmelte, schaudernd neben ihr in seinen flotten Lammfellmantel gekuschelt, und sie hatte nur verbissen geantwortet: „Selbst die`Katzen und Hunde´ der lokalen Redensart wären mir lieber!“

Johanna Schmid vergewisserte sich mit einem Blick in den Rückspiegel, dass der zweite kleine Unibus noch hinter ihnen her fuhr. Christof, der Fahrer des anderen Fahrzeuges, würde ohne Wegführer bei diesem Wetter ganz sicher nicht den Weg in die irgendwo in der Pampa liegende Jugendherberge finden.

Johanna selbst kannte den Weg natürlich. Zu ihren Aufgaben als Assistentin des Metallzeitenprofessors Dr. Joachim Drahm gehörte es, diese Exkursion, die für alle Teilnehmer des Hauptseminars verpflichtend war, zu organisieren. Sie war deshalb vor einem Jahr bereits alle archäologischen Sehenswürdigkeiten in Südengland, die man während dieser Exkursion besuchen wollte, abgefahren, inklusive der diversen Jugendherbergen, welche die Exkursionsteilnehmer nacheinander aufnehmen sollten.

Heute war Johanna bereits um 6 Uhr in der Früh mit zwölf Studierenden des Faches Ur- und Frühgeschichte, die sich, vor Müdigkeit zitternd, am Eingang des Institutes zusammen drängten, und zwei Kleinbussen, welche die Universitätsverwaltung für solche Gelegenheiten zur Verfügung stellte, Richtung England aufgebrochen.

Da sie gen Westen fuhren, schien es, als würden sie dem Sonnenaufgang davonfahren: Viel länger als sonst um diese spätherbstliche Tageszeit gähnte immer noch hinter ihnen ein rot aufgerissenes Maul zwischen grauen Wolkenlippen.

„Zwölf kleine Negerlein, die zogen in die Welt, der eine stürzte tief hinab, da waren es nur noch elf.“ Holger, ein kleiner, aber ziemlich agiler Student im fünften Semester, der sich bisher allerdings noch nicht durch großartige Studienleistungen hervorgetan hatte, beugte zwischen Johanna Schmid und Professor Drahm seinen Kopf vor: „Drücken Sie auf die Tube, Frau Dr. Schmid, sonst holt uns das Himmelsmonster noch ein und frisst uns.“ Er lachte geisterbahngmäßig.

„Elf kleine Negerlein wollten einst ein Nilpferd gähnen sehn. Ein Ruck und einer fiel ins Maul, da waren’s nur noch zehn“, ergänzte Olivia, frisch gebackene Preisträgerin des neu eingerichteten Pigott-Stipendiats, die im Hauptfach Mediävistik und Anglistik studierte und ihre Masterarbeit über Spuren angelsächsischer Mythen in der viktorianischen Literatur schrieb. Das war auch der Grund für ihre Teilnahme an dieser Exkursion, denn natürlich war sie, als Nebenfächlerin, eigentlich nicht verpflichtet, an einer der großen Exkursionen des Faches Ur- und Frühgeschichte teilzunehmen.

„Hui, ihr seid aber politisch höchst unkorrekt!“, lachte Dietrich. „Das müsst ihr umdichten.“

„Wie kommt ihr überhaupt auf zwölf, Olivia, es sind doch nur zehn kleine Negerlein?“

„Es gibt eine Version des Liedes, das eigentlich aus den USA stammt, in der mussten es zwölf sein, sonst hätte das Layout der dazu gehörigen Bildchen nicht gepasst. Übrigens hieß es ursprünglich `Zehn kleine Indianerchen´. Aber als dann der Kampf um die Rechte der Farbigen eskalierte und die Indianer ja eh’ fast ausgerottet waren, änderte man den Text in die heute bekannte Version von den zehn kleinen Negerlein.“

„Dann können wir es ja auch guten Gewissens umdichten“, grinste Dietrich. Holger fiel ihm ins Wort: „ Wie wäre es denn mit `Zwölf kleine Studentlein´? Abzüglich Ihnen beiden, Herr Professor und Frau Dr. Schmid, falls Sie nichts dagegen haben, sind wir ja genau zwölf kleine Studentlein.“

„Ganz gewiss nicht“, brummte Professor Drahm von der Vorderbank her, „ich werde nämlich höchst ungern diskriminiert oder gar massakriert.“

So vertrieb ihnen Olivia auf den nächsten zweihundert Kilometern die Zeit, indem sie allen Mitfahrenden die historische Zwölfer–Version des Liedes, politisch korrekt und teilweise mit leichten Umdichtungen, die eher die Belange einer Studentengruppe aus dem 21. Jahrhundert spiegelten, beibrachte.

Sie hatten die Fähre nach Dover anstelle des Kanaltunnels gewählt, denn Stephan, ein eher schüchterner Typ, der unter schweren Platzängsten litt, hätte sonst alleine mit dem Zug fahren müssen. Er wäre auf keinen Fall in der Lage gewesen, nicht einmal als Beifahrer, durch einen solch langen Tunnel zu fahren. Johanna bevorzugte die Fähre ohnehin, denn sie fand es dumm, sich zwei Stunden durch einen engen Schacht zu lavieren, wenn man sich doch den frischen Meereswind um die Nase wehen lassen konnte.

Während der Überfahrt herrschte noch klares Wetter und eine blaue Himmelsplane spannte sich von Ufer zu Ufer über das Wasser. Johanna Schmid hatte sich, wie immer wenn sie selber diese Überfahrt nutzte, den höchst möglichen Punkt auf der Fähre ausgesucht, um wieder einmal auszuprobieren, ob man tatsächlich an klaren Tagen für einen Moment beide Kanalufer gleichzeitig sehen könne, wie es in manchen Touristenführern hieß. Nun, vermutlich war es nur ein Gag im Kampf um die Kunden, denn der Kanaltunnel machte der behäbigeren Fährschifffahrt kräftig Konkurrenz. Das Wasser unten war ziemlich kabbelig, kleine weiße Schaumkrönchen wippten dahin wie kopflose Möwen und die wirklichen Möwen schienen immer mal wieder, von unerwarteten Windböen getroffen, wie zerrissene Papierdrachen zur Seite zu torkeln.

„Das kenne ich, sieht nach einer Wetterverschlechterung aus.“ Martin, der Gaststudent aus England, war zu Johanna an die Reling getreten. Der hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, an dieser Exkursion in sein Heimatland teilzunehmen.

„Sie täten besser daran, sich an meiner Exkursion zu den Brandopferplätzen am Südalpenrand zu beteiligen. Grimes Grave, Wayland’s Smithy, Boxgrove und wasweißich, was wir uns noch alles ansehen werden, dürften für Sie ja keine Unbekannten mehr sein“, hatte Dr. Drahm gebrummelt, als er Martins Anmeldung in den Händen hielt. „Was wollen Sie da noch?“

Doch der hatte nur mit seinem charmanten angelsächsischen Akzent gekontert: „Meinen Kommilitonen zeigen, wie richtige Fish and Chips gegessen werden.“

Eine Lektion, die er dann auch sofort bei ihrer Ankunft in Dover am bereitstehenden Fish ’n Chips Stand auf der Promenade umsetzte, wo alle warten mussten, bis Johanna Schmid und Christof die Busse aus dem Schiffsbauch heraus gefahren hatten.

Leicht verfroren hin und her trappelnd standen sie parat, die warmen Papiertüten mit den gewürzten Pommes frites und den Fischstückchen in den Händen, die Augen auf den mittlerweile graufarbenen Kanal gerichtet, dessen kleine, unruhige Wellen gegen die Befestigungssteine platschten, als Johanna und Christof neben ihnen hielten, um alle wieder an Bord zu nehmen. Der strahlend blaue Himmel hatte einer schmutzig grauen Wolkendecke weichen müssen und aus den sporadischen Windstößen, welche die Möwen verwirrt hatten, war ein kontinuierlich blasender, steifer Westwind geworden. Als sie losfuhren, ruckelte er bereits ganz schön heftig an ihren kleinen Bussen. Und dann fielen die ersten Regentropfen - dick, breit, als würfe ihnen jemand Schlammspritzer auf die Windschutzscheiben. Dichter und dichter pladderten sie, bis die Spritzer sich zu langen, festen Fäden vereinigten, Bächen und Strömen, welche die Scheibe herunter rannen und sich zu einer einzigen, beinahe undurchsichtigen Fläche vereinigten. Die hektisch arbeitenden Scheibenwischer konnten der Wasserflut kaum noch Herr werden.

Mittlerweile hatten sie London weiträumig umfahren und die M3 bei Basingstoke verlassen, um ihre erste Übernachtungsmöglichkeit anzusteuern: Eine kleine Jugendherberge mitten in den Hampshire Downs, nicht weit von St. Mary Bourne entfernt, die für die ersten Tage ihr Basislager sein sollte. Von dort aus hatten sie es in alle Himmelsrichtungen ungefähr gleich weit zu den ersten Ausgrabungsplätzen und archäologischen Sehenswürdigkeiten ihrer Exkursion.

Zwar war das Thema des Hauptseminars die Bronze- und Eisenzeit auf den britischen Inseln, aber für die Exkursion waren auch Fundorte aus den Steinzeiten für jene Studierenden eingeplant, die sich eher für die frühen Ackerbauern und ihre Anlagen oder gar für die noch früheren ersten Besiedler der Insel aus der Altsteinzeit und dem Mesolithikum interessierten.

So sollte es gleich am nächsten Vormittag in ein neolithisches Flintbergwerk, Wodans Grab1 genannt, gehen und am Nachmittag in eine aufgelassene Kiesgrube, in welcher man einen über 500.000 Jahre alten Arbeitsplatz altsteinzeitlicher Jäger und Sammler ausgegraben hatte.2

Seit sie die Schnellstraßen verlassen hatten, war es merklich stiller hinter Johanna im Bus geworden.Das politisch korrekte, zwölfstrophige, auf ihre Belange umgedichtete Unglückslied war verstummt und Professor Drahm schlummerte leise vor sich hin, den runden Kopf an die Fensterscheibe gelehnt.

„Zwölf kleine Studentlein suchten ein Zuhause“, summte Johanna leise vor sich hin in Anpassung an ihre derzeitige Situation und reckte den Kopf, um irgendwie hinter all den Wasserschwaden doch noch die angepeilte Jugendherberge zu entdecken. Sie wusste, dass diese mehr oder weniger auf freiem Feld lag, halbwegs zwischen zwei kleinen Dörfern, die ihr jeweils den Namen gegeben hatten. Dummerweise firmierte dadurch die Jugendherberge entweder als Hostel Maidenhouse upon Greenhaven under Basingfield oder als Hostel Maddison next Rosefieldsgarden under Newdover upon River Test, was die Suche, selbst mit Hilfe des Navigators, nicht gerade erleichterte.

Endlich tauchte in der mittlerweile einsetzenden Dunkelheit rechts an der kleinen Provinzstraße ein einsames, reetgedecktes Haus auf. Johanna tippte rasch warnend zwei- dreimal auf die Bremse, um Christof zu signalisieren, dass sie anhalten mussten. Dann bremste sie entschlossen und starrte durch das Seitenfenster über die Straße zu dem dunklen Haus hinüber.

Die Leiterin dieser Jugendherberge hatte ihr mitgeteilt, dass sie leider an ihrem Ankunftsabend erst sehr spät vorbeischauen könne, um nach dem Rechten zu sehen sowie ihre Fragen zu beantworten, da sie noch einen zweiten Job in Greenhaven under Basingfield habe - oder war es Rosenfieldsgarden upon diesem River mit dem kurzen Namen? Der Schlüssel läge „under the garden pottery“, was Martin schmunzelnd übersetzte: „Unter den Blumentöpfen oder dem Blumentopf – viel Spaß beim Umdrehen!“

Das Haus, so viel konnte sie durch Dunkelheit und Regenfluss erkennen, war im Backsteinstil mit Fachwerk dazwischen erbaut, offensichtlich einstöckig mit drei Kaminschloten. Natürlich mochten sich unter dem hoch aufgezogenen Strohdach eventuell noch ein erstes Stockwerk oder zumindest einige Dachkammern befinden.

„Sieht nicht sehr weitläufig aus.“ Professor Joachim Drahm beugte sich vor und schielte an ihr vorbei. „Ist sie das überhaupt?“

Jemand pochte an die Fahrertüre. Johanna kurbelte rasch das Fenster herunter. Martin stand draußen, die Kapuze seines Anoraks fest um den Kopf gezerrt. „Ich bin das Wetter ja am besten gewohnt. Ich lauf’ rüber und schau, ob es das Hostel ist.“ Johanna nickte dankbar und schaute Martin hinterher, der mit großen Sprüngen über die nasse Straße spurtete und nun vor der Haustüre hin und her lief, durch ein kleines, rautenförmiges Fenster in der oberen Hälfte der Haustüre lugte, pochte, sich schließlich bückte und einige Blumentöpfe umkehrte, die dort scheinbar zufällig am Boden verteilt lagen. Dann richtete er sich triumphierend auf und winkte ihnen zu und deutete mit einigen weit ausholenden Gesten vor sich auf den Boden. Johanna begriff, dass sie über die Straße fahren und vor dem Haus parken sollten. Sie folgte den Hinweisen, und auch Christof bugsierte seinen Bus hinter den ihren auf einen schmalen Kiesstreifen vor dem Haus.

„Wir sind da“, freute sich Martin, als Johanna ausstieg und drehte den Schlüssel im Schloss der etwas niedrigen Türe herum. „Muss mal ein Cottage gewesen sein.“

Alle drängten rasch hinter Joachim Drahm und Johanna Schmid in einen kleinen Vorraum, von dem es geradeaus durch eine erste Türe in einen großen Raum ging, eine zweite daneben war noch verschlossen. Offensichtlich das Esszimmer, denn es stand dort ein langer, breiter Tisch mit 20 Stühlen, je acht an den Längsseiten und zwei jeweils an den Schmalseiten. Dahinter lag anscheinend die Küche, von der man die Herdecke und einen halben Kühlschrank durch die offen stehende Türe und die daneben angebrachte Durchreiche erblicken konnte.

Eine weitere Türe führte links vom Vorraum in einen verwinkelten Gang, auf dessen rechter Seite Türen in drei Zimmer führten, in denen immer vier Stockbetten in jeder Ecke so standen, dass in der Mitte noch ein Tisch mit vier Stühlen Platz fand. Am Ende dieses Ganges öffnete sich eine letzte Tür in eine Kammer, die so vollkommen von einem Stockbett ausgefüllt wurde, so dass daneben kaum noch Platz für einen Stuhl war.

„Das wird doch nicht das Dozentenzimmer sein?“, hauchte Joachim Drahm. „Vermutlich ist es das Zimmer für die Gruppenleiterin, denn dieses ist offensichtlich die Mädchen- und Frauenseite“, gab Johanna lakonisch zurück. Sie öffnete eine weitere Türe in diesem Gang und zeigte auf zwei gegenüberliegende lange Bassinrinnen mit Kalt- und Warmwasserhähnen, hinter denen, nur durch eine etwa hüfthohe Kachelwand getrennt, sechs Toiletten offen standen.

„Boys and gents on the right side!“, lachte Martin vom Ende der Gruppe her und öffnete schwungvoll die dritte Türe im Vorraum, welche nach rechts abging. Hier fanden sie tatsächlich spiegelbildlich die gleiche Raumordnung vor, inklusive Gruppenleiterkammer und kombiniertem Wasch- und Toilettenraum, dieses Mal aber eindeutig durch eine Pissoirrinne ergänzt, welche an der den Kloschüsseln zugewandten Seite der halb hohen Kachelwand entlang lief.

„Das ist unmöglich!“, murmelte Dr. Drahm und starrte auf die schmale Lücke zwischen Stockbett und Wand, in die er sich mit seiner wohligen Fülle nicht einmal richtig hinein stellen konnte.

„Jedes Zimmer hat ja Platz für 8 Leute. Wir können uns also ganz gut auf zwei Zimmer beschränken, dann hat jeder von uns sogar noch ein Parterrebett und kann auf dem oberen seine Sachen ausbreiten. Im dritten Zimmer bauen wir einfach zwei Stockbetten ab und verstauen sie in diesem Gruppenleiterkämmerchen. Die vier Matratzen legen wir oben auf die beiden Stockbetten und Sie, Herr Professor, können dann gut in einem der unteren Betten schlafen. Auf dem anderen Bett sowie auf dem Tisch bleibt Ihnen dann noch Platz genug, Ihre Unterlagen auszubreiten.“ Axel, ein Anlagenbauer, der auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur gemacht hatte und sich nun mit dem Studium der Ur- und Frühgeschichte einen Jugendtraum erfüllte, begann bereits, das erste Stockbett auseinander zu schrauben. „Hopp – hält mal jemand hier fest?“

„Viecher gibt’s auch hier!“ Holger, ein kleiner, agiler Typ, fuhr blitzartig mit der Hand über den Tisch und hielt sich dann die geschlossene Faust ans Ohr: „Summt noch – aber nicht mehr lange!“ Grinsend schmetterte er die Fliege mit einem leisen Klack Dorothea genau vor die Füße, die erschrocken zurücksprang und gegen Ottbrecht taumelte, der gerade in dem Moment das Zimmer betrat. Schnell trat Holger noch einmal drauf, so dass ein dunkler, verschmierter Fleck zurückblieb.

„Spinnst du?“ Ottbrecht schob Dorothea zur Seite, die sich dankbar hinter seinem breiten Rücken versteckte.

„Macht kaputt, was euch kaputt macht“, grinste Holger und verschmierte die Überreste des toten Insekts mit seiner Schuhspitze.

„So, wie ich das sehe“, Drahm drückte misstrauisch auf eine der durchhängenden Matratzen, „wäre es tatsächlich gut, zwei Matratzen unter dem Hintern zu haben. Ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste.“

Ottbrecht, mit etwa 2,10 Metern der Längste, aber auch in seiner prachtvollen bayrischen Fülle der Breiteste, ließ sich vorsichtig auf einem der unteren Betten nieder und dann auf den Rücken gleiten. Seine Beine ragten weit über das Fußende hinaus.

„Vielleicht sollten wir noch ein Bett abbauen und mir die Matratzen auf den Boden drapieren, sonst habe ich binnen kurzem einen gewaltigen Rückenschaden. Aber vorher wischst du das hier weg!“ Er wies böse auf die zertretene Fliege.

„Die meisten Jugendherbergen bei uns, besonders auf dem Land, sind halt noch für Jugendliche und Kinder gedacht, man rechnet nicht mit Erwachsenen. Sollst sehen, in London wird es dir besser gehen.“

„Martin – London sehen wir erst in 8 Tagen – bis dahin bin ich eingegangen wie ein Priemelchen in einem zu kleinen Topf. Ich bin doch kein Bonsai!“

„Sollen wir das bei euch auf der Frauenseite auch so machen? Ihr seid ja nur fünf, das verteilt sich doch sehr gut auf zwei Zimmer. Aus dem dritten machen wir das Schlafgemach für Frau Dr. Schmid und hinten verstauen wir dann wieder die überzähligen Bettgestelle.“ Axel hatte bereits die ersten Matratzen von einem Hochbett gezerrt, holte ein Schweizer Taschenmesser mit allem Drum und Dran aus seiner Hosentasche hervor und begann, die Schrauben zu lockern, die die beiden Betten aufeinander hielten.

„Dann hat das junge Paar ein Zimmer für sich allein.“ Holger zwinkerte Susanne anzüglich zu, die nur die Augen verdrehte. „Blöder Typ“, flüsterte Kerstin, ihre Partnerin, was aber nur die unmittelbar daneben Stehenden hörten.

„Dr. Schmid – können wir das Angebot der jungen Herren annehmen?“ Professor Drahm zog fragend die Augenbrauen hoch. „In Anbetracht der Tatsache, Herr Dr. Drahm“, gab Johanna zurück, „dass Sie als Reiseleitung und ich als Organisationsverantwortliche fit bleiben müssen, sollten wir das tunlichst machen. Aber wenn wir Frauen mithelfen, ist das ja in Nullkommanichts passiert.“

„Im nächsten Pub die erste Runde, die geht auf mich!“, rief Joachim Drahm erleichtert aus und begab sich wieder in den Vorraum auf der Suche nach einem eventuellen weiteren, größeren Raum, in dem sich die Gruppe bei Bedarf versammeln konnte.

 

Die StudentInnen hatten mittlerweile nicht nur das gesamte persönliche Gepäck ins Haus getragen, sondern auch die Kisten mit Grundnahrungsmitteln, Kaffee, Tee, etc., die sie unterwegs in einem Supermarkt kurz hinter Dover besorgt hatten. Schließlich wusste keiner, was und wie viel es an Essen in dieser kleinen, unbewirtschafteten Jugendherberge gäbe.

Dankbar sah Johanna, dass auch ihr schwerer Rucksack bereits im Vorraum stand. Sie beschloss als Gegenleistung dafür, dass sie nicht mehr in den Regen hinaus musste, die Nahrungskisten in die Küche zu tragen, dort zu verstauen und schon einmal eine große Kanne Tee für alle aufzugießen.

Draußen im Gang und in den Zimmern hörte sie das geschäftige Treiben der jungen Leute, die sich gegenseitig beim Umsetzen der Bettgestelle alle möglichen Hinweise und auch hin und wieder ihr eine Frage, wie sie denn gerne ihr Zimmer hätte, zuriefen.

Sie durchsuchte die Schränke, fand Tassen, Teller und Töpfe, Besteck in den Schubladen und begann, im Speiseraum für die ganze Gruppe zu decken. Für morgen und übermorgen würden sie einen Koch- und Frühstücksdienst einrichten, aber heute wollte sie sich erkenntlich dafür zeigen, dass man ihr eines der Zimmer freiräumte.

Professor Drahm eilte geschäftig herein und rieb sich erfreut die Hände. „Ah – Teatime! Es gibt noch ein richtig schönes Kaminzimmer wenn man durch die zweite Türe direkt gegenüber der Haustüre geht. Nicht sehr groß und mit allerlei zusammen gewürfelten Sesseln, Stühlen und zwei alten Kanapees – durchaus staubig, aber gemütlich. Geht irgendwie auf einen verwilderten Garten hinaus, aber bei dem Regen ist ja nichts richtig zu erkennen.“

Er drehte sehnsüchtig einen der großen Kaffeebecher in seinen Händen und grinste mit diesem für ihn so charakteristischen schräg geneigten Kopf zu Johanna Schmid herüber, die gerade die erste Kanne frischen Tees an den Tisch trug: „Ach, das habe ich so gerne, wenn meine Assistentinnen ihr wahres weibliches Wesen hervorkehren!“ Er hielt ihr fast flehend den Becher unter die Nase. „Meinen Sie, Ihr gebeutelter Doktorvater bekommt schon im Vorhinein eine Tasse, ehe die anderen eintrudeln?“

Sie musste lachen, goss Joachim Drahm den Becher voll und schob ihm die Schachtel mit den Zuckerstückchen sowie die Tüte Milch hinüber, dann verschwand sie wieder in der Küche, Käse und Wurst für die ganze Bande zu schneiden.

Professor Joachim Drahm schaute sinnend in die dampfenden Tiefen, beobachtete, wie sich die Schlieren der Milch langsam im Tee ausbreiteten und ließ nacheinander drei Zuckerstückchen in die mattbraune Flüssigkeit fallen.

Gerade, als Dr. Johanna Schmid zwei große Platten mit Wurstaufschnitt durch die Küchentüre balancierte, hörten sie draußen im Vorraum und dann im Gang zu den „Mädchenzimmern“ eine laute, etwas näselige Stimme: „What the hell is going on here?“ Dann flog die Türe auf und eine große, hoch aufgerichtete Gestalt sprang förmlich an den Tisch, stützte die Hände auf und schreckte Professor Drahm dermaßen aus seinen geruhsamen Teemeditationen, dass er verwirrt den Löffel fallen ließ. Klirrend schepperte der auf einen Tellerrand.

„And take care of the dishes!“

Drahm zeigte einfach stumm auf seine Assistentin, um zu signalisieren, dass hier sie diejenige sei, welche fürs Organisatorische verantwortlich zeichnete. Johanna stellte erst einmal vorsichtig die Wurstplatten auf den Tisch und sah erstaunt auf die fremde Gestalt, die sich nun wieder aufrichtete.

Langsam zog sich die Frau das feuchte Tuch vom Kopf. Eine beinahe blutrote Haarmähne ergoss sich über Schultern und Rücken. Sie richtete hell strahlende, in einem merkwürdigen Grün pulsierende Augen auf Johanna, schälte sich dann, nachdem sie anscheinend genügend gesehen hatte, aus ihrem festen, hellen Regenmantel und warf ihn so nachlässig über die Stuhllehne direkt neben Dr. Drahm, dass das feuchte Kleidungsstück auf seine Knie rutschte und ihn unangenehm durchnässte.

„Oh – sorry!“ Ein breiter Mund öffnete sich unter einer sehr langen Nase, die alles andere als klassisch schön war. Kritisch beobachtete sie, wie der Herr Professor indigniert den Mantel aufhob und nun endgültig richtig über die Stuhllehne drapierte.

Johanna machte Anstalten, sich vorsichtig wieder in Richtung Küche zurückzuziehen, wo ein großer Ziegel Käse darauf wartete, ebenfalls aufgeschnitten zu werden.

„Wer – „ die große Frau ging um den Tisch herum und näherte sich Johanna, „wer hat Ihnen erlaubt, das halbe Hostel umzuräumen?“ Ihre Stimme bebte Unheil verkündend wie die der Eiskönigin aus den Narniafilmen.

„Wir selbst – das Gruppenleiterzimmer ist doch viel zu klein und zu eng für Herrn Professor Dr. Drahm.“ Johanna wies über den Tisch auf ihren Chef. Der schob sich ob der kritischen Blicke zweier so eindrücklicher Frauen schier zur Hälfte unter denselben.

„Hmpf!“ Die große Frau schnupfte und taute nun ein bisschen Richtung Mary Poppins auf.

„Und meine Assistentin, Frau Dr. Schmid“, Drahm wies wie anklagend auf Johanna, „verantwortlich für das Ganze sowie meine Unterrichtsmaterialien, brauchte auch mehr Platz. Wo sollte sie sonst ihren ganzen Plunder unterbringen?“

„Wir stellen auch alles wieder so zurück, wie es war“, versicherte Johanna und eilte um den Tisch herum, um die rothaarige Erscheinung endlich anständig zu begrüßen. „Sie sind sicherlich Scarlett Maddison, die Leiterin der Jugendherberge?“

„Natürlich!“ Sie gab Johanna die Hand, setzte sich zwei Stühle von ihrem nassen Mantel entfernt an den Tisch und lehnte sich hinüber, um auch Joachim Drahm die Hand zu schütteln. Was ihr von Wind und Wetter gerötetes Gesicht nicht so gezeigt hatte, verrieten jetzt ihre Hände und Unterarme, die aus einem grünen Leinenkittel heraus ragten: Ihre Haut war auffallend hell und mit tausenden kleinen, goldfarbenen Sommersprossen übersät.

„Kann ich auch etwas Tee haben?“ Auffordernd hielt sie Johanna eine Tasse hin.

Johanna ließ beinahe die schwere Teekanne fallen. Fasziniert starrte sie auf diese helle, goldgesprenkelte, fast durchscheinende Haut. Der Tee lief und lief, bis Drahm sie mit einem leichten Hüsteln aus ihrem versunkenen Blick aufschreckte.

Er kannte Johanna, seit sie vor fast zehn Jahren via Zweitem Bildungsweg das erste Mal im Proseminar, das er dazumal noch selber abhielt, aufgetaucht war. Er hatte ihren weiteren Weg mit Interesse verfolgt, ihre forschungsgeschichtliche Leidenschaft anfangs gebremst und später zu ihrem und des Institutes Nutzen gefördert. Neben ihren anderen Aufgaben als seine Assistentin arbeitete Johanna nämlich die Geschichte des Institutes für Ur- und Frühgeschichte seit seinen Anfängen vor etwa 85 Jahren bis in die frühen 90-iger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf. Weiter in die Gegenwart zu gehen erlaubte das Archivrecht derzeit nicht.

Im Laufe dieser Jahre hatte er natürlich auch so Allerlei aus ihrem wechselvollen Beziehungsleben miterlebt. Anders als viele Menschen, die meistens nur einen Typus bevorzugten, der – laut den Aussagen halb- oder gar ganzseidener Psychologen – entweder der Mutter oder dem Vater ähnelte, neigte die junge Frau Doktor abwechslungsweise zwei Typen zu: Entweder einem kleineren, zarten, eher mediterranen Frauentyp mit schmalem Profil und möglichst dunklen Augen oder einem hoch gewachsenen mit kantigerem Profil und tänzerischem Gang, Augenfarbe vielleicht grün-golden oder blau-grau oder bernsteinfarben-lila oder wie auch immer ... Also eindeutig der Typ, der gerade mit hochgezogenen Rabenschwingenaugenbrauen (er vermutete, dass seine lyrisch begabte Assistentin sie so beschreiben würde) auf die übervoll schwappende Teetasse schaute.

Joachim Drahm rutschte noch ein wenig tiefer unter den Tisch, um in seiner gewohnten Manier mit auf die Brust gedrücktem Kinn die sich anbahnende Szene weiter beobachten zu können. Manchmal fragte er sich im Stillen, ob alle lesbischen Frauen so leicht zu beeindrucken waren wie Dr. Johanna Schmid. In seinen Augen fiel sie ein wenig zu oft auf die Schönheiten um sich herum oder auch auf ihre eigenen, wenig kontrollierten Bedürfnisse herein.

Als bekennender Macho, als der er sich gerne selber definierte, war er nicht unbedingt der modernen Überzeugung, dass Frauen das bessere, da friedlichere Geschlecht seien. Diesen subjektiven Eindruck führte er eher auf einen Mangel an historischen Gelegenheiten zurück, weniger auf die Konstellation der Chromosomen. Drahm unterstellte den Frauen, ebenso wie sich selber, eine gerüttelte Portion an Energie, im Zweifelsfall die eigenen Interessen durchzusetzen – wenn auch nicht immer mit den lauteren Mitteln direkter Konfrontation, wie wahre Männer das taten, sondern schleichend und hinten herum, mit unfairen Waffen wie z.B. die Evozierung von Schuldgefühlen oder das abschätzige Konkurrenzieren um einen äußeren Schein.

Er als cooler, in sich ruhender Supermacho, Schwarzgurt in Juijitsu, konnte sich natürlich erfolgreich gegen dergleichen Kampfmanipulationen wehren. Aber so eine gutgläubige, ewig verliebte Jungwissenschaftlerin, deren Kopf zwar nicht unbedingt in den Wolken aller Illusionen schwebte, aber doch eher im Spätneolithikum Nordeuropas beheimatet war oder in all den Ideologismen der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts? Dass sie sich wirklich gegen ihre Geschlechtgenossinnen zur Wehr setzen konnte, bezweifelte er stark. Zwar war auch sie ein Schwarzgurt und hatte jahrelang Selbstverteidigung unterrichtet. Aber die Kampfkunst beruhte weitgehend auf unmittelbarer Konfrontation und vor allen Dingen Regeln – etwas, was man, Drahms patriarchaler Meinung nach, selten bei Frauen finden konnte.

Im letzten Liebesfall Johannas mit der schönen Zeichnerin Zwingli, jene übrigens der eher mediterrane Typ, waren eindeutig beide sowohl auf ihre momentanen Bedürfnisse als auch auf die gegenseitigen Begehrlichkeiten3 hereingefallen, was die kluge Schweizer Dame als Erste erkannt hatte: Sie sagte in einem langen Wochenendtelefonat Johanna Schmid die Beziehung auf. Und wäre nicht zur gleichen Zeit in ihrem Institut jener seltsame Mordfall mit einer Speerschleuder als geradezu perfekte Ablenkung geschehen, den sie alle, im Schatten eines Bombenalarms dreieinhalb Stunden im Institut festsitzend, gemeinsam gelöst hatten,4 wäre sie sicher für Wochen in tiefster Verzweiflung versunken. In seinen Augen nur eine komplette Zeitverschwendung und schädlich sowohl fürs Institut als auch für Johannas Karriere.

Nun bahnte sich offenbar hier vor seinen leicht zusammen gekniffenen Augen bereits die nächste Lovestory an.

„Das will ich hoffen!“ Scarlett Maddison blies vorsichtig in den frisch aufgebrühten Tee und nahm mit gespitzten Lippen einen kleinen Schluck. „Tee kochen sollte auch auf Ihrem Exkursionsprogramm stehen. Immerhin befinden Sie sich in England.“

Johanna stellte die Teekanne vorsichtig ab und sank im gleichen Bewegungsablauf neben der Jugendherbergsleiterin auf einen Stuhl. Diese schaute sie aus ihren unergründlich grünen Augen an. Drahm schien es, als blitze ein leichtes, silbriges Lächeln aus ihren Augenwinkeln hervor.

„Und sonst ist alles in Ordnung? Irgendwelche Fragen, Wünsche?“

„Ääh – nein.“

Johannas Backen hatten sich leicht gerötet und ihre Augen ruhten immer noch auf der länglichen, schmalen Hand, welche den Teebecher umfasst hielt. Drahm wusste, dass diese momentane Scheuheit seiner Assistentin nicht lange andauern würde. Selbst wenn ihr eine Göttin über den Weg liefe, wobei Dr. Drahm, angesichts ihrer ausdrucksstarken Hakennase Scarlett Maddison eher als Hexe bezeichnet hätte, irgendwann würde sich diese Verwirrtheit legen und die eigentliche Dr. Johanna Schmid mit ihrer rheinländischen Klappe zum Vorschein kommen. Und aha! Da war sie auch schon!

„Im Austausch gegen Kaffeekochen?“ Johanna hatte sich endlich getraut, den Blick von Scarletts Händen zu ihrem Gesicht empor zu heben. Die Maddison lächelte.

Nun tröpfelten nach und nach die TeilnehmerInnen der Exkursion in den Speiseraum, schoben sich auf ihre Stühle und schauten Scarlett Maddison neugierig an. Johanna beeilte sich, die restlichen Utensilien für ein Abendessen herein zu schaffen, wobei ihr Olivia, die Literaturstudentin mit dem politisch unkorrekten Kinderlied, sowie der agile Holger halfen, ein kleiner, flinker Bursche, der im gleichen Zeitraum doppelt so viel wie Johanna und Olivia zusammen an Butter, Gewürze, aufgeschnittenem Gemüse zum Dippen, Salat und Soßen in das Esszimmer schaffte, immer wieder elegant um die beiden Frauen herum schwänzelnd, mal unter ihren Armen durch tauchend, mal, indem er sich schlank und rank an ihnen vorbei durch die offene Küchentüre drückte.

Axel, der die Umbauarbeiten inszeniert und vermutlich auch am meisten mit angepackt hatte, erschien sogar bereits frisch geduscht und mit nassen Haaren am Tisch.

„Brrrr -“, schüttelte er sich, „ganz schön zugig in diesen Waschräumen, da überlebt kein Fußpilz am Boden.“

Scarlett Maddison zog abermals die Augenbrauen hoch und Johanna musste sich einfach sofort hinsetzen, sonst wäre sie samt Tablett mit Marmeladen- und Senfgläsern auf den Boden gesunken.

Es waren vor allen Dingen diese schwarzen Augenbrauen in einem ansonsten ja so hellen Gesicht, die ihr die Knie zittern ließen und die Art, wie Scarlett Maddison sie hochzog, als bereite sich ein Rabe darauf vor, sogleich vom Baum herunter zu gleiten.

Susanne, Kerstin, Dorothea und die kürzlich in die Fachschaft gewählte Magdalena, die auch sonst viel zusammensteckten und als Lerngruppe gemeinsam im letzten Wintersemester die Zwischenprüfung geschafft hatten, drängten sich als letzte herein und verteilten sich auf die noch freien Stühle.

„Ihr Zimmer ist eingeräumt, Frau Dr. Schmid. Aber wundern Sie sich nicht über den Staub, den wir aufgewirbelt haben. Der legt sich schon wieder. Wir haben nur ein bisschen gewischt.“ Magdalena stammte aus Zürich, wo sie ihr Grundstudium absolviert hatte und Johanna korrigierte automatisch diese typisch schweizerische Wendung: „Gefegt, ich hoffe, ihr habt nur gefegt. Nass genug ist es auch ohne Wasser und Feudel.“ Eine gewisse schweizerisch-deutsche Zweisprachigkeit war ihr aus jener Fernbeziehung mit Anna Zwingli doch geblieben.

Professor Drahm klopfte an seinen Teebecher: „Ich darf Sie nun alle noch einmal herzlich am Zielpunkt unserer ersten Etappe begrüßen. Und ich stelle Ihnen hiermit auch Frau Scarlett Maddison, die Leiterin der Jugendherberge, vor.“

Scarlett nickte huldvoll in die Runde. „Ich sehe, dass Sie sich Proviant besorgt haben, das spart mir viel Arbeit. Das Haus hier war ursprünglich ein Grundbesitzercottage, heute gehört es der Gemeinde. Deshalb ist es auch etwas größer als Cottages im Allgemeinen. Es hat nur diesen einen Stock. Unter dem Dach befindet sich noch ein großer Estrich, den wir irgendwann einmal als Lager für Gruppen herrichten möchten. Aber erst muss er entrümpelt werden. Hinten raus wurde ein Anbau mit einem Wintergarten gesetzt, in dem Sie den Gruppenraum mit Kamin finden. Dort haben wir auch ein Flippchart stehen.“

„Wie alt ist das Haus?“ Susanne, die in ihrem ersten Studium Architektur studiert hatte und ihr Geld mit der Restaurierung historischer Gebäude verdiente, zog sich einen der Brotkörbe heran, bot ihn nach links und rechts an, ehe sie sich selbst eine Scheibe nahm.

„Etwa dreihundert Jahre. English Heritage hat es auf seiner Liste zu schützender historischer Gebäude.“

„English Heritage ist gewissermaßen das nationale Amt für das archäologische und historische Erbe Englands. Ich halt’ euch ja ein kleines Referat dazu, wenn wir im National Monument Reccord Center in Swindon sind.“ Martin, der neben der Herbergsleiterin saß, beugte sich zu ihr und fragte auf Englisch, ob er ihr etwas anbieten könne.

„Auf die Referate wollte ich gerade kommen.“ Dr. Drahm fuhrwerkte mit Messer und Gabel auf seinem Teller herum. Seine Angewohnheit, beim Abendessen – und nur beim Abendessen! – seine belegten Brote mit Messer und Gabel zu essen, war Johanna bereits bei früheren Gelegenheiten aufgefallen. „Ich würde mich gerne mit Ihnen allen so gegen halb acht im Wintergarten treffen und ich denke, Sie haben noch genügend Kraft, das Referat zur Wessexkultur anzuhören. Gibt es zufällig auch eine Leinwand oder andere technischen Neuigkeiten hier im Haus?“, wandte sich Professor Drahm an Scarlett Maddison.

Die schüttelte den Kopf. „Im Vergleich mit Ihren Jugendherbergen sind wir hier auf dem Stand eines Entwicklungslandes. Seien Sie froh, dass die Matratzen noch nicht zum Bestand des National Heritage gehören oder dass es überhaupt welche gibt.“

„Gut, dann müssen wir uns anders behelfen. Wie sieht’s aus, Frau Dr. Schmid?“

„Wir haben vorsichtshalber einen Beamer und einen Laptop dabei. Alle müssten eigentlich ihre Referate auf Stick im Gepäck haben. So war es zumindest abgemacht.“ Johanna schaute sich in der Runde um. Ein allgemeines „Klar doch, haben wir dran gedacht!“, scholl ihr entgegen.

„Wer hat das Thema?“ Professor Drahm blinzelte fragend über den Tisch.

„Wir – also Kerstin und ich.“ Susanne meldete sich wie eine brave Mittelschülerin.

„Sollten wir nicht vorher die Paläolith- und Neolithreferate hören?“, wandte Christof, ein absoluter Neolithfan, ein, aber Joachim Drahm schüttelte den Kopf. „Die machen wir jeweils am Abend, bevor wir die entsprechenden Orte besichtigen. Die Wessexkultur jedoch wird Ihnen immer wieder hier in der Region begegnen, vor allen Dingen in den diversen Museen, die wir besuchen. Das zieht sich wie ein Roter Faden durch die ganze Reise. Deshalb möchte ich dieses Thema an den Anfang stellen.“

Kerstin nickte zustimmend. Sie hatte sich bereits vor zwei Semestern mit Leidenschaft auf jene Kulturstufen der Vorgeschichte geworfen, die eigentlich keine richtige eigene Bezeichnung aufwiesen und als Früheste Bronzezeit, Stufe Reinicke AI, Wessexkultur I und II oder Chalkolithikum, weil teilweise noch Kupfer verarbeitend, durch die Literatur geisterten. „Sie hat sich leider, als wir in Bozen waren, in Ötzi verliebt“, hatte Susanne, die mit Kerstin seit anderthalb Jahren offiziell verpartnert war, mal mit einem Seufzer gesagt. Die Wanderung in Tirol und drei schöne, luxuriöse Tage in Bozen, die ihnen von beiden Elternpaaren geschenkt worden waren, waren ihre Hochzeitsreise gewesen.

„Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, mache ich mich auf den Heimweg.“ Scarlett Maddison erhob sich und zog ihren immer noch nassen Mantel heran, der weiterhin neben Drahm still vor sich hin getropft hatte. „Das Wetter wird nicht besser werden. Im Radio kamen sogar schon Sturmwarnungen.“

„Hoffentlich hält die Bruchbude“, murmelte Ottbrecht leise vor sich hin und erhielt einen wackeren Rippenstoß von Magdalena, die als Schweizerin solche typisch deutschen Zwischenbemerkungen nicht ausstehen konnte, sowie einen höchst strafenden Blick von Madam Maddison.

„Ich komme morgen am späten Nachmittag wieder vorbei. Was schätzen Sie, wann Sie von Ihrer Exkursion nach Wodans Grab und den Boxgrove Quarries zurück sind?“ Sie blickte Johanna in einer Weise an, als würde sie sie vor Gericht nach ihren letzten Missetaten befragen.

„Äh – so gegen fünf, halb sechs.“

„Das Putzzeug ist im Vorraum hinter der Schranktüre“, warf die Maddison noch im Abgehen über die Schulter, schlang sich ihr Tuch über die dunkelrote Haarmähne und war verschwunden. Über dem Prasseln der Regentropfen auf den Fensterscheiben hörten sie, wie ein knatternder Motor angeworfen wurde und dann laut heulend die Straße hinunter röhrte.

„Ob sie wohl nach Greenhaven under Basingfield oder Rosefieldsgarden under Newdover upon River Test fährt?“, sinnierte Johanna und bemerkte erstaunt, dass sie erst jetzt in der Lage zu sein schien, sich ein Brot zu schmieren. Was hatte sie bloß die ganze Zeit vorher am Tisch gemacht? Drahm grinste in dieser unheimlich frechen Machoweise zu ihr herüber und zwinkerte ihr fast verschwörerisch zu. Oh ja – der dachte auch immer nur an das Eine: Sie endlich, wie die beiden jüngeren Kommilitoninnen, unter eine beständige Haube zu bringen! „Das Praktische an den gleichgeschlechtlichen Partnerschaften,“ hatte er einmal gesagt, „ist, dass es keine Kinder gibt. So laufen die begabten jungen Frauen nicht in die Mütterfalle und ihre Arbeitskraft bleibt der Wissenschaft erhalten.“

 

 

 

1. Tag vormittags