Cover Falkenkrieger

Spiegelmagie

Band 2


FALKENKRIEGER

C. Svartbeck


Falke


Hinweis:

Am Ende des Buches finden Sie einen Anhang mit einer Landkarte sowie Erläuterungen zum Land Karapak und seinen Bewohnern.



C. Svartbeck
Machandel Verlag
Neustadtstr.7, 49740 Haselünne
Bildquelle cover: Raisa Kanareva und tobibandi / www.shutterstock. com
2016
ISBN 978-3-95959-111-9






Landkarte

karte

Weitere Bücher der gleichen Serie

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, würde ich mich über eine Rezension sehr freuen.

Auf meiner Homepage http://www.svartbeck.de/ finden Sie übrigens ein paar zusätzliche Informationen zu Karapak und den handelnden Personen.


Svartbeck-01-Königsfalke

Königsfalke

Spiegelmagie Band 1

(als Ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


Ein Falke verbindet ihr Schicksal.
Für den Zauberlehrling Jokon ist die Beherrschung des Falken die einzige Möglichkeit, den Turm der Schüler zu verlassen.
Für Ioro, den ältesten Sohn des Königs von Karapak, ist der Falke der königliche Wappenvogel und die lebende Legitimation der Herrschaft seiner Familie durch die Götter.
Der Falke macht sie zu Freunden.
Und Freundschaft haben sie bitter nötig. Sowohl die Zauberschule als auch der karapakische Königshof sind so tödlich wie eine Schlangengrube.
Sie können nur einander trauen und hoffen, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt ist.



Svartbeck-03-Wuestenkrieger

Wüstenkrieger

Spiegelmagie Band 3

(als Ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


Dass die Wüstenstämme sich mit Tolor und Karapak anlegen würden, war praktisch vorprogrammiert. Der Grundstein zu diesem Krieg wurde bereits vor 1000 Jahren gelegt. Allerdings hatte niemand voraussehen können, wozu sich dieser Krieg entwickeln würde. Mit so verheerenden Folgen rechneten nicht einmal die Zauberer.

Die Prophezeiungen führen in die Irre.

Die Orakel können die tatsächliche Zukunft nicht mehr erkennen.

Die Götter haben einen unberechenbaren Stein in die Wagschale der Zukunft geworfen.

Und das Rad des Schicksals ist bereit, sich zu drehen.


Trilogie Blut der Drachenberge


Svartbeck-04-Hornstachler

Hornstachler

Spiegelmagie Band 4

(als Ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


Der Bann auf den Drachenbergen ist erloschen. Jahrhundertelang hat er jeden Zauber effektiv verhindert. Jahrhundertelang hat er auch das lauernde Unheil aus den Eisbergen in Schach gehalten. So lange, dass die Menschen fast vergessen haben, dass dieses Unheil existiert.

Jetzt ist der Weg wieder frei. Und während die Kinder der Drachenberge versuchen, nach einem langen Krieg ihr Leben neu zu ordnen, sind sie längst in einen neuen Krieg verwickelt, ohne es zu wissen.

Dieser Krieg begann weit in der Vergangenheit.

Dieser Krieg bedroht ihre Gegenwart.

Dieser Krieg kann ihre Zukunft vernichten.

Und das einzige, was sie retten kann, wurzelt ebenfalls tief in der Vergangenheit.

Nur, dass es überhaupt keinen Grund hat, ausgerechnet Menschen zu retten.



Svartbeck-05-Feuerwind

Feuerwind

Spiegelmagie Band 5

(als Ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


In den Bergen kämpfen die Menschen um ihr Überleben. Die Zauberer könnten das Zünglein an der Waage sein, aber außer zwei noch nicht einmal fertig ausgebildeten Jungzauberern weigern sie sich zu helfen. Sirit fürchtet das Schlimmste für ihre alte Heimat.
Und ihr Sohn Inagoro, König von Karapak, füchtet um das Leben seiner Schwester Taephe, die mitten in diesem Schlamassel steckt. Dabei hätte Inagoro jeden Grund, sich nicht um seine Schwester, sondern um sein eigenes Leben zu sorgen. Immerhin gibt es genügend Konkurrenten, die ihm den Thron neiden, und schon Karapaks letzte zwei Könige hatten kein besonders langes Leben. Es gibt nur eine winzige Kleinigkeit, die Inagoro retten könnte: Er hat Zaubererblut.
Das nützt ihm natürlich nur, wenn die Götter mitspielen. Und wie es scheint, sind sie genau dazu entschlossen.
Oder sind es überhaupt nicht die Götter, sondern nur die Eigeninteressen der Priester, die hier zum Tragen kommen?
Die Seiten sind unklar.
Die Mitspieler sind unbekannt.
Die Mittel sind mörderisch.
Und mittendrin sind die alten Herrscher der Drachenberge damit beschäftigt, ihre Berge wieder in Besitz zu nehmen.



Svartbeck-06-Windschwingen

Windschwingen

Spiegelmagie Band 6

(als Ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


Viele Jahre kämpfen die Menschen in den Drachenbergen jetzt bereits gegen die Frostgeister – die größte Katastrophe ihres Lebens.
Denken sie.
Aber die Frostgeister sind nur die Vorboten. Hoch im Norden machen sich die Laren bereit, für jahrhundertelanges Leiden Rache zu nehmen. Eine Rache, die ganz Karapak und die Länder der Drachenberge zerstören kann. Nur drei vermögen diesem Schicksal Einhalt zu gebieten:
Eine Frau aus den Drachenbergen mit Seherblut.
Ein Mann aus der Ebene, der dieses Blut mit dem Zauberer-Erbe der Drachenberge verbindet.
Ein Kind, das als drittes Element den Meereszauber in sich trägt.
Aber um Karapak zu retten, müssen sie erst einmal selbst überleben. Und es gibt mehr als genug Parteien, denen genau daran nichts gelegen ist.



Svartbeck-Kg1-Brutmutter



Brutmutter

Spiegelmagie Kurzgeschichten Band 1

(Als Ebook und Druckausgabe bereits erschienen, allerdings nur bei Amazon)


Karapaks Frauen haben es nicht leicht in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Von der Sklavin bis zur Adeligen, keine von ihnen ist wirklich frei. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie nicht imstande sind, die Wege des Schicksals ein wenig zu lenken.


Rahis Ehre – eine Gutsbesitzerstochter stellt fest, dass sie doch eine Alternative hat


Schattentanz – eine exotische Tänzerin zeigt, was sie wirklich kann


Brutmutter – eine Tochter des Adelshauses Mehme stellt die Weichen für das spätere Königshaus





Svartbeck-07-Steinfaust

Einzelband

Steinfaust

Spiegelmagie Band 7

(als ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


Nirgendwo sonst hätte ein Waisenknabe in der Armee Karriere machen können.
In Karapak nicht, denn dort kommandiert nur der Adel.
In den Grauen Schluchten nicht, denn die sind noch hochnäsiger.
In Kirsitan nicht, denn da regieren die Frauen.
In den Nordlanden nicht, denn die haben überhaupt keine Armee, da ist jedermann ein Krieger.
Und in seiner alten Heimat Meelas nicht, denn … die gibt es nicht mehr.


Steinfaust weiß, worauf er sich eingelassen hat. Wer in Narkassias Armee an die Spitze kommen will, muss mit allem kämpfen: Worte, Waffen und Verrat. Nur mit einem hat er nicht gerechnet: Dass ihm auch Magie in die Quere kommen könnte.



Neu:


Die Sippe der Mehme-Könige ist bekannt für ihre ausgeprägte Falkennase – und dafür, dass sie keine Zauberer in ihren Reihen haben. Aber wie kam es dazu, dass sie die große Ausnahme unter allen hohen Adelshäusern Karapaks bilden?
Diese Geschichte wird in den beiden Bänden "Falkenblut" und "Falkenrache" erzählt.



Svartbeck-08-Falkenblut


Falkenblut (Spiegelmagie Band 8)

(als Ebook und Taschenbuch bereits erschienen)


Tiko hat nur ein Ziel: Sich einen Namen zu schaffen, der seinem Haus Ehre bringt. Eine Ausbildung in der königlichen Garde ist scheinbar der ideale Weg dazu. Dummerweise tritt er dabei sowohl dem karapakischen Königshaus als auch den Zauberern kräftig auf die Zehen. Und nicht genug, dass Tiko es versteht, sich die falschen Feinde zu machen. Er sucht sich als Freund auch noch ausgerechnet die Geisel des Königs aus.

An Karapaks Königshof haben schon bedeutend geringere Fehler den Tod gebracht.

Doch Tiko hat keine Wahl, er muss durchhalten. Als Kadett der Garde lebt er gefährlich. Aber wenn er aufgibt, ist er in jedem Fall tot, wie sein eigener Vater ihm unmissverständlich klargemacht hat.


Die Anfänge des späteren Königshauses der Sippe Mehme.



Falkenrache (Spiegelmagie Band 9)

(erscheint im Oktober 2021)


Man sagt den Mehme nach, dass sie ein Drachengedächtnis haben. Kränkungen werden von ihnen weder vergessen noch vergeben, egal, wie lange sie zurückliegen. Die Beziehungen zwischen ihnen und dem karapakischen Königshaus sind deshalb bestenfalls schlecht. Und die Abneigung ist gegenseitig.

Als jedoch Na-Ochone, der letzte der Mehme-Barone, vom König zutiefst gedemütigt wird, ist das Maß voll. Na-Ochone schwört blutige Rache. Eine Rache, der selbst die Zauberer wohlwollend gegenüberstehen.

Allerdings haben die Mehme ihr Familienmotto nicht ohne Grund: Traue niemals einem Zauberer!






Leseprobe aus Wüstenkrieger

(Spiegelmagie Band 3)


General Ordunat kratzte sich unbehaglich am linken Oberschenkel. Die alte Pfeilwunde schmerzte schon wieder. Er sollte wirklich einen Heiler aufsuchen … Aber das war nicht seine dringendste Sorge. Ganz und gar nicht.

„Wir haben nur eine Chance“, sagte General Skatskee mit gepresster Stimme. „Das hier darf nie, wirklich nie, unter absolut keinen Umständen, an die Öffentlichkeit gelangen.“

Sein Blick irrte durch das Zelt, um wieder bei der Gestalt zu landen, die inmitten eines unregelmäßigen Fleckens eingetrockneten Blutes am Boden lag. Sein König. Erschlagen mit einem Schwert, in einem seiner eigenen Zelte, inmitten einer Tausendschaft seiner besten Soldaten.

Dazu ein entkommener Gefangener. Und ein vermisster Feldherr, der zufällig auch noch der Sohn dieses Königs war.

Eine Katastrophe. Alle vier anwesenden Generäle waren sich darin einig. Eine Katastrophe für den Feldzug, eine noch größere Katastrophe für das Reich. Und eine vernichtende Katastrophe für die Ehre des Königshauses, sollte jemals die Wahrheit ans Licht kommen: Dass der oberste Feldherr Karapaks seinem Vater und König eigenhändig den Schädel gespalten hatte und mit seinem Erzfeind gemeinsam in der Wüste verschwunden war.

Der Junge hatte das gar nicht mal so ungeschickt gemacht, dachte General Ordunat. Hatte höchstpersönlich die Wachen mit einem harmlosen Gespräch abgelenkt, sodass der Schamane unbemerkt davonschleichen konnte, und war dann davongegangen, als ob er nur einen kleinen Spaziergang machen wollte. Es hatte fast eine Kerze gedauert, bevor dem ersten Wachsoldaten aufgefallen war, wie still es im Zelt war.

Ordunat verstand Ioro. Und wie er ihn verstand! Die letzten Befehle des Königs waren allesamt dermaßen unehrenhaft gewesen, dass es geradezu ein Wunder war, dass die Soldaten sie noch ausgeführt hatten. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte sehen, wie sehr der junge Feldherr unter diesen Befehlen litt. Und dennoch … Das hätte Ioro nicht tun dürfen. Damit hatte er seinen Eid gebrochen und seine Ehre auf immer verloren.

Aber das spielte auch nur noch eine sekundäre Rolle. „Wie wollen wir vorgehen?“

General Skatskee deutete auf die reglose Gestalt. „Wir werden sagen, der Schamane hat den König getötet. Und den Feldherren mit einem Zauber belegt, um ihn in die Wüste zu entführen. Und dort werden ihn vermutlich die rachsüchtigen Wüstenbarbaren töten.“

„Die Wachen wissen es anders“, gab General Nogando zu bedenken.

„Die Wachen werden sterben. Sie haben versagt. Sie hätten den König schützen müssen.“

„Wollen wir wegen des Feldherren etwas unternehmen?“

„Was denn?“, gab Ordunat bissig zurück. „Wollt Ihr die Wüste nach ihm umgraben? Da wären Eure Chancen besser, mit bloßen Händen in den Bergen einen Drachen zu erlegen. Niemand findet die Wüstenkrieger, wenn sie es nicht wollen. Der einzige, der das konnte, war Ioro, und auch der schaffte es nur, weil ihm dieser Falke dabei half.“

„Wenn wir Glück haben, erschlagen die Wüstenkrieger ihn wirklich“, knurrte General Ochot. „Genug von ihnen hat er schließlich getötet.“

„Und wenn wir Pech haben“, lächelte General Ordunat schief, „lassen sie ihn nicht nur am Leben, sondern nutzen auch seine Erfahrungen. Immerhin war er der oberste Feldherr Karapaks. Wer, wenn nicht er, kennt alle unsere Schwächen, weiß, wie unsere Armee arbeitet, und vor allem, wie wir denken?“

Die Generäle sahen sich an. Unbehagliches Schweigen breitete sich im Zelt aus. Schließlich räusperte sich General Skatskee. „Wollen wir hoffen, dass Ioro noch Ehre genug fühlt, dass er uns nicht verrät. Den Feldzug werden wir so oder so vorerst abbrechen müssen. Unsere alleinige Aufgabe wird es jetzt sein, unseren toten König nach Hause zu bringen. Dann ist es an seinem Sohn, unseren neuen König, über das weitere Schicksal dieses Feldzuges zu entscheiden.“

*

Der Weg nach Sawateenatari war lang. Es war den Zauberern zu verdanken, dass Kanatas Körper in einem einigermaßen ansehnlichen Zustand zurück in den Palast gelangte.

*

Iragana lauschte in sich hinein. Wie seltsam. Sie fühlte nichts. Dabei hätte sie doch jetzt Freude empfinden müssen. Freude darüber, dass der Platz ihres Sohnes gesichert war. Freude darüber, dass gleichzeitig sein ärgster Konkurrent, sein Bruder Ioro, ausgeschaltet war. Freude darüber, dass alle ihre Ziele erreicht und ihre Träume in Erfüllung gegangen waren.

Aber da war keine Freude. Da war nur diese merkwürdige Leere. Iragana schaute in ihr Innerstes. Diese Leere beunruhigte sie, verunsicherte sie zutiefst. Warum freute sie sich nicht? Sie grub in der Leere. Da ganz hinten, in einem tiefen, versteckten Winkel ihres Verstandes, war doch noch etwas unter der Leere. Sie packte dieses Etwas, zog es aus seinem Versteck, begutachtete es, wand es nach allen Seiten. Und sie erkannte es. Es war der letzte kleine Rest von jenem ersten winzigen Spross einer Liebe, die sie einmal, als junge Braut, ihrem Verlobten Kanata entgegengebracht hatte. Das, woraus ihre Liebe zu ihrem Ehemann gewachsen war, das, was sich aus unerwiderter Liebe zu Hass gewandelt hatte über die Jahre, und dann zur Gleichgültigkeit, und jetzt zur Leere. Aber dieser kleine Rest hatte überlebt. Hatte sich nicht zerstören lassen. Iragana erkannte fassungslos, dass sie ihrem Mann immer noch liebte.

Die Gemahlin des toten Königs schrie laut auf.

In den Höfen des Sommerharems erstarrte das Leben.

*

Weiß. Die ganze Welt war weiß. Weiß trugen die Diener. Weiß trugen die Wachen. Weiß die Konkubinen und die Kinder. Weiß trug die Königin. Jedes sichtbare Stück Stoff war weiß. Selbst die Halsbänder der Hunde waren weiß. Und die Blumenbeete. Alle Blüten, die nicht weiß waren, hatten die Gärtner abgeschnitten.

So geisterhaft der Palast aussah, so still war er.

Die Gemächer des Kronprinzen blieben leer.

*

„Her mit dem Wein!“ Tolioro schwankte leicht, während er nach dem rubingeschmückten Pokal griff. Süßer, karapakischer Südwein. Sein Vater war endlich tot. Das musste gefeiert werden! Noch dazu schien sein Bruder sehr innig in diesen Tod verstrickt zu sein. Mit etwas Glück war Ioro sogar inzwischen ebenfalls tot. Tolioro hoffte auf die Rachsucht der Wüstenkrieger. So oder so aber war das Verschwinden seines Bruders von der Bildfläche ein weiterer Grund zum Feiern. Graf Chilikits Stadtpalais gab da gerade den rechten Rahmen her.

Zu Hause trugen alle Trauer. Selbst seine dämliche Mutter. Hatte sie sich nicht immer den Tod ihres Gatten gewünscht, sogar aktiv darauf hingearbeitet? Und jetzt, wo er endlich tot war, trauerte sie um ihn und behauptete, ihn tatsächlich geliebt zu haben? Versteh einer die Frauen! Tolioro verstand sie jedenfalls nicht. Aber egal. Sollte seine Mutter trauern, er würde feiern.

Die zierliche Sklavin schenkte den Wein ohne weitere Aufforderung nach. Ihre Hand zitterte leicht. Tolioro musterte sie kritisch von oben bis unten. Ein wenig zu dunkel für seine Zwecke. „Geh nach nebenan!“, befahl er. „Da steht Farbe. Mal dich heller. Und vergiss deine Haare nicht!“ Das Mädchen verbeugte sich und machte, dass es hinauskam.

Fitor von Arant-Kone, Graf Chilikits jüngster Sohn, sah mit weinseligem Lächeln auf. „Heller? Ich dachte immer, du magst keine hellhäutigen Frauen?“

„Mag ich auch nicht.“ Tolioro flegelte sich in die Polster. „Sie erinnern mich an meine Frau.“

Fitor zog es vor, darauf nicht zu antworten. So betrunken war er denn doch noch nicht, um nicht zu wissen, wie heiß dieses spezielle Thema war. Aber Tolioro sprach schon weiter.

„Meine entlaufene Frau Sirit.“ Seine Stimme klang heiser. „Wenn ich die heute hier hätte …“ Er goss einen weiteren Becher Wein in sich hinein.

 

Bestandsaufnahme

Der Wind roch nach kaltem Brand. Der beißende Gestank des Versengtem hing in allen Kleidungsstücken. Selbst das Essen roch nach Feuer und Verkohltem.

Karados wiegte Anai sanft in seinen Armen. Das kleine Mädchen war erschöpft vom Weinen eingeschlafen. Unter seinen Fingern konnte er die Rippen fühlen. Das Feuer hatte fast alle Vorräte vernichtet. Und das wenige, was sie noch hatten, stank nach Rauch. Sicher, da war noch das Fleisch der toten Ochsen. Aber den meisten Kindern wurde schlecht, wenn sie gebratenes Fleisch nur rochen. Zwei Tage lang hatten die Totenfeuer im Hof gebrannt. Selbst Karados war im Moment nicht nach Fleisch zumute.

Meister Os aus der Nachbarprovinz hatte ihnen Hilfe und Lebensmittel angeboten. Im Tausch gegen fünf Kinder. Meister Jo hatte abgelehnt. Typisch jugendlicher Starrsinn. Ah, dieser junge Meister! Wenn er die Regeln beherrscht hätte, wäre dieses schreckliche Unglück nie passiert. Ein Zweikampf ohne den Schutz der Arena! Ein Wunder, das überhaupt jemand überlebt hatte. Karados sah zum Turm herüber. Das Dach war weg, aber der Turm stand noch, ein Symbol der Stärke des neuen Meisters. Doch egal, wie stark Meister Jo war, auch er konnte keine Lebensmittel aus der Luft herbeizaubern. Früher oder später würde er auf Meister Os Angebot eingehen müssen. Nur dass Os dann mit Sicherheit mindestens ein oder zwei Kinder mehr verlangen würde. Wenn bloß Marade noch da wäre, die hätte gewusst, was zu tun war. Leider war die Haushälterin des alten Meisters ebenfalls in dem brennenden Haus umgekommen. Ohne den eisernen Beschlag ihres Stocks hätten sie noch nicht einmal ihre Leiche identifizieren können.

Karados legte Anai sanft hin und erhob sich ächzend. Da waren noch mehr Kinder, um die er sich dringend kümmern musste.

***

Leise Unterhaltung plätscherte durch den Raum. Ioro öffnete die Augen und versuchte, den Kopf etwas zu drehen. Selbst diese winzige Bewegung reichte, um ihm einen kleinen Schmerzensschrei zu entlocken. Seine linke Körperseite brannte wie Feuer. Direkt vor sich sah er das besorgte Gesicht eines graubärtigen Mannes. Dunkelbraune Augen blinzelten, die Lachfältchen in den Augenwinkeln vertieften sich, eine fröhliche Stimme begrüßte ihn. „Mein Prinz, wie schön, dass Ihr wieder unter uns seid!“

Das war doch Mane, der Leibarzt seines Vaters? Wie kam der hierher? Überhaupt, wo war hier? Dies war nicht sein Zimmer in der Wachkaserne. Den Säulen nach befand er sich im inneren Palast. Zuletzt ... Das Letzte, woran Ioro sich erinnerte, waren die Flammen, die aus dem Scheiterhaufen nach ihm gegriffen hatten, und der Falke, der mit ausgestreckten Klauen auf ihn zugeschossen kam.

Mane bückte sich kurz und kam mit einer kleinen Flasche in der Hand wieder hoch. Er setzte sie Ioro an die Lippen. „Trinkt, mein Prinz. Das wird Euch gegen die Schmerzen helfen.“

Der Trank war bitter und hatte einen schleimig-süßlichen Nachgeschmack. Ioro trank ohne Widerrede. Sein Kopf hämmerte, sein Körper brannte, alles schmerzte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Was ist passiert?“

Manes Gesicht verlor sein Lächeln. „Mein Prinz, die Göttin selbst hat Euch gerettet und damit Eure Unschuld bewiesen. Sie kam in Form eines Falken zu Euch ins Feuer und löschte es mit ihren Tränen.“

Der Falke? Das musste Jok gewesen sein. Aber was hatte es mit diesen mysteriösen Tränen auf sich? Egal, das konnte er später klären. Etwas anderes war vorrangig. „Dann bin ich begnadigt?“

Manes Lächeln kehrte zurück und leuchtete über sein ganzes Gesicht. „Nicht nur begnadigt, mein Prinz! Euer Vater, König Kanatamehme – die Göttin möge ihn und sein Haus segnen – hat offiziell verkünden lassen, dass das Urteil gegen Euch aufgehoben wurde und Ihr vollständig rehabilitiert seid. Ihr wurdet in allen Ehren wieder in das Haus Mehme aufgenommen.“

Ioro war, als ob eine schwere Last sich von ihm hob. Seine Ehre war wieder hergestellt! Alles andere war zunächst unwichtig. Er beendete das Gespräch, indem er seine Augen schloss. Hoffentlich würde Manes Gebräu seine Schmerzen bald lindern.

*

König Kanata von Karapak, in gerader Linie neunter Herrscher aus dem ehrwürdigen Haus Mehme, Erbe des Falkenthrons von Sawateenatari, starrte in die Dunkelheit seines Schlafgemachs. Neben ihm lag eine junge Frau und schlief. Ihr sanfter Atem kitzelte ihn am Arm. Kanata vermisste Miomio. Mit ihr hätte er jetzt reden können. Sie war die Einzige unter all seinen Frauen und Konkubinen gewesen, die mehr Geist als Schönheit besessen hatte. Und Miomio war sehr schön gewesen. Zu schade, dass sie sich auf seinen Befehl hin das Leben genommen hatte. Was hätte er denn auch tun sollen? Ihr gemeinsamer Sohn Ioro war als Hochverräter zum Scheiterhaufen verurteilt worden. Nach den Gesetzen Karapaks war es ihm damit unmöglich gewesen, Ioros Schwestern und Mutter zu verschonen.

Kanata schloss die Augen und wartete. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und führten ihn letzten Endes immer wieder zu der gleichen Frage: Hatte Ioro mit dem Attentat zu tun oder nicht? Ioro war eindeutig mit dem Dolch in der Hand auf ihn zugestürzt. Angeblich, um ihn vor einem tödlichen Zauber zu schützen. Aber wieso hatte nur Ioro diesen Zauber erkannt? Wie hatte er ihn brechen können? Inwieweit war sein ältester Sohn in die Machenschaften der Kristallkammer verwickelt? Welcher Zauberer hatte ihm geholfen? Diese Sache mit dem Scheiterhaufen – das Wunder der Göttin, das Ioro gerettet hatte, stank zehn Meilen gegen den Wind nach Zauberei. War die Kristallkammer direkt involviert? Hatte dieses angebliche Wunder damit zu tun, dass die Kristallkammer schon bei Ioros Geburt bemüht gewesen war, den Sohn seiner Konkubine in die Thronfolge einzubringen? Was verband Ioro mit den Zauberern?

Und wenn tatsächlich nicht Ioro der Attentäter gewesen war, wer dann? Am nächstliegendsten wäre sein zweiter Sohn und Thronerbe Tolioro. Aber der hatte sich die ganze Zeit neben ihm aufgehalten und keine verdächtige Bewegung gemacht. Wer, bei der Göttin, konnte es bloß gewesen sein?

*

Tolioro kochte vor Wut. Nicht nur, dass sein älterer Bruder das Attentat auf ihren Vater vereitelt hatte, nein, Ioro war auch noch durch göttliche Hilfe gerettet worden! Die Bewohner Sawateenataris feierten ihn seitdem als Liebling der Göttin. Es wurden sogar schon Stimmen laut, wonach Ioro besser den Thron erben sollte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt!

In dieser ganzen Misere gab es nur einen einzigen Lichtblick: niemand verdächtigte ihn. Außer seiner Mutter und ihm wusste keiner, wodurch das Attentat ausgeübt worden war, und seine Mutter war vorsichtig gewesen. Es gab keine Spur, die auf ihn oder Iragana hindeuten konnte.

In Zukunft würden sie noch vorsichtiger sein müssen. Zu schade. Es war die perfekte Gelegenheit gewesen.

Ein winziger Lichtblick blieb ihm aber: Ioro hatte offen gezeigt, dass er mit Zauberei zu tun hatte. Tolioro wusste genau, wie sehr sein Vater die Zauberer und ihre Machenschaften verabscheute. Blieb abzuwarten, ob er daraus Kapital schlagen konnte.

*

Iragana, erste Gemahlin König Kanatamehmes und Mutter des Thronerben, stickte behutsam einen kleinen goldenen Schmetterling auf das grüne Seidentuch. Sie konzentrierte sich. Ein kleiner Stich, ziehen, ein weiterer Stich. Ihre Hände durften nicht zittern. Bei allen Göttern – wäre sie nicht so vorsichtig gewesen, würden Tolioros und ihr Kopf jetzt zu Asche verbrennen. Jemand hatte ihre fein ausgetüftelten Pläne elegant durchkreuzt. Hoffentlich waren ihre Spitzel bald in der Lage, ihr Näheres zu erzählen. Sie musste unbedingt wissen, wer ihr Gegenspieler war. Eine der anderen Gemahlinnen? Die Zweite Gemahlin Scholinte hatte einen Sohn, der etliche Regenzeiten jünger als Tolioro war und als nächster in der Erbfolge stand. Darüber hinaus war Scholinte die Tochter des einflussreichen Herzogs Noredo und erfahren in Hofintrigen. Sie war die wahrscheinlichste Kandidatin. Es gab Möglichkeiten … Iragana hatte Erfahrung mit gewissen Dingen. Ob ihr Verbindungsmann zu den Zauberern bereit sein würde, ihr ein gutes Gift zu besorgen?

Der goldene Schmetterling war fertig. Iragana bewunderte lächelnd ihr Werk.

 


Die Fäden werden aufgenommen

 

In der Kristallkammer hatte man eine dringliche Sitzung anberaumt. Großmeister Ro, der oberste Zauberer des Reiches, dessen Haar bereits vollständig weiß war und dessen Alter sich im Dunkel der karapakischen Geschichte verlor, leitete die Versammlung.

„Wir stehen vor zwei Problemen, die an Dringlichkeit einander ebenbürtig sind“, begann er. „Ad eins ist zu klären die wundersame Rettung des Prinzen Ioro vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen durch ein vorgebliches göttliches Wunder. Wie wir bereits verifiziert haben, war an diesem Wunder eindeutig ein Spiegelzauber beteiligt. Die Signatur dieses Zaubers ist unbekannt. Wir haben es also mit einem unbekannten Zauberer von ebenfalls unbekannter Stärke zu tun, der im Bereich der Kristallkammer unkontrolliert agiert. Wir sind nicht einmal sicher, ob es ein karapakischer Zauberer ist.

Ad zwei hat es gravierende Verschiebungen im Machtgefüge der Häuser der mittleren Provinzen gegeben. Go wurde durch einen seiner Adepten besiegt.“

Leises Murmeln lief durch den Saal.

„Kollege Os war vor Ort und hat sich ein Bild von der Lage gemacht. Ich ersuche ihn, uns jetzt einen Bericht zu geben.“

Os erhob sich und zückte seinen Spiegel. „Ich habe die Veränderung in den Kraftstrukturen unmittelbar bei Eintreten bemerkt. Alle Anzeichen deuteten auf einen Kampf außerhalb einer Arena hin. Dies habe ich vorgefunden.“

Mit einer Handbewegung schuf er über seinem Spiegel eine dreidimensionale Projektion. Schweigend musterte die Versammlung das Bild der Verheerungen.

„Dies war das Haus von Kollege Go. Er wurde in einen Seelenspiegel integriert.“ Os wandelte das Bild. Jetzt war das Innere des Turms zu sehen. Ein junger Mann stand vor den Spiegeln, die rote Robe verdreckt und zerrissen, die ungekämmten schwarzen Locken wirr im Gesicht, blass und mit Ringen unter den Augen. „Wie ihr sehen könnt, ist der derzeitige Inhaber des Turmes dieser Jo, bis dato Adept im ersten Jahr.“

Erstauntes Murmeln lief durch den Saal.

„Der junge Mann war noch nicht einmal ausreichend geschult, um zu wissen, dass eine Meister-Kampfforderung nur in einer Arena ausgetragen werden darf“, fuhr Os fort. „Offenbar hat ihn das Ergebnis überrascht. Darüber hinaus ist er anscheinend weder fähig, mit der derzeitigen Lage ohne Hilfe umgehen zu können, noch kann man ihn in irgendeiner Weise als fertig ausgebildeten Zauberer betrachten. Damit stellt er eine potenzielle Gefahr für sich und andere da, was umso schlimmer ist, als er seinen Kräften nach bereits mindestens ein Zauberer der vierten Klasse ist, wenn nicht sogar schon der dritten, mit Potenzial zu einem Zauberer erster Klasse.“

Er setzte sich wieder. Diesmal brandete ein Gewirr von Stimmen im Saal auf. Alle der vierundneunzig Anwesenden wussten, was das zu bedeuten hatte.

Ro wartete, bis seine Kollegen wieder zur Ruhe kamen. Dann fasste er den einzigen Zauberer ins Auge, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. „Kollege Na! Du hast bei Go gelernt und solltest somit diesen Jo kennen. Hast du eine Erklärung für uns?“

Die Blicke aller Anwesenden wanderten zu dem jüngsten Mitglied der Versammlung.

Der zuckte mit den Achseln. „Jo war immer sehr impulsiv. Vielversprechend, aber eigenwillig. Und sehr experimentierfreudig. Ich kenne Typen wie ihn. Leute, die immer aus der Reihe tanzen. Ich habe meinen damaligen Meister Go vor ihm gewarnt. Anscheinend hat Go ihn trotzdem unterschätzt.“

„Ist er ehrgeizig?“

„Genug, um gefährlich zu sein.“

„Besondere Fähigkeiten?“

„Er hat eine hohe Affinität zu Seelenspiegeln.“

Diesmal durchzog die Versammlung ein kollektiver Seufzer.

„Das sind die Schlimmsten. Er könnte uns allen großen Schaden zufügen. Wir müssen ihn unbedingt hierherholen und vernünftig schulen.“

„Aber dann bleibt sein Haus ohne Meister zurück!“

„Nein. Du wirst das Haus solange übernehmen.“

Na zuckte zusammen. Gerade jetzt aus der Hauptstadt versetzt zu werden, wo es hier richtig interessant wurde? „Ich bin doch selbst kaum länger Meister als Jo. Könnt ihr nicht einen Erfahreneren schicken?“

Nach kurzer Diskussion einigte sich die Runde. Ak, eine der nur vier Zauberinnen im ganzen Reich, würde die Verwaltung von Jos Haus übernehmen. Ak hatte Erfahrung im Wiederaufbau, sie war eine der wenigen Überlebenden sowohl der Zaubererkriege als auch der Aufstände gegen die Kristallkammer.

Ro rief zurück zur Tagesordnung. Da war immer noch der ungeklärte Zauber im Zusammenhang mit der Rettung des Prinzen Ioro. Mangels besserer Alternativen einigte man sich darauf, den Prinzen stärker im Auge zu behalten. Auch wenn ihnen selbst der Palast verschlossen blieb, hatten die Zauberer Mittel und Wege, ihre Augen und Ohren dort einzuschleusen.

Na hielt sich weiterhin bedeckt. Er hatte seine eigene Theorie zu der Sache. War es nicht Jo gewesen, der noch vor ihm von seiner Mitschülerin Thealina gelernt hatte, durch Geisteskraft einen Falken zu leiten? Und hatte nicht ein Falke Ioro gerettet? Es sah ganz danach aus, dass Jo hier seine Hand im Spiel hatte. Aber das musste er seinen Kollegen ja nicht gleich auf die Nase binden. Es hatte Vorteile, der Jüngste zu sein. Keiner der Älteren traute ihm Wissen und Fähigkeiten zu, die sie selbst nicht besaßen. Na war nicht umsonst ein Sohn des Hauses Kirasa-Poetoni. Adelige Karapakier sogen Intrigen und Strategien bereits mit der Muttermilch auf. Er würde dafür sorgen, dass er immer einen angemessenen Wissensvorsprung behielt. Nur so konnte er zu gegebener Zeit seine Position verbessern.

Abgesehen davon war er natürlich neugierig, was Jo eigentlich bezweckte.

*

Bei allen Windgeistern! Jo schleuderte das Buch wütend in die Ecke. Er hatte den alten Meister Go sehr unterschätzt. Von wegen, er konnte einfach alles Notwendige in Gos Büchern finden. Was immer Go in seine Bücher geschrieben hatte, Zauberer-Weisheiten waren es nicht. Statt dessen – Rezepte. Go hatte Kochbücher geschrieben. Ausgerechnet Kochbücher! Was bei den Drachenzahnbergen hatte Go bewogen, ausgerechnet Kochbücher zu verfassen? Nicht, dass er sie je gebraucht hätte, die Küche war seit jeher ausschließlich eine Domäne der Diener.

Und wenn doch mal auf irgend einem Pergamentfetzen ein Zauberspruch auftauchte, funktionierte er nicht. Nach wie vor blieb Jo nichts anderes übrig, als jeden Zauber mühsam über Versuch und Irrtum selbst auszutüfteln. Eine sehr zeit- und vor allem energieraubende Aktion. Kochbücher. Das konnte einfach nicht alles sein. Irgendwo musste Meister Go noch andere Aufzeichnungen verborgen haben. Und die restlichen Bücher in der Turmstube – nichts davon konnte er gebrauchen. Entweder es war Geschichte oder Viehzucht oder Gartenbau oder vollkommen unleserliches Gekrickel längst vergangener Zauberer-Generationen. Es war der pure Frust. Eine ganze Bibliothek mit nichts Brauchbarem darin.


***

Kanatas Hände umklammerten das hölzerne Gesims. Er könnte spüren, wie das feine Schnitzwerk unter seinen Fingern zerbröselte. Er verstärkte den Druck. Kleine Splitter bohrten sich in seine Handflächen. Verdammt! Wie sollte ein König regieren können, der Zauberer und Priester zugleich gegen sich hatte?

Hinter ihm räusperte sich der Hofmarschall. „Euer Majestät, wie ich bereits sagte, der Seher ist da. Natürlich will ich Euch nicht drängen, nur ... Er ist ein alter Mann, schwach und hinfällig. Wenn er noch lange warten muss, kann es sein, dass er heute nicht mehr in der Lage ist, die Geister für Euch zu befragen.“

Einen Moment lang schloss Kanata die Augen. Als er sich umdrehte, hatten sich seine Gesichtszüge wieder geglättet. „So ruft ihn.“

 

Der Seher betrat den Balkon unter Knochengeklapper. Knochenschnüre umschlangen seine Handgelenke, Knochenschnüre umschlangen seinen zum Erbarmen mageren Rumpf. Ein schmutziges braunes Tuch bedeckte notdürftig seinen Unterleib. Eine Halskette mit kleinen Steinchen und Tierkrallen baumelte auf seiner Trichterbrust. Er bewegte sich vorsichtig, suchend, den Kopf mit dem dünnen Kinnbärtchen vorgestreckt wie ein Geier. Die Wachen, die hinter dem Greis auf den Balkon treten wollten, hielt der Hofmarschall mit einer Handbewegung zurück. Sie verschwanden wieder im Gebäude und verschlossen die Türe fest hinter sich.

Kanata musterte den Seher. Trübe, altersblinde Augen sahen ihn an, Augen, die kaum durch das Gewirr tiefer Falten und zotteliger weißer Haarsträhnen hindurchschienen. Der Mann sah aus, als ob ihn jeder sanfte Morgenwind umblasen konnte. Dennoch ... trotz seiner unbestreitbaren Gebrechlichkeit strahlte der Seher Autorität aus. Autorität und Gefahr. Einen Moment lang zögerte der König. Aber es gab keinen anderen Weg. Er brauchte die Information.

„Du weißt, weshalb du hier bist?“

Der Seher legte den Kopf schief. „Sagt Ihr es mir, Majestät.“

„Du hast von dem Anschlag auf mich gehört.“

Der Seher nickte nur. Natürlich hatte er davon gehört. Wenn der älteste Sohn des Königs ein Attentat auf seinen Vater verübte, redete das ganze Königreich darüber. Noch dazu, wenn dieser Sohn gegen alle Wahrscheinlichkeit seine Unschuld beteuerte und durch das Urteil der Götter vor dem Scheiterhaufen gerettet und damit rehabilitiert wurde.

„Die Götter haben bezeugt, dass mein Sohn Ioro mich nur verteidigen wollte, als er mit dem Dolch auf mich lossprang.“ Kanata musste einen Moment innehalten. Wann immer er an diesen Augenblick dachte, schwoll ein Kloß in seiner Kehle. Ioro im Sprung, den Dolch in der Hand, und dann der Zauber. Ausgerechnet Ioro, dem er als einzigem seiner Söhne vollkommen vertraute, ausgerechnet Ioro hatte sich mit den verhassten Zauberern eingelassen.

„Um das bestätigt zu bekommen, braucht Ihr mich nicht.“ Die Stimme des Sehers war ausdruckslos.

„Nein.“ Wenn überhaupt, dann war Kanatas Stimme noch ausdrucksloser. „Ich will etwas anders von dir wissen. Die Zauberer haben eindeutig ihre Finger im Spiel. Und so eifrig, wie die Priester sich nach dem Gottesurteil auf Ioros Seite geschlagen haben, kann ich auch ihnen nicht trauen. Deshalb frage ich dich. Ich muss wissen, wer hinter dem Anschlag steht, und von welcher Person in der Zukunft unmittelbar eine Gefahr für mein Leben ausgeht.“

Der Seher zuckte die Achseln. „Die Götter haben mir nichts offenbart.“

„Dann frage sie!“

„Sie antworten auch mir nicht auf Kommando.“

Kanatas Hand fuhr zum Dolch. „Frage! Ich weiß, dass du eine Antwort erzwingen kannst!“

Der Seher zitterte kaum merklich. „Es ist möglich“, murmelte er. „Aber der Preis ist hoch!“

„Ich zahle, was immer du willst.“

„Nicht Ihr allein werdet den Preis zahlen“, murmelte der Seher noch leiser.

„Frage!“ Kanatas Stimme trug den Groll der Winterstürme in sich.

Der Seher verneigte sich ehrerbietig. Dann setzte er sich. Mit zitternden Fingern nestelte er eine Tierklaue von seiner Halskette und legte sie auf seine offene Handfläche. Dann begann er zu summen. Kanata blinzelte. Die Tierklaue bewegte sich und begann, sich zu vervielfältigen. Die Klauen verschmolzen mit den Fingern. Der Seher streckte die Hand aus. Vier scharfe Krallen blitzten in der Sonne. Dann schlug die Hand zu. Rotes Blut spritzte über die meerblauen Glasfliesen. Während sein Leben aus dem zerfetzten Oberschenkel pulste, begann der Seher zu reden.

Seine Stimme klang leise, wie von weit her, aber trotz ihrer geringen Lautstärke schien jedes Wort in Kanatas Ohren zu hallen. „Du hast deine Frage falsch gestellt, Königsfalke. Falsch gestellt … Es ist nicht nur einer, der dir nach dem Leben trachtet, es sind mehrere. Ein Krake, der hundert Köpfe hat und tausend Arme. Schlage einen Arm ab, so kommen die anderen umso weiter.“

Kanata erschauderte. Das war schlimmer, als er gedacht hatte. „Aber wer sind die Köpfe? Sind es Zauberer? Sind es Priester? Sind es Adelige? Kaufleute? Mitglieder meiner Familie?“

„Ja, ja, ja, ja, ja“, flüsterte die heisere Stimme des Sehers.

„Was ja? Wer ist es denn nun?“

„Du stellt immer noch deine Fragen falsch!“ Der Spott war jetzt unüberhörbar.

Kanata zwang sich zur Ruhe. „Sind es Zauberer?“

„Ja“

„Sind die Priester darin verwickelt?“

„Ja.“

„Adelige?“

„Ja.“

„Kaufleute?“

„Ja.“

„Mitglieder meiner Familie?“

„Ja.“

Kanata spürte, wie ihn ein Zittern überlief. Hatte sich denn die ganze Welt gegen ihn verschworen?

„Alle?“, fragte er ungläubig.

„Dummkopf“, zischte der Seher. „Einige von ihnen. Einige aus jeder Gruppe. Und überlege besser, was du fragst, Königsfalke. Die Götter werden nur wenige Fragen beantworten. Du hast dein Kontingent fast verbraucht.“

Kanata überlegte fieberhaft. Was war ihm am wichtigsten? „Wer von meiner Familie ist es?“

„Einer deiner Söhne.“

„Welcher?“ Eine hastige, fast verzweifelte Frage.

„Das steht noch nicht fest.“

„Was?“ Kanata prallte zurück und sah den Seher ungläubig an. „Wieso? Müssen die Götter das nicht wissen?“

„Die Zukunft steht nicht immer fest. Sie wird von unseren täglichen Entscheidungen beeinflusst. Niemand, nicht einmal die Götter, kann genau vorhersehen, was geschehen wird.“ Erneut war der Spott in der Stimme des Sehers unüberhörbar, auch wenn sie noch leiser war als zu Beginn.

„Dann sag mir wenigstens eines.“

Kanata fror und schwitzte zugleich.

„Hat Ioro mich bei dem Attentat angegriffen oder gerettet?“

„Zu spät, Königsfalke.“ Die Stimme des Sehers war kaum noch vernehmbar. „Die Götter haben sich bereits zurückgezogen.“ Die Gestalt des Sehers sackte auf dem Boden zusammen. Müde murmelte er: „Ich kann dir nur sagen, dass Ioro derjenige deiner Söhne ist, der Karapak gegenüber immer loyal handeln wird.“

Dann verstummte er. Im selben Moment hörte sein Blut auf zu fließen.

Kanata wagte nicht, sich zu rühren. „Ist er ... tot?“, fragte er.

Der Hofmarschall trat zu der reglosen Gestalt. Mit sichtbarer Überwindung kniete er sich nieder und fühlte den Puls am Hals des Alten. „Er lebt noch, Euer Majestät. Er lebt noch, aber sein Lebensfaden ist schwach, kaum noch spürbar. Ich bin nicht sicher, ob er den morgigen Tag noch erleben wird.“

„Schaff ihn fort.“

Kanata drehte sich brüsk um. Ein weiterer Reinfall, dieser Seher. Er war kein Stück weiter gekommen. Wie um alles in der Welt sollte ein König regieren, der niemandem mehr trauen konnte?

*

Ioro schrak aus seinen Fieberträumen hoch. Der schrille Schrei gellte immer noch in seinen Ohren. Da! Schon wieder! Nein, das hatte er nicht geträumt. Irgendwo ganz in seiner Nähe schrie ein Falke. Ioro öffnete den Mund, versuchte, seinerseits zu rufen, aber außer einem heiseren Krächzen drang nichts aus seiner Kehle.

„Wartet, mein Prinz!“ Da war Mane schon wieder, in der Hand einen Becher.

Ioro trank, einen Schluck nur, schmeckte die Bitterkeit der Medizin. Dann hob er abwehrend die Hand. Der eine Schluck hatte zumindest gereicht, seine Kehle wieder anzufeuchten, denn jetzt kamen tatsächlich vernehmbare Worte aus seinem Mund.

„Mane, ich habe einen Falken gehört ...?“

„Ganz richtig, mein Prinz“, bestätigte der Hofarzt. „Der Falke, der Euch gerettet hat, wurde ebenfalls durch die Flammen versengt. Er ist derzeit unfähig zu fliegen. Wir haben ihn deshalb ins Nebenzimmer gebracht.“

„Seit wann kümmert Ihr Euch auch um tierische Patienten? Reicht Euch der Lohn für die Behandlung der königlichen Familie noch nicht?“, versuchte Ioro zu scherzen.

Manes Gesicht bliebt ernst. „Genaugenommen gehört der Falke zur königlichen Familie“, gab er zurück, „und damit ist er wohl auch mein Patient.“

Ioro hörte das unausgesprochene „Aber“ in Manes Satz. „Ihr habt Schwierigkeiten mit dem Falken?“, fragte er.

„Nun“, Mane zögerte, „im Grunde fehlt dem Falken nichts, er hat nur ein paar verbrannte Federn, die nach der nächsten Mauser nachwachsen werden. Aber bis dahin muss er bei uns bleiben. Und, mein Prinz, er ist ganz offensichtlich nicht glücklich darüber.“

„Hackt er nach Euch?“ Ioro versuchte ein Lächeln, ließ es aber gleich wieder, als eine feurige Schmerzwelle über seine Wange strich.

„Der Falke frisst nichts“, gestand Mane. „Was immer wir ihm vorsetzen, er frisst nichts. Die königlichen Falkner geben ihm noch ein oder zwei Tage, bevor er an Entkräftung stirbt.“

„Und das“, murmelte Ioro, „wäre wahrlich ein schlechtes Omen.“

„Ihr sagt es, mein Prinz.“

Ioro dachte nach. Der Falke war nie gezähmt worden. Das Tier hatte aber – mit Joks Geist in seinem Körper – viele Stunden in seiner Gegenwart verbracht und war ihn gewöhnt. Hatte er den Falken nicht auf der einen oder anderen Jagd schon von Hand gefüttert?

„Bringt den Falken zu mir.“

Mane verbeugte sich schweigend und holte den Falken.

 

Der Vogel saß auf einer kurzen Holzstange, die von einem Dreibein gestützt wurde. Jettschwarze, von bernsteinfarbener Haut umgebene Augen starrten Ioro an. Ioro starrte zurück. Der Falke legte den Kopf etwas schief, als ob er den Menschen vor sich begutachtete. Ioro verlangte Fleisch. Mane reichte ihm, immer noch schweigend, eine kleine Schale. Ioro griff nach einem der kleingeschnittenen Fetzen rohen Fleisches und hielt es dem Falken hin. Er konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken, als sich die Muskeln seines misshandelten Körpers unter der verbrannten Haut bewegten. Seine Hand reichte nicht ganz bis zum Schnabel des Falken hoch. Der Falke starrte. Ioro wartete. Nach einer fast endlos scheinenden Zeit bewegte sich der Vogel. Mit einer ruckartigen, zielsicheren Bewegung beugte er sich vor und schnappte den Fleischfetzen aus Ioros Fingern, warf den Kopf zurück, schluckte, und starrte erneut. Ioro griff nach dem nächsten Fleischstückchen.

*

In den nächsten Tagen fütterte Ioro den Falken regelmäßig. Er war und blieb der einzige, von dem der Vogel Nahrung annahm. Die Diener flüsterten und betrachteten den Vogel verängstigt. Der Falkner, der jeden Tag einen Kontrollbesuch machte und nach den verbrannten Federn sah, musterte sowohl Ioro als auch den Falken ungläubig. Nur Mane schien es vollständig normal zu finden, dass der Vogel der Göttin, das Wappentier des Hauses Mehme, eine so enge Bindung zu Ioro zeigte.

***

Jo, derzeit jüngster Zauberer-Meister im karapakischen Reich, starrte die Zauberin an, die vor ihm im Turmzimmer stand. Ak lächelte schmallippig. Sie hatte schon mehr als ein rebellisches Kind zur Räson gebracht. Und mehr als ein Kind war dieser Jo nicht, nicht einmal nach menschlichen Maßstäben.

„Ich werde in der Zwischenzeit deinen Turm verwalten, die Schäden beheben und alles wieder aufbauen“, wiederholte sie. „Natürlich zu den normalen Bedingungen. Ich bekomme 10 Prozent vom allgemeinen Ertrag des Turmes, solange ich hier weile, und den vollen Ertrag von jeden Auftragszauber, den ich in dieser Zeit annehme.“

Jo schob die Unterlippe trotzig vor. „Und wenn ich das nicht will?“

Ak richtete sich noch ein wenig höher auf. Die Goldmünzen an ihrer Halskette klimperten melodisch. Es waren alte Münzen, mit den Gesichtern von Herrschern darauf, die bereits vor mehreren hundert Regenzeiten gestorben waren. „Die Kristallkammer könnte auch auf die Idee kommen, dir ganz einfach den Turm abzunehmen. Nicht jeder Zauberer muss einen Turm besitzen.“

Jos Gesicht verfinsterte sich. „Ich würde um meinen Turm kämpfen.“

„Ja. Das sehe ich.“ Ak sah sich betont in dem Durcheinander um. „So wie beim letzten Mal, nehme ich an?“

Jo sackte zusammen wie ein Teigballen beim vorzeitigen Öffnen des Ofens. „Ich habe das nicht gewollt. Nicht so, jedenfalls.“

„Und genau deshalb musst du dringend geschult werden. In der Kristallkammer.“

Jo nickte in dumpfer Ergebenheit. Auch wenn er zehnmal nicht einverstanden war, eines würde er ganz gewiss nicht tun: Durch einen Kampf das Leben weiterer Kinder in seinem Turm unnötig gefährden. In einem Kampf, den er mit absoluter Sicherheit nur verlieren konnte. Er erinnerte sich nur zu gut an Meister Gos Ausführungen, warum so wenige Frauen zu Zauberinnen wurden. Jede einzelne Frau, die dieses Ziel erreichte, musste nicht nur eine herausragende Zauberin sein, sondern darüber hinaus auch absolut gleichgültig gegenüber dem Schicksal anderer Menschen. Diese so jung aussehende Frau, die ihm im Auftrag der Kristallkammer ein Ultimatum stellte, war wahrscheinlich imstande, alles um sich herum mit einem einzigen Zauber in Schutt und Asche zu legen und alle Bewohner seines Turms damit umzubringen.

Ak zeigte ein schmallippiges, wissendes Lächeln.

*

Der Ochsenkarren stand angeschirrt vor dem Tor. Jo hob den Beutel an, der seine beiden wichtigsten Spiegel enthielt. Ak runzelte die Stirn. „Moment mal, junger Kollege, nicht so eilig. Ich benötige noch das Zugangszeichen für die Arena und für die Meister-Gemächer.“

„Zugangszeichen?“, echote Jo entgeistert.

„Sag bloß, du kennst es nicht?“ Ak konnte ein ungläubiges Schnauben nicht unterdrücken. „Wie, bei den Sanddämonen, hast du es bloß geschafft, deinen Meister mit so wenig Ahnung zu besiegen?“

„Ich habe nach dem Kampf noch gar nicht den Versuch gemacht, die Arena zu betreten“, gestand Jo kleinlaut. „Und die privaten Gemächer? Was meinst du damit? Ich dachte, die Turmstube, das wären Meister Gos private Gemächer ...“ Seine Stimme verlor sich.

Ak lachte laut auf. „In so einer primitiven Behausung würde nicht einmal der einfachste Landzauberer leben wollen. Und Go war alles andere als ein Landzauberer. Er stammt aus einer alteingesessenen Adelssippe.“

„Aber ... da sind sonst keine Gemächer.“

Ak musterte ihn wie einen besonders begriffsstutzigen Esel. „Komm mit“, befahl sie, drehte sich auf dem Absatz um und eilte zum Turm. Wohl oder übel folgte Jo ihr.

 

Oben in der Turmkammer drehte Ak sich einmal suchend im Kreis. Dann lächelte sie und deutete auf einen schmalen dunklen Strich in der Wand. „Dort ist der Eingang“, sagte sie. „Lass sehen, ob du hineinkommst.“